F - Rivolto

Rivolto

worin vorkommen : die Villa Manin, Codroipo, Neuschwanstein, die Andreas-Kapelle, Campo Formido, die Republik Venedig, Istrien, Dalmatien, Staatsstraße 13 'Pontebbana', Mestre, Pordenone, Udine, der Tagliamento, Passariano, die Julischen Alpen, Bozen, Götzendorf, Sankt Pölten, Aviano, die Lega Nord, Padanien, Rom, Basagliapenta, Mortegliano, Palmanova, die Trattoria 'Da Nando', Lignano, Cordovado, Portogruaro, Napoleon Bonaparte, Kaiser Franz II. Xi Jinping, Sebastian Kurz, Rino Romano, Ottorino Respighi, Rainer Zipperling, Köln, sowie Hudeleien um den Erwerb einer italienischen Immobilie

Ich habe ihn sofort wiedererkannt. Den Aufseher im Park der Villa Manin in seiner schwarzen Uniform, der uns empfohlen hatte, ein Zelt anzuschaffen. Wir befinden uns in einer kleinen Wohnung im Seitenflügel des Barockschlosses. Es ist die Dienstwohnung des Aufsehers. Er wohnt dort mit seiner Frau, betagt wie er selbst. Sie bietet uns Caffè an. Der Tonfall des Mannes ist jetzt ganz anders als damals, als er uns aus dem Park gejagt hat. Verbindlich, freundlich. Ob auch er uns wiedererkennt, frage ich mich. Selbst wenn, er lässt sich nichts anmerken. Ich rede mit dem Mann über Einzelheiten des Kaufvertrags, während die Frau versucht, Soile über unsere Umstände auszufragen. Es gelingt nicht recht. Ihr Italienisch lässt das noch nicht zu. Die beiden alten Leute sind nicht die Verkäufer. Sie wickeln nur alles Nötige ab für ihren Sohn und die Schwiegertochter, die beruflich zu beschäftigt sind, um sich selbst darum zu kümmern. Die Jungen hatten ursprünglich beabsichtigt, hier zu wohnen. Jetzt hat aber der Sohn Arbeit in weiterer Entfernung angenommen und möchte nicht täglich so weit pendeln. Über die Konditionen inklusive Kaufpreis sind wir uns einig. Sie schlagen einen Notar in Codroipo vor. Auch dagegen haben wir nichts einzuwenden. Alles geht mir ein wenig zu glatt. Ich erwarte jeden Augenblick, den Haken zu entdecken, den dieses Geschäft doch haben muss. Doch es will sich keiner zeigen in diesem Barockpalast mit dem riesigen Park dahinter. Ich denke zurück an den Kauf von Neuschwanstein. Auch den habe ich nie bereut. Wir werden also auch dieses Objekt kaufen. Und dann werde ich sooft es mir gefällt mit Soile unter den alten Bäumen kosen und kein Wächter wird uns verjagen. 



Soile und ich sind uns einig: Das Schloss im Park ist ein Traum. Etwas groß vielleicht für uns zwei. Nun, der Parkwächter kann ja in seiner Wohnung bleiben. Das Restaurant im rechten Flügel, der einst ein Pferdestall war, muss weg. Wir brauchen den Platz für unsere eigenen Pferde. Die Andreas-Kapelle wird umgeweiht, natürlich dem San Giorgio. Den Seitentrakt gegenüber können wir unseren Gästen reservieren. Vielleicht besucht uns ja einmal so ein zukünftiger Napoleon. Der residierte hier 1797 während der Tage des Friedensschlusses von Campo Formio (Campo Formido bei Udine. Die Franzosen haben das ‚d‘ in den Dokumenten vergessen). mit Kaiser Franz II., der dabei Gebiete wie die Republik Venedig, Istrien und Dalmatien gewann. Wenigstens für hundert Jahre. Leicht möglich, dass eines Tages hier Xi Jinping und Sebastian Kurz das verstrahlte Europa unter sich neu aufteilen werden. 

***

„Codroipo: Rustikales Haus, teilweise restauriert, günstig.“ So ähnlich hatte die Zeitungsanzeige eines Immobilienbüros gelautet. Codroipo, das liegt auf halbem Weg an der Staatsstraße 13 (SS 13 „Pontebbana“ von Mestre über Pordenone und Udine zur österreichischen Grenze bei Pontebba) zwischen Pordenone und Udine an der östlichen Seite des Tagliamento. Fast die ganze Strecke begleitet eine geschlossene Zone von Betrieben der Industrie, des Handels und Gewerbes die ständig stark befahrene Staatsallee, unterbrochen nur von einigen übriggebliebenen Ackerflächen mit Feldwegen an Windschutzgürteln. Hier suchen nachts Freier vergeblich Befriedigung bei den Nutten in den Wohnwagen der Zuhälter, im Auto oder im Freien. Im Winter wärmen sich die Huren an offenen Feuern. Fanale der käuflichen Sexualität. Die Freier denken, sie kauften Sexualität. Die Dirnen verkaufen Handlungen, die sie einmal ekelten, jetzt schon nicht mehr. Öffentliche Prostitution ist in Italien gleichermaßen verboten wie alltäglich. Gelegentlich machen die Carabinieri Razzia und sammeln ganze Rudel von Illegalen ein. Illegal durch Aufenthalt, illegal durch Gewerbetätigkeit. Einige wenige werden abgeschoben. Die meisten werden vorgemerkt zum späteren Absitzen des Arrests. Sofort geht es nicht. Der Knast ist voll. Diese findet man die nächste Nacht wieder an ihrem Feuer.

Uns kommt Codroipo als Standort günstig vor. Nicht allzu weit sowohl von Pordenone als auch von Udine würde er Soiles Jobsuche in beiden Wirtschaftszentren begünstigen. Wir treffen uns mit dem Immobilienhändler an Ort und Stelle. Rivolto di Codroipo, Via Giorgio Gatteri 5. Giorgio, selbstverständlich. Er erwartet uns also schon.


Rivolto ist ein kleines Dorf auf der friulanischen Ebene. Politisch gehört es zur benachbarten Kleinstadt Codroipo, ebenso wie Passariano mit seiner Villa Manin. Weniger als tausend Meter liegen zwischen Rivolto und Passariano, eigentlich nicht mehr als der Schlosspark. Zu den erwähnten Gewerbebetrieben kommen zahlreiche kleine und größere Agrarbetriebe. Sie liegen an den Verbindungsstraßen zu den Nachbardörfern und nach Codroipo, beispielsweise eine industrielle Montasiokäserei und größere Winzerbetriebe. Nutztiere wird man auf den Feldern vergeblich suchen, die bleiben alle versteckt in den Ställen. Der Dorfkern Rivoltos gruppiert sich um die Kirche. Näher an der Kirche sind es Reihenhäuser, vorwiegend aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, weiter entfernt neuere einzelnstehende Häuser aus den Sechzigern. Vereinzelt stehen moderne Villen auf den Feldern. Nahe der Kirche gibt es ein kleines, verschlafenes Postamt, das nur vormittags geöffnet ist. Vor einer kleinen Bar halten hin und wieder Linienbusse.


Die Via Gatteri ist eine Nebenstraße. In einem Viertelkreis um die Kirche herum verbindet sie die wichtigeren Gemeindestraßen, die nach Codroipo beziehungsweise zur Staatsstraße führen. Wo die Via Gatteri an ihrem östlichen Ende sich zu einer kleinen Piazzetta weitet, steht in deren Mitte eine alte Kastanie. Haus Nummer 5 würde man als erstes Haus bezeichnen, das an der Südseite der Via Gatteri an die Piazzetta anschließt. Die umstehenden Häuser haben alle ein Obergeschoß und eine Mansarde direkt unter dem Dach. Nummer 5 ebenso, doch ist es insgesamt eine halbe Etage höher als seine Nachbarn. Die Fassade erstreckt sich über fünf Fensteröffnungen, im Erdgeschoß ist eine davon als Eingangstür ausgebildet und eine weitere als breites Einfahrtstor. Die fünf Mansardenfenster sind niedriger, fast quadratisch. Das Erdgeschoß ist mit heruntergekommenem Verputz bedeckt, darüber sind die nackten Feldsteine sichtbar, aus dem das Haus besteht. An einigen Stellen sind rote Ziegel zu sehen, mit denen Ausbesserungen vorgenommen wurden. Das Ziegeldach ist eher flach. Damit entspricht das Äußere ziemlich genau den meisten Gebäuden im Dorf, und nicht nur in Rivolto, sondern in vielen friulanischen Dörfern. Trotz seiner Renovierungsbedürftigkeit macht das Gebäude durch seine wohlproportionierten Maße einen gediegenen Eindruck. Es sieht aus wie ein heruntergekommener Mensch, dem die Zeichen seiner Bedürftigkeit das Selbstbewusstsein nicht genommen haben.


Innen sind die Estriche roh fertig, die Wände fein verputzt, die Kabelkanäle darunter verlegt, aber noch ohne Drähte. Es fehlen Türstöcke und Türen. Eingangstür und Fenster sind zu ersetzen. Durch die Eingangstür betritt man einen schönen Raum, der trotz einem Fenster neben der Tür zur Straße und einem Fenster gegenüber zum Hof im Halbdunkel liegt (zukünftig das Esszimmer für schön?). Durch einen kleinen Vorraum betritt man die nebenan liegende sehr geräumige Küche mit zwei Fenstern zur Straße. Gegenüber liegt das Stiegenhaus mit Platz für ein kleines WC. Eine Tür führt zum Hof hinaus. Der Bereich an der Tür ist überdacht, weil hier ein Zubau für ein Bad im Obergeschoß errichtet wurde. Er lehnt sich an die Hauswand und an die Wand des Stiegenhauses und stützt sich auf eine Säule. In den Hof gelangt man auch von der Straße her durch die Wageneinfahrt (zukünftig Garage?). Der Hof ist eine biblische Gstettn, links begrenzt vom Stiegenhaus, rechts von der Feldsteinmauer zum Nachbarn. Gegenüber ragt überraschend ein schmaler Turm auf aus Feldstein und fensterlose Öffnungen, eine Ruine, gleich hoch wie das Hauptgebäude. Daneben bietet ein ehemaliger Stall Unterstand für alles Mögliche. Im Turm erfordern notdürftige Stiegen und morsche Zwischenböden alle Vorsicht beim Aufsteigen in den oberen Teil. Unter der Annahme einer grundlegenden Restrukturierung würde die Ruine unter Einbeziehung des zweigeschoßigen Stalls ein weiteres kleines, aber vollständiges Haus ergeben. Im Obergeschoß des Hauptgebäudes betritt man vom Stiegenhaus her einen langen Flur. Von hier aus hat man links das Bad im Zubau. Es ist geräumig und bietet alles, was man braucht. Allerdings sind die Fliesen altmodisch, kitschig und ordinär grün. Rechts vom Flur drei schöne große Räume, wohl als Schlafzimmer gedacht. Die fünf Fenster sind zur Straße gerichtet. Auch hier derselbe bauliche Zustand wie unten. Estriche, Feinverputz, darunter Kabelkanäle. Desgleichen in der Mansarde darüber. Betritt man sie, bleibt einem erst einmal die Spucke weg. Der Raum öffnet sich über die gesamte Grundfläche des Hauses, sicherlich hundert Quadratmeter. Die Längswände sind fein verputzt, während die Stirnwände Sicht auf die Feldsteine gewähren. Ebenso frei sichtbar ist die Unterseite des Ziegeldachs, das auf rohen Holzbalken ruht. Die Ziegel sind nicht neu, scheinen aber ganz in Ordnung. Die Balken scheinen gesund. Das Dach liegt augenscheinlich ganz gerade. An einer oder zwei Stellen scheint Tageslicht durch Fugen der Feldsteine der vorderen Stirnwand. Die Vorstellung eines so riesigen und überdies anheimelnden Wohnraums ist überwältigend. Erst recht die Vorstellung des fertig sanierten Hauses, wenn man an die wunderschön wiederhergestellten friulanischen Häuser denkt, die wir schon gesehen haben. Durch eines der nordseitigen Fenster kann man über das gegenüberliegende Dach hinweg einen kleinen Zipfel der fernen Julischen Alpen erkennen. Schade, dass das Haus nicht noch mehr Höhe hat. Der Ausblick müsste herrlich sein. Von der Mansarde tritt man hinaus ins Freie auf das südseitig gelegene Flachdach über dem Bad. Man blickt in die chaotischen Hinterhöfe der Nachbarn. Unaufgeräumt lagert in ihnen fortwährendes Elend und das Gerümpel zweier Kriege und unzähliger Wirrungen. Der höhere Teil des Kirchturms erhebt sich über die Dächer. Darüber spannt sich hoch und weit der südliche Himmel.


Den Rest des Tages verbringen wir mit Rechnen. Ob der Preis lokal angemessen ist, können wir nicht beurteilen. Im Vergleich mit unseren bisherigen Erfahrungen, wenngleich auf anderen Märkten, erscheint er uns angemessen. Aber können wir uns das leisten? Bevor Annamaria nach Bozen übersiedelt ist, hat sie ohne irgendeine Ankündigung unser gemeinsames Konto abgeräumt. Ein sechsstelliger Schillingbetrag. Wir hatten dieses Konto immer gemeinschaftlich benutzt, befüllt und belastet. Daran hatte ich nichts geändert. Ich dachte, es wäre selbstverständlich, dass es jetzt unter uns aufzuteilen wäre. Andererseits konnte ich mir vorstellen, dass sie es nicht aus Habgier getan hat, sondern in der Sorge um ihre und Marios Zukunft. Daher unternahm ich nichts gegen ihren Schritt, legte nur ein neues Konto für mich an, nahe Null. Warte ab, was die Scheidung bringen wird, sagte ich mir. Walter, der lustige Immobilienmakler trat wieder auf. Annamaria und ich beauftragten ihn mit dem Verkauf des Hauses in Götzendorf. Den Erlös sollte er treuhändig zwischen uns aufteilen. Von da her habe ich also Geld zu erwarten. Dasselbe geschieht in Finnland zwischen Soile und Ilkka. Das sind unsere Aktiva. Die Passiva: beide Transaktionen sind noch in Schwebe und Soile hat noch keinen Job. Dem Mutigen bangt selten, denke ich, und das Objekt liegt eh nicht in Sankt Pölten. Wir unterschreiben den Vorvertrag.


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Der heilige Schreck packt mich in Aviano, wo ich den Vorvertrag noch einmal durchlese. An unauffälliger Stelle versteckt befindet sich ein Kästchen, das angekreuzt ist, daneben steht ‚inquilini‘ und die Ziffer 1. Was für ein Bewohner? Wer könnte in dieser Baustelle wohnen? Wenn auch nicht, hat hier vielleicht jemand ein Wohnrecht? Es wäre etwas, was wir sicher nicht brauchen können. Es ist zu spät, um den Makler anzurufen. Nach unruhiger Nacht erreiche ich ihn am nächsten Tag. Er hat keine Ahnung, wird sich die Sache anschauen. Ich höre nichts von ihm, erreiche ihn auch nicht mehr. Zwei Tage später erwische ich ihn in seinem Büro, bin bereit ihm den Vertrag an den Schädel zu schmeißen. Er nimmt ihn mir aus der Hand, streicht die 1 durch und schreibt daneben ‚0‘. Es gibt keine Bewohner oder Berechtigte. Wenn ich mir die Vertragsstelle so anschaue, könnte es jetzt auch heißen „inquilini 10“! Was ich daraus lerne? Steht in einem italienischen Vertrag die Ziffer 1, so kann das auch 10 heißen, oder es heißt 0. Man kann darüber streiten. Genauso gut könnte man 3 oder 7 behaupten. Wichtig ist, was man am Ende daraus macht.


Ich frage Dellorusso, was er von dem Kauf hält. Er schaut mich an wie einen Wahnsinnigen, kommentiert nicht, überlässt mir die Interpretation.

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Bis zum Termin beim Notar wird es noch eine Weile dauern. Er muss zuerst das Grundbuch einsehen. Der Parkwächter hat uns erlaubt, mit den Sanierungsarbeiten schon zu beginnen. Die Abende und alle Wochenenden sind jetzt verplant. Wir suchen Handwerker für die Arbeiten, packen aber auch selber an, was wir uns zutrauen. Relativ leicht finden wir einen Installateur für den Einbau einer Gasheizung und der Sanitäranlagen. Stefano arbeitet, wie ich es aus Österreich gewohnt bin, schwarz. Mit dem jungen Mann gemeinsam stemmen wir die Badezimmerfliesen von den Wänden und vom Boden. Händisch. Wenn die neuen so gut haften werden wie diese alten, werden wir sehr zufrieden sein. Vor einem der Flurfenster im Obergeschoß hängt jetzt der Strick eines primitiven Seilzugs. In Kübeln lassen wir den Schutt in den Hof hinunter, den er nach und nach in eine Mondlandschaft verwandelt. Ich suche ein Elektrogeschäft in Codroipo auf, kaufe viele Kilometer blauen, schwarzen und grün-gelben Kupferdraht, Schalter, Klemmen, Steckdosen und alles was man für die Elektroinstallation braucht. Der Verkäufer wird von allen ‚Baffo‘ genannt, wegen seines gezwirbelten Schnurrbarts. Wir kommen ins Gespräch auch über ganz andere Dinge als Elektrik. Baffo singt in einem Chor in Codroipo. Er befasst sich vorwiegend mit Literatur der ausgehenden Renaissance. Gelegentlich treten sie öffentlich auf. Er berät mich, wie der schon vorhandene Blitzableiter an die Erde anzuschließen ist. „Aufgraben“, sagt er. „50 tief, 15 lang.“ Mit 50 meint er sicherlich Zentimeter. Na schön, aber 15 Zentimeter lang? Nein, nein. Meter natürlich. Die Möglichkeit dazu habe ich im Hof zwischen Haus und Turm. Das schiebe ich auf für später. Wird ja nicht gleich ein Gewitter kommen? Mit Soile konzentriere ich mich auf die Verdrahtung der Verbraucher und Schalter. Jetzt kommen mir meine an der Modellbahn erworbenen Elektrikerkenntnisse zupass. Meine Vorstellungen von der Anzahl der Stromkreise weicht offenbar stark ab von der meiner Vorelektriker, die offenbar nur einen einzigen geplant hatten. Wechselschalter verlangen auch mehr Kabel. Die Kabelkanäle sind viel zu eng für all die Drähte, die da hineinsollen. Die ersten drei sind noch ein Kinderspiel. Die nächsten zwei oder drei dazu gehen auch noch irgendwie. Aber die dritten zwei haben es in sich. Wir schmieren die Drähte ein mit Seife, haken sie einzeln an eine Feder. Wo sie an der Feder hängen, sind sie umgeschlagen und daher doppelt dick. Ich ziehe, Soile schiebt. Tira! Tira! Die eingeseiften Drähte rutschen nicht viel besser, aber überhaupt. Unsere Jausenbrote schmecken nach Seife. Mitten im Rohr löst sich der Draht von der Feder. Zurück, wieder heraus, neuer Versuch. Auch die Verteilerkästchen sind zu klein dimensioniert für alle unsere Drähte. Die Hälfte von ihnen schaut chaotisch aus den Kästchen heraus, lässt sich nicht hineinstopfen. Es ist ein Höllenjob, aber wir schaffen es. Die Anlage ist fertig zum Einschalten. Der Fliesenleger macht mich darauf aufmerksam, dass bei dieser Installation die schwarzen Drähte Strom führen und nicht die blauen, wie üblich. Man möge es mir nicht als Faulheit auslegen, dass ich mich geweigert habe, das zu ändern. 


Zum Einschalten braucht man Strom. Ich gehe zur ENEL, will mich als Strombezieher anmelden. Dazu muss ich zuerst in Codroipo gemeldet sein, höre ich. Ich bin aber in Aviano gemeldet. Dann müssen Sie den Strom in Aviano beziehen. Jetzt geht das schon wieder los! Aiuuutooo!!! In Italy you never get what you expect. Wir einigen uns schließlich auf einen provisorischen Zähler für Baustrom. Und das Gas? Da die Anlage besteht, werden wir liefern, sobald die Kaution bezahlt ist. Und die Anmeldung? Ist uns egal. In Italy you get what you never expect.


Von unserer Terrasse auf dem Badezimmerdach beobachten wir, wie im Hof der benachbarten Bäckerei Ratten beim Warenmagazin ein und ausgehen. Auch unzählige Tauben und Katzen freuen sich über die fehlenden Glasscheiben in den Fenstern. Seither kaufen wir dort, obwohl es ausgezeichnet schmeckt, kein frisches Brot mehr, nur noch verpackte Industrieware. Soiles schriller Schrei macht mich darauf aufmerksam: Sie hat im Klo einen Skorpion entdeckt. Ein schönes Exemplar. 10 Zentimeter lang. Bedrohlich biegt er den Schwanz nach allem, was sich ihm nähert. Ich hole den Hammer und erschlage das Biest. Er ist nicht der einzige Inquilino dieser Art. Die Skorpione lieben die Spalten und Schlupfwinkel der Baustelle. Die Turmruine sind ihr Eldorado. Allerdings sind die meisten nur halb so groß. Der Bäcker meint, die können zwar beißen, was nicht angenehm ist, doch giftig sind sie nicht. Wir sind von nun an vorsichtig, wenn wir irgendwo hinein oder drunter greifen müssen. Ein mulmiges Gefühl stellt sich dabei jedes Mal ein.


Abends fahren wir immer erschöpft nach Aviano. Man braucht dazu eine knappe Stunde. Wäre doch Rivolto bald bewohnbar, ist unser sehnlicher Wunsch. Dann müssten wir Tarozzi nicht mehr anfüttern. Unser Blick richtet sich nach Südosten. Eines der flirrenden Lichter dort in der Ebene kommt von Rivolto.

Damit haben wir nicht gerechnet. Wie schwierig es ist, eine Zimmerei zu finden, um die vielen Türen und Fenster und Fensterläden und den Boden in der Mansarde anzufertigen. Die Politik hat es geschafft, die Gewerbetreibenden durch unsinnige Steuern, administrative Vorschriften und absurde Strafen so zu vergrämen, dass sie ihre Betriebe stilllegten oder ganz schlossen. Sechzigtausend haben das jedenfalls getan. Die Steuern und Strafen bezahlt und die Vorschriften einigermaßen eingehalten werden natürlich nur nördlich von Rom. Ein Heer von Beamten aus Süditalien, die gefürchtete Finanza, wacht darüber. Kein Warentransport darf mehr unterwegs sein ohne genau ausgefüllten Lieferschein. Die Finanzieri haben Halter von Fahrzeugen bestraft, auf deren Ladefläche sich ein paar verlorene Schrauben oder Reste von Sand befunden haben. Auch Touristen ist bekannt, dass man nichts kaufen darf, keine Lederjacke und keinen Espresso, ohne den ausgedruckten Scontrino mit hinaus auf die Straße zu nehmen, wo die Finanzieri lauern. Bestraft kann nicht nur der Verkäufer werden, sondern auch der Konsument. Die Finanzieri haben einen Fleischhauer bestraft, dessen Sohn sich mit dem Pausenpanino auf den Weg zur Schule gemacht hat. Sein Fehler: Er hat dabei nicht die private Haustür verwendet, sondern ist aus dem väterlichen Geschäftslokal getreten. Die strengen Strafen für solche und viele andere ähnliche Fälle wurden gerichtlich bestätigt. Im Süden hat man es sich auf viele verschiedene Weisen richten können. Es ist einer der Hauptgründe für das Erstarken der Lega Nord und ihr Eintreten für einen unabhängigen Staat, Padanien. Immer wieder fallen mir hasserfüllte Bemerkungen von Alteingesessenen gegen ihre Landsleute aus dem Süden auf. Gleich unterhalb Roms den Stiefel absägen und ins Meer versenken. Der Verlust vieler kleiner Gewerbebetriebe hat zur Überlastung der verbliebenen geführt. Daher hören wir auf unsere Anfragen von allen Seiten, gerne, aber frühestens in zehn bis zwölf Monaten. 


Der Notar lässt nicht von sich hören. Ich suche das Büro auf. Das Grundbuch konnte noch nicht eingesehen werden. Die Akte ist nicht auffindbar. Ich gehe zum Catasto (Grundbuchamt) in Udine. Es befindet sich in einem modernen Bürogebäude im Zentrum zusammen mit dem Finanzamt. Ich sage, ich habe das Haus in Rivolto gekauft und möchte den Grundbuchauszug einsehen. Die Beamtin verlässt das Büro, kommt bald zurück und sagt, die Akte ist nicht eingeordnet. Es ist auch gar nicht absehbar, ob das in den nächsten Monaten der Fall sein würde. Personalnot. Obwohl mich das nicht wirklich überrascht, gebe ich mich entsetzt. Ich habe doch schon eine beträchtliche Anzahlung geleistet und mich verpflichtet, den Kaufvertrag binnen sechs Wochen zu unterschreiben, andernfalls verfällt die Anzahlung. Natürlich bemerkt sie, dass ich Ausländer bin. Viele Norditaliener, vor allem Beamte, haben trotz der geschichtlichen Vorgänge immer noch eine hohe Meinung von der kaiserlichen Verwaltung, auch von der derzeit republikanischen. Vielleicht ist ihr der Lapsus deshalb etwas peinlicher als üblich. Sie fordert mich auf, mit ihr zu kommen. Ohne zu ahnen, wohin sie mich führen wird, trotte ich hinter ihr drein. Sie öffnet eine unversperrte Tür mit der Aufschrift ‚Campoformido, Basagliapenta, Codroipo‘. Ein mittelgroßer Raum. An den Wänden Regale. Sie sind halb leer. In der Mitte liegt in wüstem Durcheinander ein großer Haufen Akte. Etwas Ähnliches habe ich einmal in einer Wiener Anwaltskanzlei gesehen. Dort waren die Akte aber gestapelt. Diese hier liegen da, als hätte man sie von einem Laster gekippt. Hie und da lose Blätter, die aus den Aktendeckeln gefallen sind. Noch Fragen? Erstarrt stehe ich da und glaube es nicht. Wenn Sie wollen, können Sie selber suchen, sagt die Beamtin. Sie können kommen, wann Sie wollen. Das Archiv ist offen. Mitnehmen dürfen Sie nichts. Haha, Archiv. Da ich noch immer zögere, dreht sie sich um und geht davon. Neugierig geworden betrete ich den Saal, trete auf Akten, hebe sie auf und lese. Die Akte betrifft Campoformido. Die anderen Akte in ihrer Nähe ebenfalls. Ich gehe den Abhang des Hügels entlang. Auf der anderen Seite liegen Akte, die Basagliapenta betreffen. Hat man sie absichtlich so gruppiert? Ich umwandere weiter den Berg. Tatsächlich. Hier liegen Akte über Codroipo. Ich setze mich an den Rand des Haufens und fische einzelne Akte heraus. Wenn ich die ganze Flanke dieses Berges einzeln ansehen will, muss ich hier ein paar Urlaubstage verbringen. Ist doch schön in den Bergen. Schon bin ich auf dem Sprung, da fällt mein Blick auf eine Akte, die ich zuvor abgedeckt hatte. ‚Bertiolese‘ fällt mir ins Auge. So heißt unser Verkäufer. Ich greife mir die Akte und lese eine Katasternummer, die mir nichts sagt. Auf einer Seite im Innern ist die Postadresse des Grundstücks vermerkt: Codroipo, Via Giuseppe Gatteri, 5. Ha! Ich habe sie! – Oder doch nicht? Uns geht es um Via Giorgio Gatteri. Das hier ist eindeutig Giuseppe. Ich nehme die Akte und eile ins Büro der Beamtin. Zu meiner Freude bestätigt sie, das sei meine Katasterzahl. Giorgio oder Giuseppe, ist ja wurscht. Die Ziffer muss stimmen. Ich flehe die Frau an, die Akte nicht zurück auf den Haufen zu schmeißen. 

Ich verständige den Notar, dass er jetzt Einsicht nehmen kann. Das muss gefeiert werden. Wir haben irgendwie von einer netten Trattoria in Mortegliano gehört. Das liegt nahe der Straße von Codroipo nach Palmanova. Der schlanke, unglaublich hohe Campanile ist nicht zu übersehen. Mit 113 Meter ist er der höchste Italiens. Wir finden die Trattoria ‚Da Nando‘. Sie erstreckt sich über mehrere Räume in einem Landhaus. Das Ambiente ist rustikal. Es ist italienische Zeit fürs Abendessen, also kurz nach acht. Die Gasträume sind schon gut gefüllt mit lokaler Landbevölkerung. Sie alle haben Unterschiedliches zu feiern. Opas Geburtstag ist ein häufiger Grund. Sie haben sich entsprechend feingemacht. Wir finden aber unschwer Platz an einem Tisch für zwei, der von einem größeren nur durch einen ganz kurzen Abstand getrennt ist. An dem größeren Tisch hat eine kleine Gesellschaft mit dem Cena schon begonnen. Sie reden lebhaft durcheinander. Ein beleibter Mann mit weißer Wirtsschürze tritt heran. Das muss Ivan sein. Man hat uns erzählt, er habe Medizin studiert und promoviert, sich dann aber doch entschlossen, in den elterlichen Betrieb einzutreten. Es gibt keine Speisekarte. Ivan betet herunter, was er anzubieten hat. Eine rasche Wahl aus den friulanischen Spezialitäten ist schwierig zu treffen, nicht zuletzt, weil ich nicht einmal bei der Hälfte der Gerichte eine ungefähre Ahnung habe, was das sei. Ivan sagt, er macht das schon und ist schon wieder weg. Mehrere Frauen und Mädchen servieren. Eine davon bringt eine Karaffe Weißwein und einen großen Krug Leitungswasser, eine andere einen Korb mit Weißbrot, wieder eine andere zwei Dessertteller mit Antipasti, darunter verschiedene Aufstriche, Tonno, Olive, Carciofi, Erbe, einer besser als der andere. Wir haben von den Antipasti gerade einmal gekostet, da greift sich eines der Serviermädchen im Vorübereilen unsere Teller und trägt sie fort. Ich protestiere nicht, weil ich sehe, dass sie an jedem Tisch so verfährt. Ist auch besser so, wie mir bald klarwerden wird. Schon bringt ein anderes Mädchen zwei Kostproben vom Risotto agli Asparagi. Es folgt Pasta. Spaghetti al Sugo di Noci. Noch träume ich von der Walnusssoße, da stehen schon zwei weitere kleine Teller auf dem Tisch. Gnocchi di Zucca con Salvia. Die Träumerei setzt sich fort mit Lasagne ai Spinaci. Ohne uns eine Pause zu gönnen, die wir durchaus schon brauchen könnten, folgen die Primi. Die Teller sind jetzt etwas größer. Zwei große Schüsseln mit Insalata Mista kommen. Filetto Branzino. Conchiglie, Calamari, Gamberetti[1] con Salsa di Pesto. Die noch halbvollen Karaffen werden ausgetauscht. Frisches Wasser und statt dem mundigen Pinot ein dunkler Rotwein. Einige Scheiben Petto d’Oca mit angebratener Polenta. Spezzatino di Selvaggina. Einige Stückchen Tagliata mit Röstkartoffeln. Soile ist längst out. Ich halte das Märchen von einem Mädchen an, das die Teller mitnehmen will. Ich bin neugierig, ob Ihr das habt, frage ich. Das Mädchen zeigt gespannte Überraschung. Was will der noch? An diesem Punkt angelangt will sonst keiner mehr irgendwas. Ich schaue sie flehend an: Mitleid! Gnade! Sie prustet belustigt heraus und bringt mit gnadenloser Miene ein Medaglione di Cinghiale con Purè di Zucca. Ich weiß, es ist purer Wahnsinn, aber ich esse auch das noch und mit dem größten Vergnügen. Endlich tritt eine Erholungspause ein. Ein Zitronensorbetto soll für Ordnung sorgen in den Verdauungszonen. „Tutto bene?“ erkundigt sich Ivan en passant. Die Antwort wartet er nicht ab. Er weiß schon. Der Lautstärkepegel im Lokal bedingt, dass man sich nur noch schreiend verständigen kann, was bewirkt, dass der Lautstärkepegel… An manchen Tischen wird gesungen. Sehr lang ist die Pause nicht. Es geht weiter. Ein kolossaler Servierwagen wird durch den Raum geschoben. Er ist voll mit den verschiedensten Kuchen, Torten, Profiteroles, Tiramisu, Eis und Mousse. Jeder kann nehmen, was ihm beliebt. Keiner von uns ist noch in irgendeiner Lage, aber jetzt ist es auch schon egal. Das Gelato Meringata muss noch gehen. Notfalls ist ja Doktor Ivan zur Stelle. Caffè wird serviert, auf Wunsch corretto. Ein zweiter überdimensionierter Servierwagen macht die Runde. Das ist ein Tankwagen. In riesigen Gurkengläsern schwanken verschiedenfarbige Flüssigkeiten. Basis ist immer Grappa. Den Unterschied macht die Einlage. Blaubeeren, Himbeeren, Birne, Minze, Zitrone, Melone, Rosinen, das ist nur eine Auswahl aus Ivans Phantasiereichtum. Mit einem Suppenschöpfer füllt Ivan das Gewünschte ins wohldimensionierte Schnapsglas und stößt mit den Gästen an. Auf so angenehme Weise ist es elf geworden. Man zahlt an der Kassa neben dem Ausgang. Man kann einzelne Gerichte angeben, wenn man wenig konsumiert hat. Üblich ist aber eine Pauschale über das ganze Menü samt allen Getränken. Ivan hat alles bisher gemacht, er macht auch den Preis, nachdem wir mit ihm an der Kasse eine letzte Grappa gekippt haben. Der Preis ist eine Mezzie in Anbetracht des Gebotenen. Ich frage Ivan, ob er uns einen Tipp in Richtung Zimmerei, Fenster und Türen, geben kann. Er schreibt uns zwei Adressen auf. An diesem Abend bin ich sehr froh, keiner Polizeikontrolle ins Netz gegangen zu sein. Oft noch werden wir Ivan besuchen, zu zweit oder mit Gästen. Wer uns besucht, wird zu Ivan ausgeführt. Das ist ein sicherer Bonuspunkt für uns.

Zum vereinbarten Termin finden wir uns ein beim Notar in Codroipo. Der Sohn des Parkwächters ist schon da. Wir warten. „Il dottore sta stipulando“, erklärt die Sekretärin. Er ist mit dem Redigieren eines Vertrags beschäftigt. Dabei darf er nicht gestört werden. Termin hin, Termin her. Es muss ein komplizierter Vertrag sein. Hoffentlich nicht unserer, sonst wird das teuer. Wir warten schon eineinhalb Stunden. Der junge Bertiolese ist schon seit Längerem ungeduldig. Die Tür zum Büro des Notars geht auf. Eine schöne Frau huscht heraus, elegant, aber ein wenig derangiert. Atemlos, kommt mir vor. Il dottore stava stimolando, denke ich. Der Notar rückt seine Krawatte zurecht. Er liest uns den Kaufvertrag vor, Absatz für Absatz. Fast am Ende stellt er die Frage, die ich noch oft nach einem weitschweifigen Gespräch hören werde. Ich unterhalte mich eine halbe Stunde mit einem Gesprächspartner und dann wie aus dem Nichts heraus diese Frage. „Ma Lei parla l’Italiano?“ Soile hat Probleme beim Verstehen. Ich möchte nicht so oft mit Erklärungen unterbrechen und sage, ich werde es ihr später erläutern. Sie fühlt sich gar nicht wohl dabei, einen Notariatsakt zu unterschreiben, dessen Inhalt ihr nicht restlos klar ist. Sie tut es trotzdem, weil wir alle es tun und weil wir sonst ein anderes Mal wer weiß wie lang warten müssten, bis der Herr Doktor fertig stimuliert hat.

Wir suchen die beiden Adressen von Ivan in der Gegend um Mortegliano auf. Im ersten Betrieb wird inmitten eines wüsten Durcheinanders hektisch gearbeitet. Sehr gerne, in zehn Monaten vielleicht, hören wir wieder. Schon befürchte ich, Ivan ist vielleicht auch nur so ein Tarozzi. Trotzdem fahren wir auch die zweite Adresse an. Es herrscht drückende Mittagshitze. Auf dem Beriebsgelände herrscht verschlafene Ruhe. Angekettete Hunde bewegen nur die Augäpfel hinter den Lidern, als wir den Hof betreten. Im Schatten eines Rosenbuschs schlafen Katzen. Die Schiebetore zu den Werkshallen sind geschlossen. Stille in Italien ist sehr ungewöhnlich. Hier ist es totenstill. Fehlt nur das schlafende Dornröschen. Kein Material liegt herum, keine Sägespäne. Mir scheint, gezimmert wurde hier lange nicht. Ich klopfe an die Tür, die anscheinend zum Wohnhaus gehört. Nichts. Ich klopfe nochmals. Nach einer Weile öffnet sich die Tür. Eine Frau um die fünfzig schaut zwischen den Schnüren eines Fliegenvorhangs durch. Ich entschuldige mich für die Störung der Mittagszeit und erkläre kurz unser Problem. Die Frau sagt, Ugolino ist nicht da. Oh, da kommt er ja. Ugolino auf einem alten, schweren Fahrrad kurvt heran. Er trägt einen Latzanzug über dem weißen Unterhemd, Sonnenbrille und einen Hut mit breiter Krempe, der schon einiges erlebt haben dürfte. Ich entschuldige mich auch bei Ugolino, erwähne, dass Ivan uns hierhergeschickt hat, und erkläre unser Anliegen. Na ja, ich arbeite nur noch gelegentlich, sagt er, für Verwandte und gute Freunde. In diesen Zeiten zahlt es sich nicht mehr aus. „Was können wir tun, um Ihre Freunde zu werden?“ frage ich. „Sagen Sie es mir bitte. Ich würde es bestimmt machen.“ – Von der Finanza sind die nicht, denkt Ugolino. Woher wir kommen, fragt er. Ich erzähle die Kurzversion unserer Geschichte. Oho, una Finlandese e un Austriaco vengono in Italia per viverci qua. Das scheint ihn zu interessieren. Er nimmt die Sonnenbrille ab und mustert zuerst Soile und dann mich. Mit dem rechten Auge, denn sein linkes rollt gleichzeitig fürchterlich in alle Richtungen. Ein Unfall, vermutlich. Er will Näheres über das Projekt wissen. Ich schwärme von stilgerecht hergerichteten friulanischen Gebäuden. Keine Jalousien, sondern Holzbretter als Fensterläden. Ugolinos Interesse steigt. Er setzt sich in unser Auto, lotst uns zu einem restaurierten Haus in der Nähe, an dem die Holzarbeiten von ihm stammen. Unsere Begeisterung ist echt. Genauso stellen wir uns das vor. Ugolino freut sich. Sicherlich rotiert sein linkes Auge hinter der Sonnenbrille. Er wird am Abend nach Rivolto kommen, um sich das anzuschauen.


Ugolino hält Wort. Er misst alles aus und macht sich Notizen. Was für ein Boden auf die große Fläche in der Mansarde kommen soll? Schiffboden. Breite Bretter. Eiche oder Esche. Ugolino ist begeistert. Er verspricht einen Kostenvoranschlag. Er bringt ihn ein paar Tage später. Wir schlucken. Es ist wirklich ein Anschlag. Was aber sollen wir machen? Vergeblich gesucht haben wir schon genug. Wir brauchen diese Wohnung. Bald. Vorsichtig versuche ich herauszufinden, ob der Preis verhandelbar ist. Mein Vorurteil sagt, der Bieter wäre beleidigt oder misstrauisch, würde ich es nicht versuchen. Ugolino nimmt die Sonnenbrille ab. Sein rechtes Auge schaut fest in die meinen. „Mir ist bewusst, dass Sie als Ortsfremder die Kosten dieser Arbeit nicht richtig einschätzen können.“ sagt er. „Das rettet Sie. Nur deshalb setze ich mich nicht auf der Stelle in den Wagen und fahre weg. Wer mich kennt, weiß, dass ich nicht verhandle wie auf dem Markt. Glauben Sie mir, ich habe alles korrekt berechnet. Sie können diese Arbeit von keinem Konkurrenten günstiger bekommen. Von mir aber bekommen Sie für diesen Preis erstklassige Qualität. Wenn Sie wollen, können Sie statt Esche Fichte haben, aber ich empfehle es Ihnen nicht. Die Ersparnis hält mit dem Qualitätsverlust nicht Schritt.“ Ugolino hat es geschafft, mein volles Vertrauen zu gewinnen. Übrigens kann ich die Arbeit von Anderen überhaupt nicht bekommen in absehbarer Zeit, denke ich. „Wann können Sie fertig sein?“ frage ich. - „Sechs Wochen“. - „Sicher?“ – „Wenn ich sage, sechs Wochen, dann ist das sicher. Es könnten auch nur fünf werden. Das ist aber nicht sicher. Daher sage ich, sechs.“ - Von diesem Mann könnten viele meiner Landsleute Präzision und Klarheit lernen. Mein Blick fällt in Soiles Augen. Ihr ist Handeln sowieso zuwider. Ich erkenne, dass sie einverstanden ist. Also reichen wir Ugolino die Hände und schlagen ein. Das war vor genau sechs Wochen. Heute sieht das Haus zum ersten Mal fast bewohnbar aus. Die offenen Löcher sind mit gediegenen Fenstern aus Holz mit doppelter Verglasung geschlossen, feste Kassettentüren, die nicht derb rustikal, sondern trotz ihrer Massivität ländlich, aber grazil wirken. Schwerer sind die Außentüren zur Straße und zum Hof. Sie bestehen aus einem robusten Holzraster. Die Verglasung sitzt innenseitig vor dem Raster in beweglichen Flügeln, die separat geöffnet werden können. Schiffböden, geschliffen und lackiert, im gesamten Obergeschoß und in der Mansarde, die damit noch atemberaubender aussieht. Der Kostenvoranschlag ist geringfügig unterschritten. Wir haben uns nicht getäuscht in Ugolino.

Gleichzeitig legte Stefano die Fliesen im Erdgeschoß, auf den Stiegen und im Bad. Für die Böden nehmen wir unbehandelte Terrakotta. Behandelte wäre zu teuer. Ich werde sie später selber einlassen. Und dabei so viele Sünden abbüßen, dass mein Aufenthalt im Fegefeuer sechs Monate kürzer ausfallen kann. Nachdem das Bad verfliest ist, montiert Stefano den Hygienebereich fertig. Was das bedeutet? Man stelle sich vor: Wir können einziehen! Bye-bye Aviano, ciao Tarozzi! Was noch unvollständig ist, können wir nach und nach selber erledigen. Giorgiola erwartet uns. Wieder ist ein Umzug zu organisieren. Ein Stück weiter die Via Gatteri entlang habe ich mehrmals einen schönen Lastwagen mit weißem Kastenaufbau auf einem Grundstück gesehen. Ich habe sofort gewusst, der wird unsere Übersiedlung von Aviano machen. Wir spazieren zu dem Grundstück. Ein junger Mann steht neben zwei Beinen, die unter dem Motorbereich des Lastwagens hervorschauen. Da wird offenbar etwas repariert. Hallo, rufe ich und deute dem Helfer heranzukommen. Er nähert sich. Ich begrüße ihn und sage, wir hätten einen Umzug zu bewerkstelligen, ob sie das machen. Der junge Mann geht wieder zum LKW und sagt etwas zu den Beinen. Die winkeln sich an und bewegen einen etwas älteren Mann unter dem Wagen hervor. Indem er auf uns zukommt, sagt er schon von Weitem, sie machen keine Umzüge. Sie machen überhaupt keine Transporte. Wozu dann der Lastwagen, frage ich mich, weiß aber, das ist wieder so eine Abwehrreaktion gegen eventuelle Finanzieri. Ich stelle uns vor als zukünftige Bewohner von Nummer 5, die von Aviano hierher umsiedeln. Der Mann stellt augenscheinlich dieselben Überlegungen an wie früher Ugolino, während er uns mustert. Er kommt zu dem gleichen Ergebnis. Die sind nicht von der Finanza. Und der Transport ist schon fixiert. Noch ist nicht ganz klar, wer fahren wird, der Sohn oder der Vater. Wenn es der Vater ist, kommt er am Montag. Ist es der Sohn, dann am Dienstag. Ich soll am Sonntagabend anrufen.

Mit den Möbeln aus Aviano können wir das Haus teilweise einrichten. Es fehlen aber noch wichtige Dinge. Den klapprigen Küchenkasten aus der Jacuzzi-Villa in Lignano können wir hier nicht brauchen, höchstens als Gartenküche auf der Terrasse unter dem Bad. Die Katzenkolonie von Rivolto wird sie als Luxusbleibe und Neonatipavillon in Beschlag nehmen. Unsere Küche ist ziemlich geräumig und verlangt nach entsprechenden Einbaumöbeln. Auch rechnen wir mit Besuchen von Mama sowie von Soiles Töchtern. Ein weiteres Schlafzimmer wird benötigt.


Cordovado ist eine kleine Gemeinde bei Portogruaro. Es weist eine Wallfahrtskirche auf, einen echten venezianischen Palazzo, einen falschen Renaissancepalazzo, mittelalterliche Kastellruinen, einen Dom, eine Wallfahrtskirche. Und Rino Romano. Das ist ein für den kleinen Ort weit überdimensioniertes Möbelhaus, das überregional frequentiert wird. Das weiß ich aus dem Radio. Ö1 kann ich in Italien nicht empfangen. Am nächsten kommt ihm noch RAI3, wenn man nachsichtig ist und bereit zurückzustecken. In der Früh werden wir meistens geweckt mit Respighi, dem Lieblingskomponisten der Programmredaktion. Vor den Nachrichten füllt man entstandene Löcher mit Rainer Zipperling, dem Kölner Cello- und Gambenspezialisten. Eine angenehme Frauenstimme macht die Ansage. „Ofde gelagede daine Erze, wiii swere ese sai, Rra-inerr Ziiberrrliinghe, Viola da Gamba“. An ‚Viola da Gamba‘ wenigstens erkennt man, wie perfekt das Deutsch der Sprecherin ist. Je nach Pausenloch spielt man die ganze Motette oder einen Bruchteil. Nicht ersparen kann man sich die Absage. „Ofde gelagede daine Erze, wiii swere ese sai, Rra-inerr Ziiberrrliinghe, Viola da Gamba“. Nach den Nachrichten geht es weiter mit, natürlich, Respighi. Werbepausen gibt es auch. Scarpe comode, Valle Verde. Oder Mobili Squisiti, Rino Romano, Cordovado. Rino Romano also liefert uns die fehlenden Möbel. Er wird dieses schlechte Geschäft bis 2018 überleben.

Sonntagabend rufe ich in Rivolto an wegen des Transports. Eine Frau hat keine Ahnung, ob nun der Vater kommt oder der Sohn. Es wäre mir ja egal, aber es geht um den Wochentag. Am Montag warten wir umsonst, also wird es der Sohn sein. Tatsächlich fährt der weiße Kastenwagen Dienstagfrüh am Viale San Giorgio vor. Ich zeige dem Sohn den Inhalt der Garagenbox. Dann fahren wir bequem mit dem Lift hinauf zur Wohnung. Laokoon hat seinen Job erfolgreich beendet. „Was, das alles?“ Der Sohn ist entsetzt. Ich weiß nicht, was er gedacht hatte. Ein Stockerl, vielleicht? Einen Freund hat er mitgebracht. Wir brauchen mehr Leute, stellt der Sohn fest. Ich fahre mit ihm zu einer Telefonzelle. Er will den Vater anrufen. Der Vater rät dem Sohn, er solle ein paar Leute auf der Straße anreden, ob sie nicht helfen wollen. Wir kehren zurück zum Schlachtfeld. Die alte Frau im Haus hat mitgekriegt, dass da schon wieder ein Umzug stattfinden soll. Sie hat den Verwalter verständigt. Der hat sofort den Lift ausgeschaltet. Ich helfe den beiden Umzugsspezialisten so gut ich kann, die Möbel aus der Wohnung zum Laster zu tragen. Immer munter rauf und runter. Zu Mittag ist der Lastwagen voll, aber es gibt noch einmal so viele Möbel. Der Freund des Sohnes ist clever. Er findet immer die Lösung, wenn es ums Schlichten und Umschlichten geht. Jetzt ist fast alles aufgeladen.


In meinem Verlies, der kleinen Garage, kann ich gut hören, was draußen vor sich geht. Ich erkenne Soiles und Rainers Stimmen und ein paar italienische Laute. Offenbar sind sie dabei, die Wohnung auszuräumen und die Sachen auf einen Wagen zu verladen. Das geht sich hinten und vorne nicht recht aus. Sie beginnen ein paarmal von vorne. Schon fürchte ich, hier vergessen zu werden, da hebt sich das Garagentor. Ein paar Kleinigkeiten, die mir in der Box Gesellschaft geleistet haben, finden problemlos ihren Platz auf dem vollen Wagen. Auch für mich ist ein schmaler Streifen frei geblieben. Aber wie soll ich da hinauf gelangen? Rainer und zwei junge Italiener versuchen es auf verschiedene Weise, umsonst. Zu schwer, zu unhandlich. Schließlich die zündende Idee: Sie schieben mich nahe an die Ladefläche heran, heben alle drei von unten an und oben bin ich. Autsch! Mein oberer Deckel ist gespaltet. Kollateralschaden. Das Ausladen in Rivolto ist ein Klax. Jetzt ist der Vater des einen jungen Mannes dabei und noch ein Helfer. Trotzdem lande ich ziemlich unsanft auf dem Boden. Das Haus, vor dem ich stehe, sieht so ganz anders aus, als ich es gewohnt bin. Lienfeldergasse, Alserstraße, Götzendorf, lauter sehr unterschiedliche Baustile. Und das hier ist wieder ganz etwas anderes. Wozu stelle ich Überlegungen über dieses Haus an? Ich werde nicht hier wohnen. Man schiebt mich in einen ehemaligen Viehstall. In der Fensteröffnung befindet sich kein Fenster. Der Wind spielt mit übriggebliebenen Strohhalmen.


Wir weisen die Leute an, was wohin. Am Abend finden wir uns in einer Wohnlandschaft der anderen Art wieder. Das Wichtigste: Wir wohnen hier. Nur noch ein Besuch bei Tarozzi, um den Wohnungsschlüssel zurückzugeben.


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