H - Frühlingsreise I

Frühlingsreise I

worin vorkommen: Pordenone, Abanien, Götzendorf, Wien, Schladming, Rivolto, Codroipo, Aviano, Udine, Rom, Milano, Bergamo, Amsterdam, Ottakring, die Maroltingergasse, die Steinbruchstraße, Breitensee, der Opernringhof, das Gasthaus Smutny, die Elisabethstraße, die Operngasse, Oberlaa, Hietzing, der Auhof, der Wolfgangsee, Graz, Klagenfurt, der Balkan, Chiusaforte, das Fella-Tal, die Autobahntunnel Zanier und Raccolana, Sella Nevea, Tarvisio, Resiutta, Uusikaupunki, Helsinki, die Kathedrale, die Uspenski-Kathedrale, Lieto, München, Stockholm, Turku, Kalabrien, Vietnam, New York, Ägypten, Madeira, Salerno, Taranto, der Steinhof, Pietro Locatelli, Friedrich der Große, Maria Theresia, Jörg Haider, Elfriede Jelinek, 'Burgtheater', 'Lust', Jack Unterweger, Hermann Hesse, sowie  die Gründung eines Startups

1. Szene

Rezeptionist (Dienstuniform), Dellorusso (grauer Anzug, schwarze Krawatte), Rainer (Jeans, Hemd, Weste)


Die Lobby eines Hotels in Pordenone. Rechts eine geschlossene Doppeltür mit matten Glasscheiben. Der Rezeptionist ordnet seine Zimmerschlüssel. An einem kleinen Couchtischchen sitzt in einem bequemen Stuhl Rainer. Er liest Zeitung. Man sieht die von ihm abgewandte Titelseite: Il Messaggero / Invasione dall’Albania (Massenflucht aus Albanien nach Italien, nachdem die Regierung in Albanien zusammengebrochen ist).


An einem anderen Couchtischchen sitzt in einem bequemen Stuhl Dellorusso. Auch er liest Zeitung. Man sieht die ihm abgewandte Titelseite: Il Gazzettino / Inchiesta su Gladio (Nach der Aufdeckung von 'Gladio' begann man, den Skandal aufzuarbeiten.)


Nach einer Weile legt Rainer die Zeitung weg. Kurz darauf auch Dellorusso. Die beiden sehen einander kurz an, wenden aber die Blicke gleich wieder ab. Rainer schaut dem Portier bei seiner Tätigkeit zu.


Dellorusso:        (schaut auf die Uhr. Ungeduldiges Murmeln.)

Rezeptionist:     Ma, diventa lungo quel discorso. Gradite da bere?

Dellorusso:        Beh, un Gingerino mi starebbe proprio bene.

Rainer:                No, grazie. (Steht auf, geht zum Eingang, schaut auf die Straße.)

Rezeptionist:    (nimmt ein Gingerino aus einem Kühlschrank und gießt es in ein Glas. Stellt es vor Dellorusso auf das Tischchen.)

Dellorusso:         (nimmt einen Schluck.)

Rezeptionist:     (widmet sich wieder seiner Arbeit.)

Alle schweigen. Das Bild scheint eingefroren.

2. Szene

Rezeptionist, Dellorusso, Rainer, Scussel (kleines Schwarzes, weiße Bluse)


Scussel:              (Auftritt durch die seitliche Tür). Sie können jetzt eintreten.

Rainer:                (wendet sich langsam um und geht langsam auf die Tür zu.)

Dellorusso:         (lässt das halb volle Gingerinoglas stehen, steht rasch auf und bewegt sich ebenfalls rasch auf die Tür zu.)

Verwandlung

Die Bühne dreht nach links. Der Frühstücksraum hinter der Doppeltür bleibt fast frontal stehen.

3. Szene

Pscheidl sen. (schwarzer Anzug, graue Krawatte), Frau Pscheidl (buntes Reisekleid), Dieter Pscheidl (brauner Anzug, leichter Pullover), Gharibeh (blaukarierte Hose, grün-rotkariertes Hemd) sitzen um einen der weiß gedeckten Frühstückstische. Benutztes Kaffeegeschirr auf dem Tisch, von den Personen weggeschoben.


Scussel:         (kehrt von der Tür auf ihren Platz zurück.)

Dellorusso, Rainer: (folgen ihr.)

Dieter Pscheidl:  (deutet auf zwei leere Plätze am Tisch, die weit auseinanderliegen.) Bitte, nehmen Sie Platz.

Dellorusso, Rainer: (setzen sich.)

Dieter P.:        Es hat ein bissl gedauert. Wir haben ganz allgemein über die zukünftige Struktur von Avus Italia beraten. Es lässt sich nicht leugnen, unsere Auftraggeber haben in den letzten Monaten Veränderungen bemerkt und, wie soll ich sagen, nicht ganz negativ                         reagiert.

Scussel:            (übersetzt flüsternd für Dellorusso.)

Dieter P.          Es sind Veränderungen, die, wie wir hören, auf Herrn Richter zurückzuführen sind. Allerdings waren diese Veränderungen nicht mit uns abgesprochen, vor allem aber nicht mit Frau Scussel und Herrn Dellorusso.

Dellorusso:    Per niente. Questo qui arriva e fa come pare a lui. Non rispetta nessuno. Mi spia. Crea sistemi strani di sorveglianza. Continua a spiegare come va fatto altrove. Ci fa sogghigni da farci montare in bestia. Non vuole  sentire consigli. Sempre col piede di porco. Unica cosa che gli soddisfarebbe sarebbe noi dicendo, (zackig:) Jawoll, mein Führer! Mai in vita mia avrei…

Scussel:               (übersetzt laut für alle:) Mit uns hat er nichts abgesprochen. Kommt an und macht, was er will. Respektiert keinen. Spioniert mich aus. Führt eigenartige Überwachungsmethoden ein. Doziert in einem fort, wie es anderswo gemacht wird. Dabei grinst er auf eine Weise, es ist zum an die Decke springen. Nimmt keine Ratschläge an. Immer mit der Brechstange. Was er hören will, ist wahrscheinlich        Jawoll, - nein, das übersetze ich jetzt mal nicht…

Rainer:                (lächelt amüsiert) Aus dem Piefkinesischen?

Dellorusso:         Guardate pure, come ghigna, ancora ghigna, incredibile.

Scussel:               Tatsächlich, er grinst immer noch.


Pause.


Gharibeh:           (grinst) Meine Damen und Herren, isch glaube es werde angezeischt, etwas Fassung. Also, Haltung. Animositäten werde uns nischt bringe weiter.

Frau Pscheidl:    Ja, wenn er aber doch grinst!

Pscheidl sen.:    Das wird ja hoffentlich net das Thema sein. I fahr doch net extra nach Pordenone, weil da ana grinst.

Dieter P.:            (zu Rainer, jovial:) Also hörn S‘ halt auf zum grinsn, Richter. (Zu Gharibeh:) Und du a, Mussa.  Pause. (Wieder zu Rainer:) Also, es ist so, betriebswirtschaftlich und dienstleistungsmäßig gesehen halten wir Ihre Ideen für nicht ganz abwegig. Nur, bei der gegenwärtigen Konstellation, so wie Avus Pordenone derzeit dasteht, also mit einem Italien-Direktor, mit Frau Scussel als Bürochefin, mit einem Chefliquidator, der, wie mir von Mussa und Tamara versichert wird, unverzichtbar ist, das passt ja net zsamm, oder? Da wären ja glatt ein paar unnötig! Zum Glück hat der Dellorusso der Tamara zugsagt, noch ein zwei Jahre anzuhängen, bevor er in Pension geht. Bis                     dahin müssten S‘ halt nach dem hier üblichen System arbeiten, das heißt net direkt mit den Auftraggebern, sondern über Mussa in Graz. Haben wir uns verstanden, Richter? In der Zeit werden S‘ dann wohl auch so weit sein, den Dellorusso ersetzen zu können, möcht ich doch hoffen.

Scussel:               (übersetzt flüsternd für Dellorusso.)

Dieter P.:            Und, Richter, bitte, net spioniern und, um Himmels willen, net grinsen!

Rainer:                (erhebt sich; ernst:) Herr Pscheidl, Herr Doktor Pscheidl, dazu muss ich Ihnen eine Mitteilung machen. Ich möchte mich bei Ihnen bedanken für die freundliche Aufnahme in Wien und in Graz, für die freundliche Unterstützung zur Erfüllung meines persönlichen Wunsches nach Italien zu gehen. Die Gründe dafür haben sich inzwischen in Luft aufgelöst. Das Schicksal wollte es so. Die Arbeit hier, so wie sie hier angelegt wird, gibt mir nicht Erfüllung, sondern Frust. Wie man sieht, werde ich hier auch nicht wirklich gebraucht. Genaugenommen würden Sie hier überhaupt niemanden zusätzlich brauchen. Mich aufbauen für den Fall von Dellorussos                                  Pensionierung? Unnötig. Avvocato Centrone macht eh schon fast alles. Den Rest würde er sicherlich sehr gern auch noch machen. Also kurz, ich werde meine Tätigkeit für Avus mit Ende des Jahres beenden.

Scussel:              (hat vergessen zu übersetzen.)

Dellorusso:         (zu Scussel:) Cosa sta dicendo? Cosa sta dicendo?

Pscheidl sen.:    (zu Rainer:) Richter, sans deppat? Se san ja bald fufzig. Was wolln S‘ denn anfangen?

Scussel:               (zu Dellorusso:) Fa delle impertinenze. - E si licenzia.

Rainer:                (zu Pscheidl sen.:) Machen Sie sich keine Sorgen um mich, Herr Pscheidl.

Pscheidl sen.:    (zu Rainer:) Direktor Pscheidl! Sovül Zeit wird sein!

Dieter P.:            Hab ich mir fast gedacht. Herr Richter, wir akzeptieren Ihre Kündigung. (Zu Scussel:) Spricht etwas dagegen, Herrn Richter bis zum Ablauf der Kündigungszeit zu beurlauben?

Scussel:               Um Gottes willen, nein!

Dieter P.:            Dann ist auch das klar. Herr Richter, wir wünschen Ihnen alles Gute.

***

So. Jetzt sitze ich in Italien. Mit einer Finnin, die ich liebe, die auch mich liebt, die aber hier überhaupt nicht hergehört. In einem abgelegenen Haus, das bewohnbar, aber noch weit entfernt von einem Zuhause ist. Tierasyl für Katzen, Skorpione, Tauben und Ratten. Wir beide ohne Aufenthaltstitel. Ohne Arbeit. Ohne Einkommen. Allein in ihr Heimatland zurückkehren, das wäre eine verheerende Erniedrigung für Soile. Sie könnte mit mir nach Österreich kommen. Die Chancen für uns beide wären viel besser als hier.

***

Abendessen in Giorgiola mit Soile. Nicht wie sonst in der Küche an dem kleinen weißen Klapptisch von der Straßenbahnterrasse im Tannhof. Diesmal im Esszimmer an unserem Bambusglastisch, versehen mit einem Tischtuch, schön gedeckt, im Kerzenlicht. Das Essbesteck stammt aus Götzendorf. Ich wundere mich, dass es Soile nichts ausmacht. Rot leuchtet der Wein aus den Gläsern. Rot auch die Rosen, die ich Soile zum Geburtstag mitgebracht habe. Soile hat Spaghetti gemacht. Ugolino neben dem Tisch, gespannt, ob für ihn etwas abfällt. Die Terrakotta ist immer noch unbehandelt. Alles was Fett ist, macht dunkle Flecken, die kaum zu entfernen sind. Egal. Ugolino hat die Angewohnheit, Brocken aus seinem Fressen mit der Pfote aus dem Napf zu nehmen, sie daneben auf den Boden zu legen und von dort mit dem Maul aufzunehmen. Flecken da, Flecken dort. Unvermeidliches Schicksal. Soile fragt, ob es etwas Neues gebe im Büro. Sie weiß, Neues könnte nur positiv sein. Nichts Neues, es wird langsam unerträglich. Soile fragt nicht, warum. Wir haben oft ausführlich darüber geredet. Wir sind uns einig, so weitermachen hat keinen Sinn. Wenn ich aber mein Gastspiel hier beende, was soll dann werden? „Bitte, bitte, schick mich nicht zurück!“ fleht Soile. Ihre Scheidung ist durch. Meine auch. Mario bleibt bei Annamaria. Ich zahle Alimente. Walter hat schon einen Käufer für Götzendorf an der Angel. Trotz aller Probleme schmecken die Spaghetti ausgezeichnet. Der Chardonnay ebenso und auch die Grappa danach. Der Alkohol beflügelt die Ideen. Eine davon lässt mich nicht mehr los.


„Was meinst du,“ fantasiere ich, „wir machen unsere eigene Avus auf. Wir wissen, wie’s geht, wissen, was die Auftraggeber von uns erwarten, wissen, wie man’s besser machen kann als die Avus.  Ich bin ein Profi, du bist ein Profi. Warum sollte das nicht klappen?“


Soiles spontaner Kommentar: „Du bist und bleibst verrückt.“


„Natürlich. Wäre ich sonst hier mit dir?“


„Kannst du dir vorstellen, wieviel Geld wir brauchen für eine Firmengründung?“


„Gar nicht viel. Telefon ist da. Das alte Plattendiktiergerät von der Allianz. Das eine Schlafzimmer da oben wird das Büro. Kurzer Weg zur Arbeit, hihi. Von der Arbeit ins Schlafzimmer noch kürzer, hihi. Eine Schreibmaschine brauchen wir und ein Fax. Briefpapier drucken lassen, ziemlich wenig fürs Erste. Eine Reise nach Wien, Auftraggeber aufreißen, eine nach Deutschland, noch eine nach Finnland und los kann’s gehen.“


„Und ich habe noch knapp vor Schladming mit Dieter einen Kooperationsvertrag für Sampo abgeschlossen!“ In diesem Ärger lag schon weniger Ablehnung.


„Stell dir vor, nach eigenem Ermessen arbeiten, selber entscheiden, was wichtig ist und was richtig… Ein kleiner Familienbetrieb werden wir sein.“


„Ja, du wirst entscheiden und ich werde gehorchen wie schon immer früher. Das kann ich ja am besten. Ausbeuten wirst du mich. Deine Schreibkraft werde ich sein und vielleicht Buchhalterin. Du wirst dir eine Jüngere anlachen, wie Dieters Vater, und ich werde hier grau und runzelig, wie Dieters Mutter.“


„Werde ich nicht! Ich schwör’s! Den Partnertausch haben wir hinter uns. Ich hab‘ ja schon eine Jüngere. Neun Monate jünger als ich, hihi. I love you, Soile. Don’t forget that. Never!“


„Eine Menge Behördenkram werden wir erledigen müssen. Firmenbuch, Sozialversicherung, Finanzamt… Und das in Italien! Wer weiß, ob wir das überhaupt machen dürfen?“


„Der Pscheidl darf ja auch. Wieso sollten wir nicht dürfen?“


„Herra Jumala, ich glaube, du meinst das ernst? Wenn du etwas ernst meinst, das endet immer in einer Katastrophe.“


„Ich weiß, aber bis dahin ist’s schön!“


Der Wein war aus, aber die Grappa reichte noch für Stunden des Diskutierens. Schließlich kamen wir zu zwei voneinander unabhängigen Ergebnissen: Erstens, wir werden das versuchen. Wenn es nach sechs Monaten nicht angelaufen ist, hören wir wieder auf. Zweitens, wir werden im Frühjahr heiraten. Die Nacht endete im Schlafzimmer neben dem zukünftigen Büro.

***

‚Crash Cash‘. Einprägsam, aber zu grell. Beschränkt uns auf Kollisionen. Wird in Italien wahrscheinlich oft nicht verstanden.


 ‚Danni Money‘. Danni, italienisch für Schäden. Auch nicht schlecht, aber seriös wohl nicht.


Was machen wir eigentlich? Wir bieten Dienstleistungen im Zusammenhang mit wechselseitigen Forderungen über Staatsgrenzen hinweg. Forderungen – Claims. Dienstleistungen – Service. ‚Claims Service‘. Ich befürchte, Italiener verstehen unter Claim nichts Anderes als den abgesteckten Flecken Erde zum Goldschürfen. Andererseits, international kann es wohl richtig verstanden werden. Und es klingt seriös. Für die Italiener setzen wir noch den Firmensitz dazu. Rivolto. Neben der reinen Ortsbezeichnung kann das dem Italiener etwas vermitteln wie ‚gewandt‘ (im Sinne von fähig, versiert), ‚zugewendet‘ oder ‚zugewandt‘ (im Sinne von zugetan), ‚umgedreht‘ (etwa eine missliche Lage, einen Schmiss), ‚sich an jemanden gewendet haben‘, ‚den Spieß umgedreht haben‘…


‚Rivolto Claims Service‘. Dieser Firmenbezeichnung können wir beide zustimmen.

***

Auf dem Anagrafe (Meldeamt) von Codroipo melde ich uns beide an. Dazu habe ich Soiles Reisepass mit mir. Das heißt, ich beantrage uns anzumelden. Man weiß schon, es muss von der Behörde überprüft werden, ob wir wirklich dort wohnen. Ob wir schon irgendwo in Italien gemeldet waren? Nein, log ich. Ich wollte nicht noch einmal nach Aviano. Ich könne aber nur mich selbst anmelden. Soile müsse persönlich kommen. Ich melde also nur mich selbst an. Die Beamtin gibt mir meinen Pass zurück und sagt, „Nei prossimi giorni vi arriva un Carabiniere a Rivolto per la verifica. Benvenuto, signor Rickter.” Danach fülle ich den Antrag für Soile aus und gebe ihn zusammen mit Soiles Pass derselben Beamtin. Sie nimmt jetzt auch Soiles Antrag, gibt mir den Pass ungeöffnet zurück und sagt, „Nei prossimi giorni vi arriva un Carabiniere a Rivolto per la verifica. Benvenuta, signora Lindstrom.”


Es kamen sogar zwei Carabinieri. Sie überzeugten sich davon, dass hier zwei Personen in einem bewohnbaren Haus anwesend waren, machten einen Blick in unsere Pässe und gingen wieder. Bald darauf konnte ich meine Meldebestätigung vom Anagrafe abholen. Die Prozedur kannte ich schon. Ich nahm meine Bestätigung, verließ den Raum, betrat ihn gleich darauf wieder als Signora Lindstrom und erhielt anstandslos auch ihre. Damit ging ich zur ENEL. In Anbetracht meiner zwei Stromkreise beantragte ich zwei Stromzähler. Völlig ausgeschlossen. Es kommt nur einer infrage. Ich dachte an Edison in Lignano. Wir würden wohl nur abwechselnd im Erdgeschoß oder in der Mansarde das Licht einschalten können. Ich gab vor, mit dem einen Zähler zufrieden zu sein. Kommt in den nächsten Wochen. Am Tag darauf ging ich als Signora Lindstrom wieder hin und beantragte einen Stromzähler. Kein Problem, signora. Kommt in den nächsten Wochen.


Mit dem Geld, das ich von Avus noch bekam, kauften wir die rustikale Kredenz von dem Laden in Pordenone und bestellten den offenen Kamin. Der Kamin selbst und dazu die Ummauerung hatten ein enormes Gewicht. Ich machte mir Sorgen, ob die alten Träger unter dem Fußboden der Mansarde eine solche Belastung auf engem Raum tragen würden und für wie lange. Aus dem Katalog eines Versandhauses, so ein analoger Vorgänger von Amazon, bestellten wir zwei watscheneinfache Schreibtische aus schwarz beschichteten Spanplatten. Sie kamen in Einzelteilen, die wir zusammenschraubten. In Udine kauften wir ein kleines Kombigerät, Telefon, Fax, Anrufbeantworter, alles in einem. Ein anderes Versandhaus lieferte zwei einfache Polsterfauteuils, auf denen man wunderbare Mittagsschläfchen halten konnte. Müde genug dazu waren wir häufig.


Wir brauchten eine Krankenversicherung. Mit dem Ausscheiden von Avus war ich nirgends mehr versichert. Soile ebenso wenig. Wir waren nicht krank. Aber wenn der Teufel es wollte, konnten wir es werden, sei es auch durch Unfall, just in einem unversicherten Moment. Das bedeutete, wir mussten uns arbeitslos melden. Dazu war es notwendig, dass wir unseren Aufenthaltsstatus in Italien legalisierten. Da ich die ganze Avus Italia-Zeit hindurch offiziell bei Avus in Graz beschäftigt war, galt ich den italienischen Behörden ein Tourist, der bald auch wieder auszureisen hatte. Touristin war auch Soile. Wir hatten also um Aufenthaltsbewilligungen anzusuchen. Das Ufficio Immigrazione Lavoro in Udine ist Teil der Prefettura. Die Präfektur residiert in exquisiter Lage im Zentrum in einem klassizistischen Palazzo mit abgerundeter Ecke von der Via Piave in die Via della Prefettura hinein. Durch den Haupteingang in der Mitte dieses Bogens betritt man ein repräsentatives Stiegenhaus mit schönen Gusseisengeländern. Der Polizist gehörte wohl zu dem Tischchen neben dem Eingang, aber er sprang in der Eingangshalle umher wie das Rumpelstilzchen. Ein paar Schwarze schauten sich suchend um. Extracomunitari wie wir, ihnen aber sah man es an. Der Polizist hatte Mühe ihnen zu erklären, das Büro für Extracomunitari befände sich an der Seite des Gebäudes in der Via della Prefettura. Ich zog Soile mit mir aus der Eingangshalle. Wenn wir uns beeilten, wären wir vor den Schwarzen dort. Natürlich, der schöne Klassizismus, das war nichts für Asilanti. Ein unscheinbarer Nebeneingang reichte für die völlig aus. Dass wir die paar Schwarzen sozusagen überholt hatten, stellte sich als unnötig heraus. Schon von Weitem bemerkten wir die bunte Menschenmenge, die das schmale Gässchen überfüllte. Sie standen in Grüppchen und allein auf den Gehsteigen und auf der Fahrbahn im näheren und ferneren Bereich einer engen Tür ohne irgendeine Aufschrift. Dass hier das Fremdenbüro war, sah man auch so. Ins Innere des Büros konnte man auf keinen Fall eintreten. Aller Platz war verrammelt mit Menschenkörpern bis heraus auf die Straße. Wollte jemand das Büro verlassen, war das nur im Nahkampfstil möglich. Jeder der Wartenden drängte in die Lücke, die sich aufgetan hatte. Die Männer und Frauen froren im nasskalten Wetter, waren teilweise nicht hinreichend gekleidet. Ihre Gesichter drückten unterschiedliche Stimmungen aus. Die Hispanos eher fröhlich, die vielen Schwarzen unterschiedlicher Ethnien zumeist dumpf und teilnahmslos. Europäisch sah hier außer uns keiner aus. Ein bulgarisch aussehender Koloss versuchte, offenbar ungefragt, etwas Ordnung ins Chaos zu bringen. Er fragte die Leute, ob sie schon angemeldet wären oder das erst vorhätten. Die nur zur wöchentlichen Meldung kamen, reihte er vor. Der Rest hatte zu warten. Die Vorgereihten steckten ihm Zigaretten zu oder einen Tausend-Lire-Schein. Der Bulgare war selbst Immigrant. Das System hatte er schon durchschaut, ganz ohne Wertekurs.


Wir standen eine Weile unschlüssig herum, ausgesetzt den fragenden Blicken der Anderen. Was wollt ihr denn hier? Zu uns gehört ihr bestimmt nicht? Soile begann zu frösteln. Wir warteten schon eineinhalb Stunden. Hier ging so gut wie gar nichts weiter. Unverrichteter Dinge verließen wir die Via della Prefettura. Wir betraten ein Caffè und wärmten uns auf bei Tè al Rum und einer Pizzetta. Das hätten sich die wenigsten Anderen aus der Via della Prefettura leisten können. Dies war nicht der Grund für die Tränen, die ich Soile in die Augen steigen sah. Vielmehr sah sie unsere Lage aussichtslos, trostlos, ausweglos, verfahren. Ich tröstete sie recht und schlecht. Ich war nie ein guter Tröster. Mir würde schon etwas einfallen. Das glaubte Soile mir halbwegs.

Wieder stehe ich in der Via della Prefettura mitten unter den Miserabili. Der Bulgare erscheint mir diesmal noch stämmiger. „Hai premura, vero?“ fragt er mich grinsend. Ich weiß nicht recht. „Cinquanta e ti metto davanti a tutti“, bietet er mir an. Mit fünfzig meint er natürlich fünfzigtausend. Ich grabe einen Zehner aus meiner Börse und halte sie ihm hin. Blitzschnell reißt er den Schein an sich. So schnell, dass ich nicht sagen kann, was er damit gemacht hat. Der Schein ist weg. „Dieci settimana prossima. Forse. Oggi quaranta,“ höre ich ihn sagen. Ich fistle noch vier Zehner heraus. Sie sind genauso schnell weg wie der Schein zuvor. „Dammi il documento“, verlangt der Hüne. Zögernd gebe ich ihm meinen Pass. „Va bene. Vieni tra un’oretta.“


Ein Stündchen später. Der Bulgare ist weg. Dachte ich mir doch. Ich Idiot! Weg ist er, mit meinen Fünfzigtausend und einem schönen Pass zum Fälschen. Wenigstens habe ich ihm Soiles Pass nicht gegeben. Den habe ich auch mit, um falls möglich ihre Angelegenheit gleich mit zu erledigen. Der Andrang ist jetzt etwas geringer. Zwar stehen die Leute drinnen noch bis zur Tür, aber die Straße ist fast leer. Was mache ich jetzt ohne Pass? Da brauche ich mich gar nicht erst anstellen. Wie lange wird es dauern, bis ich einen neuen kriege? Nach Roma werde ich müssen oder wenigstens nach Milano, wenn es dort ein österreichisches Konsulat gibt. Wie soll ich das Soile erklären? Schon bin ich dabei, mich abzuwenden, da bemerke ich, wie sich die Menge der Wartenden teilt. Wahrscheinlich ist wieder einer fertig und will raus, denke ich. Doch die Menge drängt nicht nach. Sie lässt einen schmalen Durchgang frei. Ein schmächtiges Männchen in Polizeiuniform quetscht sich durch. „Rainer Rickter!“ piepst er. Er hält ein Dokument in die Höhe. So eine rote Hülle hat mein Reisepass. Der Poliziotto hat mich schon entdeckt. Indem er sich umdreht, deutet er mir, ihm zu folgen. Ich dränge mich hinter ihm durch die Menge. Der Raum ist kleiner als ich dachte. Es stinkt gewaltig. Ein Tresen teilt ihn knapp vor der Rückwand ab. Dahinter steht ein zweiter Polizist und verhandelt radebrechend mit einer hellbraunen jungen Frau. Beide scheinen mit ihren Nerven am Ende. Die Frau, weil sie doch nur eines will, hierbleiben dürfen, um endlich irgendwo unbehelligt Wurzeln schlagen zu können. Der Beamte, weil er seit Stunden gestressten Gestrandeten, die ihn kaum verstehen, immer wieder das Gleiche erklären muss, in einem überfüllten, stickigen Raum. Jedes Wort erfordert Anstrengung wegen der schlechten Luft, wegen des Lärms von den zusammengepferchten Allzu vielen.  


Der Zwergpolizist, der mich abgeholt hat, hebt eine Klappe hoch und schlüpft auf die andere Seite des Tresens. Ich vermute, dass ich hier drübenbleiben soll, aber der Wicht deutet mir zu folgen. Jenseits des Tresens führt auf jeder Seite des Raums ein Gang von diesem weg. Mein Pygmäe wendet sich nach rechts und ich folge. Wir gehen an einigen Büroräumen vorbei. An einem davon macht er halt und öffnet die Tür. „Rainer Rickter, Ispettore“, sagt er durch die Tür zu dem Polizisten, der hinter dem Schreibtisch sitzt. Der Zwerg schließt die Tür hinter mir.


Der Ispettore deutet mir, mich an die Schmalseite des Schreibtischs zu setzen. Er scheint erleichtert, als er feststellt, mit mir italienisch reden zu können. Noch eine Spur freundlicher wird er, als er hört, dass Soile und ich vorhaben, selbständig zu arbeiten, diesbezüglich schon ein ganz konkretes Projekt verfolgen und dass wir keine Unterstützung benötigen. Der Beamte stellt uns beiden eine vorläufige Aufenthaltsbewilligung aus. Damit sollen wir uns wöchentlich hier melden. Wir müssen uns aber nicht nebenan anstellen. Er zeigt mir eine andere Tür in der Fassade, dort soll ich läuten. Sobald unsere Firma offiziell tätig ist, bekommen wir Aufenthaltsbewilligungen, die auf ein Jahr befristet sind.


Wenn ich in den folgenden Jahren durch Udine ging, nahm ich manchmal den Weg durch die Via della Prefettura. Des Öfteren musste ich auch direkt in die Amtsräume der Präfektur, wenn es darum ging, Führerscheine von Österreichern abzuholen, die ihnen von der Polizei aus den verschiedensten Gründen abgenommen worden waren, und nach Ablauf der Frist nun wieder ausgehändigt werden sollten. Dann schritt ich selbstbewusst durch das repräsentative Hauptportal, vorbei an dem Rumpelstilzchen an seinem Portiertischchen hinauf über die schön geschwungene Treppe mit dem gusseisernen Geländer ins zuständige Büro. Österreich und Finnland traten der Europäischen Union bei, danach brauchten wir keine Aufenthaltsbewilligung mehr. Wir wechselten unsere Währungen ein in den Euro. Das alles änderte nicht die Zustände in der Via della Prefettura. Die Immigranten bevölkerten weiterhin die sonst verträumte Gasse. Meinen Schlepper, den Bulgaren, habe ich nie wieder gesehen.

Das mit der Krankenversicherung ging ruckzuck, dank dem Komponisten Pietro Locatelli, geboren 1695 in Bergamo, verstorben 1764 in Amsterdam. Eine Signora Locatelli, Beamtin des Ufficio di Collocatelli, ähhh, Ufficio di Collocamento, registrierte uns – entgegen unseren Protesten als -  Disoccupati. Das Legge Martinelli erlaubte ihr das, egal ob es sich um illegal eingewanderte (geflüchtete) Türken oder Pakistani oder Österreicher oder Finnen handelte. Dass wir keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld hatten, war uns klar. Bedürftige hätten sicherlich irgendeine Unterstützung erhalten, aber darüber erkundigten wir uns nicht. Wichtig war, dass wir mit den Arbeitslosenpapieren Anspruch auf medizinische Leistungen hatten. Um unseren Status zu erhalten, waren wiederkehrende Vorsprachen auf dem Collocamento bei Signora Locatelli nötig. Ich fragte sie nach ihrem Verwandtschaftsgrad mit Pietro. Den kannte sie nicht. Aber wir kamen näher ins Gespräch. Ich erzählte wahrheitsgemäß, wieso wir da waren und dass wir dabei waren, das Haus in Rivolto zu restaurieren. Locatelli interessierte das alles sehr. Der Andrang auf dem Amt war beträchtlich. Man konnte nicht allzu lange plaudern. Ich lud Signora Locatelli nach Rivolto ein zum Cena. Sie kam mit ihrem Mann. Wir nahmen einen Aperitiv unten im Esszimmer. Dann führte ich die Gäste hinauf in die Mansarde. Die hatten wir damals noch beheizt. Später unterließen wir das, nachdem wir die erste Gasrechnung erhielten. Als Speisetisch hatten wir eine alte Tür quer über zwei Umzugskartons gelegt. Durch das schöne Tischtuch sah das aus wie eine großzügige Tafel mit originellem Unterbau. Etwas wackelig, zugegeben. Locatelli und ihr Mann brachten als Geschenk einen wunderschönen, sicherlich sündteuren Fotoband über Friuli mit. Wir verbrachten einen angenehmen Abend bei Soiles guter Küche und Kerzenschein. Die Küche, ein Lieblingsthema der Italiener. Ich glaube, wir haben keinen getroffen, der nicht genau wissen wollte, wie die finnische beschaffen wäre. Das zu beschreiben, lag Soile nicht besonders. Also musste ich als Banause dazu herhalten. Überzeugend geriet mir das nie.

Unser Wohnort in der Provinz Udine bewirkte, dass unser Lebensschwerpunkt sich von Pordenone nach Udine verlagerte. Hatte ich Pordenone laut, streng, reserviert, asketisch, patriarchalisch erlebt, so fühlte ich mich im ruhigen, gütigen, milden, mütterlichen Udine mehr daheim. Pordenone war Friedrich der Große, Udine Maria Theresia. Schräg gegenüber der ehemaligen Franziskanerkirche aus dem 13. Jahrhundert steht der moderne Bürokomplex der Camera di Commercio (Wirtschaftskammer). Im Erdgeschoß wird der Großteil des Kundenverkehrs abgewickelt. Gleich neben dem Eingang steht ein Automat, aus dem man eine Nummer zieht. Damit geht man weiter in die große Halle mit zahlreichen Schaltern und wartet, bis seine Nummer über einem davon aufleuchtet. Das kann dauern. Der Andrang ist beträchtlich. Die weiblichen und männlichen Angestellten sind nicht unhöflich, aber von dem Knochenjob oft überfordert. Ich erkläre eine Firmengründung anzumelden, bekomme ein Formular, fülle es aus und gebe es nach neuerlichem Warten wieder ab. Wie angekündigt ruft mich ein paar Tage später die zuständige Mitarbeiterin an. Ich besuche sie zum vereinbarten Termin. Was das sein soll, was wir da machen wollen. Ich versuche es ihr zu erklären. Aha, eine Versicherungsagentur? Nein, nein, keine Versicherungsagentur. Ich beschreibe ihr ein Beispiel. Also, Sie fahren mit Ihrem Auto nach Österreich. Jemand fährt Ihnen auf. Ihr Wagen ist hin. Der andere Wagen hat ein österreichisches Kennzeichen oder vielleicht ein deutsches. Was machen Sie dann? Ich gehe zu meiner Versicherungsagentur. Ob es ihr schon so passiert sei? So ähnlich. Vor achtzehn Monaten. Der Agent hat sie zu einem Anwalt geschickt. Geld hat sie bis heute keines gesehen. Tja, sehen Sie, um so etwas werden wir uns kümmern, dass Sie in absehbarer Zeit zu Ihrem Schadenersatz kommen. Aha, eine Anwaltskanzlei? Nein, nein, keine Anwaltskanzlei. Schon eher eine Agentur, aber wir sind nicht abhängig von Versicherungen und verkaufen auch keine. Wir setzen für Sie die notwendigen Maßnahmen, damit Sie Ihr Geld bekommen. Also doch ein Anwaltsbüro? Na gut, so ähnlich. Aber wir sind keine Anwälte, sondern Spezialisten für Unfälle im Ausland oder im Inland mit Ausländerbeteiligung. Das sind aber doch Anwälte auch? Sehen Sie, der Anwalt kennt sich gut im Inland aus. Wenn es grenzüberschreitend wird, kann er schon ins Stottern kommen. Darauf sind wir spezialisiert. Wir kennen die Judikatur und die Praxis in den verschiedenen Ländern und wissen daher, was zielführend ist. Wieso gibt es das nicht schon lange? Tatsächlich gibt es einige Unternehmen auf diesem Sektor, aber sie sind in der Öffentlichkeit nicht bekannt. Sie bekommen ihre Aufträge meistens von den Versicherungen selbst und bieten sich nicht direkt Privaten an. Das allerdings haben wir schon vor. Also werden Sie meinen Schadenfall endlich zum Abschluss bringen? Wir werden uns gerne anschauen, woran es hängt. Aber wenn einmal ein Anwalt eingeschaltet ist, mischen wir uns ungern ein. Na schön, aber wie soll ich Sie denn jetzt einordnen? Sie sind keine Versicherungsagentur, Sie sind kein Anwalt, Sie gibt’s ja gar nicht. Na ja, vielleicht Inkassobüro? Trifft die Sache nur sehr am Rande. Am nächsten käme noch die ‚Infortunistica Stradale‘. Die bestehenden befassen sich aber fast ausschließlich mit Verkehrsunfällen im Inland. Wir hingegen kümmern uns neben den Verkehrsunfällen um grenzüberschreitende Forderungen jeglicher Natur. Regulierung internationaler Forderungen wäre das Zutreffende. Gibt’s nicht. Sollte es aber. Sie sagt, sie wird sich schlau machen, wo sie uns einordnen kann. Dann zögert sie. Dürfen Sie das überhaupt machen? Die Anwälte würden sich schön bedanken. Ich bin davon überzeugt, dass wir dürfen. Was wir nicht dürfen, ist uns als Anwälte zu bezeichnen. Aber als Nichtanwalt jemanden in zivilrechtlichen Sachen zu vertreten, ist völlig legal. Nur vor Gericht besteht Anwaltspflicht. Auch kommt es häufig zu Situationen, wo anwaltliches Einschreiten notwendig ist. Dann beauftragen wir ohne zu zögern den geeignetsten Anwalt am richtigen Ort. Er bekommt von uns eine bereits bestens aufbereitete Akte und spart sich dadurch viel unnötige Zeit und Mühe. Unser Auftrag an ihn umfasst präzise Instruktionen zur gewünschten Vorgangsweise. Außerdem überwachen wir seine Tätigkeit, lassen nicht zu, dass er eventuell säumig wird oder Methoden anwendet, die seinem Honorar zuträglicher sind als den Interessen des Klienten. Sie hören von mir, verspricht die Beamtin. Etliche Tage später teilt sie mir mit, sie haben uns als Infortunistica Stradale eingeordnet. In ergänzenden Bemerkungen kann ich in eigenen Worten unser Tätigkeitsfeld näher beschreiben.


Gratuliere! Durch die Registrierung unserer Firma bei der Wirtschaftskammer haben wir gleichzeitig einen Beratungsfall eingefahren. Die Beamtin wurde bei uns nicht Kundin. Ihr italienischer Anwalt hatte einen österreichischen Kollegen beauftragt. Der hat an sich alles korrekt gemacht. Die Zeitverzögerungen kann man beiden Anwälten auch nicht vorwerfen. Es geht viel Zeit auf Übersetzungen auf. Schon die Verständigung zwischen den Anwaltskollegen ist schwierig. Dann noch die Übersetzung der Schadenunterlagen. Die Schadenersatzansprüche sind so anders in Italien als in Österreich. Der österreichische Anwalt wird allein damit viel zu tun haben, dem italienischen Kollegen zu erklären, warum viele von dessen Erwartungen in Österreich nicht durchsetzbar sind oder nur teilweise. Diese aufwändige Übersetzerei und Erläuterung der Rechtslage würde bei uns wegfallen. Dafür würde uns noch das eine oder andere einfallen, was nach österreichischem Recht erzielbar wäre, dem italienischen Anwalt aber fremd ist. Unsere Beamtin wird sich noch eine ganze Weile gedulden müssen, aber letztlich doch zu einem Ergebnis kommen.

Die Steuerangelegenheiten eines Unternehmens zu ordnen, so klein es auch sein mag, das geht in Italien nicht ohne Commercialista (Steuerberater). Wir wählen ein mittelgroßes Büro in Codroipo mit zwei Partnern. Die Chefs und die Angestellten vermitteln vor allem den Eindruck der absoluten Sorgfalt und Präzision. Das ist auch notwendig, denn das System ist kompliziert. Auch minimale Fehler werden vom Fiskus erbarmungslos und rigoros bestraft. Ist der Commercialista daran schuld, kann er natürlich vom Kunden dafür haftbar gemacht werden. Manchmal ist das allerdings schwer zu beweisen. Wir bekommen zuallererst ein paar Zahlscheine in die Hand gedrückt. Es sind beträchtliche Vorleistungen auf Einkommen- und Umsatzsteuer, die auf der Post zu einem ganz bestimmten Datum einzuzahlen sind. Nicht früher, nicht später. Banküberweisung ist unzulässig. Der ganze Zahlungsverkehr zunächst in bar über die Post, das soll anscheinend dieses staatliche Unternehmen fördern oder gar vor dem Untergang bewahren. Klar, dass an jenem Stichtag die Kassenschalter auf den Postämtern in ganz Italien hoffnungslos überlastet sind. Lange Menschenschlangen stehen bis auf die Straße hinaus. An diesem Tag und nur an diesem ist nicht nur die Einkommensteuer einzuzahlen, sondern auch die Kfz-Steuer und andere Abgaben. Der Zahltag kostet alle Betriebe und alle Kfz-Besitzer stundenlange Leerzeiten von Bediensteten und eigene. Das kleine Postamt in Rivolto ist nur vormittags geöffnet und hat keinen Zahlungsverkehr. Man befürchtet Überfälle. Aus demselben Grund liegt an den Postschaltern, auch in Codroipo und sogar in Udine, nur eine sehr begrenzte Anzahl Briefmarken auf. Man kann zwei oder drei kaufen. Braucht man einen Bogen oder mehrere, muss man das am Tag davor anmelden.


Schon unsere ersten Kontakte mit einer italienischen Bank waren zermürbend gewesen. Ein Fremder, damals noch ohne ordentlichen Wohnsitz, im Minerva abgestiegen, ohne italienischen Arbeitgeber, der konnte doch kein Konto eröffnen! Für Soile galt natürlich dasselbe. Ich verlangte den Manager zu sprechen. Da müsste man einen Termin vereinbaren. Ich sollte es nächste Woche versuchen. Ich versuchte es bei zwei weiteren Banken mit dem gleichen Ergebnis. Damals gab es noch kein Homebanking. Man war auf den Besuch in der Filiale angewiesen. Sollte das heißen, ich sollte bei jedem lächerlichen Bankgeschäft nach Kärnten fahren? Man arbeitete damals noch vielfach mit Schecks, insbesondere in Italien. Mit meinen österreichischen Schecks wäre ich hier aufgeschmissen. Die Kärntner Landes-Hypothekenbank hatte gerade einen ersten Expansionsschritt nach Udine gewagt. Aus einem unscheinbaren Büro heraus, das sich im Obergeschoß eines Wohnhauses befand, betrieb sie Leasinggeschäfte. Für den gewöhnlichen Zahlungsverkehr kam sie also nicht infrage. Glück gehabt. Denn bald würde sie als Hypo-Alpe-Adria-Bank International AG zwar ein repräsentatives Lokal betreiben, dabei aber von der italienischen Bankenaufsicht – ich vermute, zu Recht - misstrauisch beäugt und sogar durchsucht und belangt werden. Das ist Zeitungsberichten zufolge für manche Kunden nicht ohne Konsequenzen geblieben. In Kärnten würde Jörg Haider Landeshauptmann werden und beginnen, die Hypo zu seinem Bankomaten umzufunktionieren. Wie die Sache für die Bank und für Österreich geendet hat, ist bekannt. Schließlich legten wir bei einer Bank Ausländerkonten an. Die waren zwar teurer, aber sie ermöglichten uns die Teilnahme am üblichen Geldverkehr.


Es kam uns nie in den Sinn, uns für die Firma zu verschulden. Natürlich wäre es unserem Prestige zuträglich gewesen, aus einem schicken Büro heraus zu arbeiten, in Udine oder wenigstens in Codroipo. Vielleicht würde das ja auch eines Tages so kommen. Aber in den ersten Monaten wollten wir zuerst einmal feststellen, ob wir überhaupt eine solche Anzahl an Aufträgen zustande bringen würden, von denen wir bescheiden leben könnten. Sechs Monate wollten wir uns geben und dann entscheiden: weitermachen oder aufgeben.

***

Es geht los. Wenn aus unserer Utopie etwas werden soll, dann ist es höchste Zeit, etwas dafür zu tun. Wir fahren nach Wien, übernachten bei Mama in Mammas Zimmer. In der Früh weckt sie uns. „Sieben Uhr!“ Ich weiß nicht, wieso sie das so dumpf deklamiert, dass sie damit selbst einem Gespenst noch Schrecken einjagen würde. Das Duschen in dieser primitiven Badenische, der Plastikvorhang klebt dir kalt am Körper. Sehr vertraut ist mir diese Badenische aus vielen Jugendjahren. Damals habe ich selten daheim geduscht. Das habe ich nach dem Fußballspiel oder Training in der Umkleide gemacht. Die einfache Waschmuschel, ein flacher Spiegel darüber, immer angelaufen, darunter eine schmale Ablagefläche, aus Glas, nicht aus Plastik. Luxus! Wie wir alle uns gefreut haben seinerzeit, 1957, als wir diese Prachtwohnung beziehen durften, und wie schäbig sie mir heute vorkommt. Es hat sich nichts geändert hier in dreiunddreißig Jahren. Außer der Waschmaschine neben der Dusche. Damals hatten wir so eine gerippte Kugeltrommel, die man mit Wäsche, heißem Wasser und Omo füllte und mit einer Handkurbel drehen konnte. Das war eine moderne Errungenschaft im Vergleich mit dem gewellten Waschbrett. Die Handtücher, die hier hängen und auf einem Kästchen aufgestapelt bereitliegen, sind viel zu klein. Dafür sind es viele. Es sind die aus Mammas Friseurladen übriggebliebenen Schultertücher. Wenn man das Warmwasser aufdreht, springt nebenan in der Küche, wwofff, der Durchlauferhitzer an. Das Warmwasserventil muss immer maximal offen sein, sonst geht das Gas in der Therme wieder aus. Türen und Fenster in dieser Wohnung sind alle noch original. Nur die beiden Fenster zur Maroltingergasse wurden von der Gemeinde ausgetauscht. Gegen Kostenbeteiligung. Der einst einsame Vorstadtweg (daher –gasse) hat sich zur stark befahrenen Durchzugsarterie entwickelt. Daher hat man den Anwohnern schalldämpfende Fenster zugestanden. Die Kreuzung Maroltingergasse-Steinbruchstraße hat es in sich. Die Maroltingergasse steigt von Ottakring her an bis zum Scheitel des Höhenzuges, auf dem die Steinbruchstraße verläuft. Von dort an geht es wieder bergab nach Breitensee. Die Kreuzung mit der Steinbruchstraße befindet sich somit auf einer Kuppe. Nun hat man zum Schutz querender Fußgänger genau auf dem Scheitelpunkt einen Fahrbahnteiler angelegt. Um diesen besser erkennbar zu machen, wird er von zwei Richtungspfeilen gekennzeichnet. Schon in der ersten Nacht nach diesem Umbau waren die Verkehrszeichen weg. Umgemäht. Der Bautrupp kam, stellte sie wieder auf. Es dauerte nicht lang, da lagen sie wieder danieder. Das Spiel wiederholte sich ein schönes Weilchen. Tags baute man, nachts machte es wummm. Es lag daran, dass die niedrigen Richtungspfeile, oben auf der Kuppe stehend, von den Autolenkern erst ziemlich spät wahrgenommen werden konnten, insbesondere bei Dunkelheit, weil die Scheinwerfer bergauf darüber hinwegschienen. Ja, wenn jemand aufmerksam und mit zulässiger Geschwindigkeit fuhr, passierte gar nichts. Schließlich gab es die übliche Straßenbeleuchtung. Aber seit die Gasse eine Durchzugsstraße ist, ist sie auch eine Rennbahn und der Richtungspfeil eine heimtückische Schikane. Es war nur eine Frage der Zeit, bis einmal ein auf dem Fahrbahnteiler wartender Fußgänger daran glauben müsste. Ich wollte gar nicht daran denken, dass Mama und Lampo das sein könnten.

Tagsüber besuchen wir meine Ex-Kollegen an den verschiedenen Dienststellen der Wiener Allianz und andere, die mir in Erinnerung sind. Ich stelle ihnen Soile vor. Wir plaudern über alte Zeiten und unsere neuen Pläne. Es überrascht mich, dass gerade dort, wo ich es am wenigsten vermutet hätte, nämlich bei den Kollegen, die viel mit Ausland zu tun haben, das Interesse am größten ist. Es zeigt sich, dass die von mir seinerzeit empfundene leichte Abneigung gegen Avus bei meinen Kollegen gleichermaßen oder sogar stärker vorhanden ist. Die langen Zeiten, die hohen Kosten, mangelnde Transparenz. Anders das gehobene Management. Dort ist man sehr angetan von Avus. Kein Wunder, denkt man an die Einladungen zu den Tagungen und andere Zuwendungen. In der Schadenabteilung im Opernringhof beleidige ich Gertrude Jelinek durch einen Fauxpas. Sie ist eine kleine, sehr lebhafte Wienerin und ich rede sie irrtümlich an mit Elfriede. Die ist vom Nobelpreis noch weit entfernt. Vorläufig polarisiert sie mit ‚Burgtheater‘ und erst kürzlich mit ‚Lust‘ und weil sie sich für den wegen Mordes eingebunkerten Jack Unterweger einsetzt. Nein, Elfriede möchte Gertrude auf keinen Fall heißen. In dieser Sache sitzen Gertrude und ich offenbar auf abgewandten Hemisphären. Trotzdem entschuldige ich mich höflich für das Versehen. Wenigstens habe ich mit meinem Schmiss bei ihr und den anwesenden Kollegen mehr Aufmerksamkeit erregt als etwa mit Fachsimpeleien. Gertrude und ihre Kollegen lassen durchblicken, dass sie unsere Dienste gelegentlich ausprobieren werden. Die nahe Mittagsstunde verbringen wir miteinander im Smutny. An das urige Lokal in der Elisabethstraße mit der bekannt guten Wiener Küche erinnere ich mich aus den lang vergangenen Tagen von Avis Rent a Car, dessen Stadtbüro sich um die Ecke in der Operngasse befand.


In Oberlaa hat sich wenig verändert. Die Kollegen sind um den Fresstisch versammelt. Soile kann es nicht fassen. Der Lechner Kurti drückt uns einen Kaffee aus dem Automaten und ist lieb wie eh und je. Die anderen kommen mir ein bisschen hämisch vor. An unserem Projekt zeigen sie sich nicht sonderlich interessiert.


Zuletzt besuchen wir die Direktion in Hietzing. Die Leiter der Schadenabteilungen sind immer noch Popcorn, pardon, Dr. Pokorn und Dr. Dietl, meine ehemaligen Ausbildner im Auhof am Wolfgangsee. Sie kennen meine Kenntnisse und Einstellung zur Arbeit. Unser Projekt interessiert sie. Sie werden uns sicher keine Steine in den Weg legen.

Auf unserem Weg zurück nach Rivolto halten wir bei der Allianz in Graz und in Klagenfurt. Die Abteilung in Klagenfurt ist ziemlich klein. Den wichtigsten Mitarbeiter dort habe ich nie persönlich kennengelernt. Murnig, ein trockener Kärntner, scheint mir ziemlich überlastet, kämpft sich aber beherzt durch die Akten. Nicht nur ist er uns gegenüber aufgeschlossen. Er bringt auch gleich eine Sache zur Sprache, die ihm Kopfzerbrechen macht. Es geht um einen Anspruchsteller aus Italien. Er fordert Unsummen für Verletzungen aus einem Verkehrsunfall in Kärnten, den ein Allianzversicherter verschuldet hat. Der noch junge Geschädigte war von Beruf Rocciatore und soll jetzt völlig arbeitsunfähig geworden sein. Rocciatori sind die Männer, die an steilen felsigen Berghängen Sicherheitsnetze aus Stahl festmachen zum Schutz der darunterliegenden Verkehrswege vor Steinschlag und Felssturz. Murnig geht es darum festzustellen, wie arbeitsunfähig der Rocciatore tatsächlich ist und ob keine Aussicht auf Besserung besteht. Die medizinischen Unterlagen lassen ihn daran zweifeln. Die Sache an Avus zu geben erscheint ihm kein zielführender Weg. Er meint, die sitzen nur in ihrem Büro, lesen die Krankengeschichte und bilden sich daraus ihre Meinung. Das könne er auch selber. Nein, er brauche in der Sache etwas Handfesteres. Das sei eher etwas für eine Detektei als für Schadenverhandler. „Wissen S‘ was, Richter, ich geb‘ Ihnen den ganzen Schas mit. Schau‘n S‘ Ihnen das amal an.“ Er kopierte die wesentlichen Teile der Akte und drückte sie mir in die Hand. Was will man mehr. Ein erster echter Auftrag für Rivolto Claims Service. Ein ganz spezieller. Mitgebracht von unserer ersten Werbetour. Besser kann es nicht anfangen.

In Udine besuche ich die Agenzie (die Büros der Agenten) aller Versicherungen am Platz. Klinkenputzen. Ich stelle mich vor als Verbündeten auf dem elenden Schlachtfeld der Auslandschäden und Inlandschäden mit Ausländerbeteiligung. Ich habe einen Text entworfen, der die Sorgen und Leiden eines Agenten beim Auftreten eines solchen Problems aus dessen Sicht schildert. Ich verwende darin genau die Kraftausdrücke, die er gerne ausriefe und zurückhalten muss, wenn sein Kunde mit dem Problem auftaucht. Dazu muss man wissen, dass in Italien die Kaskoversicherung wenig verbreitet ist, weniger noch der Rechtsschutz. Die Kunden wenden sich mit allen Anliegen an den Agenten, bei dem sie abgeschlossen haben. Von ihm erwarten sie die Lösung aller Probleme. Einen Unfall in Italien mit Ausländerbeteiligung wissen sie in der Regel zu handhaben. Sie schreiben ans UCI (Ufficio Centrale Italiano – das italienische Grüne Karte-Büto) in Milano. Dabei können leicht Formfehler unterlaufen, die später eine eventuelle Klagsführung vereiteln. Sind Personenschäden eingetreten, schicken sie die Kunden zum Anwalt. Hingegen stellt ein Unfall im Ausland sie vor schier unlösbare Probleme. Unser Auftreten ist den Agenten daher äußerst willkommen. Falls es auch funktioniert, wird es ihnen wirklich viele Schwierigkeiten abnehmen. Die Vorstellung, etwas verkaufen zu müssen, war mir immer ein Gräuel. Die kurze Zeit damals bei der Ersten Allgemeinen hat mich angewidert. Jetzt kommt es genau darauf an. Ich muss unsere Dienstleistung verkaufen, sonst können wir einpacken. Zum Glück komme ich bei den meisten Agenten gut an. Ich muss ziemlich vertrauenserweckend sein, vielleicht wegen meines Alters, vielleicht trotzdem, vielleicht wegen meiner österreichischen Herkunft. Österreich verbinden sie immer noch mit äußerster Seriosität. Wenn die wüssten… Was ich anbiete, wird von ihnen sehnsüchtig erwartet. Zudem beginnen Mitte 1991 die Kriegshandlungen am Balkan, was die geordnete Abwicklung von Schadenfällen in (Ex-)Jugoslawien zusätzlich erschwert. Hinsichtlich der Schäden in Italien mit Ausländerbeteiligung, die mit dem UCI abzuwickeln sind, können wir auch erhebliche Verbesserungen anbieten, jedenfalls in sehr vielen Fällen. Es ist ja nicht so, dass das UCI alle diese Schadenfälle selber bearbeitet. Es nimmt nur die erste Forderungsanmeldung entgegen und beauftragt mit der weiteren Abwicklung eine italienische Versicherung, meistens jene, die mit der betroffenen ausländischen Anstalt einen Korrespondenzvertrag abgeschlossen hat. In der Folge stimmen sich die ausländische Gesellschaft und die italienische über die Regulierung ab. Anzuwenden ist grundsätzlich das Recht des Unfallortes, also italienisches, welches häufig in höhere Entschädigungen mündet als nach ausländischem Recht. Die Entscheidungshoheit liegt bei der italienischen Gesellschaft, welche natürlich die italienischen Normen besser kennt als die ausländische. Dennoch erhebt die ausländische Versicherung häufig Einwendungen, wenn ihr die ungewohnt hohe Entschädigung nicht plausibel vorkommt. Das wiederum führt zu endlosen Diskussionen zwischen den beiden Gesellschaften. Die einzelnen Korrespondenzschritte erfolgen in langen Zeitabständen und so kann es ewig dauern, bis eine Entscheidung fällt. Sicherlich könnte die italienische Gesellschaft autark entscheiden, aber der Korrespondenzvertrag ist etwas Amikales. Eine unilaterale Entscheidung würde als unfreundlicher Akt verstanden werden. Am langen Ende eines solchen Vorgangs steht die Entschädigungszahlung an den Anspruchsteller und danach die Abrechnung mit der ausländischen Gesellschaft. Der ausländische Stammversicherer hat neben dem Entschädigungsbetrag eine Bearbeitungsgebühr, in der Regel von 15%, mindestens 150 Dollar zu erbringen. Die langen Bearbeitungszeiten lassen sich in vielen Fällen wesentlich abkürzen, indem man die Forderung nicht ans UCI richtet, sondern direkt gegen die ausländische Gesellschaft, insbesondere in solchen Fällen, wo der Unterschied in der Judikatur der Länder keine wesentliche Rolle spielt. Wir wenden diese Praxis in vielen Fällen an und erreichen damit vielerlei. Die Erledigungszeit für unsere Kunden wird extrem kürzer. Die ausländische Versicherung kann selber über den Entschädigungsbetrag entscheiden. Sie erspart sich überdies die Bearbeitungsgebühr. So werden wir bei den ausländischen Gesellschaften bekannt und können bei ihnen Vertrauen aufbauen. Diese Praxis ist auch Inhalt meiner Werbeschrift und leuchtet den Agenten ein.

Nachdem Udine ausreichend beackert ist, kommt die Provinz Friuli an die Reihe. In allen größeren Orten gibt es Agenturen. Viele Agenten erkennen sofort das Potential in unserem Service. Nicht alle wagen es sofort uns zu testen. Doch nach und nach kommen Aufträge auch von ihnen. Wenn sie einen ‚Patienten‘ haben, rufen sie mich zu einer gemeinsamen Besprechung mit ihm. Ich fahre hin und erkläre, wie wir im speziellen Fall vorgehen werden. Den Kunden beruhigt es und der Agent ist dankbar, weil er dazu nicht in der Lage wäre. Manche der Agenten werden im Lauf der Zeit so treue und ergiebige Quellen, dass ich sie regelmäßig in Wochenabständen besuche.


Wir begnügen uns nicht mit den Agenturen. Insbesondere in den Fremdenverkehrszentren mache ich uns in den Karosseriewerkstätten bekannt. Manche von ihnen bieten ihren Kunden an, direkt mit der gegnerischen Versicherung abzurechnen. Bei Schäden mit Auslandsaspekt haben sie aber das Problem der langen Abwicklung bei unsicherem Ergebnis. Daher können wir auch manchen Werkstätten gute Dienste leisten.


Das habe ich in Graz von Gott gelernt: Wenn sie von einem größeren Unfallgeschehen mit Auslandsaspekt erfuhren, etwa aus den Medien, beschafften sie sich rasch das Polizeiprotokoll und erhielten so die Daten der Beteiligten und der Versicherungen. Daraus ergaben sich zwei Möglichkeiten: Sie hatten mit der ausländischen Versicherung einen Korrespondenzvertrag, dann konnten sie diese frühzeitig von dem Schadenfall in Kenntnis setzen und unverzüglich die Regulierung einleiten. Oder es bestand kein Korrespondenzvertrag mit Avus, sondern mit einer österreichischen Gesellschaft, dann informierten sie gleichwohl die ausländische Versicherung und baten gleichzeitig um den Auftrag zur Regulierung. Nicht selten wurde dieser Auftrag auch erteilt, zum Beispiel, wenn die ausländische Schadenabteilung zuvor mit der Regulierung durch ihre österreichische Korrespondenzgesellschaft unzufrieden geworden war. In Pordenone machte man das nicht. Es kamen so viele Akte aus Graz, da brauchte man sich um mehr Geschäft nicht zu bemühen. Umgelegt auf Italien versuchen wir jetzt auch diese Vorgangsweise. Fürs Erste ist es leider ein Schlag ins Wasser. Noch sind wir bei den ausländischen Versicherungen nicht bekannt genug. Später wird sich das ändern und wir werden auch auf dieser Schiene fahren können. Vorläufig erhalten wir auf diese Weise aber doch oft den Auftrag, das von uns bereits beschaffte italienische Polizeiprotokoll, meistens samt Übersetzung, zu liefern. So hat die ausländische Versicherung einen frühzeitigen Überblick über das, was auf sie zukommt. Wir lukrieren auf diese Weise ein wenig für die Übersetzung. Dazu liefern wir – ungebeten – eine detaillierte Reserveschätzung über die voraussichtlichen Kosten, welche die Gesellschaft zu erwarten hat. Das kommt dort ausgesprochen gut an und trägt zur Imagebildung für uns bei. Bald bekommen wir von diesen Versicherungen gezielt solche Aufträge, Protokollbeschaffung, Übersetzung, Reserveschätzung. So lange, bis es die eine oder andere doch wagen wird, uns die gesamte Regulierung anzuvertrauen. In den Fällen, in denen wir den Regulierungsauftrag nicht erhalten, bieten wir den Geschädigten an, sich von uns vertreten zu lassen. Manchmal mit Erfolg. Der Sachbearbeiter der nun gegnerischen Versicherung trifft nun neuerlich auf uns. Der Aha-Effekt und die Verankerung in seinem Gedächtnis ist uns sicher. Ich muss zugeben, man kann darüber streiten, ob das moralisch fragwürdig ist. Doch überschreitet es aus meiner Sicht nicht die Grenzen des Zulässigen, des Legalen keinesfalls. Der Händler will mein Auto nicht kaufen, also verkaufe ich es direkt einem Privaten. Was soll daran bedenklich sein?

Zwischendurch beschäftige ich mich mit dem Rocciatore. Er wohnt in Chiusaforte im Fella.Tal, also dort wo wir oft und oft auf der Autobahn vorbeirauschen, zwischen den Tunnels Zannier und Raccolana. Von der Autobahn sieht man schön hinüber auf den alten Ort Chiusaforte, er liegt am nördlichen Rand des Trogtals. Man schaut dabei hinweg über einen Sportplatz und eine Kaserne. Zum Sichtschutz von der Autobahn her hat man eine Mauer vor ihr aufgezogen. Auf der südlichen Talseite stürzen kleine Wasserfälle über die Felswände in den Fella. Diesmal müssen wir uns über die Staatsstraße nähern. Bei der Anreise wird mir klar, wieso dieser Mann Rocciatore geworden ist. Bestimmt ist er als Bub schon an all den Felsen herumgeklettert. Später hat er zum Beruf gemacht, was er am besten kann: Klettern. Wir halten an einem der alten Steinhäuser an der Staatsstraße und ich frage nach dem Rocciatore. Natürlich gibt es fünf Männer, die seinen Vor- und Familiennamen tragen. Das kenne ich schon aus dem Weinviertel. Der Beruf Rocciatore klärt die Sache und die Frau weist mir den Weg in den Oberort. Ein schmales Sträßchen windet sich die Felswand hinauf. Ich bin froh, dass der Schnee, der in der Nacht fiel, zergangen ist. Oben angekommen, frage ich nochmals nach, nachdem wir in dem menschenleeren Dorf nahe der Kirche eine Person ausgemacht haben. Man weist auf ein Haus am Abgrund zum Tal. Es hat einen schönen Blick hinauf zum Raccolanatal, durch das man über die Sella Nevea nach Tarvisio gelangen kann, und hinunter nach Resiutta. Das Haus ist einfach und alt, aber unauffällig in Schuss gehalten. Ich klopfe an die Tür, höre Stimmen von drinnen. Eine Frau öffnet. Sie ist jung, aber nicht attraktiv in ihrer Kleidung, die Hausarbeit verrät. Ich erkläre, dass wir von der österreichischen Versicherung geschickt sind, um mit dem Rocciatore über den Unfall zu reden. Mein Mann ist vor dem Haus im Garten, sagt sie. Sie führt uns durchs Haus eine Stiege hinab zur Gartentür und öffnet. Der Rocciatore steht auf einer Leiter und beschneidet einen Baum. Die Frau erklärt dem Mann, was wir wollen. Er steigt vorsichtig von der Leiter, nähert sich uns hinkend. Die Frau verschwindet im Haus, erscheint kurz darauf auf dem Balkon, wo sie gewaschene Wäsche aufhängt. Fortan wird unser Blick jedes Mal, wenn wir auf der Autobahn vorbeifahren, und das wird sehr, sehr oft geschehen, das Haus des Rocciatore suchen am Hang dort oben und fast jedes Mal wird dort Wäsche im Wind wehen, als hätte man uns Fahnen zum Gruß gehisst. Wir werden an die vollständige Geschichte denken und dabei etwas wehmütig lächeln. Auf Geheiß des Mannes nehmen wir alle drei auf einer Bank vor dem Haus Platz. Die Sonne scheint uns an und wärmt schon ein wenig. Der Rocciatore zeigt uns sein geschwollenes Sprunggelenk mit der Operationsnarbe. Es war ein komplizierter mehrfacher Bruch. Er kann in seinem Beruf nicht mehr arbeiten, beteuert er. Bezieht Arbeitslosengeld. Seine Frau putzt in der Nachbarschaft. Als Rocciatore hat er gut verdient. Das Wenige, was sie gespart haben, ist jetzt fast aufgebraucht. Sie brauchen dringend die Entschädigung von der Versicherung, sonst muss er um das Haus fürchten. Sie haben noch keine Kinder und trauen sich jetzt auch nicht, eines zu bekommen. Laut Amt kann er sich keine Hoffnung auf eine Arbeit machen. Rocciatore wird sowieso nie wieder gehen, aber er wird auch keine andere Arbeit bekommen. Selbst wenn er eine Stelle fände, er dürfte sie nicht antreten, weil andere, die schon länger Arbeit suchen als er, Vorrang haben. Das kommt mir seltsam vor, aber ich nehme es einmal so zur Kenntnis. Der Mann zeigt uns in einem Schuppen das Auto, mit dem er den Unfall hatte. Es war einmal ein Alfa Spider. Jetzt ist es ein Blechknäuel. Man wundert sich, dass er noch lebt. Gottseidank war er beim Unfall allein. Er gibt mir Namen und Adresse seines früheren Arbeitgebers und sagt, sein Arbeitsamt sei das in Resiutta. Auf der Heimfahrt diskutiere ich mit Soile über unsere Eindrücke. Wir haben beide nicht das Gefühl, dass er simuliert. Irgendwie tut er uns leid. Andererseits, so stark behindert ihn sein Bein wohl nicht, dass er nicht etwas anderes machen könnte als über die Felsen zu klettern. Was er da über die Arbeitssuche gesagt hat, das klingt ja höchst merkwürdig.

Die Resonanz auf unser erstes Auftreten ist vielversprechend. Der notwendige Erfolg lässt noch auf sich warten. Ein paar Aufträge sind da, aber von einer so kleinen Anzahl werden wir nicht leben können, wenn es nicht besser wird. Nun gut, wir sind noch weit weg von der Sechsmonatefrist, die wir uns gegeben haben. Die eine oder andere ganz einfache Sache haben wir sogar schon mit Erfolg abgeschlossen. Das hilft der Mundpropaganda. Die Zusammenarbeit mit Soile klappt wie am Schnürchen. Ich disponiere, Soile sagt ihre Meinung dazu. Ich höre zu. Meistens wird es gemacht, wie ich denke. Soile macht die Korrespondenz, sammelt die Belege für die Buchhaltung und bereitet sie auf für den Commercialista. Sie sorgt sich darum, wie wir diese blöde neue Sondersteuer zahlen sollen, die am Stichtag einzuzahlen ist – richtig, auf dem Postamt. Di Fazio, der Commercialista ist entsetzt. Auf keinen Fall zahlen, sagt er. Aber, die Vorschrift ist doch rechtsgültig? Schon, aber höchstwahrscheinlich wird diese Abgabe politisch nicht halten und bald wieder abgeschafft. Wer bezahlt hat, wird nichts zurückbekommen, ist selber schuld. Kein Mensch wird das zahlen. Die Unsicherheit wird ein paar Monate dauern, aber Di Fazio wird recht behalten! Die Stimmung zwischen Soile und mir ist in den Monaten seit ihrer Ankunft schwankend gewesen. Sie war ja da, die Liebe, doch sie war betrübt aufgrund der zermürbenden beruflichen Enttäuschungen. Jetzt endlich sehen wir die Chance auf bessere Zeiten, die Gewissheit noch lange nicht. Wenn du etwas Eigenes in Angriff nimmst, verkehrt sich jede Niedergeschlagenheit in gute Hoffnung. Wenn ich nach Hause komme mit einem kleinen Auftrag oder Soile zeigt mir einen, der mit der Post gekommen ist, zieht Feierstimmung auf. Es wird uns klar, dass wir zusammengeschweißt sind, durch die Liebe und jetzt auch durch die existenzielle Herausforderung. Wie zwei Verschwörer wollen wir unseren Bund bekräftigen: durch den Schwur der Ehe. Wir legen uns fest auf Finnland. Wien? Vergangenheitsbelastet. Italien? Viel zu kompliziert. Allein das Chaos um Soiles Namen! In Finnland heißt sie mittlerweile wieder Kanerva. Auf ihren Mädchennamen lauten auch wieder ihre finnischen Dokumente. In Italien heißt sie nach wie vor Lindström. Hätte sie damals in Italien geheiratet, hätte sie niemals Lindström, sondern immer nur Kanerva geheißen. Egal, einmal Lindström, immer Lindström. Wer in aller Welt ist Kanerva? Nach einer Hochzeit in Italien würde sie weiterhin Lindström heißen. Ich finde, Lindström ist ein schöner Name, aber meine Frau mit dem Namen des finnischen Richters? Dann schon besser mit dem Namen des österreichischen Richters. Also Uusikaupunki. Der Ort, wo Soile aufgewachsen ist, wo ihre Schwestern leben und der immer noch gefühlter Lebensmittelpunkt der ganzen Familie ist, obwohl ihr Bruder in Helsinki, die Töchter in Lieto sind und sie selbst in Rivolto. Wir setzen das Datum fest auf Anfang April. Sirkku, die kleine Schwester und große Organisatorin wird alles in die Wege leiten.

Nach Finnland fahren wir mit meinem alten roten Uno. Fliegen geht nicht, weil wir unterwegs eine Menge zu erledigen haben. Seit wir unternehmerisch tätig sind, wird alles mit allem kombiniert. Es kommt nicht infrage, für eine Sache allein eine Reise zu machen. Mit dem Schlag einer so großen und teuren Reise müssen viel mehr Fliegen getroffen werden. Wir beschließen, unterwegs weitere Vorstellungsbesuche zu tätigen, um uns auch international bekanntzumachen. In München besuchen wir die Allianz. Sie hat inzwischen die österreichische Wiener Allianz gekauft, die zuvor der Generali-Gruppe angehörte. Wir hoffen, meine guten Kontakte mit der Wiener Allianz nützen zu können, um auch die große deutsche Allianz zu gewinnen. Die Besprechung mit den beiden höchsten Schadenchefs in München gerät zum Desaster. Die Wiener Allianz interessiert die beiden aufgeblasenen Manager überhaupt nicht. Wir auch nicht. Wir zwei arme Würstchen, was haben wir schon vorzuweisen? Eine lobenswerte Absicht, aber auf Absichten baue eine seriöse Gesellschaft nicht. Da müssten schon überzeugendere Argumente her wie beeindruckende Umsatzzahlen, ein Personalheer, ein ausgedehntes Filialnetz und renommierte Partner. Die große Allianz brauche keine so komischen Abenteurer und Deserteure. Die brauche auch nicht so windige Gesellschaften wie eine liechtensteinische Firma mit einem Schlossherrn als Chef. Es gebe nichts, absolut nichts, was die große Allianz nicht besser machen könne. Ich schlucke und denke an die traurigen Realitäten, die den großen Herren unbekannt sind. Trotzdem widerspreche ich nicht. Ich darf diese beiden Götter auf keinen Fall erzürnen. Ein Federstrich von ihnen und ich bin auch die Wiener Allianz los.

Mit flauem Magen besuchen wir den Münchener Verein. Wenigstens geht es uns dort besser. Wir erhalten die freundliche wenn auch unverbindliche Zusage, man werde uns gelegentlich ausprobieren. Sie werden Wort halten. Von München katapultieren wir uns hinauf in den Norden. Das ist jetzt Soiles Reich. Ihren Plänen folgend besuchen wir in Stockholm an einem Tag die Trygg Hansa, die Ansvarförsäkring, die Länsförsäkringsbolagen, die Wasa Nord und die große Folksam. Der Sprung in den Norden erweist sich als Sprung in eine andere Kultur. Anstelle der nüchternen Glaskoje, recht und schlecht abgetrennt von Deutschlands Großraumbüros, oder des winzigen, stickigen Besprechungszimmers bei den Allianzgöttern geleitet uns eine adrette Empfangsdame zum Lift und hinauf in eine der oberen Etagen, den Lift und viele verschlossene Türen mit ihrer Magnetkarte öffnend. Wir nehmen Platz an einem hellen, freundlichen, modernen Besprechungsraum, dem man den Entwurf eines skandinavischen Innenarchitekten anmerkt. Auf dem Tisch steht Kaffee bereit und kleine Imbisse. Es dauert keine zwei Minuten bis zum Erscheinen unserer Gesprächspartner. In lockerer Plauderei bei Kaffee und Pulla oder Lachsbrötchen stellen wir unseren Geschäftsplan vor. Soiles Zunge ist gelöst. Man merkt, hier ist ihre Domäne. Hier kennt sie die Gesellschaften, das Personal und die Gepflogenheiten. Selbst wenn wir mit einer Unbekannten (sehr oft sind es Damen) zu verhandeln haben, geschieht es doch in vertrautem Ambiente. Bei unseren Gesprächspartnern können wir neuerlich feststellen, dass sie mit Avus entgegen ihrem Geschmack arbeiten, nur weil es keine Alternative gibt. Nicht zuletzt deshalb finden sie unser Auftreten interessant. Hinderlich ist für uns die skandinavische Überkorrektheit. Avus ist ihr Korrespondenzpartner in Italien und Österreich, das heißt, das UCI beauftragt vertragskonform Avus mit der Regulierung von Schäden, die von Versicherten dieser schwedischen Gesellschaften in Italien und Österreich verursacht werden. Insofern besteht Exklusivität. Nicht exklusiv ist die Vereinbarung hingegen, was jene Vielzahl von Fällen anlangt, die nicht vom Londoner Abkommen geregelt sind, zum Beispiel, wenn diese schwedischen Gesellschaften oder ihre Versicherten Ansprüche gegen andere Gesellschaften oder Private in Österreich und Italien oder sonst wo in Europa zu stellen haben. Die solide Korrektheit der Skandinavier macht es ihnen schwer, diese nicht vertraglich gebundenen Fälle anderswo zu beauftragen als beim Vertragspartner für Grüne-Karte-Schäden. Wir bemerken aber, dass es ihnen genauso schwerfällt, unser Angebot nicht wenigstens einmal auszuprobieren. 


Warum wir nicht auch die Bearbeitung von Grüne-Karte-Schäden anbieten? Das würden wir gerne tun und mittelfristig streben wir es auch an. Jetzt, ganz am Anfang bleibt es ein ferner Traum. Das Londoner Abkommen ist gedacht für Versicherungsgesellschaften. Unternehmen, die das nicht sind, etwa Avus oder wir zwei, benötigen für diese Tätigkeit eine sogenannte Deckungsgesellschaft. Das ist ein Versicherungsunternehmen, welches formell Partner im Korrespondenzvertrag ist. Die effektive Regulierung überlässt es aber einem darauf spezialisierten Nichtversicherungsunternehmen. Für dessen Tätigkeit haftet die Deckungsgesellschaft dem nationalen Versicherungsverband und der Versicherungsaufsicht. Die Haftung ist nicht ohne Risiko. Fehlerhafte Regulierung kann zu unangenehmen Kostenfolgen führen und, insbesondere in Italien zu empfindlichen Geldstrafen seitens der Aufsichtsbehörde. Warum die Deckungsgesellschaft sich darauf einlässt? Die Bearbeitung internationaler Schadenfälle ist komplizierter als die nationaler. Eine spezielle Schulung der Sachbearbeiter wäre erforderlich. Neben dem nationalen (Versicherungs-, Zivil-, Straf-, Verwaltungs-, Verkehrs-, Sozialversicherungs-) Recht sind auch konforme Kenntnisse den anderen Staat betreffend hilfreich. Entsprechende Sprachkenntnisse sind unabdingbar. Solche Schadenfälle führen überproportional zu Streitigkeiten, welche die Regulierung aufwändiger gestalten. Die Auslagerung führt zu Einsparungen an Personal- und Büroaufwand. Dazu ist mancher Auslagerungspartner bereit, der Deckungsgesellschaft einen Teil der Bearbeitungsgebühren zu überlassen oder ihr für davon unabhängige Dienstleistungen Sonderkonditionen einzuräumen. Ist der Auslagerungspartner korrekt und verlässlich, rechnet sich eine solche Partnerschaft durchaus. Unserem jungen Zwei-Personen-Unternehmen fehlt einiges, um das Vertrauen einer Deckungsgesellschaft zu gewinnen. Wie man uns in München vor Augen geführt hat: Wir haben (noch) nichts vorzuweisen. Ein gewisser Kapital- oder Finanzierungspolster ist auch erforderlich, weil die Regulierung oft rasche Geldvorleistungen erfordert, die auch beträchtlich sein können. Das liegt vorläufig außerhalb unserer Reichweite.

Die Wege zwischen den Firmensitzen unserer Gesprächspartner legen wir teils zu Fuß, teils mit dem roten Uno zurück. Soile kennt sich halbwegs aus, ist aber früher hauptsächlich Taxi gefahren, ohne sich viel um Verkehrswege zu kümmern. Das segensreiche Navi gibt es noch nicht. Also ist der Stadtplan die Quelle unserer Orientierung. Das geht nicht ohne Fehler ab. Manche Fahrt wird länger als geplant. Zuspätkommen ist ein No-Go. Stress. Vor einem der Gebäude lasse ich aus Zeitnot den Uno an verbotener Stelle stehen. Danach ziert ihn ein Strafmandat. Pech. Pech für die Polizei. Die werden uns doch die Strafe nicht nach Österreich schicken? Wenn sie die Strafe irgendwohin schicken, wird das Frankreich sein. Das Fehlen der nationalen Plakette am Heck meines Uno hat der Parkwächterin ein kniffliges Rätsel gestellt. „Das N auf dem Nummernschild, was kann das sein?“ mag sie überlegt haben. „Der Schlaumeier glaubt, ohne Nationalzeichen kann er parken, wo er will. Aber nicht bei mir. Ah, da ist ja dieses kleine Wappen an der Hecktür! Rot-weiß-grün. Frankreich, wenn ich mich recht erinnere. Na klar, und das N ist für Nizza.“

Auf der Flucht vor der schwedischen Polizei nehmen wir nach einem anstrengenden Tag noch an demselben Abend die Fähre nach Turku. Ankunft zeitig in der Früh. Wir ahnen nicht, welche Bedeutung die im Hafen von Turku ankommenden Fährschiffe für uns später haben werden. Diesmal lassen wir uns vom Uno nach Helsinki bringen. Soile findet zum Papiergeschäft ihres Bruders Seppo. Es ist mitten in der Stadt. Die ist betriebsam, aber nicht sehr laut. Grüne Straßenbahnen erinnern an Graz, aber die Architektur macht diesem Gedanken sofort den Garaus. Die Häuser sind 1900 oder modern und alles dazwischen, schöne Großstadtbauten jedenfalls. Die Kathedrale auf ihrem Hügel überragt die Dächer, blendend weiß, über einen hellenischen Körper erhebt sich mittig ein klassizistischer Tambour, in den Proportionen vielleicht etwas exzentrisch, darauf eine Pendentivkuppel, grün wie die Kuppelchen der vier niedrigeren Ecktürmchen. Auch die orthodoxe Uspenski-Kathedrale, einen zentralen Hügel über dem Nordhafen beherrschend, fällt sofort ins Auge. Am Bahnhof kommt man immer wieder vorbei. Ein beeindruckender Jugendstilbau. Seppos Papiergeschäft ist ein kleiner Laden, übervoll mit Büro- und Schülerkram. An einer schmalen Theke steht ein großer, hagerer Mann in grauem Staubmantel, mit Rundglasbrille im Hesse-Gesicht, Seppo. Ein paar Jugendliche im Laden diskutieren über Comic-Hefte. Die Begrüßung zwischen den Geschwistern ist herzlich, wenn auch nicht überschwänglich. Seppo lädt uns ein, in seiner Wohnung, nicht weit vom Laden, zu übernachten. Dort wird man auch besser plaudern können als hier, wo er ständig etwas verkaufen muss oder aufpassen, dass nichts geklaut wird, was leider zu oft nicht zu verhindern ist. Manchmal kommt eine Horde und nimmt alles mit, was nicht niet- und nagelfest ist. Klingt nach Kalabrien mehr als nach Helsinki. Soile hat mit Seppo in seiner Wohnung gewohnt, als sie in Helsinki studierte. Da haben sie sich aber nicht viel gesehen. Seppo arbeitete schon. Telekommunikation. Die Wohnung liegt in einer höheren Etage eines älteren Wohnhauses in einer belebten Citystraße mit Straßenbahn. Sie ist nicht klein, die Räume sind hoch, aber dunkel, altmodisch bestückt, die Hagestolz-Unordnung ist nicht zu übersehen. Viele Bücher. Seppo, erfahre ich, stand in jungen Jahren dem Kommunismus nahe. Bald kamen ihm Zweifel an der Ideologie und er wechselte die Farben. Alle Farben nach und nach. Er engagierte sich in der Pazifistenbewegung, reiste mit ihr nach Vietnam. Später schickte ihn die Konservative Partei als Abgeordneten für drei Monate nach New York zur Generalversammlung der UNO. Er arbeitete als Reiseleiter in Ägypten und Madeira. Sprachen sind seine Domäne. Er ist drauf und dran, den Laden aufzugeben. Rentiert sich nicht zwischen Diebstählen, Überfällen und Steuer. Was er dann machen will, weiß er noch nicht. Wir werden uns bei der Hochzeit wiedersehen.

Der nächste Tag ähnelt sehr jenem kürzlich in Stockholm. Wir haben Termine mit der großen Pohjola etwas außerhalb Stockholms und ebenso mit der Y-Fennia, dann noch mit der Svensk-Finland und der Tapiola. Was ich über die Gastkultur in Stockholm schon gesagt habe, trifft deckungsgleich auf Helsinki zu. Einer der Gesprächspartner zeigt uns eine Akte, die ihm keine Ruhe lässt. Diese kleinere Gesellschaft hat keinen Korrespondenzpartner in Italien. Die Grüne-Karte-Schäden dort werden daher entweder vom UCI selbst reguliert oder von einer italienischen Gesellschaft, die nach Ermessen des UCI den Auftrag dazu erhält. Diesen Schadenfall hat eine italienische Gesellschaft reguliert und danach die Abrechnung nach Finnland geschickt. Die Entschädigung für Sach- und Personenschäden war ganz beträchtlich. Ein rumänischer Anspruchsteller verlangte Unsummen für einen Unfall, den er mit seinem altersschwachen Luxus-Mercedes in Milano erlitten hat. Ich schaue durch die Unterlagen. Der Wagen ist eine Krücke, die Person ein Zigeuner. Der Unfallverursacher auch. Es gibt in Finnland nicht wenige Zigeuner. Die Frauen fallen auf, wenn sie durch die Einkaufszentren wabbeln, grün-rot-orangene Schleierkleider um die massigen Körper gewickelt, schweres Gold auf der braunen Haut. Ja, sie schweben. Ihre Schritte sieht man nicht. Ein Sachverständiger aus Salerno der italienischen Gesellschaft hat ein Gutachten über den Fahrzeugschaden gemacht. Wozu und wie ist das Wrack von Milano nach Salerno gekommen, frage ich mich. Der niedrige Kilometerstand ist klar getürkt. Das Baujahr stimmt nicht. Ich schaue mir die Fotos an. Der Mercedes ist im Frontbereich schwer beschädigt. Das Heck ist intakt. Trotzdem fehlt die Heckscheibe. Sie ist nicht etwa geborsten. Dazu wäre auch keine Veranlassung ersichtlich. Nein, sie fehlt einfach. Sauber ausgebaut. Ebenso wie die Seitenspiegel und eine Heckleuchte. Hat ein Verwandter die Teile benötigt, oder waren sie schon lange nicht mehr vorhanden? Dafür hat er Weißwandreifen, aber nur an einer Seite. Die Beteiligten haben eine ‚Constatazione Amichevole‘ (Europäischer Unfallbericht) ausgefüllt. Der Unfall ereignete sich angeblich um 14 Uhr 30 im Zentrum von Milano. Das ist eine der Stoßzeiten. Es muss eine erhebliche Verkehrsbehinderung gegeben haben. Trotzdem gab es keine polizeiliche Unfallaufnahme und obwohl der Lenker und drei Insassen erhebliche Verletzungen erlitten haben. Vier maschingeschriebene ärztliche Atteste liegen in der Akte. Sie sind im Wortlaut identisch. „Vuln. schiss. (sic!) frontis, cont. capitis, haem. vastus brach. sx.“ Darunter ein Stempel: „Salvatore Morso, Dentista, Taranto“ (Morso heißt deutsch 'der Biss').


Ich schaue den Versicherungsmann verwundert an, verstehe seine Zweifel. Skandinavische Korrektheit hält Betrug für fast ausgeschlossen. In meiner ganzen Laufbahn habe ich keine Akte gesehen, aus der ein Betrug so klar herausgesprungen wäre. Der Anspruchsteller hat dieselben Unterlagen ganz oft bei verschiedenen Versicherungen eingereicht und will überall kassieren. Der Kollege erschrickt. Ist sich nicht ganz sicher, ob er das Entsetzliche glauben soll, das ich behaupte. Er weiß nicht recht, was er jetzt machen soll. Ich sage, auf keinen Fall der italienischen Gesellschaft das Geld erstatten. Das ist zwar gegen die Bestimmungen des Londoner Abkommens. Die regulierende Gesellschaft kann völlig autonom entscheiden. Diese Regulierung aber ist entweder grobe Sorglosigkeit der Italiener oder gar Mittäterschaft. Die Verweigerung der Zahlung sollte ein Schlichtungsverfahren sicher überstehen. Der Kollege hat aber die Forderung schon abgedeckt. Eine Rückforderung? Leider ziemlich aussichtslos. Später werden wir erfahren, dass es sich genau so bewahrheitet hat, wie von mir skizziert. In Deutschland ist der Betrüger nach vielfachen ähnlichen Versuchen schließlich aufgeflogen. Jedenfalls, der Kollege ist beeindruckt. Seine Aufträge sind uns sicher.

Von Helsinki reisen wir nach Uusikaupunki. Sinikka, Soiles ältere Schwester, wohnt mit ihrem zweiten Mann, Tauno Virtanen, am Stadtrand in einem Bungalow, der zu einer weitläufigen Siedlung gehört. Tauno ist einige Jahre älter als Sinikka. Für beide ist es die zweite Ehe. In Uusikaupunki gibt es ein psychiatrisches Krankenhaus. Sinikka ist dort Krankenschwester. Tauno, bereits pensioniert, war Portier. Ich muss an meinen Großvater denken, der, bevor er Friseur wurde, Portier am Steinhof (psychiatrisches Krankenhaus auf der Baumgartner Höhe in Wien) war. Der Backsteinbungalow ist geräumig. Ein schönes großes Wohnzimmer mit Blick durch ein Riesenfenster in den kleinen, aber hübsch angelegten und akribisch gepflegten Garten mit dem üppigen Flieder, der in fünf Wochen hier weiß prangen wird. Vor dem Fenster niedrige Pflanzenbänke, der Garten im Haus. Taunos Drehfauteuil, von dem aus er fernsieht. Sportfreak. Büchervitrine und lederne Sitzgruppe in bürgerlichem Stil. Im Wohnzimmer und überall im Haus die verschiedensten Miniaturen von Hähnen, die Sinikka sammelt. Anschließend die geräumige Wohnküche mit dem Tisch für sieben Personen, ausgestattet mit allen gängigen Küchengeräten, einem amerikanischen Doppel-Kühl-Gefrierschrank. Alles blitzblank und peinlich ordentlich aufgeräumt. Gartenseitig liegt neben der Küche das Schlafzimmer mit sehr weiblichem Charme. Sinikka schläft hier allein. Tauno bewohnt sein eigenes Zimmer an der Hofseite. Dazwischen ein großes Bad, das auch dem Wäschewaschen dient. Wie in Finnland allgemein üblich sind alle Wasserleitungen an den Wänden außen verlegt. Das ist ökonomischer und erspart schwere Schäden und hohe Kosten im Fall eines Defekts. Diesen Wohnräumen gegenüber liegen hofseitig drei Kinderzimmer. Sinikka und Tauno haben einen gemeinsamen Sohn, Jani. Er spielt Schlagzeug in der Band der Siedlung. Die Proben halten sie in einer Gemeinschaftsscheune ab. Sinikkas Sohn aus erster Ehe, Tapio, hat schon eine eigene stets wachsende Familie. Eines der Kinderzimmer benutzt Sinikka jetzt als Wirtschafts- und Hobbyraum. Die anderen, immer noch voller Spielsachen und Kinderbücher, werden von Sirkkus Kindern verwendet, wenn sie auf Besuch kommen. Sinikka bereitet köstliche Kuchen und Snacks zu, so wie auch Sirkku. Deren Erzeugnisse sind herrlich für den gesunden Appetit,[RR1]  Sinikkas sind unübertrefflich[HH2] [RR3] [RR4] [HH5]  an Noblesse. Sinikka ist im Gemeinderat von Uusikaupunki Abgeordnete der sozialistischen Partei. Zusammen mit Tauno schreibt sie Artikel in einer örtlichen Zeitschrift über Vergangenes und Gegenwärtiges rundum. Sinikka ist eine aparte Frau, schlank und leise, bescheiden, zurückhaltend und doch herzlich. Sie hat uns ihr Schlafzimmer für den Besuch bei ihr angeboten und wird selbst in einem der Kinderzimmer nächtigen. Das bedeutet nicht weniger, als dass Sinikkas Bett Stätte unserer Hochzeitsnacht sein wird.

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