I - Tahdon

Tahdon

worin vorkommt: wie ein Ozeanriese den Wald bei Uusikaupunki durchkreuzt, sowie ein Streik eine Hochzeitsfeier 

Schlechte Nachrichten. Soile übersetzt mir, was sie gerade von Sirkku gehört hat.


Sirkku ist die jüngste der drei Kanerva-Schwestern, sogar beträchtlich jünger als Sinikka und Soile. Eine Nachzüglerin mit zehn Jahren Verspätung. Gerade sie ist die Lebhafteste unter den Geschwistern, Bruder Seppo eingeschlossen. Sirkku, die kleine, drahtige Frau mit dem Unterbiss, organisiert alles mit geradezu südländischer Energie. Behördenkram, Wohnungsprobleme, Familienfeste, ohne Sirkku ginge gar nichts. Die Familienfeste organisiert sie nicht nur, sie gestaltet sie durch und durch, gibt ihnen Motto und Programm. Ihre Stimme ist ein Alt, beim Lachen laut, bisweilen durchdringend. Alle Teilnehmer bekommen eine Aufgabe, übernehmen ihren Teil des Programms, den sie schon lange vorher vorzubereiten haben. Rätselspiele spielen dabei oft eine Rolle. Der Jubilar erlebt an seinem Festtag eine Überraschung. Mag sein, dass es auch bei uns derart aktive Privatfeiern gibt. Ich habe aber in meinem Bekanntenkreis so etwas nie erlebt. Schon gar nicht in unserer kleinen Familie. Sirkku hat drei Töchter, Karoliina, Henriikka und Sarlotta. Sarlotta ist noch klein, die größeren werden aber schon eingespannt in die Festdramaturgie. Vater dieser Mädchen ist Sirkkus Mann Kari Suominen. Früher war er Offizier auf hoher See, umrundete die Welt, sah seine Familie selten. Jetzt ist er Lotse, weist den großen Schiffen den Weg durch die verwirrende und gefährliche Schärenwelt Süd- und Südwestfinnlands in den sicheren Hafen. Auf dem Lotsenboot wartet er vor dem Insellabyrinth auf seinen Frachter. Das Boot dreht bei, Kari klettert über eine wackelige Leiter an Bord des Frachters. Nicht ungefährlich nachts bei Sturm und Regen. Auf der Brücke übernimmt er die Navigation bis in den Hafen. Wenigstens ist er jetzt regelmäßig zuhause. Das Fernweh bleibt. Selbstverständlich spricht Kari ausgezeichnet Englisch. Er spricht es tief und rau, wie man es von einem kräftigen Seebären erwartet. Mit Sirkku rede ich auch Englisch. Sie versteht alles, ist aber schüchtern in den Antworten. Dann springt Soile mit Übersetzungen ein, so wie jetzt eben.


Schlechte Nachrichten. Das Küchen- und Restaurantpersonal streikt. Das würde mich sonst nicht sonderlich erschüttern. Ist in Italien alltäglich. Sirkku hat unsere Hochzeit samt Mahl im Hotel Aquarius organisiert. Jetzt der Streik. Immerhin haben sie versprochen, ein warmes Buffet aufzustellen zur Selbstbedienung. Na also, alles in Butter.


Vorbesprechung mit der Standesbeamtin. Das Gemeindeamt von Uusikaupunki ist in einem modernen Gebäude in einer Seitenstraße zur Rantakatu. Die hübsche jüngere Frau spricht sehr gutes Englisch. Sie verbiegt sich vor Lachen über meine Späße. Der Schalk in mir ist voll ausgebrochen. Das ist kein Galgenhumor, nein, es ist ein Übermut, der aus einem sorgenlosen, glücklichen Herzen kommt. Ich kann nur jedem Bräutigam eine so unbeschwert fröhliche Stimmung wünschen. Wenn die Beamtin etwas Zielführendes mit uns besprechen will, muss sie sich schon an Soile halten. Ich weiß nicht, was sie ihr alles erklärt, das ist alles finnisch. Dann aber wendet sie sich an mich. Sie wird einiges finnisch deklamieren. Das Gesetz verlangt es so. Dann wird sie mich fest anschauen und flüstern: „I am going to ask you now.“ Und auf Finnisch wird sie die entscheidende Frage an mich stellen. Und ich habe zu antworten „Tahdon“. Ich will. Als neutrale Beamtin hätte sie mir wohl nicht geraten, „ich will“ zu antworten, sondern einfach dann meine Entscheidung bekanntzugeben. Aber diesem witzigen Kauz gegenüber war es besser, ihm direkt das Wort vorzusagen. Wer weiß, was für ein Blödsinn ihm sonst noch einfallen würde. An Blödsinn fehlt mir wirklich wenig. Niemals. Wir üben mit der Beamtin die Szene. Sie schaut mich fest an und flüstert, I’m going to ask you now. Dann spricht sie die Frage in Finnisch. Ich antworte mit fester Stimme „Mahdoton.“ Dieses Wort gehört seit einiger Zeit zu meinem mickrigen finnischen Sprachschatz. Es heißt so viel wie ‚unmöglich‘. Des Lachens war kein Ende. Die Beamtin beginnt ihren Job wirklich zu lieben. Soile hingegen beginnt ärgerlich zu werden. Wenn ich es oft genug falsch denke, und das tue ich, werde ich es im entscheidenden Moment auch falsch sagen, befürchtet sie. Wie recht sie hat.


Rückblende. Es gehört zu den Voraussetzungen für unsere Hochzeit, dass Soile ihren Kirkkoherra (etwa Pfarrer) davon überzeugt, dass die Scheidung von Ilkka unumgänglich gewesen wäre und ihr weiteres Leben nur mit mir als Mann glücklich sein könne. Zur Untermauerung des zweiten Teils der These nahm sie mich zu dieser Besprechung mit. Wir saßen dem Kirkkoherra gegenüber im kargen Besprechungszimmer seiner Amtswohnung. Er ließ Soile reden. Soile reden lassen? Was für eine Idee! Über so eine höchst private Sache. Was für ein Phantasma! Ich wusste, Soile würde niemals etwas behaupten, was gegen Ilkka wiegen könnte. Das Gespräch gestaltete sich ziemlich einsilbig. Ich saß zwangsläufig stumm dabei und wunderte mich über den Diskurs, befürchtete, er könne zu keinem guten Ende führen. Soile sagte drei Worte, lange Pause. Der Kirkkoherra: „Soooo. – Jooo.“ Soile nahm sich ein Herz, sagte noch etwas. Der Kirkkoherra, indem er mich leer anstarrte, „Sooo. – Jooo.“ Pause. Soile überwand sich, sagte etwas. Der Kirkkoherra blickte sie plötzlich entfremdet an. Pause. „Sooo. – Jooo.“ Mir fiel alles ein über gemischt religiöse Ehen. Dass es vor nicht langer Zeit noch kompliziert war, eine Ehe zwischen einem katholischen und einem evangelischen Partner zu schließen. Dass der eine Partner von seinem Priester gedrängt wurde, der andere möge konvertieren, der andere ebenso bedrängt wurde von seinem Priester. Dass letztlich die Zustimmung verweigert oder nur unter der Bedingung erteilt wurde, die Kinder im katholischen Glauben zu erziehen. Mir fiel ein, dass ich keiner solchen Mafia angehörte seit meinem Hasard mit dem Vielnascher. Das alles würde ich dem Kirkkoherra sagen in klaren Worten und flüssiger Rede. Ob dann aber dieser, der, wenn Vielnascher erzkonservativ war, mir diamantkonservativ schien, noch „Sooo. – Jooo.“ sagen würde oder uns davonjagen, steht auf einem anderen Blatt. Letztlich war ich froh, kein Finnisch zu können. Nach noch mehreren Ansätzen Soiles und ebenso vielen „Sooo. – Jooo.“ des Kirkkoherra wurden wir mit Händedruck entlassen. Ich konnte mir nicht verkneifen, freundlich lächelnd mit „Sooo. – Jooo.“ zu grüßen.

Soiles Eltern sind nicht mehr. Ihre Töchter Sanna und Kirsi, ihr Bruder Seppo, ihre Schwestern Sinikka und Sirkku, ihre Schwager Tauno und Kari, ihre Nichten Karoliina, Henriikka und Sarlotta, Sannas Boyfriend Pirkka und dessen Eltern und die Standesbeamtin bilden die kleine Hochzeitsgesellschaft. Wir betreten den für uns reservierten Teil des Hotelrestaurants und ich bemerke mit Genugtuung den langen Tisch mit dem warmen Buffet. Die Glasfront des Raums gibt den Blick auf den Wald frei. Mit einem Mal schiebt sich ein Riesenfährschiff langsam durch diesen Wald. In nächster Nähe. Irreal. Ich träume nicht. Ein Meeresarm liegt inmitten des Waldes. Die Standesbeamtin zieht ihren Ritus durch. Sie schaut mich fest an und flüstert, I’m going to ask you now. Sie stellt die Frage in Finnisch.


„Tahdon.“

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