G- Avus Italia

Avus Italia

worin vorkommen: die Villa Manin, San Martino, Götzendorf, Aviano, Osoppo; Basagliapenta, Basiliano, Orgnano, Campoformido, Codroipo, der Parco delle Risorgive, Tolmezzo, der Tagliamento, der Fiume Stella, die Lagune von Marano, Bibione, Lignano, Pordenone, Udine, Venedig, Casarsa delle Delizia, der Corso Garibaldi, Siena, Mörbisch, die Salvatorgaase, Fiume Venero, die Pontebbana, Hinterbichl, Osttirol, Helsinki, Wien, Rostock, der Ottakringer Friedhof, die Frecce Tricolori, Otello, Desdemona, Uwe und Axel Theimer, die 'Csardasfürstin', 'Der Kurier des Zaren', Moses, Ella Fitzgerald, Ukko,  sowie Rivolto Tennis Open

Sommer und Herbst in Rivolto vergingen schnell, obwohl ich wieder viel allein war. Diesmal fiel es aber nicht so auf, weil ich viel zu tun hatte. Vorhänge nähen. Wände malen. Die Zimmer im Obergeschoß tapezieren. Abends kam Rainer meistens spät. Wenn er Zeit hatte an den Wochenenden half er mir, aber da ging nicht so viel weiter. Spazierend erkundeten wir die Umgebung. Ein geschotterter Fahrweg, für den Verkehr gesperrt, bildet die Neunziggradachse zur Villa Manin. Er endet an der Mauer, die den Park umfasst, also an der Rückseite der Anlage. An der Vorderseite des Schlosses setzt er sich schmal und kilometerlang fort in Richtung San Martino. An ihrem Ende steht ein riesiger Feigenbaum, von dem wir gerne naschten. Meine lange Nase und Rainers Eselsohren sind unser Lohn. Wir durchforschten den Schlosspark und blieben dabei brav auf den Wegen. Wir wollten kein Aufsehen haben mit dem Wächter.



Parmenides Ansichtskarten / Martin Winter / Einzelunternehmer / Mozartgasse 4 / 8073 Feldkirchen

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Es war schön, die Feldwege um Rivolto entlang zu schlendern. Sie wurden von schmalen Kanälen begleitet, teils mit Wasser, teils trocken. Das hing davon ab, welcher Landwirt gerade berechtigt war, dem Kanal Wasser zu entnehmen. Ein Verteilungsplan regelte das. Das Wasser wurde durch Sperren oder Öffnen kleiner Schleusen, nämlich einfacher Holztafeln in seitlichen Führungsschlitzen aus Beton, zu den gewünschten Feldern geleitet. Eines Abends nach einem sehr heißen Tag flanierten wir dort im Finstern. Überrascht stellten wir fest, dass unsere Füße im Wasser patschten. Es machte uns nichts aus. Wir lachten. Die Abkühlung tat gut. Wir lachten immer noch, als das Wasser an unsere Waden reichte. Als wir bis an die Hüften im Wasser wateten, fanden wir das weniger lustig, weil wir in der Dunkelheit gar nichts sehen konnten, keine Ahnung hatten, welche Richtung wir ansteuern sollten und nicht ausschließen konnten, demnächst schwimmen zu müssen. Vermutlich hatte ein Landwirt versehentlich die falschen Schleusen geöffnet, oder er war zornig über den Verteilungsschlüssel oder weil der Nachbar ihm den Traktor nicht geborgt hatte, und hat das absichtlich getan, sodass eines der Felder vollständig überschwemmt wurde. Der Feldweg lag auf eine längere Strecke tiefer als die Felder zu beiden Seiten, wodurch der Hohlweg überflutet war.

Auf einem unserer Spaziergänge kamen wir an einem Tennisplatz vorbei. Er lag außerhalb der Ortschaft inmitten der Felder und war umgeben von einem maroden Maschendrahtzaun. Die Tür war versperrt. Es gab keinen Hinweis, wem die Anlage gehörte oder zu welchen Bedingungen man sie benutzen konnte. Wir stellten fest, dass es ein Leichtes war, unter dem zum Teil hochgerollten Zaun durchzuschlüpfen, und taten das auch, um das einzige Spielfeld näher zu untersuchen. Es hatte einen Kunststoffbelag auf Beton. Er war stellenweise aufgebrochen. Keine idealen Verhältnisse also, aber immerhin, ein Tennisplatz in nächster Nähe. Wenn das Wetter nicht zu feucht war, konnte man sogar im Winter darauf spielen. Unsere Überlegungen wurden gestört durch ein seltsames Geräusch, das wir zuerst nicht einordnen konnten. Zuerst ähnelte es dem eines Düsenflugzeugs in mittlerer Höhe, schwoll aber bald an zu einem unerklärlichen Orkan. Der Orkan genügte dem Geräusch noch nicht. Es verstärkte sich sehr rasch auf fünf Orkane gleichzeitig. Gleich darauf hatte ich nicht einmal Zeit, mich zu Boden zu werfen, als die fünf Orkane in geringer Höhe über uns hinwegbrausten und auch schon wieder verschwunden waren. Ein schrilles Pfeifen lag noch in der Luft. Soile und ich schauten einander an, als hätte uns gerade eine fliegende Untertasse überflogen. Es waren aber eindeutig nur fünf kleine blaue Düsenflugzeuge mit einem Streifen in den italienischen Nationalfarben den Rumpf entlang. Sie flogen in Formation, machten aber sonst keinen bedrohlichen militärischen Eindruck, eher den von ein paar Kabriolenkern auf der Autobahn, die der Frühling übermütig gemacht hat. Den ganzen Weg nach Hause rätselten wir, was das jetzt gewesen wäre.


In der Via Gatteri, lebte uns gegenüber ein seltsames Paar. Vater und Tochter. Der Vater arbeitete nicht mehr oder hatte nie gearbeitet, mit Sicherheit aber viel getrunken. Die Frau hätte auch seine Enkelin sein können. Loredana schien ein wenig geistig beeinträchtigt. Sie hatte Schwierigkeiten bei der Artikulation. Wenn man ihr bisweilen eine kleine Aufmerksamkeit zusteckte, packte sie blitzschnell zu, riss einem die Blumen oder die Schokolade förmlich aus der Hand. Manchmal hatte ich den Eindruck, in der Vater-Tochter-Beziehung liefe etwas mehr. Vom Tennisplatz kommend trafen wir vor dem Haus auf Vater Cecchietto. Wir erzählten ihm von den Flugzeugen über dem Tennisplatz, die später auf unserem Heimweg ein zweites Mal über uns hinweggebraust waren. Er wunderte sich, dass wir nicht wussten, dass das die berühmten Frecce waren. Die Frecce Tricolori! Von so etwas hatte ich noch nie gehört. Ma si, le frecce tricolori, die berühmte Kunstflugstaffel der Aeronautica Militare. Er zeichnete mit den Armen wilde Figuren in die Luft. Rivolto ist berühmt für die Frecce. Hier sind sie stationiert auf dem nahen Militärflugplatz. Sie trainieren ihre kunstvollen Flugfiguren in der ganzen Gegend.


Wusch! Was für eine Überraschung. Ganz unbeabsichtigt schon wieder an einem Flugplatz, nach Aviano und was Rainer betrifft, auch Götzendorf. Was für ein Glück(?), unzählige Privatvorführungen der Flugshow. Wenn sie ihre waghalsigen Manöver flogen in unterschiedlichen Formationen, war es schier unmöglich nicht hinterdrein zu schauen. Nicht zuletzt deshalb war die SS13 an solchen Trainingstagen noch gefährlicher als sonst. Wenn ich von Norden kam, konnte ich schon ab Osoppo kleine Punkte wahrnehmen, die am Himmel tanzten. Dann wusste ich, dort ist Rivolto. Später, als ich mit Soile ab und zu den Tennisplatz benutzte und die Frecce wieder einflogen, schoss ich zum Spaß einen Ball senkrecht in die Höhe. Mir kam der Mann in Tirol in den Sinn, der aus Protest gegen den Lärm mit Knödeln auf die Flieger schoss. Wir blieben beide erfolglos. Zu unserem Glück übten sie nicht jeden Tag. Zu ihrem Glück auch. Mehr so periodenweise. Knapp an Rivolto vorbei, eben genau über den Tennisplatz, verlief ihr Landeanflug. Den Startlärm bekamen sie eher an der Ostseite des Flugplatzes, Basagliapenta, Basiliano, Orgnano und Campoformido. Die hatten dazu noch einen kleinen Zivilflugplatz. 

Codroipo war bald erforscht. Am Beginn der schmalen Hauptstraße gab es einen Supermarkt. Die Hauptstraße entlang ein paar kleinere Geschäfte, darunter Rainers Haarschneider. Er hieß Buffon wie der aktuelle italienische Teamtorhüter. Gegenüber lag der Elektroladen mit dem Verkäufer und Chorsänger ‚Baffo‘. Heute, da ich dies erzähle, lebt Baffo schon lange nicht mehr. Er hat sich eines Tages erhängt. Rainer meint, weil er ihm keine Drähte mehr abgekauft hat. Aber wir haben doch so viele gekauft und dann brauchten wir keine mehr. Am westlichen Ende weitet die Hauptstraße sich in eine Piazza mit dem modernen Rathaus. Gegenüber schrie ein zweistöckiges Warenhaus aus den Sechzigern gemeine Falschtöne in die Zeile anmutiger Bürgerhäuser aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Die Piazza zieht sich um die Ecke des Rathauses noch ein Stück in nördlicher Richtung. Dort geht es zum Bahnhof. Wenig südlich von Codroipo, westlich der Villa Manin, liegt der Parco delle Risorgive. Eine wunderschöne Naturlandschaft, als Park gepflegt. Seine Wege verlaufen im Schatten alter Baumriesen an Wasserläufen entlang und auf Stegen über sie hinweg. Das Wasser sprudelt aus dem Boden. Es ist weit im Norden auf der Höhe Tolmezzos im Schotterboden versickert. Deshalb ist der Tagliamento dort oft wie ausgetrocknet. Unterirdisch ist das Wasser bis hierher gelaufen, wo weniger durchlässige Lehmschichten im Boden es an die Oberfläche zwingen. Es sättigt hier eine reichhaltige Flora mit seltenen Lilienarten und Wasserpflanzen. Von hier aus geht die Wasserreise oberirdisch weiter in Form des Flusses Stella in die Lagune von Marano. Der Stella ist der kleine Bruder des Tagliamentos. Dieser groß und stark, manchmal gewalttätig, bei Codroipo breit, bei Latisana eng, dafür von abgründiger Tiefe; der Stella hingegen gemächlich und sanft, mit wunderschönen Wasser- und Uferlandschaften. Der Name Taglamento klingt wie ein Fluch. Er trennt an seiner Mündung die Hochhäuser Bibiones von denen Lignanos. Der Name Stella klingt wie Musik. Wo er im Meer vergeht, blüht ihm ein zauberhaftes Naturschutzgebiet.

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Ich fahre jetzt mit der Bahn zur Arbeit nach Pordenone. Soile bringt mich morgens zum Bahnhof in Codroipo. Eine halbe Stunde insgesamt, davon zwanzig Minuten mit dem Regionalzug, der von Udine kommt und den ganzen Streckenbogen abtingelt bis hinunter nach Venedig. E-Loks ziehen oder schieben Waggons von D-Zug-Garnituren aus den Sechzigern, antiquiert, aber sanft und leise. Teils geschlossene Abteile, teils Großraum. Der lange Zug ist ziemlich voll. Auf der Suche nach einem Sitzplatz durchstreife ich die Wagen und treffe unweigerlich auf Dellorusso. Er fährt die Strecke schon viele Jahre lang und unterhält sich mit anderen Pendlern wie mit alten Bekannten. Ich halte es für angezeigt, Bereitschaft zu zeigen mich der Gruppe anzuschließen. Dellorusso sieht sich veranlasst mich kühl vorzustellen. Damit ist der Höflichkeit Genüge getan. Die weitere Unterhaltung setzt er mit seinen Bekannten fort, als wäre ich nicht vorhanden. In gemächlichem Tempo überquert der Zug den Tagliamento. Das gesamte Schotterbett ist etwa einen Kilometer breit, die Hälfte davon führt seichtes Wasser, aufgeteilt in unzählige Rinnsale. Am anderen Ufer hält der Zug bald in Casarsa della Delizia. Der nächste Halt ist schon Pordenone. Sehr viele Pendler steigen hier aus. Fast alle nehmen den Fußweg ins Zentrum, etwa fünfhundert Meter. Unter ihnen Dellorusso und ich. Auch dabei unterhält er sich mit seinen Bekannten. Selten, dass er ein banales Wort an mich richtet. Dass auch seine Bekannten mich wie Luft behandeln, wundert mich. Es passt ganz und gar nicht zu den Italienern, die mir ansonsten äußerst herzlich begegnen. Wahrscheinlich hat Dellorusso ihnen gesagt, was für ein blöder Hund ich bin. Diese öde Gesellschaft habe ich bald satt. Ich suche mir einen anderen Weg in die Stadt, etwas länger, dafür viel hübscher, durch Gärten, Innenhöfe und enge Gassen.

Heute habe ich unterwegs noch etwas zu besorgen. Dellorusso hat Geburtstag. Zu meinem hat er mir eine Flasche sehr guten schottischen Whisky geschenkt. Also komme ich nicht umhin desgleichen zu tun. Ich durchstöbere alle Schaufenster des Corso Garibaldi. In der Kasse ist wie immer Ebbe. Nein, sie ist schon unterm Hund. Die Akquisition und Instandsetzung des Barockschlosses. Einer der Läden führt alte restaurierte Möbel. Eine rustikale Kredenz hat es mir schon seit einiger Zeit angetan. Harmonische Maße, alte Beschläge, die Holzrahmen der Schiebetüren im Oberteil gleiten auf einer Auskerbung am Fachboden. Würde hervorragend in unser Schloss passen. Und ein aus Ziegeln gemauerter Kamin oben in der Mansarde, mit Türchen aus feuerfestem Glas an beiden Seiten. Man wird ja noch träumen dürfen. Nein, Whisky ist zu teuer. Nur, es gibt wenig Billigeres. Doch, da. Panforte von Sapori. Getrockneter Honigkuchen mit Mandeln und Gewürzen. Ich bilde mir ein, Panforte käme aus dem Mezzogiorno wie Dellorusso. Tatsächlich kommt es aus Siena. Ich kaufe also eine Konfektion Panforte und überreiche sie Dellorusso mit meinen besten Glückwünschen. Es geschieht selten, dass er mich direkt anschaut. Das ist so ein Moment. Sein Blick sagt, „Das glaub ich jetzt aber nicht!“ Ich kann zusehen, wie seine Mimik sich verwandelt in puren Hass. Bestimmt denkt er, ich will ihn verhöhnen. Er sagt nichts. Nicht einmal Grazie. In ihm kocht es sichtbar. Den Panforte schmeißt er in die am weitesten entfernte Ecke seines Schreibtischs. Nur einmal noch werde ich Dellorusso so außer sich sehen. Ich werde die Liste der italienischen Versicherungsanstalten brauchen, die er in einer Lade seines Schreibtischs liegen hat. Dellorusso ist nebenan bei Centrone, etwas zu besprechen. Das kann dauern. Ich werde also die Liste in dieser Lade suchen gerade in dem Augenblick, als er zur Tür hereinkommt. Sein Ausdruck wird derselbe sein wie der angesichts des Panforte. Otellos manipulierter Hass auf Desdemona. Wieder wird er nicht reden. Dass er mich nicht erschießt, beweist, dass er keine Waffe bei sich hat. In der Folge wird er sich beschweren bei Scussel und in Graz, ich versuchte ihn auszuspionieren. Als ob es dazu nicht tausend bessere Gelegenheiten gäbe, wenn ich das tun wollte. Schließlich besitze ich einen Büroschlüssel. Tamara ist natürlich auf Dellorussos Seite. Ich brauchte nicht zu spionieren um zu bemerken, dass Dellorusso kaum etwas selber verhandelt mit den diversen Kontrahenten. Das macht alles Centrone als Anwalt. Sicher, Anwälte werden benötigt, wenn man zu keinem brauchbaren Ergebnis kommt. Aber grundsätzlich von allem Anfang an den Anwalt einzuschalten, verlängert die Bearbeitungszeiten und treibt die Kosten unnötig in die Höhe. Das geht so weit, dass nicht einmal die Kontakte mit den Behörden von Dellorusso selber erledigt werden. Selbst wenn es um die einfache Beschaffung eines Polizeiprotokolls geht, erledigt das Centrone. So wird das, was ein paar Stempelmarken kostet und die Entsendung einer Kanzleikraft zur Behörde, in der Abrechnung mit dem Auftraggeber zum fetten Anwaltshonorar. Für den Anwalt ist das natürlich ein gefundenes Fressen und ein sehr ausgiebiges. Dellorusso macht da seit Jahren mit. Für ihn ist es äußerst bequem. Für Centrone äußerst einträglich. Tamara wird niemals dieses ihren Mann, ihre Familie, sie selbst begünstigende System gefährden. In Graz beginnt man sich Gedanken zu machen, ob es eine gute Idee war, einen Nichtitaliener nach Pordenone zu schicken. Dass ich ein Spion sei, hält Dieter natürlich für Unsinn. Sein betagter Vater ist sich da schon nicht mehr so sicher. Ich spüre sehr genau, wie die Protagonisten denken. Doch keiner der Beteiligten spricht es an. Daher bleibt auch meine Kritik am System ungesagt.

Ich denke viel darüber nach, was Dellorussos unversöhnlichen Zorn verursacht haben mag. Da fällt mir ein, es ist schon einige Zeit her, dass Dieter mich anrief. Er habe einen Brief erhalten von Annamaria, in dem sie sich über mein unverantwortliches Verhalten beklagt. Er habe nicht die Absicht sich in meine privaten Angelegenheiten einzumischen. Auch würde er den Brief nicht beantworten. Es wäre ihm aber recht, wenn man ihn künftig mit solchen Klagen verschonte. Wenn Dieter den Brief Tamara gegenüber erwähnt hat, ist sehr wahrscheinlich, dass sie das nicht für sich behalten hat und Dellorusso informiert ist. Die Beschuldigungen Annamarias, der verletzten Italienerin, könnten seine bestehende Aversion durch ethische und sogar nationalistische Gefühle noch befeuert haben.

Die Seefestspiele in Mörbisch gehören zu der Art von Kulturereignissen, die mich nicht anziehen. Das ändert sich, als mein Blick auf den Namen Uwe Theimer fällt. Er dirigiert in diesem Jahr einen Teil der Aufführungen der ‚Csardasfürstin‘. Uwe war mit mir in einem Chor der Sängerknaben. Dunkel ist mir in Erinnerung, wie er mich einmal in die Wohnung seiner Eltern mitgenommen hat. Sie lag in der Salvatorgasse und war geheimnisvoll finster. Uwe hatte einen jüngeren Bruder, Axel, gleichfalls Sängerknabe. Die beiden waren wohl schon damals künstlerisch geprägt, im Gegensatz zu mir, der ich die Kunst eher kindlich staunend erlebte. Dazu war ich ein eher verschlossenes Kind. Bei dem Besuch konnte nicht viel herauskommen und er blieb unwiederholt. Ab und zu ist mir Uwes Name schon untergekommen im Kunstbetrieb. Jetzt aber, im Zusammenhang mit Operette, ist mir eine Idee fulminant durch den Kopf geschossen. Ich werde Soile zur Csardasfürstin in Mörbisch führen und ihr Uwe vorstellen. Uwe werde ich die Partitur von Tinos Operette ‚Der Kurier des Zaren‘ mitbringen mit der Bitte, sie sich anzuschauen und die Möglichkeiten einer Wiederentdeckung zu prüfen. In Anbetracht der politischen Umstürze, zumal in Russland, hätte der Stoff sogar Aktualität. Tinos Nachlass befindet sich bei Mama, doch einige Stücke habe ich dank geglücktem Übersiedlungsgutimport bei mir, darunter den ‚Kurier‘. Das Original will ich ungern aus der Hand geben, also ist Kopieren angesagt. Eine schöne große Kopiermaschine befindet sich im Avusbüro. Die kommende Mitternacht sieht es einen skrupellosen Einbrecher. Seine Komplizin schlottert vor Angst. Daran, dass sie trotzdem mitmacht bei dem Lumpenzug, kann man sie als Liebende identifizieren. Obwohl, sie sollte solche Raubzüge gewohnt sein. Es ist nicht ihr erster spätabendlicher Besuch. Die anderen Male hatten einem ausgedehnten phonetischen Austausch mit ihren Töchtern und den Schwestern gedient. Diesmal lässt sie das Telefon in Ruhe. Die Ganoven machen sich am Fotokopiergerät zu schaffen. Das Kopieren der Partitur, anders als das frühere Telefonieren, erfordert ein Mindestmaß an Beleuchtung. Das ist gefährlich, weil man das Licht von der Straße her bemerken kann. Die Partiturseiten haben ein Format, welches selbst mit dem größeren A3 der Maschine nicht ganz erfasst wird. Macht nichts, denke ich. Wenn auch der erste und der letzte Takt einer Zeile teilweise fehlen, für einen Profi sollte das Fehlende aus dem Zusammenhang ersichtlich sein. Eine Stunde harte Arbeit später schleichen die Gestalten davon, ohne bemerkt zu werden, eine Partitur und ein Bündel Papier in der Tragtasche. Ich stelle fest, an welchen Abenden Uwe dirigiert. Wir fahren nach Mörbisch. Die Aufführung lebt vor allem von der riesigen Bühne am Wasser. Obwohl, in der Csardasfürstin scheint es mir eher unmotiviert. Natur als Szene. Gelsen verdunkeln die Scheinwerfer. Myriaden. In der Luft liegt der Gestank des Pestizids, mit dem man vor Beginn gegen die Blutsauger vorgegangen ist. Eine Herausforderung für die Darsteller. Dazu die Mikrofone; das Orchester und die Kollegen über Kopfhörer hören zu müssen; die Beschallung der Zuschauer über riesige Lautsprecher. Uwe verlangt sich riesige Bewegungen ab. Sie wirken verloren in der Weite. Operette gehört in ein Musiktheater, wo man Töne und Gestik natürlich erleben kann, nicht ins Unerträgliche übersteigert. Mit der Tragtasche suchen wir nach Ende der Vorstellung Uwe auf. Er erinnert sich an mich. Noch erschöpft nimmt er die Kopien entgegen. Er wird sich melden. Nach mehreren Monaten wird die Post ein Paket nach Rivolto bringen mit einem kurzen Brief von Uwe. Er finde den ‚Kurier‘ musikalisch ansprechend – obwohl die Hälfte der Noten fehle! – und das Libretto witzig. Doch glaube er kaum, dass jemand sich für eine Reprise finden werde. Später wird Mama Tinos Nachlass der Nationalbibliothek schenken, wo Studenten und Wissenschaftler daran forschen können. Der Schatz, geschaffen unter Entbehrungen, einmal glanzvoll aufgeführt unter begeistertem Beifall, im Kinderwagen auf eine Tiroler Alm gekarrt, in nächtlichem Kriminalakt reproduziert, der Schatz versinkt im Hades.

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Eines Abends vom Büro kommend brachte Rainer eine Überraschung mit. Sie steckte in einer Einkaufstasche. Ich steckte meine Hand in die Tasche. Au! Ich zog sie sofort wieder heraus. Etwas hatte mich fest gestochen oder gebissen. Er wird mir doch keine Skorpione mitgebracht haben! Gibt es hier zu wenige? Mein Zeigefinger blutete leicht. Was immer in der Tasche war, Igel oder Ratte, es versuchte wie wild heraus zu hüpfen. Ich riss ein Stück vom Papiertaschentuch ab und klebte es auf den Blutstropfen. Da war es in der Tasche wieder ruhig. Miau, machte es kläglich, miau! Rainer erzählte, Tamaras Tochter und deren Freundin, neun oder zehn, hätten im Bach ein Paket treiben sehen, aus dem es verzweifelt herausmiaute. Sie hätten das Paket herausgefischt und geöffnet. Drei durchnässte Kätzchen wären darin eingepackt gewesen. Das Mädchen durfte eines der Kätzchen behalten. Für die anderen suchte man ein Zuhause. Rainer habe sich sofort bereiterklärt, eines der Geretteten aufzunehmen. Jetzt im Barockschloss könne das doch kein Problem sein. Moment! Hat da vielleicht wieder jemand über mich hinweg bestimmt? Ich mag ja Hunde, vor allem Spaniels. Katzen sind ganz anders! Es gelang Rainer, das Kätzchen aus der Tasche zu holen. Es war wirklich noch ganz klein, ich glaube, es konnte noch nicht richtig sehen. Ein grauer Tigerkater, stellte Rainer fest. Wenn auch meine Sympathie nicht unbedingt den Katzen gehörte, dieses zarte, unschuldige Geschöpf, gerade geboren und schon fast Opfer eines gemeinen und qualvollen Mordes, man konnte es einfach nicht abweisen. Das Katerbaby biss jetzt nicht mehr, sondern genoss sichtlich das Streicheln, bis es nach Kurzem zu schreien begann, nicht verzweifelt, aber ärgerlich. Es hatte Hunger und wollte endlich fressen. Ich erinnerte mich an die Pipette von den Augentropfen, fand sie sogar bei den Medikamenten. Wir mischten etwas Wasser in die Milch und ich fütterte das Baby. Es trank gerne, rasch und viel. Als es sich danach rekelte unter meinem zarten Streicheln, liebte ich es schon. Es war nicht mehr es, es war er. Er brauchte einen Namen. Rainer machte die unmöglichsten Vorschläge. Politiker, Komponisten, Alkoholsorten, Feldherren, lauter Blödsinn. Moses wäre treffend gewesen. Ivan von Mortegliano fiel mir ein. Das gefiel Rainer nicht. Da müsse er immer an Russen denken. Aber Ugolino, schlug ich vor. Das war ein würdiges Andenken an unseren Holzwurm mit dem rollenden Auge. Ugolino also.


Wir zogen Ugolino auf, wie ein kleiner Tiger es verlangt. Bald konnte die Pipette wieder zu den Medikamenten wandern. Ugolino schleckte den Milchbrei schon selbständig. Er war schon aufs Doppelte gewachsen. Viel früher als wir vermutet hätten, fraß er feste Nahrung. Sein Appetit war groß und er wurde immer schwerer. Ugolinos Türkonstruktion, ich meine den Zimmermeister, bewährte sich jetzt besonders. Wenn wir die Glasflügel an den versperrten Türen offenließen, konnte Ugolino, der Kater, jederzeit nach Lust und Laune durch das Holzgitter hinaus- und wieder hereinschlüpfen. Wir praktizierten das so mit der Tür zum Hof. Dort befreundete sich Ugolino mit Rivoltos Katzen oder feindete sich mit den Katern an, je nachdem. Binnen Kurzem hatten wir zwölf andere Katzen im Hof, denen es plötzlich bei uns gefiel. Sie bekamen alle zu fressen. Boss, Heidi, Greyhound, Ella, und viele andere. Ella, eine schöne, rundliche Katze, begann zu singen, sobald sie jemandes Schatten hinter der Tür bemerkte. Sie sang vor allem laut. Rainer pflegte sie zu ermahnen: Schön singen! Ihr Gesang erinnerte an Fitzgerald. Daher Ella. 


Guillome tauchte auf. Er hatte eine furchtbare Verletzung. Eine Gesichtshälfte fehlte weitgehend. Er konnte das Maul nicht schließen, also auch nichts fressen. Mir wurde schlecht, wenn ich ihn ansah. Zur Ärztin oder Krankenschwester bin ich bestimmt nicht geboren. Guillome saß vor der Tür und wollte, konnte aber nicht fressen. Er würde bald verhungern. Also holte ich die Pipette wieder aus der Medikamentenlade und fütterte ihn. Katzen sind zäh, haben angeblich sieben Leben. Die eingeflößte Milch und das Streicheln taten ihm gut. Die Behandlung steigerte anscheinend Guillomes Widerstandskraft. Langsam erholte sich sein Kieferapparat von der Verwundung. Ich freute mich unsäglich, als ich die erste leichte Bewegung an seinem Maul bemerkte. Es gab mir neuen Antrieb, die Behandlung fortzusetzen. Der Tag kam, da konnte er weiche Nahrung wieder kauen. Ganz schief bewegten sich die Kiefer aufeinander zu und der Biss passte überhaupt nicht. Trotzdem war Guillome glücklich über festeres Futter, was seine Genesung weiter vorantrieb. Zu guter Letzt konnte er wieder halbwegs normal fressen. Sein Kopf sah aus wie die Fratze eines gotischen Wasserspeiers. Sein rechtes Auge rollte wie das linke Ugolinos, des Zimmerers. Ugolino hatten wir aber schon. Guillome schien zu verstehen, was ihm bei uns geschehen war. Ein dankbareres Tier kann man sich nicht vorstellen. Sein Schnurren und Schmeicheln nahmen kein Ende.


Unsere Gegend war offenbar gefährlich für Katzen. In mehreren kleinen Werkstätten liefen Maschinen. Katzen sind neugierig. Sie müssen alles genau untersuchen. Da konnte man leicht zwischen bewegliche Teile geraten. Die Verbindungsstraße, in die die Via Gatteri an der Kastanie mündet, war zwar schwach befahren, aber ausschließlich von Rasern. Es störte die Wahnsinnigen nicht, dass hier Reihenhäuser die Straße flankierten. Sie bretterten hier durch, als wäre es eine Autobahn. Zum Glück war Rivolto schon aus anderen Gründen ziemlich entvölkert, sonst hätten das die Bleifüße erledigt. Eine Katze läuft über die Fahrbahn? Der Jagdinstinkt schießt in die Augenwinkel. Eine kleine Lenkbewegung. Hab ich sie erwischt? Die vielen Katzen im Hof begannen Ugolino zuwider zu sein. Wenn gerade viele da waren, weigerte er sich, durch die Tür in den Hof zu springen. Dann verlangte er, dass wir ihm die Straßentür öffneten oder er sprang durchs offene Küchenfenster. Wie für einen Kater üblich begann er, manchmal ein paar Tage wegzubleiben. Wir nannten ihn deshalb Globetrotter. Nach einem solchen längeren Ausflug kehrte er zurück, von oben bis unten, vorn und hinten bedeckt mit einem Industriekleber. Er muss in einer Werkstatt oder einem Lagerraum in einen Kübel mit Kleber gefallen sein. Der Kleber an seinem Fell war schon hart. Rainer nannte unseren Globetrotter Klebetrottel. Wir zogen uns aus und gingen mit dem Klebetrottel in die Dusche. Er sprang so hoch, dass er es fast über die zwei Meter hohe Duschwand geschafft hätte. Das half ihm alles nichts. Er wurde von zwei Nackten missbraucht. Der eine hielt ihn fest. Das ging nicht ohne blutige Verletzungen vonstatten. Nicht beim Kater. Die andere schrubbte an ihm so lange, bis das Fell wieder halbwegs sauber war. Das würde Ugolino uns nie verzeihen.

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Mit Soile spreche ich jetzt deutsch und englisch in wildem Durcheinander. Sie hat jetzt ein wenig Heimarbeit. Zur Freude manches Auftraggebers korrespondiert sie mit ihnen in meinem Auftrag in Englisch oder Schwedisch. Mein Vorschlag gefiel Tamara überhaupt nicht. Sie traute sich aber nicht, ihn abzulehnen. Schon wieder neue Kosten. Soile schrieb fehlerlos wie meine beste Schreibkraft bei der Allianz. Mit anderen hatte ich so meine Erfahrungen. Eine schrieb einmal statt des Namens Afana Sefat (war aus der Akte ersichtlich), völlig sinnentleert ‚auf einer Seefahrt‘. Oder ‚Banknotenpunkt‘. Die Tage im Büro werden immer schwieriger. Es missfällt mir, dass eingehende Post tagelang liegenbleibt, bevor jemand sie ansieht. Munes behauptet, die Post sei erst gestern angekommen. Also nehme ich die Post dem Briefträger ab, versehe die Schriftstücke mit dem aktuellen Datum und reiche sie zur Verarbeitung weiter. Als ich nach mehreren Tagen Munes mit der markierten Post beschäftigt finde, bemängle ich das. Ein weiterer Skandal ist heraufbeschworen. In jedem modernen Büro wird immer die gesamte eingehende Post mit Eingangsstempeln versehen. Hier werden meine Markierungen als Gestapo-Methoden gegeißelt. Eine Sauerei der ganz hinterhältigen Art sei das und jeder Zusammenarbeit unwürdig. Ein Glück, dass es hier keinen Betriebsrat gebe. Der würde darauf bestehen, dass ich gefeuert werde. Und überhaupt, wer sage, dass ich das richtige Datum notiert habe? Das Argument lässt mich sprachlos zurück.


Ich helfe Soile, ein Inserat in Italienisch aufzusetzen. Ein Stellengesuch. Viele der Betriebe in unserer Gegend exportieren nach Mittel- und Nordeuropa. Da müssten Soiles kaufmännische Erfahrung und Sprachkenntnisse doch begehrt sein. Woran ich überhaupt nicht denke, ist unser Alter. Wir nähern uns in Riesenschritten den Fünfzig. Jüngeres Personal wird überall bevorzugt. Soile erhält auch nur eine Antwort auf die Anzeige. Claber s.p.a. bittet um Vorlage eines Lebenslaufs. Schau, schau, eine Aktiengesellschaft. Claber erzeugt Gartenbewässerungsprodukte. Manche Schlauchanschlussstücke habe ich schon in Zeiten von Götzendorf gekauft. Billiger als Gardena, vielleicht auch schneller kaputt. Soile schickt ihren Lebenslauf. Bald darauf kommt die Einladung zu einem Gespräch. Büros und Produktionsstätte befinden sich in Fiume Veneto an der Pontebbana, ein paar Kilometer östlich von Pordenone. Ich begleite Soile zu dem Interview. Fehler. Der Personalchef ist sehr freundlich. Er hört sich an, wieso wir in Italien sind. Das erzähle ich, nicht Soile. Fehler. Auch auf Zwischenfragen des Interviewers antworte ich, nicht Soile. Fehler. Immerhin scheint er an den Fakten interessiert. Er selbst erzählt dann, dass Claber dabei ist sich international aufzustellen mit geplanten Niederlassungen vorerst in Europa, später auch USA und Asien. Was sie aktuell suchen, ist eine international erfahrene Eventmanagerin mit vielfältigen Sprachkenntnissen. Sie soll Kontakte mit möglichen Partnern im Ausland herstellen, diese allenfalls besuchen und, sofern sie selbst nach Italien kommen, geeignete Besucherprogramme erstellen und auch betreuen. Das klingt alles perfekt. Ich entwickle gerade selber Begeisterung für diese Aufgaben. Wir reden nicht über Bezahlung. Mir scheint es selbstverständlich, dass es hier nicht um den Job einer unwichtigen Bürokraft geht. Soile schweigt. Ich weiß, weshalb. Wieder diese Scheu vor möglichen Fehlern. Der Interviewer muss glauben, Soile könne überhaupt kein Italienisch, wenn sie gar nichts sagt. Dabei ist für Claber viel wichtiger, dass sie bei den ausländischen Gesprächspartnern gut ankommt. Sprachliche Perfektion ist da Nebensache. Ich versuche, das Soile klarzumachen, sie zum Reden zu bringen. Es gelingt nur sehr beschränkt. Ich hätte nicht mitkommen sollen. Dann wäre Soile gezwungen gewesen zu parlieren. „Wissen Sie,“ meint der Personalchef, „die Geschäftsleitung ist eingestellt auf eine Donna für diese Tätigkeit. Wenn ich mir Sie so anhöre, ich könnte fast kommen zum gegenteiligen Entschluss.“ Die verdrießliche Lage bei Avus schießt mir durch den Kopf. Der Claber-Job wäre vielleicht auch etwas für mich. Allerdings würde er sicherlich starke Elemente beinhalten, wo man andere überzeugen muss. Ob ich das könnte, bezweifle ich. Bisher musste ich immer selber Entscheidungen treffen. Ob die Beteiligten davon überzeugt waren oder damit einverstanden, war eher nebensächlich. Die italienische Redewendung für „Schuster, bleib bei deinem Leisten“ ist mir erst vor Kurzem untergekommen. Ich bringe sie hier jetzt an. Fehler?



Mein Urlaub war zu verbrauchen und Soile war ohne Job. Klar, dass wir nach Finnland reisten. Wir benutzten den Croma. Soile wollte mich mit ihrer Heimat vertraut machen. Wir drehten eine große Runde durchs ganze Land. An der russischen Grenze verloren wir uns in den Wäldern und konnten unsere Position auf der Karte nicht mehr eruieren. Unschlüssig standen wir vor einer Abzweigung. Erstaunlich, da in der Weite der endlosen karelischen Baumozeane kam ein Radfahrer daher. Kein Sportler, sondern ein witziges Männchen auf einem uralten Drahtesel. Nur Ukko weiß, was der in dieser gottverlassenen Gegend trieb. Auch er versuchte vergeblich, unseren Standort auf der Karte festzustellen. Er deutete auf einen Punkt auf der Karte. Tuossa sinne. Sieltä toho. No jo, toho, niin? Wir merkten, er hatte keine Ahnung. Niin no, tältä toho? Eikö niin? Diesmal zeigte er eine Stelle auf der Karte, die von der früheren hundertzwanzig Kilometer entfernt war. Wir fuhren einfach in der Richtung weiter, von der wir hofften, sie würde nicht nach Russland hineinführen.

Am Abend im Hotel telefoniert Soile mit ihrer Schwester. Mama hat Sinikka ein paar Tage zuvor angerufen und gebeten, ich möge sie zurückrufen. Ich tue das gleich und finde Mama in Tränen. Mamma ist gestorben, schon vor ein paar Tagen. Übermorgen wird das Begräbnis sein. Als Opa starb, hatte ich mich mit den Sängerknaben in Hinterbichl befunden und war nicht zum Begräbnis gekommen. Da war ich aber ein Halbwüchsiger gewesen. Auch jetzt wieder bin ich unterwegs in einem wichtigen Moment. Allerdings etwas älter und weiter weg als Osttirol. Irgendwo in den Wäldern an der russischen Grenze. Ich weiß, ich sollte jetzt bei Mama sein, aber ob sie das trösten würde? Ich bin so schlecht darin, jemanden zu trösten. Alles was mir zu sagen einfällt, kommt mir unendlich trivial vor, also sage ich lieber nichts. Wir könnten morgen nach Helsinki fahren, ich könnte von dort nach Wien fliegen. Das Begräbnis würde ich jedenfalls verpassen. Soile müsste mit dem Croma vierzehn Tage später auf die Fähre nach Rostock und die lange Fahrt nach Wien allein schaffen. Nein, nein, sagt Mama. Sie schaffe das schon. Die Familie Schatzinger kümmere sich ganz lieb um sie. Ich weiß, dass sie leidet. Ich bewundere ihre Tapferkeit.


Mamma wurde zweiundneunzig. Sie erlebte zwei Weltkriege, heiratete einen Kriegsinvaliden, der sie schlug, wenn er getrunken hatte, ließ sich von ihm scheiden. Ihre halbwüchsige Tochter brachte die beiden wieder zusammen. Mamma arbeitete wie ein Pferd. Tagsüber im armseligen Friseurgeschäft, nachts lausig bezahlte Heimarbeiten. Sie erhielt keine Pension, weil sie zu früh den Gewerbeschein zurückgelegt hatte. Um zwei Tage. Abgesehen von einer Kusine, einer Ordensschwester, die sie selten sah, hatte sie keinen Freundeskreis. Ihr Mann stand ihr nicht wirklich nahe. Nahe stand ihr nur ihre Tochter, die sie nach ihrem Theaterabstecher keinen Tag mehr allein gelassen hat. Ich natürlich auch als der Pamperletsch ihrer Tochter. Ihren Schwiegersohn, den alternden Hungerkünstler, fast gleichaltrig mit ihr selbst, der nichts auf die Reihe brachte, sie aber als Proletin verachtete, ihn ertrug sie meist schweigend, nur selten dabei die Fassung verlierend. Beklagt hat sie sich nie über irgendetwas. Dem Bigottismus ferne hatte sie immer ein gesundes Vertrauen in die Vorsehung und genug Demut, sich ihr anzuvertrauen. Zeitlebens war sie gesund. Nur gegen Ende ihrer Jahre hat der Graue Star sie heimgesucht. Ihr Sehvermögen wurde immer schwächer. Operieren lassen wollte sie sich nicht. Sie vertraute darauf, dass im Falle des Falles Mama sie umherführen und ihr vorlesen würde. Das erübrigte sich jetzt.


Wir nahmen die gebuchte Fähre und eilten auf kürzestem Wege nach Wien. Wir besuchten Mammas frisch aufgeschüttetes Grab auf dem Ottakringer Friedhof, Gruppe XVI, Reihe 12. Tags darauf fuhren wir nach Rivolto. Mit Mama. Sie nach vielen Jahrzehnten das erste Mal ohne ihre Mutter.

Wien, 27.1.1988 [Mamas Handschrift: 'Febr. 1990' - erhalten?]

Liebe Maria.

Sollte ich einmal plötzlich … , so nimm die paar Habseligkeiten von mir. Ja, liebe Maria, es wird ein großer Schlag für Dich sein, das weiß ich, denn wir haben das ganze Leben miteinander verbracht.

Wir haben uns aber gut verstanden und haben das Leben miteinander gemeistert, ist es nicht so gewesen? Ja, liebe Maria, ewig kann ich nicht bei Dir bleiben, mit dem musst Du Dich abfinden. Der Lebenslauf ist einmal so. Danke Gott, dass ich so lange bei Dir sein durfte.

Also, liebe Maria, Du musst mir versprechen, dass Du ohne Deine Mamma es so weiter schaffst. Tino würde sagen, Maria schafft es schon. Also, Maria, zeige, dass Du es schaffst.

Du kannst nicht nur um Tino und mir weinen. Du musst uns doch schlafen lassen, das wirst Du doch wollen, es geht alles weiter, es geht halt anders, aber es geht. Verspreche mir, liebe Maria, dass Du es Dir zu Herzen nimmst und machst mir große Freude.

Also, liebe Maria, zum letzten Abschied, Du warst mir immer eine gute Maria.

Tausend Grüße und Bussi, Deine Mamma.

Verzeih die Schrift.

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