worin vorkommen: das Ristorante San Giorgio, Florenz, Götzendorf, Mariatrost, das Hotel Minerva, Pordenone, Wien, die Kapuzinergruft, Graz, Roveredo in Piano, der Piave, der Tagliamento, Codroipo, Lignano, Claudio Martelli, Maria Teresa di Napoli, sowie die Arombombe in Reichweite
Wenn ich an Aviano denke, fallen mir unweigerlich vier verschiedene Dinge ein. Der geschmückte Weihnachtsbaum vor der weißgekalkten Kirche mit dem klobigen Kampanile auf dem Hauptplatz. Ein geschmückter Weihnachtsbaum in der Adventszeit, das ist doch nichts Besonderes? Der von Aviano schon. Denn dunkelblau glitzert sein Schmuck und dunkelblau leuchten seine Kerzen. Wenigstens blinken sie nicht wie die vielen anderen bunten Lichtdekorationen an den Fenstern und Masten und Läden. Viele davon blinken rot oder laufen aufgeregt hin und her. Man denkt an Etablissements des Rotlichtmilieus. Okay, ich denke. Manchmal.
Das Restaurant vier Stock unter unserer Wohnung fällt mir ein. Im Grunde ist es nicht der Rede wert. Ein relativ großes Lokal, schwach besucht. Sehr einfach, am anderen Ende der freien Fläche vor unserem Haus. Über dem Eingang prangt in Leuchtschrift der Name: San Giorgio. Ich vermute, weil wir uns am Viale San Giorgio befinden. Natürlich San Giorgio. Der ist ja mit uns seit Florenz.
Eine Packung Milch im freien Fall vom Fensterbrett des vierten Stocks bis zur Explosion an der felsigen Nordseite des Hauses, wo der Wald bis zu seinen Mauern heranreicht. Die Milch und andere Lebensmittel fallen des Öfteren aus unserem Kühlschrank. Bei Wind oder bei Unachtsamkeit. Diese nördlich gelegene Fensterbank ist unser Kühlschrank. Wir haben keinen anderen.
Vor allem aber fühle ich in mir jedes Mal jenen Schwindel, wenn ich an die Fußbodenfliesen denke in unserer Wohnung. Man denke an die 3-D-Zeichnungen mit ihren verschwommenen roten und blauen Linien, die sich ordnen, wenn man sie durch eine entsprechende Brille mit einem roten und einem blauen Glas anschaut. Das Bild, das sich daraus ergibt, wirkt dreidimensional. So ein Muster haben unsere Bodenfliesen. Leider haben wir nicht die erforderliche 3-D-Brille, daher schwindelt uns immer, wenn wir vergessen nicht hinzusehen.
Seit der Lastwagen von der Spedition Jöbstl unsere Sachen gebracht hat, ist der größtmögliche Teil dieses Fußbodens mit Teppichen bedeckt. Es hat aber eine ganze Weile gedauert, bis dieser Lastwagen gekommen ist. Inzwischen hat das Trauma sich etabliert. Ein kurzer unbedachter Blick auf eine teppichfreie Stelle genügt und der Schwindel ist da. Er entspricht etwa einer Flasche Whisky, geleert in einer halben Stunde. Unsere Sachen hat der Lastwagen gebracht, aber keinen Kühlschrank und keinen Kochherd. Die waren alle eingebaut in Götzendorf und auch in Mariatrost. Wo gibt es heute noch eine Wohnung ohne Küche und Kühlschrank? Hätte der Lastwagen auch noch Küchenmöbel und einen Kühlschrank gebracht, hätte der arme Steirerbursche von der Firma Jöbstl noch öfter die vier Stock hinauf und hinunterlaufen müssen. „Houffentlich gibt’s an Aufzug!“, hat er gebetet, als er sah, wo die Möbel hinsollten. Gab es. Für zwei Fahrten. Dann ist eilig der Hausbesorger gekommen und hat den Lift abgeschaltet, damit er nicht durch die Überbeanspruchung Schaden nimmt. Aus Rache dafür hat unser Giorgio sich sogleich in die Eingeweide dieses Lifts eingenistet. Der braucht jetzt eine Generalsanierung. Während der nächsten Monate treffen wir, während wir zu Fuß die Stiegen hinauf und hinunterlaufen, in verschiedenen Stockwerken einen dicken Mann, der versucht, den Kabelsalat im Aufzugsschacht zu ordnen. Daneben kauert ein Schulmädchen auf den Stiegen und macht Hausaufgaben. Beim Arbeitstempo dieses einsamen Laokoons halte ich die behaupteten Millionenkosten für durchaus plausibel.
Dass wir das kalte, einsame Loch am Meer hinter uns gelassen haben, ist Signor Tarozzi zu verdanken. Das heißt, zuerst Frau Scussel. Der Gedanke an die Pinien im Kamin und den europaweiten Telefonverkehr hat ihr keine Ruhe gelassen. Sie mag das Problem mit Dellorusso erörtert haben. Der wiederum traf bei einem Uno per Due zufällig Tarozzi. Und Tarozzi erwähnte einen seiner zahlreichen Bekannten, der eine Wohnung in Aviano gekauft hat, für diese aber in absehbarer Zeit sicher noch keine Verwendung haben wird. Tarozzi hatte den Auftrag, diese Wohnung zu hüten und besaß daher auch die Schlüssel. Durch Dellorussos Fürsprache war Tarozzi sofort bereit, uns die Wohnung für ein paar Monate zu vermieten. Ohne Vertrag, versteht sich. Ob der Eigentümer davon etwas wusste, kann ich nicht sagen. Jedenfalls bringe ich Tarozzi jetzt jeden Monat den vereinbarten Betrag in seine Wohnung gegenüber der Kirche.
Tarozzi ist ein Fanfarone. Für alles und jedes kennt er die richtigen Leute. Küche fehlt? Kein Problem. Sein Schwager ist Möbelhändler und wird uns ganz sicher ein paar gebrauchte Möbel leihen. Soile wird er einen Traumjob bei den Amerikanern vermitteln. Sein bester Freund ist der Oberkommandierende. Übersiedlungsgut ins Land lassen? Der Chef vom Zoll ist mit ihm zur Schule gegangen.
In Wahrheit beschränkt sich sein Bekanntheitsgrad darauf, dass er in der Wählerevidenzliste aufscheint. Daher gibt es keinen Kühlschrank und keinen Kochherd. Den Traumjob gibt es. Man kann von ihm träumen.
Plötzlich ist es eilig mit unseren in Graz eingelagerten Möbeln. Was sich im Keller des Minerva befindet, reicht gerade fürs Vorzimmer. Ich spreche vor beim Zollamt in Pordenone. Kann ich mein Übersiedlungsgut bringen lassen? Sicherlich. Vorausgesetzt, ich bin in Aviano gemeldet. An sich sind wir nicht berechtigt uns in Italien aufzuhalten, es sei denn für kurze Zeit als Touristen. Noch sind weder Österreich noch Finnland der EU beigetreten. Wir sind hier also Fremde wie Türken oder Inder oder Marokkaner. Eine Aufenthaltsbewilligung kann man bekommen, wenn man ein Arbeitsverhältnis und eine Unterkunft vorweisen kann. Das Arbeitsverhältnis wird aber nur genehmigt, wenn sich kein Italiener für die Beschäftigung findet. Das kennen wir schon aus Österreich. Außerdem besteht mein Arbeitsverhältnis eben in Österreich. Soile hat gar keines. Ein Glück, dass Vizekanzler Claudio Martelli soeben ein Gesetz durchgebracht hat, das sogar seinen Namen trägt. Es erlaubt jedem (geflüchteten) Immigranten sich ordentlich anzumelden. Man will die Situation der vielen illegal Eingewanderten sanieren. Vorausgesetzt, man kann eine bewohnte Unterkunft vorweisen. Schön, aber für diesen Nachweis brauche ich meine Möbel aus Graz. Kein Problem. Vorausgesetzt, ich bin in Aviano gemeldet. Die Zollbeamtin zuckt die Achseln. Ihr fällt kein Ausgang ein aus diesem Teufelskreis. Es sei denn, ich verzolle mein Übersiedlungsgut. In Italy you never get what you expect. Der Chef vom Zoll ist auf einer Safari in der Sahara von Krokodilen gefressen worden, sagt Tarozzi.
Aufs Gemeindeamt in Aviano. Auf Teufel komm raus melde ich mich am Viale San Giorgio in Aviano an. Einige Tage später hole ich mir die Meldebestätigung. Die Carabinieri haben meine ordentlichen Wohnverhältnisse überprüft und bestätigt! Nicht einmal das Türschild am Haustor wäre dazu geeignet gewesen. Da stand der Name des wahren Eigentümers drauf. Sei’s drum, in Italy you get what you never expect. Die Beamtin vom Zoll bestätigt, dass damit dem Import meines Übersiedlungsguts nichts im Wege steht. Ich gebe der Firma Jöbstl in Graz grünes Licht. Zwei Tage später erlebe ich in der Früh die Ankunft des Lastwagens auf dem Zollamt in Pordenone. ´S letzte Mol hamma drei Tog do vaschissn, sagt der steirische Fahrer. Das schreckt mich nicht. Diesmal klappt alles. Die Beamtin verlangt die vom Eigentümer unterschriebene Bestätigung, dass ich die Wohnung nutzen darf. Davon haben Sie mir nichts gesagt, wende ich ein. Wir haben Ihnen einen Brief nach Aviano geschickt. Haben Sie den nicht erhalten? Natürlich nicht, ich wohne ja noch nicht dort, denke ich, sage ich aber nicht. Ja, ja, wia imma, stöhnt der LKW-Fahrer. Sein Begleiter, der junge Bursche, sagt, viel Zeit hat er nicht. Er muss morgen Früh einrücken zur Milizübung. Nemma des Glump halt wieda mit. Ich stürze mich in den roten Uno, rase wie ein Verrückter nach Aviano. Wirklich, der Brief vom Zoll liegt unter dem Türschlitz. Darin die vorgedruckte Erklärung für den Wohnungseigentümer zur Unterschrift. Ich rase zu Tarozzi. Glück gehabt, er ist zuhause. Er überfliegt das Schriftstück. Wohnungseigentümer ist er nicht, aber er nimmt einen Kugelschreiber und macht eine unleserliche Kraxe als Unterschrift. Das hätte ich auch selber machen können. Ich rase nach Pordenone zum Zoll. Ich muss rasen, denn dort ist um zwölf Feierabend. Die Beamtin nimmt den Zettel. Na also. Die Beschau geht sich aber bis zwölf nicht mehr aus, stellt sie fest. Ich könnte jetzt auf meine Möbel gut verzichten, denn ich werde sie für eine gewisse Zeit nicht mehr brauchen, wenn ich diese Frau jetzt umbringe. Ich überwinde mich, bringe meine gesamte Verzweiflung und meinen ganzen Charme auf, raufe mein Haar, ringe meine Hände. Wie nebenbei fragt sie mich, wo Maria Teresa di Napoli beigesetzt sei. In meiner Erregung und Überraschung überhöre ich Neapel, denke sofort an unsere Kaiserin. Vienna, Kapuzinergruft, sage ich verdutzt. Mein Missverständnis macht nichts. Maria Theresa von Neapel-Sizilien ruht auch dort. Werde ich demnächst besuchen, sagt die Beamtin. Zugleich winkt sie zwei Männer in Arbeitskleidung herbei. Die öffnen die Hecktüren des Lastwagens, werfen einen oberflächlichen Blick in den Laderaum und verschließen die Tür wieder. Die Beschau ist positiv beendet. Ich küsse die Leiche der von mir kurz zuvor ermordeten Beamtin, schwinge mich in den Uno und fahre dem LKW voraus nach Aviano.
Seit ich in Rainers Obhut bin, mußte ich mich ja an einiges gewöhnen. Die plötzliche Einsamkeit in Götzendorf, dann die unverhoffte Abholung, der Transport nach Graz in eine Lagerhalle. Wiederum Öde. Wo sind die schönen Tage der Klaviertrios mit Tino? Dann, nach endloser Fadesse, das neuerliche Verladen auf einen LKW. Mit mir jene Möbel, mit denen ich mich angefreundet hatte, während wir in dem Lager in einer Gruppe zusammengestanden waren. Die Fahrt dauerte vier Stunden. Als sich die Hecktüren des Laderaums öffnen, entweicht die eisige Feuchtigkeit des Grazer Nebels und milde Luft strömt herein. Zu meiner Überraschung erkenne ich Rainer, der uns mustert, zusammen mit einer kompakten weiblichen Person. Die beiden reden aufeinander ein. Die Konversation scheint mir angespannt. Viel davon verstehe ich nicht. Eine fremde Sprache. Aber da, doch, einige einzelne Wörter kenne ich wohl. Sie kommen in meinem musikalischen Vokabular vor. Und musikalisch ist der Tonfall. Das muß Italienisch sein. Die Türen schließen sich wieder. Im Dunklen erkläre ich meinen Freunden: Wir sind in Italien!
Das Wohnhaus am Viale San Giorgio ist wie das Minerva voll von amerikanischem Militär. Während ich zwei Stühle durchs Stiegenhaus hinauf in die Wohnung befördere, fragt mich ein Schwarzer: Unit? Er glaubt, ich gehöre zu ihnen. Where in the world have you been stationed before? Die Nummernschilder am LKW und an meinem Uno sind ihm ein Rätsel. Es sind noch die alten Tafeln weiß auf schwarz, wie in der Schule. Ein S mit einem Kreuz dahinter am LKW, also St, und N am Uno. Norway, maybe? Oh, Austria! Are they NATO? Not yet. And I sure hope, we never will.
Zu unserer Wohnung gehört eine Garagenbox. Da hinein stellen wir einige Sachen, die wir oben nicht brauchen und Omas Pianino. Das hier ist jetzt Piano in Aviano. In dem Dorf auf der anderen Seite der Basis, Roveredo in Piano, habe ich hingegen nie ein Klavier gesehen. Nachdem die erschöpften Steirer sich mit dem leeren Lastwagen aus dem Staub gemacht haben, überwiegt unsere Ungeduld die eigene Müdigkeit und wir schieben die Möbel in der Wohnung herum, bis wir mit der Einrichtung einigermaßen zufrieden sind. Die Wohnung ist wie das Haus abgewohnt, doch das fällt nicht so ins Auge, wenn man aus den Fenstern schaut. Von der Küche aus blickt man gegen die Berghänge, die bis ans Haus heranreichen. Die anderen Fenster geben den Blick frei südwestlich über die Militärbasis in Richtung Piave und südöstlich über die weite Ebene des Tagliamento. Irgendwo da unten wartet Codroipo auf uns.
Die nächsten Tage hat Soile reichlich zu tun. Wohnung putzen, Sachen auspacken und einräumen. Rasch wird klar, sein Schwager ist gar nicht gut zu sprechen auf Tarozzi, daher wird das nichts mit den Küchenmöbeln. Fürs erste haben wir meinen kleinen Campingkocher. Kaffee oder Suppe gehen sich irgendwie damit aus. Aviano ist viel näher an Pordenone als Lignano. Wenn ich nicht selber mit dem Uno ins Büro fahre, bringt mich Soile und holt mich ab. So ist sie tagsüber selbst beweglich. Einmal wird sie von einem Carabiniere gestoppt, ausgerechnet als sie ihren finnischen Führerschein nicht dabeihat. Die Autopapiere sind immer im Handschuhfach. Als Führerschein akzeptiert der etwas ratlose Carabiniere aber auch meinen Blutspenderausweis.
Bei einer meiner letzten Fahrten nach Lignano, um restliche Sachen zu holen, komme ich ins Gespräch mit einem Nachbarn. Er ist mit seiner Frau und den Kindern gerade damit beschäftigt, aus einem Kleinlaster Möbel auszuladen. Eine neue Küche. „Was machen Sie mit der alten?“ frage ich sofort. Er weiß noch nicht so recht. Verwandte oder entsorgen. Kurz entschlossen kaufe ich sie ihm ab und bin schon unterwegs damit nach Aviano. Eine Anschaffung, die ihr Geld wert ist. Jetzt endlich können wir uns wirklich selbst versorgen.
Aviano wirkt wie eine Kleinstadt im Mittleren Westen mit starker italienischer Parallelgesellschaft. Schwere amerikanische Straßenkreuzer tuckern ähnlich wie die grässlichen Army-Hummer vorbei an Verkehrszeichen mit amerikanischen Aufschriften, aus den Fenstern von Schulbussen aus blauem Wellblech stechen große weiße Augen aus schwarzen Kindergesichtern. McDonald’s, Pizzeria, Coffee Shop, Bar, Restaurant, Trattoria, Gasoline, Distributore, Ice Cream, Gelati. Von der Basis her gibt es regen Flugverkehr, hauptsächlich von lärmenden Helikoptern, die wie bedrohliche Riesenhummeln umherschwirren. Schwerfällige Transportmaschinen, Passagierflugzeuge, Learjets. Auf dem Gelände Luftabwehrstellungen unter Tarnnetzen. Zugmaschinen, die auf Nachläufern lange Rohre schleppen, Raketen? Unsichtbar, die Bombe.
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