D - Suomi

Suomi

worin vorkommen: Graz, Uusikaupunki, der Schwarze Adler, die Schubertstraße, der Hilmteich, Mariatrost, Tannhof, Pordenone, Tarvasjoki, das Hotel Minerva, die Trattoria 'Tre Coppe', der Viale Martelli, das Hotel 'Moderno', das Teatro Comunale, die Mailänder Scala, Liechtenstein, das Schloss Hantberg, der Monte Cavallo, der Lago di Barcis, das Val Celllna, der Torrente Cellina, Longarone, Grado, Passariano, die Villa Manin, der Tagliamento, Verona, Treviso, Mestre, die Piazza Brà, die Arena von Verona, Conegliano, Capri, Travemünde, Helsinki, Hamburg, das 'Häusl am Wald', der Schöckl, der Niederschöckl, die Alserstraße, das Salzkammergut, der Wolfgangsee, Bad Ischl, Rußbach, Sankt Wolfgang, der Auhof, der Schwarzensee, der Attersee, der Auberg, die Burggrabenklamm, Unterach, der Mondsee, die Seeache, Scharfling, Sankt Gilgen, Salzburg, Oberach, Oberburgau, der Krottensee, das Gut Aich, Fürberg, Strobl, der Falkenstein, die Eigernordwand, der Kirchenwirt, die Antaektis, Latisana, Johannesburg, Jean Sibelius, Aarre Merikanto, Einojuhani Rautavaara, Bernhard Crusel, Le Sacre du Printemps, Paula Freiin von Hammer-Purgstall, Sean Connery, Shirley Eaton, Qolfgang A. Mozart, Thomas A. Edison, sowie Lignano im Nebel

Die ersten Tage in Graz. Mir kam vor, ich wäre auf einem anderen Planeten gelandet. Rainers Zimmer bei Frau Kreysler, die verstörenden Wohnverhältnisse. Die Dornröschenküche. Zwanzigerjahre. Nicht dass ich aufs Kochen aus gewesen wäre. Nur, dass es so etwas überhaupt noch gab! Dorit legte mir eine Menge Verhaltensregeln auf. Sie nannte mich Suomi. Soile konnte sie sich nicht merken. Hände weg vom Telefon! Hier durfte man nur angerufen werden und auch das bitte möglichst ausnahmsweise. Dorit würde immer zuerst selbst abheben und den Verlangten rufen. Meistens schallte dann ein langgezogenes „Suoomiii!“ durch die Wohnung. Ob Küche, ob Wäsche, alles war minutiös zeitgeregelt. Das Wichtigste war, das Bad gehörte zwischen 7 Uhr 30 und 9 Uhr Dorit allein. Sie war täglich in dieser Zeit mit ihrer Maske beschäftigt. Also mit dem Makeup. Ziemlich ungewöhnlich mit achtzig.


Vor wenigen Tagen noch habe ich in unserem Haus im Wald gewohnt, Angelpunkt zu Mann, Töchtern und Hund, bin berufstätig gewesen in einem angesehenen Unternehmen, geachtet in sicherer Position, habe mit Spezialisten in ganz Europa verkehrt, ein geliebter Zweig unter den Zweigen meines Bruders und meiner zwei Schwestern und deren Familien, eingebettet, wenn auch manchmal beschwerlich, in soziale Netzwerke unserer Gemeinde. Kurz, ich habe mich in einem unaufgeregten, zivilisierten Leben befunden, dessen strikte Ordnung von niemandem angezweifelt worden ist. Jetzt, wenige Tage später fand ich mich in einer Kleinstadt von alpinem Charakter mit mediterranem Touch, mit Gebäuden, die so heruntergekommen waren, als wären sie nach ihrer Entstehung im Mittelalter nie restauriert worden, wo die Menschen stolz waren auf die gute Luft, obwohl sie fürchterlich versmogt war, stolz waren auf das gute Wasser, dessen Kalkgehalt die Wäsche steifte, stolz waren auf die Sauberkeit in den Straßen, aber solche Sauberkeit wäre bei uns ein Skandal, Straßen, eng und kurvig, in denen die Autos lärmend rasten wie beim Formel 1, überlistet nur vom Vorrang der bimmelnden, quietschenden Straßenbahnen. Ich hatte geglaubt, in ein deutschsprechendes Land zu kommen. Was die Leute hier an seltsamen Lauten äußerten, mit Deutsch konnte das nichts zu tun haben. Dorit war die einzige Deutsch sprechende Person hier außer meinem Geliebten. Rainer. Seinetwegen war ich hier. Ohne unsere Liebe hätte ich mich auf dem Absatz umgedreht und wäre nach Hause geflüchtet.

Im Gespräch mit Dieter spürte ich einen Anflug von Distanz, die ich an ihm nicht kannte. Zwar stellte er die zugesagte Anstellung nicht in Frage, aber es hatte den Anschein, er wüsste nicht recht, wohin mit mir. Jedenfalls wären zuerst die amtlichen Formalitäten zu regeln, erklärte er. Ich benötigte eine Aufenthaltsbewilligung. Dazu müsste ich ein aufrechtes Arbeitsverhältnis mit einem gewissen Mindestverdienst nachweisen. Die dafür nötige Arbeitserlaubnis bekäme ich aber nur, wenn für die betreffende Arbeit sich keine österreichische Arbeitskraft fände. Das Ganze klang ziemlich kompliziert. Und wenn es nun doch Österreicher gäbe, die für die Stelle infrage kämen? Ich hatte Angst. Rainer sagte, er habe das gewusst. Für ihn waren das Nebensächlichkeiten, von denen man sich nicht erschrecken lassen sollte. Rainer begleitete mich auf den unzähligen Behördenwegen. Keiner davon war angenehm. Die Beamten der Fremdenpolizei verhielten sich unhöflich, überheblich, rüde, abweisend. Ich verstand nicht, weshalb. Ich war doch keine Koksdealerin! Und ich würde in zwar längeren, aber doch regelmäßigen Abständen wiederkommen müssen! Rainer erzählte mir, dass seinerzeit auch Annamaria angewidert war von den Erfahrungen mit der Fremdenpolizei. Auf dem Arbeitsamt war es traurig. Vielleicht hätte ich mich ungepflegt kleiden sollen, damit mich die Arbeitslosen nicht so eigenartig anstarrten, wie übrigens auch die Beamtin. Sie wollte wissen, was an diesem Job so besonders wäre, dass nur ich ihn machen könnte. Mein Gott, nahm ich hier einem Bedürftigen etwas weg? Die Fremdenpolizei schickte mich zum Gesundheitsamt. Ich sollte nachweisen, dass ich keine ansteckenden Krankheiten hätte. Die Untersuchung war ekelhaft. Die dachten wohl, ich wollte mich hier prostituieren. Zum Arbeitsamt und zur Fremdenpolizei musste ich mehrmals. Zum Gesundheitsamt gottseidank nur einmal. Bei aller Liebe, ein zweites Mal wäre ich dorthin nicht gegangen. Nun hieß es warten auf die Bescheide. Eigentlich hätte ich schon hineinschnuppern wollen in mein neues Aufgabengebiet, auch ohne Bezahlung. Aber Dieter riet mir davon ab. Es sei nicht auszuschließen, dass jemand vom Arbeitsamt käme, um zu kontrollieren, ob ich nicht etwa schwarzarbeitete. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass er immer noch nicht wusste, wo er mich einsetzen könnte.

Meine Tage waren traurig. Rainer ging in der Früh ins Büro. Wie gewohnt ging er ohne Frühstück. Er würde im Büro Kaffee bekommen. Später würde ich mir in der Küche eine Tasse Kaffee machen. Ich wartete bis nach neun, um ins Bad zu gehen. Vom Fenster aus schaute man auf einen Park mit vereinzelten Bäumen. In einiger Entfernung stand ein langgestrecktes mehrstöckiges Gebäude. Wahrscheinlich ein Bürogebäude. Ab sieben drang helles Licht aus den Fenstern. Es war zu weit weg, um die Menschen darin zu sehen. Aber ich beneidete sie. Sie hatten etwas zu tun. Ich hätte Dorit fragen können, ob ich etwas für sie tun könne. Putzen war mir immer schon zuwider. Aber Einkaufen oder so. Nein, das ging auch nicht. Ich hätte mich mit den Verkäuferinnen nicht verständigen können. Die sprachen ja kein Deutsch. Wir hatten es ausprobiert. Es ging nicht. Ob die vielleicht etwas Englisch sprachen? Ich fragte also Dorit nicht. Stattdessen brachte ich die Zeit zu mit Lesen und mit – Briefe schreiben. Schon wieder Briefe. Jetzt an meine Töchter und Schwestern. Manchmal ging ich zum Postamt und telefonierte aus den öffentlichen Telefonzellen nach Uusikaupunki. Einerseits beruhigte das meine Schwestern, andererseits werden sie wohl bemerkt haben, dass meine Stimmung nicht himmelhochjauchzend war. Das Telefonieren war sehr teuer. Als ich einmal begann meine Wäsche zu bügeln, kam Dorit wie eine Furie aus ihrem Zimmer. Um Himmels Willen, kein Bügeleisen! Zu schwache Leitungen! Viel zu viel Stromverbrauch! Öfters verabredete Rainer sich mit mir für die Mittagspause. Dann trafen wir uns im Schwarzen Adler zum Essen. Es gab günstige Tagesmenus. Das Essen war schwerer, als ich es aus Finnland gewohnt war. Häufig gab es Mehlspeisen. Süßes kenne ich nur als Dessert. Trotzdem gefiel es mir sehr gut beim Schwarzen Adler, vor allem, weil Rainer bei mir war. Am Abend kam er heim und erlöste mich aus meinem Dornröschenschlaf. Manchmal gingen wir ins Theater, in die Oper, in den Stefaniensaal oder zu anderen musikalischen Veranstaltungen. Als Rainer noch allein war, ging er viel öfter zu Veranstaltungen, fast täglich. Rainer war ein Musikkenner, aber auf diesem Gebiet konnte ich durchaus einiges zum Gespräch beitragen. Jetzt machten wir gern auch einmal einen Abendspaziergang, eng umschlungen die Schubertstraße hinauf zum Hilmteich. Vorüber an den Villen aus der Jahrhundertwende, romantisch verspielt, vielfach gegiebelt, teils aus Holz, märchenhaft bis zum Unheimlichen. Dabei erzählte ich manches über finnische Musik. Sibelius kannte er, aber da gab es noch viel mehr. Aarre Merikanto oder Einojuhani Rautavaara, vor allem aber Bernhard Crusel. Das interessierte ihn. Oder wir blieben daheim in unserem finsteren Zimmer, aßen eine Kleinigkeit, tranken Wein und freuten uns aneinander. Highlights in den traurigen Tagen. Noch ahnte ich nicht, dass das nur der Anfang war einer langen traurigen Zeit.

Rainer gefiel es bei Dorit. Es war ihm aber klar, dass dieses Untermietzimmer keine Dauerlösung für uns sein konnte. Wir schauten uns also nach einer besseren Unterkunft um. Wenn wir manchmal einen längeren Spaziergang vorhatten, konnte es sein, dass wir am Hilmteich vorbei stadtauswärts nach Mariatrost gelangten.


Einmal fuhren wir mit dem Nissan dorthin, um geistliche Musik in der Basilika zu hören. Abgesehen von einer sehr langen und steilen Steintreppe kann man über eine enge Straße den Hügel hinauf zur Kirche fahren. Wir parkten nahe dem oberen Ende der Zufahrt am Straßenrand. Das Kircheninnere ist überwältigend mit seinem prunkvollen Barock. Übervoll mit Fresken, Gold, gedrehten Säulen, Gemälden, Heiligen, Engeln, Friesen, Marmor, Kristalllustern, vergoldeten Holzschnitzereien. Maria, die höchste Heilige über dem Tabernakel mit dem kleinen Jesus auf dem Arm, umgeben von einem riesigen goldenen Strahlenkranz. Von der Messe das jubilierende Gloria. Welcher Gegensatz zu unseren protestantischen Kirchen! Schlicht, nacktes Baumaterial, Stein und Holz, konzentriert auf das Kreuz, auf eine Skulptur, auf ein Gemälde. Keine Heiligen. Maria als Leihmutter. Von der Messe das flehende Agnus Dei.


Was für eine Musik es gab, habe ich nicht in Erinnerung. Aber das Chaos nach Ende der Veranstaltung. Die Straße war inzwischen von unten bis oben vollgeparkt. Alle wollten gleichzeitig wegfahren. Hinauf, um oben zu wenden, war alles verstopft. Um hinunter zu fahren musste man auf der schmalen Straße wenden, dazu war es notwendig mehrmals zu reversieren. Das war aber auch kaum möglich, weil alle zugleich das tun wollten. Es dauerte über eine Stunde, bis wir von dort wegfahren konnten. Rainer nannte diese Situation ‚steirisches Chaos‘. Den Begriff verwenden wir seither regelmäßig, wenn sich ähnliche Umstände ergeben.

Am Fuß des Mariatroster Hügels stießen wir auf eine ziemlich neue Wohnanlage, die aus zweistöckigen Reihenhäusern bestand. Rainer würde sagen, einstöckig. Bei uns in Finnland wird immer das Erdgeschoß als erster Stock bezeichnet, wenn sich dort Wohnräume befinden. Die Gebäude standen locker aneinander und bildeten mehrere Vierecke um grüne Innenhöfe herum. An einer Ecke befand sich die Einfahrt in eine Tiefgarage. Das klingt auf den ersten Blick nicht aufregend. Uns stach der Komplex in die Augen, weil er eindeutig von skandinavischem Stil geprägt war. Kleine freistehende Hütten aus hellblau gestrichenen Brettern dienten zur Aufnahme von Gartengeräten und Mülltonnen. Natürlich fühlte ich mich von diesem heimatlichen Anblick sofort angezogen. Auch Rainer gefiel das Ensemble sehr. Tannhof hieß die Siedlung, nach dem gleichnamigen Erholungsgebiet rundum. Nähere Überlegungen stellten wir nicht an. Zweifellos handelte es sich um lauter Eigentumswohnungen.


Kurz darauf entdeckte Rainer in einer Zeitung eine Annonce, in der eine Kleinwohnung in Mariatrost zur Miete angeboten wurde. Rainer rief an und vereinbarte mit Frau Hönig einen Besichtigungstermin. Ein offenbar gut situiertes Ehepaar führte uns – genau – zum Tannhof. Die westlichen Randhäuser der Siedlung standen unmittelbar an einem Teich. Enten wackelten mit ihren Schwänzen über seinem Wasser und auf dem Wiesengrund daneben. Rainer liebt Enten, visuell ebenso wie kulinarisch. Ein Fußweg verlief zwischen Haus und Teich. Allerliebst. Die angebotene Wohnung lag im ersten Stock in dem Haus am Teich. Die Terrasse schaute auf einen schmalen Arm des Teichs, gleich dahinter lag ein Auwald, der den dort talwärts strebenden Mariatrosterbach begleitete. Allerliebst. Als wir auf die Terrasse hinaustraten, begannen die Enten über das Wasser zu laufen und flogen auf. Rainer blickte ihnen nach und sagte etwas vom Grillen auf der Terrasse. Ein Geräusch näherte sich rasch, ähnlich dem Anschwellen einer Sirene. Völlig unerwartet fuhr zwischen dem Wasser und dem Fußweg eine Tramway vorbei. Aus den Fenstern blickten Fahrgäste uns neugierig an. Die Entfernung zur Terrasse betrug keine zehn Meter. Den einspurigen Gleiskörper hatten wir vorher überhaupt nicht bemerkt. Es war die Linie 1 nach Mariatrost. Die vorletzte Haltestelle befand sich in unmittelbarer Nähe. Hundertzwanzig Meter weiter die Endstelle. Dass die Straßenbahn so nahe vorüberfuhr, gefiel mir weniger. Aber Rainer sah auch darin einen Vorteil. Man konnte bequem öffentlich in die Stadt fahren. Die Kleinwohnung bestand aus einem recht geräumigen Wohnzimmer mit Küchenzone, einem kleinen Schlafzimmer, kleinem Bad und – wunderbar! – einem Telefon. Zum Wäschewaschen gab es einen Gemeinschaftsraum in einem Nebenhaus. Alles schien ganz neu, wie unbenutzt. Ich fürchtete, Rainer würde die Miete zu hoch sein. Rainer fürchtete meine Traurigkeit, wenn wir weiter bei Dorit hausen mussten. Die Miete war bemerkenswert, fand Rainer, aber der Qualität des Angebots angemessen. Einen Pferdefuß hatte die Sache aber doch. Die Hönigs bestanden auf einem Jahresvertrag, während Rainer doch eher früher als später mit der endgültigen Versetzung nach Pordenone rechnen musste. Wir versprachen, uns die Sache kurzfristig zu überlegen. Wir schlichen durch die Siedlung, sahen lauter junge, gut gelaunte Mütter mit fröhlichen Kleinkindern, aber auch manchen jungen Vater, alle wirkten niveauvoll und sympathisch. Die Siedlung erinnere Rainer an ein grünes Vorzeigeprojekt, nordische Architektur, meinte er. Die Miete sei beachtlich, aber mit Bereitschaft zu ein wenig Disziplin bei anderen Ausgaben verkraftbar. Viel weniger würden wir zum Schwarzen Adler gehen, könnten uns selbst versorgen. Andererseits, Möbel würden wir brauchen. Etwas Hausrat könnte Rainer aus Götzendorf holen, hoffte er. Und der Jahresvertrag? Nun, vielleicht würde ich nicht gleich am Anfang nach Italien mitgehen können und dann in Graz die Wohnung brauchen. In dieser Hinsicht stand alles noch in den Sternen. Kurz, wir sagten den Hönigs zu, zahlten eine Kaution und die erste Monatsmiete und bereiteten uns vor auf den Einzug.

IKEA würde in Graz Ende August eröffnen. Das kam also nicht infrage. Auf unseren Wegen zu Fuß durch Graz kamen wir oft an einem alteingesessenen Möbelgeschäft vorbei und bestaunten jedes Mal durch die Schaufenster manches elegante Ausstellungsstück. Jetzt, da wir Anlass dazu hatten, gingen wir frech hinein. Wir kauften unser erstes gemeinsames Bett! Außerdem ein Sofa, eine Vitrine, einen Speisetisch mit sechs gepolsterten Sesseln, und einen kleinen Küchentisch mit aufklappbaren Seitenteilen. Die Vitrine hatte geschliffene Glasscheiben im Oberteil und Fachböden aus Glas. Ein zeitlos schönes Stück. In den Tisch hatte Rainer sich verliebt. Quadratisch, Nuss, natürlich massiv, aber luftig und leicht durch die Füße, die aus jeweils drei dünnen Säulen bestanden, das Holz Bambusstäben nachempfunden. Die Seitenlänge knapp für zwei, aber reichlich für einen. Als Tischplatte lagerten etliche kleinere und größere Glasplatten, geschliffen natürlich, in einer Holzstruktur. Die ganze Gruppe machte auf uns einen spanischen Eindruck. Die Sesselbeine und –lehnen waren ebenfalls Bambusstäben nachempfunden. Wir überlegten kurz, ob nicht auch vier Sessel genügen könnten, aber was soll’s, die zwei Sessel würden wir später nicht nachbekommen und was spielte Geld schon für eine Rolle in diesem Konkurs. Glas als Esstischplatte war nicht mein Traum, aber angesichts Rainers Begeisterung konnte ich nicht widersprechen. Wir benahmen uns in dem Geschäft, als wären wir reiche Leute. Selbstsicher und aufgekratzt. Gleich zwei Verkäufer bemühten sich um uns und freuten sich, dass wir die gediegensten Stücke auswählten und auch kauften. Die Möbel waren nicht billig, aber, was wir damals nicht wussten, sie würden uns auch dreißig Jahre später noch erfreuen, wenn auch an ganz anderem Ort.

***

Von Tino hatte ich gelernt, immer so wenig Geld wie nur möglich für was auch immer auszugeben. So war ich programmiert. Gegen diesen Grundsatz zu handeln, war manchmal notwendig, aber es fiel mir niemals leicht. Diesmal hatte ich dagegen verstoßen und es wunderte mich, dass das schlechte Gewissen, das sich sonst bei ähnlichen Gelegenheiten eingestellt hatte, diesmal ganz und gar ausblieb. Ich fuhr durch Graz mit dem Nissan mit finnischem Kennzeichen, als gehörte mir die Stadt. Ungeniert parkte ich an allen verbotenen Stellen. Soile wurde immer ganz nervös dabei. Sie glaubte mir nicht ganz, dass man die Straftickets einfach wegwerfen konnte, weil keine Ausforschung vorgesehen war und schon gar keine Verfolgung in Finnland. Im Tannhof fuhr ich elegant vor die Einfahrt der Tiefgarage, zog durch das Fahrerfenster an der Stange, die das Tor betätigte und stellte den Nissan auf unseren Garagenplatz. Von der Garage gelangte ich hinauf in die Siedlung und bewegte mich forschen Schrittes über die Fußwege auf unser Apartment zu, in der freudigen Erwartung gleich auf Soile zu treffen inmitten unserer neuen Einrichtung. Das hatte der Tannhof mich gelehrt: Am falschen Platz zu sparen, verbesserte die Lage nicht, erzeugte nur ein fortwährendes Gefühl des Selbstmitleids. Wir hatten viel ausgegeben, unsere Lage dadurch aber um nichts verschlechtert.

Ich betrat die Wohnung. Soile flog mir nicht, wie ich gehofft hatte, entgegen. Sie war niedergeschlagen, weil sie auch hier den ganzen Tag nichts zu tun hatte. Nur langsam konnte ich sie ein wenig aufmuntern. Komm mit zum Teich, schlug ich vor, Dagobert schauen. Wir hatten entdeckt, dass dort ein Biber sich niedergelassen hatte. Ein allerliebstes Tier, das wir sogleich ins Herz schlossen. Er muss noch jung gewesen sein mit seiner Länge von nicht mehr als einem halben Meter. Natürlich bekam er sofort einen Namen von uns, eben Dagobert. In den Wasserarm vor unserem Balkon kam er nicht gern, hielt sich lieber weiter entfernt von den Häusern auf. Er sei aus einer nahen Biberzucht entwichen, hieß es. Soile erzählte mir, dass sie zu Kirsis Konfirmation nach Tarvasjoki reisen werde. Ilkka habe auch schon gefragt, wann sie den Nissan zurückbringe. Wir planten also eine Reise zu diesem Zweck. An diesen Plänen hellte Soiles Stimmung sich etwas auf. 


An einem der nächsten Samstage begann ich, ein paar einfache Bücherbretter an der Wand zu befestigen. Ich wollte dazu meine alte Schlagbohrmaschine benutzen, scheiterte aber an stumpfen Bohrern und dem erstklassigen Beton der Wand. Macht nichts, ich hatte ja noch meinen Schlagmeißel, der sich in solchen Situationen immer bewährt hatte. Ist natürlich mühevoller, wenn die Energie statt aus der Steckdose aus dem Arm kommen muss. Ich haute also mit dem Hammer auf den Meißel und bedauerte Soile und die anderen Parteien im Haus wegen des geisttötenden Lärms. Die Löcher hatten einen starken Willen. Sie weigerten sich leider, sich exakt an den vorgesehenen Stellen zu bilden. Wenn ich keine schiefen Bretter wollte, musste ich nachschlagen, um sie weiter auszuhöhlen. Auch vermaß ich mich öfters – mein Messtalent! – und musste dann ein zweites Loch dicht neben dem ersten schlagen. Bevor die Bretter hingen, betrachtete ich noch einmal sorgenvoll die Wand. Sie sah aus wie ein Emmentaler Käse. Als die Bretter montiert waren, sah man davon glücklicherweise wenig, höchstens hie und da ein überflüssiges Loch. Trotz aller Mühe vermittelte die Bibliothek das Gefühl eines leichten Seegangs.

Für Soile würde es eine schreckliche Nachricht sein. Aber es half nichts, ich musste es ihr sagen. Dieter schickte mich für weitere vier Wochen nach Pordenone. Ich sollte Frau Munes vertreten, die auf Urlaub ging. Das hieß, für Dellorusso den Papierkram erledigen. Soile würde vier lange Wochen allein bleiben, abgesehen von den Wochenenden. Ich betete darum, dass diese verdammte Arbeitserlaubnis inzwischen kommen möchte. Das würde für Soile vieles ändern.


Ich wohnte wieder im Minerva bei den Schwarzen und dem Hund des roten Innenministers. Eines Vormittags platzte Frau Tamara ganz aufgeregt ins Zimmer. Ich müsse sofort verschwinden. Eine unangemeldete Kontrolle durch das Arbeitsamt. Ich war in Graz angemeldet. Hier in Italien hatte ich natürlich keine Arbeitserlaubnis. Da kamen sie auch schon hinter Tamara zur Tür herein, zwei Männer und eine Frau, alle drei schauten böse drein. Ich mimte also einen Kunden, der sich eben von Dellorusso verabschiedete und floh an dem Einsatzkommando vorbei hinunter auf die Straße. Dort spazierte ich auf und ab, schaute gelegentlich zu den Bürofenstern hinauf, wusste aber nicht, ob der Spuk vorbei sei. Also drehte ich ein paar weitere Runden, studierte die Köstlichkeiten in der Auslage eines neapolitanischen Pasticciere und das auf eine schwarze Tafel mit Kreide geschmierte Menu der Trattoria ‚Tre Coppe‘, an der Ecke zum Viale Martelli stand der hässliche Kasten des Hotel Moderno, gegenüber das Teatro Comunale, das meistens als Kino diente, stellte überrascht fest, dass heute Abend das Gastspiel des Balletts der Mailänder Scala mit Le Sacre du Printemps gegeben werde, kaufte dafür eine Karte. Von einem öffentlichen Telefon im Teatro rief ich im Büro an. Sie sind weg, sagte Tamara.


Ich sah, dass ihre Nasenspitze immer noch ganz weiß war, als ich zurückkam. Episoden wie diese waren nichts für ihre schwachen Nerven. Ihre Abneigung gegen einen Clandestino im Büro wurde davon noch verstärkt. „Nein, sehen Sie, wohin das führen kann!“ sagte sie mit gepresster Stimme. „Die können uns von einer Minute auf die andere den ganzen Betrieb zusperren!“


Ich machte mir nicht viel daraus. War ja nicht auf meinem Mist gewachsen, diese illegale Entsendung. „Ich glaube, der Pscheidl würde darüber nur lachen“, gab ich zurück. „Mit so viel Angst wäre Avus kaum zu dem geworden, was es ist.“


Von Dellorusso kam kein Kommentar.

Im Hotel fand ich einen Brief von Soile. 


7. June, 1989


My dearest Rainer,

You have deserved a letter, too. No answers have you got to your last letters to me. Well, as a matter of fact I wrote to you one already yesterday, but then I decided not to mail that to you. Perhaps you heard in the phone that I didn’t have a very good day yesterday. And you deserve a nice letter.


Well, anyway, I feel so alone and deserted without you that I have these ‘bad’ days easier. Although I know that you’ll be soon here again it doesn’t much help. I feel so insecure. Only when you are with me, when I can see you, touch you, I feel sure and happy.


Here I had to call you, remember the talk of at least 40 minutes! And I feel a complete new person again, happy and alive. But what happened to the beaver, I don’t know, no signs of the animal and no persons anywhere. No funny calls either, today, and the apartment is still dark!


What could I write to you now when I still not really realize that I am really here and that you still say you love me. And I believe you, because I love you, too. Can we spend the rest of our lives together as fully in love as now, I don’t know. But I do hope so. Since you have more patience as I, we could also have good possibility for this. And I try all the time to learn to be more patient and perhaps one day you don’t have to say “Geduld” any more.

...

Soile, Armaani, Uudi!


Today I left it to you to call me. But you did not! Then, as Dellorusso said nothing more about visiting him in Udine, I went to the hotel immediately, after work, ready to drown my pity in lots of red wine. And here I had your letter of a week ago. What a lovely surprise! Now I can drink for joy.


Rakkaani, I can understand how lonely you must feel. Believe me, I was thinking by myself that something must happen to change this situation. A mature person, mother, wife, family-bound, threefold president, executing a responsibility job, leaves all that behind, ready to root in foreign earth. And what does she get? Nothing to nourish her roots. A lonely, dark apartment, funny calls, no job, no money, a week-end-lover. Yet, my love, take courage! This period of uncertainty will soon be over. As a matter of fact, it is over, when I hand out this letter to you. After that there will be only a few days of separation due to your home bound trip. After that we ***be together and together and together. Those weeks at Pordenone have not been made to create separation from you, they have been made to get to decisions for my, for our common future. To know what expects me here makes it much easier to decide. Now it’s time to make decisions. They will be made. Once on the main track we shall also be able to settle your problems. Before that it was difficult, not knowing what would happen next. Once on my way, it will be just a matter of a few more decisions to level also yours.


I think, after all, we have done not so bad. Just look back what the situation was like just eight months ago. Compare it to now. I think it is hardly impossible to act more efficiently. Then we had nothing but a foolish dream. A normal development would have been a romantic love affair and then back to everyday life. But you see, both of us, we are made of a different stuff, and thus our foolish dreams we have not turned into a limited romantic affair, but into an unlimited reality, foolish yes, but flowing and overflowing with love. Normal that you hit your nose every now and then, when you dare so much, but quite as normal that you lough at the silly pain from it, when you get such a lot of happiness in exchange!


If we can spend the rest of our lives together as fully in love as now? I don’t know either. Frankly, logic says no. Logic would have foreseen a quick and sudden ending of our incredible attempt to turn true our foolish dream. According to logic it never would have gone that far. But logic has been invented for those who prefer to stay inside, dry and warm, if though far from happiness. We, who have decided to dance and sing in the rain, we have a good chance. Let us take good care of it!


After all, it is not so important, if it lasts forever or not. It exists at the present, that’s what counts. Love is not a question of quantity. It is a gift we receive from destiny. It can be withdrawn in the future, but what we will have had remains ours, forever.


This sounds like a farewell letter. It is not, my love! It is, instead, another renewal of my every day welcome to my intense love for you, that yes is foolish, but not blind. Soile, I love you more than a silly boy, because I can see and I do know, and yet, I love you!


Rainer

***

Rainers Hoffnung, ich würde mich in Graz mit Mitarbeiterinnen der Auslandsreferate anfreunden, konnte ich nicht verwirklichen. Es hätte welche gegeben, die dafür infrage gekommen wären. In ‚Jugoslawien‘ zum Beispiel gab es die beiden Korrespondentinnen für Serbien und Kroatien. Aber wie hätte das funktionieren sollen? Ich konnte doch nicht einfach in ihren Büros aufkreuzen und sagen, hei da bin ich, lasst uns Freundinnen sein. Beide waren keine Österreicherinnen, sondern von Pscheidl in Jugoslawien angeheuerte Versicherungsexpertinnen. Slawische Frauen, beide. Das heißt, bei aller augenscheinlichen Emotionalität doch letztlich verschlossen. Die maskuline Kroatin mit der rauchigen Stimme, die stolze Serbin mit der unsichtbaren Pufferzone, die sie um ihre hohe Gestalt errichtet hatte. Sie konnten sich keinen Reim darauf machen, wozu Pscheidl mich aufgegabelt hatte. Welches Fachgebiet sollte für mich infrage kommen? Skandinavien wurde von Liechtenstein aus bearbeitet.


Ja, Liechtenstein. Die Pscheidls hatten in Liechtenstein eine Muttergesellschaft eingerichtet, AFES genannt, der auch die österreichischen Standorte untergeordnet waren. Rainer vermutete, nicht zuletzt aus fiskalischen Gründen. Die Adresse in Liechtenstein war wohl für die Pflege der Kontakte zu den Allermächtigsten des Finanzsektors nicht nur wichtig, sondern gewissermaßen eine Voraussetzung. Um den Sitz im Fürstentum zu plausibilisieren, war es opportun, eine operative Einheit dort zu unterhalten. Pscheidl senior hatte wohl ein Faible für Fürsten. Seinen dicken Mercedes zierte das Liechtensteiner Wappen auf dem Kontrollschild. Seine Privatadresse war Johnsdorf 4, das ist Schloss Hantberg in der Südsteiermark. Er hatte es 1980 von der Nichte Paulas Freiin von Hammer-Purgstall gekauft und renoviert. Rainer hegte starke Zweifel, ob das Vermögen der Pscheidls allein aus der internationalen Schadenregulierung kommen könne. Da müsse etwas ganz anderes dahinterstecken, vermutete er.

Um meine trostlose Einsamkeit in Graz zu mildern, fuhr ich für verlängerte Wochenenden nach Pordenone zu Rainer. Auf diese Weise konnte ich mich mit dem Ambiente vertraut machen, das den Plänen nach bald meine Wahlheimat sein würde. Seltsam, sobald man die Berge hinter sich ließ und in die friulanische Ebene eintrat, umfing einen ein merkwürdiger Industriegeruch. Seit einer Nasenoperation in jungen Jahren ist mein Geruchssinn nicht der beste. Trotzdem fiel es auch mir auf. Die Luft roch nach Raffinerie, leicht nur und man gewöhnte sich daran binnen weniger Minuten, doch stieg der Übergang bei jeder Einreise in die Nase.


Italienisch. Mein Gott, gerade noch dieses tierische Steirisch und jetzt schon wieder eine neue Sprache! Ich hatte ja vor langer Zeit einen Fernkurs mit Tonbandkassetten gemacht. Sein Zweck war aber nur die Anwendung der wichtigsten Phrasen bei Ferienreisen. Ich wohnte bei Rainer in seinem Hotelzimmer. Das war schön, weil es eng war. Wir machten Ausflüge in die nähere Umgebung. Auf den Monte Cavallo bei Aviano, ein Zweitausender, beliebtes Schiressort im Winter. Zum Lago di Barcis durch das wildromantische Val Cellina[1]unter felsigen Überhängen und furchterregenden Abstürzen in die Schlucht des Torrente Cellina. (Heute durchsaust man auf der neuen SS251 einen Tunnel.) Weiter die Serpentinen hinunter nach Longarone mit sehr gemischten Gefühlen. 1963 hat ein Bergsturz den Stausee getroffen. In Longarone starben etwa zweitausend Personen. Es würde bis 1997(!) dauern, bis die Betreiberin, Montedison, zur Schadenersatzzahlung verurteilt wird. Ans Meer, natürlich, Grado, Lignano. Auch nach Passariano zur Villa Manin. Ein schönes Barockschloss nahe dem Tagliamento mit einem lieblichen Park, in dem bemerkenswerte botanische Raritäten zu finden sind. Wir genossen den schönen Sommertag und schliefen eng umschlungen im weichen Rasen unter einem schattigen Baum ein. Lange dürften wir nicht geschlafen haben, als uns eine erregte Stimme brüsk weckte. Ein Mann in der schwarzen Uniform der Schlosswache wies uns darauf hin, dass man hier nicht kampieren dürfe. Und diese Weise, wie wir hier kampierten, das ginge sowieso nur im Inneren eines Zelts. Ich sagte, oh, man hat unser Zelt gestohlen. Der Wächter wartete, bis wir uns erhoben und auf dem Fußweg entschwanden. Was wir nicht ahnten, es sollte nicht unser letztes Zusammentreffen mit dem Schlosswächter sein.

Einmal fuhren wir nach Rainers Arbeitsschluss nach Verona, um Annamaria und Mario zu treffen. Das heißt, Rainer sollte sie treffen. Ich durfte nicht dabei sein. Das hatte Annamaria streng verboten. Ich begleitete Rainer jedoch auf der Fahrt. Die SS13 über Treviso nach Mestre ist immer stark befahren, die Zeit nach Arbeitsschluss ist sie aber völlig überlastet, insbesondere in den vielen Ortsdurchfahrten. Die entlastende A28 gab es noch nicht. Rainer hatte die Fahrzeit unterschätzt. Bei Mestre waren wir schon viel zu spät. Auf der A4 nach Verona ging es nicht viel besser. Das Treffen sollte auf der Piazza Brà neben der Arena stattfinden. Wir wussten nicht, ob Annamaria überhaupt noch wartete. Wir gingen über die weite Piazza auf die Häuserzeile zu, wo Rainer seine Frau in einer der Bars vermutete. Er meinte, ich könne ruhig in der Nähe bleiben mit etwas Abstand, Annamaria kenne mich ja nicht. Männer! Sie erkannte mich sofort, als sie auf Rainer zuging und an ihm vorbei mich anstarrte. Sie erblich, um gleich darauf dunkelrot anzulaufen. Ich verstand die Wörter nicht, mit denen sie Rainer anschrie. Doch, zwei: Cazzo und Merda. Es muss ein Zunami an Unflätigkeiten gewesen sein, den sie losließ, obwohl sie Mario an ihrer Hand führte. Mario hatte Rainer offensichtlich auch erkannt und versuchte, ihm entgegenzukommen. Infolge Annamarias wüsten Beschimpfungen fing er an laut zu plärren. Annamaria kehrte um und wollte sich entfernen, aber Mario stand wie angewurzelt und heulte. Sie packte seine Hand fester und schleifte ihn mit Gewalt mit sich fort. Zahlreiche Passanten waren stehengeblieben und hatten die Szene vor der Kulisse des Amphitheaters gespannt verfolgt. Ich wunderte mich, dass sie nicht applaudierten.


Ich näherte mich Rainer, nahm seine Hand. Ich wusste nichts zu sagen. Mein Händedruck sollte stiller Trost sein. Wir fuhren ohne uns weiter in Verona aufzuhalten die ganze Strecke nach Pordenone zurück, schweigend. Das heißt, ich fuhr. Aufgewühlte Menschen sollen nicht Autos lenken.


Bei Conegliano dürfte Rainer sich weitgehend gefasst haben. Wir redeten wieder. Wieso ich ausgerechnet Cazzo verstanden hätte, wollte er wissen. Ich erzählte es ihm. Einmal war ich mit Ilkka im Zuge einer Gruppenreise in Capri gewesen. Wir versuchten, auf einer Bank ein paar Finnmark in Lire zu wechseln. Der Bankbeamte nahm unser Geld, schaute es an. Finnmark hatte er wohl noch nie gesehen. Er holte einen Ordner, auf dessen Einlageblättern ausländische Valuta abgebildet waren. Er begann, die Abbildungen optisch zu vergleichen mit unserem Geld. Wir wiesen ihn darauf hin, dass es finnisches Geld sei. Er wurde misstrauisch. Suomi stand auf den Scheinen, nicht Finlandia. Finlandia. Ja klar, wird er sich gedacht haben, vom Ende der Welt. Er blätterte zum F. Ja, da, Finlandia. Gab’s ja wirklich. Die Scheine, die wir ihm andrehen wollten, konnten aber nur Fälschungen sein. Die auf seinen Abbildungen schauten schon ähnlich aus, sogar Suomi stimmte überein, aber sie trugen noch einen Aufdruck, der auf unseren fehlte: SPECIMEN. - Aber jetzt zu Cazzo. Unser Reiseleiter hatte uns folgenden wohlgemeinten Ratschlag auf unseren Spaziergang mitgegeben. „Vermeiden Sie, ‚Katso merta!‘ zu sagen, wenn Italiener zuhören[1]. Sie könnten sich leicht in einer Intensivstation wiederfinden. ‚Katso merta‘ (finnisch) bedeutet, ‚schau, das Meer.‘

***

So vergingen meine vier Italien-Wochen wie im Fluge. Im Juni waren wir wieder in Graz. Soiles Arbeitsbewilligung war endlich da. Dieter steckte sie in die Jugoslawienabteilung. Ihre Freude, etwas zu tun zu bekommen, wurde enttäuscht. Was sie bekam, war ein Platz an einem leeren Schreibtisch ohne Aufgabe. Sie erfuhr, wie lang ein ‚Arbeitstag‘ sein kann ohne Arbeit. Keiner kümmerte sich um sie, jeder machte selbständig das Seine. Selten genug kam jemand mit der Bitte, ein bestimmtes Schriftstück in Französisch herzustellen oder zu übersetzen. Das war’s dann schon für lange. Ich riet Soile, sich ungeniert irgendwelche Akte zu nehmen und das damit zu machen, was sie für richtig hielt, dann den netten jungen Kärntner damit zu befassen. Er würde ihr schon sagen, ob es okay sei, oder was immer. Auf diese Weise würde sie ganz bestimmt zu einer sinnvollen Tätigkeit kommen. Das Problem war, der größte Teil der Akten bestand aus serbokroatischen Texten. Was macht man damit, wenn man es nicht beherrscht? Die Mitarbeiter hatten genug um die Ohren, konnten doch nicht auch noch Übersetzungen für Soile anfertigen. Das mussten sie zur Genüge für den netten junge Kärntner machen. Der konnte auch noch nicht viel serbokroatisch, war aber dabei es zu lernen. Peter Karaman gehörte zu den Jungen wie Sepp und ich, wobei die waren es wirklich. Ich nur an Zugehörigkeit zu diesem Verein. Ich fühlte mich aber genauso jung wie sie. Mit Peter ging ich ab und zu Tennis spielen. Ich kam auf die Idee, Soile ausgesuchte Akten aus unserer Inlandabteilung zum Studium und für erste Schritte zu überlassen. Als ich Gott fragte, ob das in Ordnung wäre, brüllte er mich an. „Sind Sie wahnsinnig geworden? Aus unserer Abteilung sollen Akte hinaus? Haben Sie noch nicht mitgekriegt, dass die Spione auf sowas nur warten? Ich hoffe, Sie werden das niemals wagen, in Ihrem eigenen Interesse!“


Da Soile es nicht selber tat, trat ich an Dieter heran. Wusste er nichts von der unglücklichen und unzumutbaren Lage Soiles? Dieter war ratlos. „Was soll ich machen?“ sagte er. „Außer im Inland habe ich in Graz keine adäquate Tätigkeit für Frau Lindström. Ins Inland kann ich sie auch nicht setzen. Gotschuly würde diese zusätzliche Planstelle nie mehr hergeben. Sie gebührt ihm aber einfach nicht. Frau Lindström hätte ich für Graz nicht aufgenommen, eher noch in Liechtenstein. Doch da ist ja eure besondere Beziehung.“ Ich war überrascht. Der beinharte Geschäftsmann berücksichtigte bei seinen Entscheidungen Emotionen Anderer. „Wie ist das jetzt mit Ihrer Familie?“ fragte er. „Wir stehen knapp vor der Scheidung. Soile und ich werden jedenfalls beisammenbleiben.“ – „Gut, dann müssen wir also nicht mit Übersiedlungskosten Ihrer Familie rechnen, wenn Sie ab Oktober in Pordenone arbeiten?“ Es ging weiter mit den Überraschungen. Bisher hatte niemand mich informiert, dass bereits ein Zeitpunkt feststand und wie nahe er schon lag. „Es gibt ein paar Sachen, die ich aus Graz mitnehmen werde“, sagte ich. „Wir werden Frau Lindström in Pordenone nicht beschäftigen können“, sagte Dieter. „Wir schlagen uns schon durch“, sagte ich, aber ich dachte, abwarten und Tee trinken. „Die Frage Ihrer Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung in Italien ist noch problematischer als in Österreich. Ist es Ihnen recht, wenn Sie hier in Graz gemeldet bleiben?“ – „Durchaus.“ Ich überlegte, wie oft ich aus dem Büro auf die Straße würde flüchten müssen. Es war mir gleich. – „Also, ohne Auslandsdiäten und so. Bezahlung in Österreich wie bisher?“ - „Geht in Ordnung.“ – Dieter war zufrieden. „Sehen Sie, sagte er, wenn Frau Lindström sieht, dass es nicht mehr für so lang ist, wird sie schon durchhalten. Wir werden es nicht so genau nehmen, wenn sie einmal etwas Privates zu tun hat in der Arbeitszeit. Bevor Sie nach Pordenone gehen, nehmen Sie beide noch Ihren Urlaub!“ Sosehr meine Meinung über den Senior, den Baron von Hantberg, von Anfang an zwiespältig war, sowenig trennte mich von Dieter.

***

Wir sitzen abends auf unserer Terrasse und essen bei Kerzenlicht aus einer Laterne. Gelegentlich heult ein Einser vorüber. Die Fahrgäste schauen sich die Augen aus, wollen zu gerne wissen, was wir essen. Sie sehen unsere Weingläser und sind neidisch. Rainer freut sich, dass alles jetzt klarer, berechenbarer scheint. Meine Gefühle geraten ziemlich durcheinander, als Rainer mir die Neuigkeiten berichtet. Vor allem, für mich ändert sich vorerst gar nichts hier in Graz: Dieter hat die Begründung für meinen seltsamen Jugoslawien-Job nicht mir gegeben. Er hat mit Rainer darüber geplaudert. Dass ich ruhig ein wenig blaumachen könne, hat er nicht mir zugesichert, sondern Rainer, angeblich. Ich sage angeblich, nicht weil ich es bezweifle, aber auf solche Weise bleibt es für mich angeblich. Auch dass ich in Pordenone nicht mehr bei Avus angestellt sein würde, er hat es nicht mir gesagt. In welchem mittelalterlichen Land bin ich gelandet, wo Dinge, die in erster Linie mich betreffen, unter Dritten abgehandelt werden? Ich mag ein seltsamer Vogel sein, unzurechnungsfähig vor Liebe, verantwortungslos in meinem Handeln, aber wem gibt das das Recht, über mich zu bestimmen wie über ein Rentier? Bin ich nicht eine selbständige Person mit eigenem Reisepass? Gehöre ich etwa schon zu Rainers Personal? Wenn Dieter nicht demnächst auf mich zukommt, bleibt für mich alles wie gehabt. 


Also arbeitslos nach Italien! Keine Arbeit, kein Aufenthaltstitel. Sogar Rainer selbst wird keine ordentliche Berechtigung haben. Illegal wie irgendwelche Marokkaner. Zwei Ratten im Untergrund.


Rainer, in Hochstimmung, fragt nach dem Grund meiner Bedrückung. Meine Verletzung durch das Übergangen werden erwähne ich lieber nicht. Also nenne ich die Sorge über die rechtlichen Probleme durch den illegalen Aufenthalt. „Wir werden nicht illegal sein“, sagt er. „Wir nehmen keinem etwas weg, tun niemandem etwas zu Leide. Finnland und Österreich werden bald der EU angehören. Dann spielt all das keine Rolle mehr.“ – „Und bis dahin, Agententhriller?“ – „Ja, Sean Connery und Shirley Eaton.“ Für Rainer ist es ein Spiel. Wie Falschparken mit ausländischem Kennzeichen. Langsam schwant mir, was für ein Schurke Rainer ist. Das kann ja heiter werden, denke ich. – „Wirst sehen“, sagt er, du kriegst einen schönen Job. Dann heiratest du mich und ich bin legal in Italien.“


Peng, das sitzt. Vom Heiraten hat bisher keiner von uns gesprochen. Und das jetzt? Das war doch nicht etwa ein Antrag? „Könnte es sein, dass du mich gerade wieder bevormundest?“ – „Habe ich das je getan?“ fragt Rainer. – Ich muss lachen, weil ich an seine Abmachungen mit Dieter denke. „Kann sein, Rainer.“ – „Du musst sagen, wenn es dir zu viel wird.“ – „Wir werden sehen.“

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Die erste Gelegenheit zum Urlaub ergab sich sehr rasch. Soiles Reise zu Kirsis Konfirmation. Wir fuhren im Nissan durch ganz Deutschland nach Travemünde. Soile nahm die Fähre nach Helsinki. „Vergiss nicht, die Putzfrauen kommen bald nach dem Anlegen“, riet ich ihr. Ich hatte ein Flugticket von Hamburg nach Graz. Noch hatte ich kein gesteigertes Bedürfnis, ihre Familie kennenzulernen. Wer weiß, wie sie mir begegnen würden. Ich hatte ein sehr schlechtes Gewissen wegen der Entführung Soiles. Leicht möglich, dass jemand mich ermorden würde. Überhaupt, Ilkka würde bei der Konfirmation eine Hauptrolle spielen. Meine Anwesenheit wäre völlig unpassend gewesen. Ich flog also zurück nach Graz und ließ die Telefonleitungen glühen. Dabei stellte ich beruhigt fest, dass auch Soile keinem Mordanschlag zum Opfer gefallen war. Ein paar Tage später hatte ich sie wieder.


Von Soiles Verwandten war ihre Tochter Kirsi die erste, die ich kennenlernte. Kirsi, gestärkt mit den Segnungen des Heiligen Geistes, besuchte uns in Graz. Sie war gerade an der Grenze vom süßen Mädchen zur selbstbewussten jungen Frau. Kirsi war klein, nicht schlank, nicht pummelig. Meine Beziehung zu ihr empfand ich anfangs als seltsam, obwohl solche Konstellationen heute zahlreich vorkommen. Die Befürchtungen waren unbegründet. Eine Vater-Tochter-Beziehung war es nicht, aber so unkompliziert wie die zwischen guten Freunden. Obwohl es ihre großen Sommerferien waren, las sie Lehrbücher in Vorbereitung des kommenden Schuljahrs. Ich versuchte herauszufinden, ob das einem speziellen Interesse Kirsis geschuldet wäre. Nein, lernte ich, das wäre durchaus üblich für die meisten finnischen Schüler. Da ich wusste, wie unüblich solches Verhalten hierzulande war, wunderte mich plötzlich nicht mehr, wie gut die finnischen Schüler in internationalen Vergleichen gewöhnlich abschnitten. Wir zeigten Kirsi, was wir von Graz schon kannten. Auch bewanderten wir die Waldwege um Mariatrost. Es war schön dort zu flanieren in der Frische vom Schatten der Laubbäume, die dreimal so hoch waren wie die höchsten Birken und Fichten in Kirsis Heimat. Kein Vorteil ohne Nachteil. Das Gelände wogte heftig auf und ab. Immer munter rauf und runter. Soile wanderte gern, bekam aber rasch Probleme, wenn es bergauf ging. In der Steiermark geht es überall bergauf. Auch manchmal bergab, aber bergauf gefühlt dreimal so viel. Wir erreichten das Häusl am Wald, ein beliebtes Ausflugsgasthaus mit riesigem Gastgarten. Wir jausneten. Für den Abend nahm ich eine der Flaschen Wein mit, die beim Eingang in einem Korb zur Konsumation einladen sollten. Soile erblich, als ich die Flache unter meiner Jacke verschwinden ließ. Sie erriet, die würde ich nicht bezahlen. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Und das vor den Augen ihrer wohlerzogenen Tochter. Den ganzen Weg zurück zum Tannhof zitterte sie, hinter jeder Biegung konnte die Polizei auf uns lauern. Jetzt erst wurde ihr klar, was für einen kriminellen Typen sie sich da geangelt hatte.

An einem Wochenende unternahmen wir eine Wanderung zum Schöckl. Wie von mir nicht anders zu erwarten, nahm ich mir eine viel zu weite Strecke vor. Von Mariatrost zum Niederschöckl hätte durchaus genügt für meine zwei Flachlandsquaws. Das war aber gerade einmal zum Aufwärmen. Kirsi wanderte brav dahin. Das machte mich zuversichtlich für die kommenden größeren Aufgaben. Es war ein heißer Sommertag. Wir schwitzten. Fliegen umschwärmten uns. Sie waren äußerst lästig, insbesondere nachdem wir uns bei einer Ausschank mit Ribiselwein gelabt hatten. Mein letztes Ribiselweinabenteuer war schon lange her, doch erinnerte ich mich noch gut. Ribiselwein war keine gute Idee, aber meine Begleiterinnen bestanden darauf. Wir marschierten auf Forststraßen durch den Wald. Ich hatte keine Ahnung, wo wir uns befänden. Auf den Gipfel des Schöckl gelangten wir jedenfalls nicht, umwanderten ihn vermutlich. Das Wetter schlug um in gewittrige Schauer. Ganz plötzlich war es dämmrig. Wir wurden hungrig und müde, aber der Forstweg nahm kein Ende. Mit einem Mal war es mit Kirsis Geduld vorbei. Als sie sah, dass die Tortur kein Ende nahm, begann sie verzweifelt zu weinen. Soile tröstete sie so gut sie konnte. Ich versuchte ihr näherzubringen, dass es Situationen im Leben gäbe, in denen Weinen uns um nichts weiterbringe, dass dann unbeirrtes Weiterkämpfen angesagt wäre. Schließlich beruhigte Kirsi sich, aber sie litt sichtbar. Auch ich begann mir Sorgen zu machen, wie unser Abenteuer enden würde, denn es war jetzt fast dunkel, die Schauer hielten an und keine Spur von Zivilisation. Mein Plan, immer nur bergab zu gehen, war letztlich erfolgreich. Wir gelangten an einen Wegweiser, der eine Gastwirtschaft ankündigte. Nach einer Viertelstunde erreichten wir das einsame Haus mitten im Wald. Es war geschlossen. Ich rief und hämmerte an die Tür. Gottseidank, es war jemand da. Eine alte Wirtin wunderte sich über den Besuch um diese Zeit bei diesem Wetter. Sie ließ uns eintreten, gab uns etwas Einfaches zu essen und wir versuchten trocken zu werden. Komische Fremde, dachte sie wohl. Ich war erleichtert, als sie uns ein Zimmer für die Übernachtung nicht verwehrte. An diesem Abend noch weiter ziehen zu müssen, hätten wir kaum geschafft. Wir schliefen mit den Kleidern, die wir anhatten. Kirsi vermutlich zum ersten Mal in einem Raum mit einem Mann, der kein Verwandter war.

Manchmal verliert man unterwegs Menschen und vermisst sie dann. Manchmal kehren Vermisste zurück. Oft plötzlich und unerwartet. Mariatrost bringt mir einen Verlorenen zurück, den ich lange vermisst habe. „Helmut Hauer“, klingt es aus dem Telefonhörer. Mein Gott, der Hömmerl!


Hömmerls vertraute Stimme versetzt mich um Jahre zurück in die Alserstraße an einen meiner vielen Schmisse. Es gibt Schmisse, die ich belächle, andere, die ich bedaure, einige wenige, die so verheerend sind, dass ich zur Behebung ihrer Folgen handlungsunfähig bleibe. Die damalige Rote Karte für den lieben Freund gehört zu letzterer Sorte. Was hätte mich gehindert, nach Annamarias Abgang mit Hömmerl Kontakt aufzunehmen? Hömmerl kennend musste ich nicht befürchten, abgewiesen zu werden. Gut, um mein Lebensschiff wogte es seit Längerem bedenklich, da vermeidet man gerne zusätzliche hohe Wellen. Letztlich aber war es die Scham, die mich zögern ließ. Die Scham, die Freunde so ungerechtfertigt und unerwartet ausgeschlossen zu haben, nur aufgrund einer Laune Annamarias, die vielleicht aus einem ganz anderen Grund zornig gewesen ist. Zornig war Annamaria oft, damals steigerte das noch meine Liebe. Noch hatte ich nicht erkannt, wie rasch sie unterwegs war auf ihrer Verwandlung von der Schutzbedürftigen zur Despotin. Diese Begebenheit stellte für mich ein erstes Fragezeichen dar.


Noch an demselben Abend sitzen Soile und ich mit Helga und Hömmerl beisammen auf unserer Tramwayterrasse und prosten den Vorbeifahrenden zu, hauptsächlich aber einander. Elf Jahre sind es seit unserem letzten Zusammensein. Hömmerl ist mir überhaupt nicht böse, freut sich wie ich übers Wiedersehen. Von unseren Freunden hatte ich gehört, dass ihr in Götzendorf gewohnt und einen Buben adoptiert habt, erzählt Hömmerl. Dann hieß es, du würdest mit deiner Italienerin nach Italien gehen. Zuletzt hörte ich, du wohntest in Graz, aber mit einer Finnin. Helga arbeitet jetzt auch in Graz, daher bin ich öfters hier. – „Und jetzt gehe ich bald nach Italien“, sage ich. „Mit dieser Finnin.“ Hömmerl ist platt. Was man gemunkelt hatte, stimmte also. Ein Lebenslauf wie dieser könnte dem braven Staatsbeamten in einem Roman daherkommen. Fürs wirkliche Leben scheint er zu phantastisch.


Diese Finnin versteht sich sofort gut mit Hömmerl. Helgas Volksreden stören Soile auch nicht sehr, denn sie hat sich angewöhnt, sich einfach auszuklinken, wenn sie etwas nicht versteht. So hält sie es auch mit Helgas Monologen. Aber auch ich habe, wie früher, keinen Grund Helgas Anwesenheit geringzuschätzen. Die Menschen sind so verschieden. 


Bis zu unserer Abreise aus Graz treffen wir uns noch öfter hier. Doch Italien nähert sich mit Riesenschritten.

***

Bevor wir in unser neues Leben in Italien aufbrachen, nahmen wir, Dieters Empfehlung folgend, noch einmal Urlaub. Rainer schlug das schon herbstliche Salzkammergut vor. Auf gut Glück fuhren wir zum Wolfgangsee. Es war schon später Nachmittag und begann zu dunkeln, also machten wir uns auf die Suche nach einem Basislager für die Wanderungen, die wir vorhatten. Etwas abseits des Wolfgangsees, auf einer Nebenstraße Richtung Bad Ischl kamen wir durch eine lockere Streusiedlung aus lauter heimeligen Holzhäusern, alle übervoll mit Blumen. Aus den Schornsteinen stieg bedächtig der blaue Rauch von Holzfeuern, zog wie eine Wolke langsam gegen den Wald. Ja, man heizte schon. Das Wetter war regnerisch. „Es ist kalt“, sagte ich. – „Frisch“, korrigierte Rainer. Das Bild sah so friedvoll aus. An solchem Frieden wollten wir gerne für eine Weile teilhaben. Rußbach nannte sich der Ort. Der Gesamteindruck war durchaus alpin, trotzdem erinnerte vieles mich an die ländlichen Gegenden meiner Heimat. Allerdings, die Häuser stehen hier, als plauschten sie miteinander. Bei uns stehen sie einsamer und schweigen. An einem der Häuschen steckte an der Tür ein Fähnchen mit der Aufschrift ‚Zimmer‘. Die behagliche Atmosphäre des Dorfs setzte sich im Innern der Behausung fort. Alles war hier in Holz. Eine gemütliche Wohnstube gemeinsam für die Gäste, aber außer uns waren keine anderen da, eine hübsche, kleine Schlafstube mit rot karierter Bettdecke und winzigem Fenster zum Garten. Ja, hier wollten wir gerne ein paar Tage bleiben.


Im Bett wäre es kalt gewesen, aber Rainer wärmte so schön. Am nächsten Tag war es noch immer bewölkt und regnerisch. Wir machten nur einen kleinen Spaziergang hinein nach Sankt Wolfgang. Unterwegs zeigte Rainer mir den Auhof, wo früher die Fortbildungen der Wiener Allianz abgehalten wurden. Wir besichtigten die Kirche in Sankt Wolfgang. Rainer erzählte mir die Legenden vom Heiligen Wolfgang. Warum habe ich immer an Mozart gedacht, wenn vom Wolfgangsee die Rede war?

Später hatten wir Kaffee und Kuchen in der Stube unserer Unterkunft. Die Hausfrau versprach gutes Wetter für den nächsten Tag. Rainer plante eine große Wanderung zu fünf verschiedenen Seen. Er wusste, dass er mich nicht überfordern sollte. Rainers Plan war präzise wie für einen Generalstab, enthielt Strecken, die wir mit einem Ausflugsschiff und mit dem Postbus zurücklegen würden.


Mit den Hühnern standen wir auf. Wirklich schien die Sonne zwischen bauschigen Wolken durch. Zauberhaft, wenn das Licht von der Seite in den dampfenden Wald einfällt. Immer einen Bach entlang erreichten wir den ersten See, den Schwarzensee. Das dauerte gar nicht lang, was mich beruhigte. Fünf Seen, also fünfmal diese Strecke, das würde ich schon schaffen. Die nächste Etappe war schon länger. Zwischenziel der Attersee. Wir waren ihm schon ziemlich nah, aber der Auberg stand uns im Weg und wir mussten einen langen Umweg machen, um zur Schiffsanlegestelle Burggrabenklamm zu gelangen. Dabei genoss Rainer herrliche Ausblicke über den riesigen See. Ich genoss mit. Die jenseitigen Ufer lagen in so weiter Ferne, dass man Einzelheiten nicht mehr erkennen konnte. Ein heller Streifen im Sonnenlicht. An der Burggrabenklamm sollten wir Rainers Plan zufolge ein Schiff besteigen, auf dem wir auf der Fahrt nach Unterach gemächliche Rast halten wollten. Rainer schaute die Fahrplantafel an, um Bestätigung für die baldige Ankunft des Schiffs zu erhalten. Etwas dürfte nicht okay gewesen sein, denn er schaute nicht lange. Lang war nur sein Gesicht. Der ganze Fahrplan war überklebt mit einem Plakat „Landeplatz wird nur in der Hauptsaison bei Schönwetter angefahren“. Na schön, meinte Rainer, sind ja nur 3 Kilometer. Ich entdeckte eine Bushaltestelle. Samt Bus! Als wir vom Landungssteg zur Haltestelle kamen, war es eine Haltestelle ohne Bus. Laut Fahrplan käme der nächste kurz nach fünf. Ich sah ein, dass damit der ganze Tagesplan passé wäre. Also wanderten wir. Der Attersee ist vom Mondsee durch einen Landrücken getrennt. Über ihn hinweg verbindet die Seeache beide Seen. Die Busfahrt von Unterach zum Mondsee hinüber, möglichst nach Scharfling oder auch nach Sankt Gilgen beruhte auf Rainers Annahme, dass es da wohl irgendeine Verbindung geben müsse. Es werde doch Einheimische geben, die von da nach dort wollten. Es stellte sich heraus, man konnte schon nach Sankt Gilgen fahren, mit mehreren Bussen, zuerst nach Mondsee, dann nach Salzburg. Und von da nach Sankt Gilgen. Fahrzeit etwas über zwei Stunden. Gar nicht so viel, eigentlich. Oder in der anderen Richtung über Bad Ischl. Sogar nur eineinhalb Stunden. Von Oberach nach Sankt Gilgen sind es nur zehn Kilometer! Zum Busfahren sind wir nicht hier, konstatierte Rainer. Gut, dass ich ihn so liebte, sonst hätte ich glatt widersprochen. Die Liebe ist eine Himmelsmacht. Sind die Batterien auch leer, wenn nur das Herz voll ist, laufen die Beine überall hin. Sie liefen von Unterach der Seeache entlang auf einer Nebenstraße nach Oberburgau, wo wir in einem Seegasthaus eine Kleinigkeit zu uns nahmen. Sie liefen weiter an der Südseite des Mondsees nach Scharfling, von da liefen sie über einen mittelhohen Rücken hinüber Richtung Wolfgangsee. Unterwegs berührten wir einen sechsten See, einen kleinen, mit dem Rainer nicht gerechnet hatte, den Krottensee. Kurz danach hätten wir beim Gut Aich die kleinen Landstraßen nach Fürberg nehmen können und von dort mit dem Schiff nach Strobl. Oder weiter nach Sankt Gilgen und von dort ebenfalls über das Wasser nach Strobl. Ich glaube, Rainers Hirn war auch schon ziemlich durcheinandergeschüttelt von den vielen Schritten, denn wir machten nicht das Eine und nicht das Andere, sondern folgten einem kleinen Sträßchen am Nordufer des Wolfgangsees entlang nach Fürberg. Warum wir hier nicht das Schiff genommen haben, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls ließ die Liebe meine schmerzenden Füße weiterlaufen. Kurz nach dem Waldbad teilte sich die Straße. Nach links ging sie steil bergauf, also entschieden wir uns für den anderen Zweig weiter das Ufer entlang. Das Sträßchen ging nach kurzer Strecke in einen Feldweg über, dieser bald in einen kaum noch zu erkennenden Pfad und dann gab es nur noch dichtes Gestrüpp. Rainer deutete nach oben und ich wusste, warum die Wege hier endeten. Eine senkrechte Felswand erhob sich zwei, dreihundert Meter in den schon grauen Himmel. Grau wegen der Dämmerung. Wir waren schon gut zehn Stunden unterwegs. Ein weiterer plausibler Grund für das Ende der Wege war, dass dieselbe Felswand ebenso senkrecht in das Wasser des Wolfgangsees hineinstürzte, ohne Raum für irgendetwas anderes zu lassen. Nach Sankt Wolfgang, das ist eine kleine Strecke am Seeufer entlang, hatte Rainer generalstabsmäßig gedacht. Dazu aber hätten wir schwimmen müssen. Das fehlte noch. A cozy moonlight swim. Rainer schaute auf die Karte. Ah ja, sagte er, das muss der Falkenstein sein. Hab ich übersehen. So eine Felswand, ähnlich der Eigernord, wie kann man die übersehen? Ich sprach nicht aus, was ich dachte, um der Liebe eine Chance zu lassen. Was half’s, die Wand musste umgangen werden. Wir wandten uns vom Ufer ab, stiegen weglos die struppigen Hänge hinan, hielten uns am Gestrüpp fest, zogen uns an ihm hinauf. Hätten wir die Büsche entwurzelt oder deren Zweige abgebrochen, wir wären unweigerlich weit hinuntergerollt, vielleicht bis in den See. Das hier ähnelte nichts, was ich im Leben getan hatte. Eine Wanderung hatten wir beabsichtigt und jetzt kletterten wir am Eiger, ungesichert. Wir waren damals beide noch magere Leichtgewichte, daher ist nichts entwurzelt und nichts abgebrochen. Der Hang verlor nach und nach an Steile, das Gestrüpp wich einem schütter bestandenen Laubwald. Wir hielten kurz an um Atem zu schöpfen, unterbrachen aber trotz des unbedingten Bedarfs diesen Atemzug. Rainer blieb bewegungslos, deutete nur mit den Augenbrauen den Hang hinan. In einiger Entfernung sah ich mehrere Gämsen äsen. Ihre gebogenen Hörner wackelten dabei. Zuerst nahmen sie keine Notiz von uns. Dann ein kurzer Pfiff und schon waren sie im Dickicht verschwunden. Wir dürften uns nun auf Höhe des oberen Rands der Falkensteinwand befunden haben und konnten unsere Richtung auf Südost ändern. Es war schon recht dunkel, als wir eine schmale Fahrstraße erreichten, auf der wir stets bergab nach langem Wandern Sankt Wolfgang erreichten. Wir kamen an der Anlegestelle vorüber und sahen, dass gerade ein Schiff anlegte. Obwohl es bis Strobl nicht mehr weit war, zögerten wir nicht es zu besteigen. Jetzt waren nicht nur die Batterien leer, ich befürchte sogar auch das Herz. Uns war jetzt alles recht, wenn wir nur sitzen und die Beine ausstrecken durften. Die Fahrt war allzu kurz. Schon nach wenigen Minuten kamen wieder die Beine dran. Wir schlugen den Weg nach Rußbach ein, befanden uns aber noch in Strobl, als wir am Kirchenwirt vorbeikamen. Das heißt, wir kamen nicht vorbei. Wir betraten das Lokal. Dass wir erschöpft, schmutzig, verschwitzt und hungrig aussahen, war mir egal. Rainer sowieso, aber jetzt sogar mir. Unser Rucksack erklärte alles. Drinnen war gediegener Abendrestaurantbetrieb. Die meisten Gäste musterten uns eher abschätzig, als seien wir gekommen, ihnen etwas wegzuessen oder ihre gepflegte Sauberkeit mit unserem Schweiß zu beleidigen. Es war uns egal. Wir sanken an den letzten freien Tisch. „Karte?“ fragte die Bedienung. Ihr Blick schien sagen zu wollen, „Schmalzbrot führen wir nicht.“ Rainer ist sehr kritisch. Wenn etwas nicht passt, steht er auf und geht. Diesmal blieb er. Das Essen hätte ein Fraß sein können, es hätte uns trotzdem geschmeckt. Zur Überraschung der Bedienung begannen wir mit keinem der Gäste einen Streit und versuchten auch nicht, die Zeche zu prellen. Rainer fragte mich, ob ich irgendwo Flaschen gesehen hätte zum Mitnehmen. Von hier würde es besonderen Spaß machen. Ich hütete mich. Lang blieben wir nicht. Nach Rußbach waren es noch ein paar Kilometer. Als wir ins Freie traten, war finstere Nacht, aber mit einem Sternenhimmel, der silberne Musik verströmte. Flöte, Piccolo und Triangel. „Es ist kalt“, sagte ich. „Frisch“, korrigierte Rainer. Die Fünf-Seen-Wanderung endete zwischen Erde und Sternen, in einem Wandeln, das keiner Schritte mehr bedurfte. 

***

Es war mir ziemlich peinlich, den Hönigs beizubringen, dass unser Jahresvertrag nicht über die volle Distanz gehen konnte. Natürlich hätten sie es sich einfach machen können und auf Zahlung der Miete bis zum Ende des Vertrages bestehen können. Sie waren aber fair und verschwiegen uns nicht, dass irgendjemand sowieso auf die Wohnung scharf war. Entsetzt waren sie nur über die Emmentaler Wand im Wohnzimmer. Ihre Weigerung, die Kaution zu erstatten, fand ich, alles in allem, gerecht.


Mit dem wieder einmal gerammelt vollen Uno erschienen wir in den ersten Oktobertagen in Pordenone. Ich war gespannt, was für eine Bleibe Frau Scussel für uns aufgetrieben hatte. Ganz richtig: keine. Fürs erste halt ins Minerva zu den schwarzen GIs und zum roten Hund. Es konnte sich nur um wenige Tage handeln. Nur, für die Sachen aus dem Uno war in dem engen Zimmer kein Platz. Was nicht hinein passte, verstauten wir im Keller. Die Suche nach einer passenden Wohnung übernahmen wir selbst. Wir grasten alle Realitätenbüros ab und folgten jeder Zeitungsanzeige. Wir vergrößerten unser Suchgebiet nach und nach bis auf fünfzig Kilometer Radius. Nichts. Die ganze Gegend war fest in Uncle Sams Hand. Und wieder das Problem auswärts essen gehen zu müssen, jetzt allerdings zu zweit. Zum Glück stellte sich heraus, dass das Tre Coppe die Not lindern konnte. Das Lokal fasste vielleicht vierzig Personen und war immer überlaufen. Wie einige andere Aspiranten stellten wir uns an die Theke für einen Drink und warteten, bis zwei Plätze auf den Thonetstühlen an den Kaffeehaustischchen frei wurden. Es gab alle Arten von Pasta oder Caprese, vorzüglich zubereitet, zu günstigen Preisen. Die Tagliata, so köstlich sie auch war, gehörte leider zu den kostspieligeren Gerichten. Dazu gab es immer frisches Weißbrot gratis, soviel man wollte. Schnell musste man essen. An der Theke lief den nächsten Wartenden schon das Wasser aus den Mündern.


An der Ecke der Piazza XX Settembre lockte eine Gelateria mit wunderbaren Spezialitäten. Meistens versagten wir uns den Genuss. Bei einem der seltenen Versuche lernte ich die richtige Aussprache des Wortes Yogurt. Ich bestellte es mit geschlossenem O wie im Deutschen. Das Serviermädchen verstand nicht, auch nicht nach einigen Wiederholungen. Als sie es endlich erriet, rief sie aus, „Ah, yogurt!“, mit offenem O wie in Motte.

Nach vier Wochen erfolgloser Suche wurde das Minerva Frau Scussel wahrscheinlich zu kostspielig. Sie bot uns ihren Sommerbungalow in Lignano an, bis wir etwas Besseres finden würden. Hört sich toll an. Ein Bungalow in Lignano! Er wäre auch wunderschön gewesen. In lauen Sommernächten, ein paar Meter vom Meer, eingebettet in die gepflegte Anlage pinienbeschatteter Feriendomizile. Die Wirklichkeit sah anders aus. Kennen Sie Lignano im November? Nebel, beständig wie in Graz, aber die Luft feuchter. Das Kalte Nass kriecht in kürzester Zeit durch jede Bekleidung bis ins Innerste der Knochen. Wenn dann zwischen der Unterkante der Eingangstür und dem Fußboden eine Handbreit unfreiwillige Luftzirkulation stattfindet, zieht die Feuchtigkeit ins ganze Haus, in die Schränke, in die Wäsche, in die Betten, in die Laken. Die waren so feucht, als hätte man sie soeben aus der Waschmaschine gezogen. Ein Sommerhaus am Meer braucht keine Heizung. Ein Feuer im offenen Kamin im Wohnraum verbreitet ausreichend gemütliche Wärme an kühleren Tagen. Dazu gab es einen kleinen Elektroofen. Das heißt, er war eigentlich recht stattlich, klein war nur die Heizleistung. Das Baujahr war mit 1920 wahrscheinlich treffend geschätzt. Daher nannten wir das sympathische Gerät ‚Edison‘. An der Oberseite glotzten überproportionierte flackernde Kontrollleuchten wie Gespensteraugen umher und behaupteten, dass Edison heizte. Eine kontrollierende Berührung des Gehäuses widersprach dem heftig. Doch Edison duldete keinen Zweifel. Er brummte wie die Transformatorstation einer Kleinstadt. Das überzeugte. Der Verbrauch dürfte gewaltig gewesen sein, denn man konnte Edison nur arbeiten lassen, wenn keine anderen Verbraucher im Haus aktiv waren. Ansonsten ging es Paff und die Sicherungen flogen. Nach einer Weile flogen sie aber auch ohne Mitwirkung von Konkurrenz. Das konnte auch daran liegen, dass die ENEL (der italienische Energieversorger) den Haushalten generell nur sehr beschränkte Kapazitäten zur Verfügung stellte. Das sollte für uns bald Bedeutung gewinnen. Es gab diese alten keramischen Schmelzsicherungen. Nach dem ersten völlig stromlosen Sonntag kaufte ich in Pordenone eine Großpackung. Natürlich in Pordenone, denn Lignano im Spätherbst war eine Geisterstadt. Irgendwo hielt ein Lebensmittelgeschäft offen. Dort hätte ich wahrscheinlich auch Sicherungen bekommen, aber so weit reichte meine Italienexpertise damals noch nicht. Nur ganz vereinzelt ein offenes Café, eine Tankstelle, die Carabinieri, die Polizia Municipale, das Gemeindeamt, alle im Winterschlaf, das war’s im Wesentlichen. Edison erhielt von uns das Privileg, neben unserem Bett im Schlafraum glotzen und brummen zu dürfen. Es war genial. Wenn Edison aufhörte zu flackern und zu brummen, hatte es im Vorraum Paff gemacht. Wir spazierten im Nebel durch die leeren Straßen vorüber an unbewohnten Villen. Überall lagen Pinienzapfen herum. Ich gab einem davon einen kräftigen Kick. Er war unglaublich hart. Ich dachte, ich habe meinen Zeh gebrochen. Wir gelangten zum Strand. Man hörte das Meer rauschen, gesehen hat man es nicht. Soweit die Sicht reichte nichts als Sand, übersät mit Schwemmgut und Abfällen. Jemand hatte auf dem Grundstück um unseren Bungalow eine Pinie umgeschnitten. Ihr Stamm lag dort auf dem sandigen Boden, zersägt in halbmeterlange Stücke, die aufs Spalten warteten. Hacke konnte ich keine finden, also verheizten wir die Riesentrümmer im Ganzen im offenen Kamin. Wenigstens musste ich nicht so oft nachlegen. Unmittelbar vor der Feuerstelle wurde es richtig heiß. Im Rest des Raums sorgte der anhaltende Luftzug für Gänsehaut. Endlich kamen unsere dicksten Pullover zum Einsatz.

Tagsüber im Büro in Pordenone erledigte ich die Arbeit, die Dellorusso mir zuwies. Die schon absolvierten Schnupperaufenthalte und das Studium von Gharibehs Bibeln hatten mir gezeigt, dass hier alles, wirklich alles anders war als ich es bisher gekannt hatte. Gesetzliche Grundlagen, Gepflogenheiten bei den Versicherungsgesellschaften, Umgang mit den Behörden, Justiz, das auf unserem Sektor besonders wichtige Grüne Karte-System (Regelung der Zuständigkeiten und Normativ für Haftpflichtschadenfälle mit im Ausland zugelassenen und versicherten Kfz), alles war neu für mich. Dellorusso machte seine Arbeit schweigend, erklärte mir nichts. Anfangs stellte ich ihm Fragen, wenn mir systemische Unterschiede auffielen, erklärte dabei, wie das bei uns geregelt wäre. Ich dachte, es könnte ihn interessieren. Er aber glaubte, ich wollte zeigen, wie viel vorteilhafter unsere Regelungen wären. Er schaute mich seltsam an. Womit habe ich diesen Trottel verdient? Warum bleibt er nicht daheim, wenn dort alles besser ist, dachte er wohl. Warum kann ich mir meinen Nachfolger nicht selber aussuchen? Also hörte ich auf ihm Fragen zu stellen, bezog meine Informationen direkt aus den Gesetzestexten und aus der Fachliteratur, die im Büro vorhanden war. Dadurch verbesserte ich zusehends auch meine Sprachkenntnisse. Von allem Anfang an arbeitete ich daran, meiner Auffassung von einem wirkungsvollen Auftraggeberservice gerecht zu werden. Jahrelang war ich auf der anderen Seite gestanden, war selbst Auftraggeber gewesen und wusste also genau, was ein solcher erwartete. Ich begann, unseren Auftraggebern von jedem unternommenen Schritt zu berichten. Sogar wenn sich nichts Neues getan hatte, schickte ich ihnen kurze Zwischenberichte. Kopien davon hielten die Grazer informiert. Die Technik war noch immer die gute alte Schreibmaschine und die Briefpost. Dellorusso ärgerte sich. Er verstand ja nicht, was da in Sprachen, die ihm fremd waren, in alle Welt hinausging. Als ich das verstand, schrieb ich mit der Hand für ihn kurze Zusammenfassungen des Inhalts auf unsere Kopie. Da es niemanden gab, der meine Korrespondenz erledigt hätte, machte ich es selber. Tamara ärgerte sich. Plötzlich stieg der Aufwand für Porti an. Die Auftraggeber freuten sich. Sie ersparten sich nicht nur lästiges Nachfragen, sondern nahmen auch zur Kenntnis, dass da plötzlich einer in Italien werkte, den man notfalls auch ganz direkt telefonisch ansprechen konnte.

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Meine Lebensumstände werden immer trauriger. Schon das Minerva ist eine Zumutung gewesen. Wenigstens aber war es mitten in einer Stadt mit Geschäften, mit Verkehr, mit Menschen. Hier dieses Lignano, ich komme mir vor wie auf einer Forschungsstation in der Antarktis. Vielleicht wäre es dort sogar besser geheizt. Meine Pullover sind dick, aber nicht dick genug, selbst wenn ich zwei übereinander anziehe. Wenigstens gäbe es dort am Pol Pinguine. Hier ist meine Gesellschaft eine einsame hungrige Katze, die bemerkt hat, dass dieses Haus noch bewohnt ist. Sie sitzt vor der Tür, schaut durch das Glas und friert. Ich weiß, wie sie sich fühlt. Sie kommt jetzt täglich. Ich füttere sie mit Milch und Essensresten. Rainer fährt morgens mit dem Uno nach Pordenone. Ich bin hier festgenagelt in der kalten Einsamkeit. Selbst wenn das Auto hier wäre, wohin sollte ich schon fahren? Ein paar Straßen weiter ist ein Briefkasten. Er schluckt einmal am Tag die Briefe, die ich schreibe. Bekommen habe ich noch keinen. Kein Wunder, denn keiner meiner Briefe wird je ankommen. Wahrscheinlich werden die Postkästen hier im Winter nicht ausgehoben. Ist ja keiner da, der Briefe aufgeben würde. Außer mir. Schon wieder eine neue Sprache. Nicht ganz neu, aber das damals war ja nur ein Schnellkurs für Reisezwecke. Ich habe das alte Buch hervorgekramt und lerne. Nebbia. Freddo. Solitudine. Was mich am Leben hält, ist die Aussicht, dass am Abend Rainer kommt und die Liebe mitbringt.

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Um Soile das schwere Gefühl des Gefangenseins ein wenig zu erleichtern, fahre ich heute mit dem Bus nach Pordenone. Soile bringt mich nach Latisana. Von dort braucht der Bus nur eineinhalb Stunden. Ein paar Frauen steigen ein und einige Schulkinder. Der Bus klappert alle seitlich der Route gelegenen Ortschaften ab. Überall steigen noch mehr Schulkinder zu. Die Kinder beherrschen das ganze Vehikel. Sie machen einen Höllenlärm. Um mich herum wird geschrien, gelacht, gerauft. Sie schlagen einander die Schultaschen auf die Köpfe. Ab und zu trifft mich ein Hieb von der Seite, von hinten, von vorne. Der Fahrer ermahnt die Kinder zu mehr Ruhe. Völlig umsonst. Der Fahrer schreit nach hinten. Ergebnislos. Plötzlich hält er auf freier Landstraße an, öffnet die hintere Tür und wirft ein paar von den größeren Störenfrieden aus dem Bus. Sie grinsen. Für sie ist heute schulfrei. Haben sie es darauf angelegt? Der Fahrer will die Tür wieder schließen, da steigt noch eine ganze Reihe Schüler aus, ganz freiwillig. Gelegenheiten wollen genützt sein.

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Ein Jahr später schrieb ich einen Brief nach Johannesburg an Heinz und Ulli. Ich beabsichtigte, ihnen den Ablauf des vergangenen Jahres zu schildern. Soile und ich hatten ausreichend Zeit dafür. Warum, das möchte ich hier noch nicht verraten. Jedenfalls kam ich auf die Idee, anstatt eines langen Briefes ein Hörbild zu produzieren. Dazu verwendeten wir den Plattenspieler und das Kassettendeck meiner Stereoanlage und das alte Plattendiktiergerät, das ich der Allianz abgekauft hatte. Ich schrieb die Texte. Soile und ich lasen sie abwechselnd. Natürlich hatten die Aufnahmen nicht die Qualität wie aus einem professionellen Studio. Vor allem die Dynamik machte uns zu schaffen. Trotzdem halte ich das Ergebnis für hörenswert, wenn es auch – wie alles was ich beginne – unvollendet geblieben ist. Sollte einem Leser der Textversion dieses Werks die Geduld ausgehen, mag er die nächsten Abschnitte getrost überspringen und sich die Hörbildversion geben.


In unserem Bungalow befindet sich ein Telefon. So ein alter schwarzer Tischapparat mit Wählscheibe. Durch eines der Löcher in der Wählscheibe ist ein kleines Vorhängeschloss gefädelt. Es verhindert das Drehen der Scheibe. Frau Tamara hat anfangs versprochen, uns den Schlüssel zu überlassen. Dazu ist es nie gekommen, wofür sie immer andere fadenscheinige Gründe anführte. Was sie nicht weiß: Ich kenne da aus frühen Autovermietungstagen einen schmutzigen Trick. Der Hörer, der auf der Gabel ruht, drückt diese durch sein Gewicht nach unten. Die Leitung ist damit unterbrochen. Nimmt man den Hörer ab, erhebt sich die Gabel ein kleines Stück, wodurch die Leitung freigegeben wird und das Freizeichen die Wählbereitschaft andeutet. Wenn man nun ganz kurz auf die Gabel klopft, sodass sie sich rasch senkt und wieder erhebt, erzeugt man damit einen Wählimpuls, genauso, als hätte man mit der Scheibe eine Eins gewählt. Zweimal klopfen ergibt eine Zwei, sechsmal eine Sechs und zehnmal eine Null. Auf diese Weise kann man jede Nummer wählen, ohne die Scheibe zu drehen. Das viele Klopfen ist unbequem und verlangt Konzentration. Es muss schnell gehen, sonst wird nur die Leitung unterbrochen. Bei langen Nummern mit hohen Ziffern ist das durchaus fordernd. Hat man sich geirrt, muss man von vorn anfangen. Wahrscheinlich hat man aus diesem Grund den Vorgang vereinfachen wollen und die Wählscheibe erfunden. Ich zeige Soile den Trick und schon ist die Verbindung mit Finnland hergestellt. Staunend schaut sie mich an. Das war Beweis Nummer zwei dafür, was für einen kriminellen Typ sie sich da geangelt hat.


Wir hielten es für angezeigt, Tamara und Centrone zum Essen einzuladen als kleines Dankeschön für die feudale Unterkunft. Es war auf einen Sonntagmittag. Ich hatte dafür in Pordenone eingekauft und Soile kochte. Um eins war alles fertig. Der Tisch war feierlich gedeckt, das Essen musste nur noch angerichtet werden. Das Telefon läutete. Tamara kündigte eine kleine Verspätung an. Ihr Mann sei in der Früh zu einer kurzen Wanderung aufgebrochen und noch nicht zurück. Sie würde sich wieder melden. Soile war verzweifelt. Das Essen war hin. Um zwei rief Tamara wieder an. Ihr Mann sei noch nicht da, aber sie habe ihn am Telefon erreicht und er sei schon unterwegs nach Hause. Drei Uhr: Centrone nehme gerade ein Bad, dann würden sie gleich losfahren. Um vier mischte Motorengeräusch die heilige Ruhe Lignanos auf. Sie waren da. Soile servierte die traurigen Reste des Essens. Centrone erzählte, wo er gewesen war, Tamara schaute sich nervös um, ob von der Einrichtung noch alles vorhanden wäre und in welchem Zustand. Angesichts des Rests eines Pinienstamms im Kamin sah ich ihre Nasenspitze erbleichen. Sie sagte aber nichts. Ihr Blick fiel auf das Telefon mit dem Schloss. Es täte ihr so leid, sagte sie, aber den Schlüssel habe sie immer noch nicht gefunden. „Macht nichts“, sagte ich, „es funktioniert auch so.“ Ich führte ihr meinen Trick vor. Es meldete sich der Anrufbeantworter von Avus Pordenone. Die Farbe ihrer glühend roten Wangen bildeten einen reizvollen Kontrast mit der Nasenspitze. Der Besuch war danach rasch zu Ende. Ich weiß nicht, wieso die Beiden es so eilig hatten. Centrone ließ den Gummi rauchen. Auffliegende Pinienzapfen verjagten die hungrige Katze hinein in den Nebel.

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