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Mario

worin orkommen: Arnoldstein, Lignano, das Mare Adriatico, Val Sugana, Bozen, der Rosengarten, Chioggia, Pellestrina, Venedig, Canal Vena, der Ponte Rialto sowie ein väterlicher Geburtstagsbrief

Götzendorf, 26.Jänner 1988


Mein lieber Sohn!


Statt überflüssigem Spielzeug bekommst Du zu Deinem ersten Geburtstag von Deinem Papa einen Brief. Da wird drin stehn, wie Dein erstes Jahr verlaufen ist. Später einmal, wann Du Briefe lesen kannst, wird er Dir vielleicht helfen auf Deiner Suche, woher Du kommst und wohin Du gehst. Ich werde den Brief so schreiben, daß Du damit etwas anfangen kannst, sobald Du lesen gelernt hast, aber auch so, daß er mit Dir mitwachsen soll, und Du ihm mit zunehmender Reife immer wieder Neues abgewinnen kannst.


Im vergangenen Jahr 1987, haben wir uns zum ersten Mal gesehen. Kurz vor Ostern bekamen Deine Mammi und ich endlich die Erlaubnis Dich zu sehen. Es regnete an diesem Frühlingsabend. Bis ich mich im weitläufigen Gelände des Wilhelminenspitals zu Deinem Pavillon durchgefragt hatte, war ich ziemlich naß geworden. Deine Mammi war an diesem Tag mit einem Italiener unterwegs, beruflich glaube ich. Er sprach kein Deutsch und musste doch seine Geschäftspartner verstehen. Mammi sagte, er brauche sie sehr. Sicherlich wollte sie bei unserem ersten Zusammentreffen gern dabei sein, aber sosehr der Italiener auch Gas gab, wahrscheinlich verfuhr er sich auf den fremden Straßen, und Deine Mammi war zu spät. So kam es zu dem außergewöhnlichen Fall, daß Du Deinen Vati früher gekannt hast als Deine Mammi.


Du warst im Pavillon 1 allein in einem Zimmer. Eine sehr junge, kleine, schwarzhaarige Schwester hat uns miteinander bekannt gemacht. Du hattest schon Dein Abendfläschchen bekommen und lagst satt, rund und unendlich klein in Deinem Gitterbett. Deine großen dunklen Augen musterten mich mit amüsiertem Interesse, während Dein Mund, diese wohlgeschwungenen Lippenpölsterchen, sich zu jenem Lächeln bog, das Du auch heute noch zeigst, als dächtest Du: Ich bin zwar noch klein, aber wissen tu ich doch schon alles! Angesichts dieses Lächelns kam ich mit meinem Erwachsenenwissen mir plötzlich ziemlich kurzsichtig vor. Dein Buddhaausdruck war gleichzeitig so zufrieden und gütig, er flößte mir für alle Zukunft tiefes Vertrauen ein.


Ich mußte mir die Hände desinfizieren, dann durfte ich Dich in die Arme nehmen. Heute halte ich Dich sicherer. Ich fühlte mich die ganze Zeit beobachtet von der Schwester. Eine Spieluhr an der Wand klimperte unentwegt Frère Jacques.

Bei meinem Besuch am nächsten Tag stellte ich Dir Deine Mammi vor. Sie durfte Dich füttern, baden und wickeln. Sie war sehr nervös dabei, nicht wahr? Oberschwester Ulrike gab uns viele Ratschläge, aber wir waren viel zu aufgeregt, um sie uns zu merken. Sie lobte Dich über den grünen Klee. Wir schoben Dich in einem Kinderwagen ein paar Runden um den Pavillon. Ein kühler Wind, zurückgelassen vom Winter, verdarb der Frühlingssonne ihre guten Absichten. Morgen, wenn der Amtsschimmel ausgewiehert haben würde, würden wir Dich nach Hause holen.


Karfreitag. Die zweite Reise Deines Lebens. Die erste war, wohl im Krankenwagen, vom Allgemeinen Krankenhaus ins Wilhelminenspital. Jetzt traten wir unsere erste gemeinsame Fahrt an. Als Deine Mammi Dir die mitgebrachten Sachen anzog, weinte Schwester Ulrike. Sie hatte Dich sehr lieb gewonnen. Jetzt würde sie Dich arg vermissen. Wir mußten ihr versprechen, sie bald mit Dir zu besuchen. Wir luden Dich in unser kleines Auto und brachten Dich nach Götzendorf, Dein Zuhause. Du warst ganz ruhig auf Deiner ersten Autofahrt. Als ich Dich ins Haus trug, sagtest Du „Oei!“


Wir hatten mein Studio als Kinderzimmer für Dich hergerichtet, mein Schreibtischchen entfernt, Dein Kinderbettchen hineingestellt. Darüber an der Wand die Aquarelle von Hermann Hesse finde ich sehr passend. Gegossen in eine etruskische Tontafel unterhalten Dich drei antike Jungfern mit Laute, Flöte und Gesang. Kinder tanzen dazu. Dein Schutzengel ist eine Barockputte aus Südtirol. Für den Fall, dass Dir irgendwann in den Sinn kommt, diese Kunstschätze zu Geld zu machen: Lass es. Es sind billige Nachbildungen. Auf der Kommode standen zu Deinem Empfang Billetts von Menschen, die sich auf Dein Kommen freuten. Sie stehen heute immer noch dort. Von Deiner Mammi waren bis in den Herbst hinein immer frische Blumen für Dich aufgestellt. Am Karfreitag haben wir einen Sohn, hast Du Eltern bekommen.

Du hast es uns sehr leicht gemacht, Dich zu betreuen. Immer hattest Du ausgezeichneten Appetit, die Verdauung klappte tadellos, und wenn auch Du tagsüber wenig schlafen wolltest, die Nächte hast Du gewöhnlich tief und ruhig durchschlafen. Natürlich mußten wir uns auf frühe Weckzeiten einstellen. Wir waren ja alles andere als Frühaufsteher gewesen. Dabei hat uns sehr geholfen, daß Du nachts ruhig warst.


Bald hatte Deine Mammi Deinen Speiseplan dem unseren angepaßt. Oft war der einzige Unterschied, daß Dein Essen fein püriert war. Deine ersten Zähne kamen zu zweit gleichzeitig am 28. Juni ohne große Probleme. Die Schmerzen hast Du ohne viel Aufhebens weggesteckt. Auch bei den unvermeidlichen Unfällen warst Du nie wehleidig.


So wie selbst der heiterste Tag im Leben eines Kindes kaum je ohne Tränen abläuft, so hatte auch Dein erstes Jahr seine schweren Momente. Im September und Oktober mußtest Du wegen einer angeborenen Fehlstellung der Hüften Tag und Nacht ein Spreizhöschen tragen. Du hast die Folter tapfer ertragen, aber Du warst dann nachts alle zwei, drei Stunden wach. Wir trugen Dich umher, um Dich zu trösten und einzuschläfern, was Dir wohl gefallen hat, denn später hatten wir Mühe, Dich wieder an selbständiges Ein- und Durchschlafen zu gewöhnen.


Genau zu Silvester hattest Du hohes Fieber, aber mit den Ärzten waren alle der Meinung, das wäre ganz normal für ein gesundes Baby, wir sollten uns keine Sorgen machen. Das gelang uns natürlich nicht so ganz und prompt klappte danach auch Deine Mammi krank zusammen. Vielleicht wird sie in Anbetracht der Lungenentzündung jetzt wirklich nicht mehr rauchen. Die Ursache Deines Fiebers ist nicht festgestellt worden. Nach ein paar Tagen warst Du wieder auf Betriebstemperatur.

Insgesamt warst Du aber von bester Gesundheit in Deinem ersten Jahr. Du hast Dich prächtig entwickelt. Zu Ostern hattest Du fünfeinhalb Kilo, jetzt elfeinhalb. Ringel würde sagen, Du bist noch in der oralen Phase. Eine Neurose scheinst Du nicht entwickelt haben. Dein Verhalten ist so, wie man es sich von einem Kind nur wünschen kann.


Viel hast Du gelernt im ersten Jahr. Sicher greifen Deine kleinen Händchen die Gegenstände an. Jeden Tag plapperst Du neue Lautkombinationen. Anfangs klangen sie ungarisch (äljätäjägän!). „Papa” kann man schon seit längerer Zeit von Dir hören. Man weiß nur nicht genau, ob Du den Vati oder das Essen meinst. Deine Mammi hast Du hingegen lang auf „Mama“ warten lassen. Vor kurzem hast Du zu gehen begonnen. Wenn auch noch etwas Unsicherheit dabei ist, sieht man doch, wie es Dich freut. Du hast aber auch schon erfahren, daß man nicht alles angreifen darf. Wenn wir erraten, daß Du darangehst, ein solches Tabu zu brechen, brauchen wir nur rechtzeitig „Mario!“ rufen und Du fühlst Dich durchschaut und lachst aus ganzem Herzen, und wir lachen mit. Bücher, beispielsweise, muß man vor Dir in Sicherheit bringen. Du zerreißt sie alle. Ich wünschte, Deine Liebe zu ihnen äußerte sich in anderer Form.

Jetzt will ich versuchen, Dir einen ganz gewöhnlichen Tag aus Deinem ersten Lebensjahr zu schildern:


Gegen sechs Uhr früh meldet uns Dein Gebrüll, daß Du wach bist. Manchmal gibt es schon gegen vier Uhr falschen Alarm, aber da schläfst Du rasch wieder von selbst ein. Um sechs oder viertelsieben hält Dich aber nichts mehr waagrecht. Da stehst Du im Gitterbett und rüttelst voller Wut an den Stäben. Papa oder Mammi müssen kommen, um Dich zu beruhigen. Man bringt Dich in Mammis Bett, wo ihr zusammen die ersten Minuten des Tages genießen könnt, bevor ihr euch in den harten Alltag stürzt. Vielleicht bringt Papa der Mammi sogar einen Caffè ans Bett. Inzwischen wärmt er Deine Frühstücksmilch mit Honig und Biskotten. In den Federn bei der Mammi ist es ja schön. Wenn nur nicht der Hunger wäre! Mammi kommt mit Dir in die Küche und gibt Dir Dein Fläschchen, das Du schon selber halten kannst und willst. Währenddessen wäscht sich der Papa und zieht sich an. Wenn er lange braucht, bist Du nach dem Frühstück bei ihm im Bad, früher auf dem Hochstuhl, jetzt schon auf eigenen Beinchen, schaust Papa zu und spielst dabei mit vielen seltsamen Lieblingssachen: Mammis Augenschminkstifte, Papas Zahnbürste (es muß genau Papas aktuelle sein, die alten, ausgesonderten verschmähst Du), die Dose mit der Zahnseide, ein Seifendöschen, der Rasierpinsel. Papas Uhr und viele andere Sachen reizen Dich auch. Die gehören aber zu den unerreichbaren Träumen. Dann bei Papa, der frühstückt. Du hilfst ihm, Spekulatius, andere Kekse oder Joghurt mit Müsli essen, letzteres mit ganz besonderer Leidenschaft. Löffeln willst Du selber, aber das klappt noch nicht ganz. Auf diese schönen Momente folgt die Katastrophe. Der Papa geht weg und läßt Dich allein bei Mammi zurück. Du klammerst Dich an ihn, aber vergebens. Er nimmt seine ganze seelische Kraft, aber auch einige physische, zusammen, reißt sich los und verschwindet. Vom Fenster aus darfst Du ihm winken.


Der Vormittag vergeht mit der Mammi, die immer viel herumzuräumen hat oder zu waschen oder zu bügeln. Zwischendurch trägt sie Dich herum oder spielt mit Dir. Manchmal läutet das Telefon. Da ist sie wehrlos, als wäre sie mit dem Kabel gefesselt. Da hat man köstliche Momente, um alle Wörterbücher zu mißhandeln, bevor man in die Gehschule gesperrt wird. Das kann man sich natürlich nicht gefallen lassen. Man muß brüllen wie am Spieß und aus dem Telefonieren wird nicht viel. Wehe, wenn die Mammi für ein paar Minuten das Haus verläßt, um nach der Wäsche zu sehen oder dem Ofen. So allein zurückzubleiben ist ein unerträgliches Unglück. Ob darüber Zorn oder Verzweiflung die Oberhand gewinnen, beides ist nicht gerade leise.


Zum Glück gibt es bald Mammis herrliches Mittagsmenü. Gemüse, Fisch oder Fleisch, je nachdem, alles was auch die Großen essen, aber püriert. Dann noch Apfelkompott – hmmm! Der Papa ist selber ganz verrückt nach dem guten Pappi. Schade, daß er zu Mittag nicht daheim essen kann.


Der Nachmittag geht hin wie der Vormittag. Die Mammi muß zusehen, daß sie ihren vielen Obliegenheiten nachkommt. Wenn Du vormittag nicht geschlafen hast, wirst Du es vielleicht jetzt tun. Dein Rhythmus ist eingestellt auf dreißig Minuten. Man könnte die Uhr danach stellen oder Reis kochen. Nur wenn sich auch Mammi zu etwas Ausruhen entschließen kann, läßt Du Dich zu längerem Schlummer verleiten. Nun ja, wenn Mammi schläft, gibt es weniger zu versäumen.


Manchmal gibt es eine Ausfahrt mit Mammis Vehikel, dieser witzigen dreieckigen Blechkiste mit Mopedmotor, die sie zu Weihnachten bekommen hat. Die Kraxe springt nicht immer an. Wenn sie sich aber entschließt, Euch ihre Maschinenkraft doch zur Verfügung zu stellen, habt ihr beide viel Vergnügen daran. Paß nur gut auf Mammi auf, damit sie alles richtig macht!


Am späten Nachmittag wirst Du in einen Bottich mit warmem Wasser geschmissen. Du sitzt in der Wanne wie der König von Saba und läßt Dich waschen. Baden ist schön! Manchmal ist der Papa schon dabei, zumindest aber kommt er bald danach. Wieder einer der schönen Augenblicke im Leben. Die Beinchen lassen sich nicht länger ruhig halten. Sie müssen einfach in der Luft strampeln und im Wasser. Viel davon ist nicht mehr innerhalb der Wanne.


Danach gibt’s den Abendbrei. Noch etwas gespielt mit Papa und schon ist es wieder Zeit für die Reise ins Träumeland. Anfangs haben Dich Mammi oder Papa singend hinübergetragen (Fra Martino, Schlaf Kindlein schlaf, Schlafe mein Prinzchen, …). Zuletzt hat es sich eingebürgert, daß Papa Dich ein paar Runden durch die dunkle Wohnung trägt. Ich weiß, Du fühlst diese Momente wie er. Es ist ganz still ringsum. Stetig wandernd kreuzen wir die Silberstreifen an den Fenstern. Geborgen liegt Dein kleiner Körper an der Brust des Vaters. Jeder spürt die Atemzüge des anderen. Ruhig strömt das Unsagbare von Kosmos zu Kosmos, vom Vater zum Sohn, vom Sohn zum Vater. Kaum spürst Du noch meine einschläfernden Schritte. Schließlich sinkst Du bereitwillig und zufrieden der langen Nacht entgegen.


Manchmal wanderst Du noch im Halbschlaf im Bettchen umher, singst und summst dabei abwechselnd friedlich oder auch freudig bewegt. Vielleicht erinnerst Du Dich an einen besonderen Eindruck aus dem erlebten Tag. Schließlich schläfst Du ein in den sonderbarsten Stellungen. Schöner als Musik sind uns Deine Einschlaflieder. Wenn wir entzückt lauschend an Deiner Zimmertür stehen, entschädigen sie uns tausendfach für die Konzerte und Symphonien, die uns sonst Deinetwegen entgehen. Stümper alle Komponisten! Wie Du singst, so sollten sie komponieren können!

Vom ersten Augenblick an habe ich in Dir nach Anzeichen künstlerischer Talente gesucht. Wenn Du auf meinem Schoß am Klavier saßest, waren Deine Einsätze mehr als zeitgenössisch. Spielte ich Mundharmonika, fingst Du zu weinen an. So schlecht war ich auch wieder nicht! Mittlerweile hast Du aber doch Dein Interesse für das Instrument entdeckt. Du schleckst es tüchtig ab, an der falschen Seite, dann wirfst Du es verächtlich weg. Die Blockflöte gefiel Dir vorwiegend als Waffe. Spielten wir mit Deinen Bausteinen, mußte ich schon sehr schnell sein, um zwei oder drei Steine aufzutürmen, bevor Du die Konstruktion vernichtetest. Geduld, ehrgeiziger Vater! Kommt Zeit, kommt Neigung. Mario wächst auf mit guter Musik in den Ohren. Davon sollte doch etwas drinnen bleiben.

Deine ersten Fahrten habe ich schon erwähnt. Jetzt noch ein Wort zu unserer ersten wirklichen Reise. Lange hat der Amtsschimmel gewiehert, bevor wir einen Reisepaß für Dich erhielten. Im Sommer war es endlich soweit und gleich darauf fuhren wir auch los, natürlich in Richtung Süden. Am 13. August hast Du mit uns die Grenze bei Arnoldstein passiert. Wir fuhren nach Lignano, wo wir einige Tage mit Deiner Tante Bianca, Kusine Federica und Onkel Silvano in einem Hotel wie Badegäste verbrachten. Dort haben Deine Füßchen erste Bekanntschaft mit heißem Sand und dem Salz des Adriatico gemacht. Ich erinnere mich noch gut an die Mahlzeiten in der lauten Speisehalle, wo Du in einem Hochstuhl über den Dingen schwebtest und nichts Dir Deinen Appetit nehmen konnte, an die Spaziergänge unter Pinien und am Strand, an die langen Abende, an denen Du bis spät aufbleiben durftest wie ein echter Italiener. Federica war ganz ein Herz und eine Seele mit Dir mitten unter vielen anderen italienischen Kindern.


Am Sonntag fuhren wir durchs Valsugana nach Bozen, wo wir die nächsten Tage verbrachten. Du hast Deine Großmutter Rosa kennengelernt und Silvanos Eltern in ihrem unbequemen, aber so wunderschön unter dem Rosengarten gelegenen Reihenhäuschen, vor dem der prächtige Feigenbaum steht, dessen Ableger bei uns in Götzendorf bei unwirtlichem Klima ein trauriges Dasein fristet. Federica veranstaltete Kinderwagenrennen mit Dir und brachte Dich immer wieder mit ihrem A-hammm! zum Lachen, wenn sie Dich scheinbar auffressen wollte. Am Donnerstag wieder eine Autoreise. Zurück an die Adria, diesmal nach Chioggia. Von hier aus wollten Deine Eltern nach ihrem Häuschen auf Pellestrina sehen. Auch ein Behördenweg in Venedig war in diesem Zusammenhang zu erledigen.


Wir wohnten in Chioggia in einem schönen Hotel, außen klassizistisch, innen Jugendstil, geräumiges, herrlich altmodisches Zimmer, gleich bei der Schiffanlegestelle. Unter dem Balkon die Piazzetta in eine venezianische Brücke mündend, die sich über den Canal Vena schwingt (das ist Chioggias Canale Grande), knapp bevor er in die Lagune übergeht. Tag und Nacht herrschte dort das lebhafteste Treiben, was unser Schlafpensum beträchtlich verringerte. Die Hotelbesitzer hatten einen kleinen Sohn, so alt wie Du, aber von Dir die Hälfte. Seine Eltern konnten nicht glauben, dass ihr gleichaltrig wart. Ob beim abendlichen Corso oder in den Trattorie, überall kamen fremde Menschen Dir spontan entgegen und keiner von ihnen ging weiter, ohne sich in Dich verliebt zu haben.


Verliebt umschwärmte Dich auch die ganze Familie Veronese auf Pellestrina. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich Deine Anwesenheit, andauernd kamen Pellestrinesi, die Dich sehen wollten und nicht ohne Entzücken wieder weggingen. Deine Mammi und ich, wir fühlten uns wie Maria und Josef. Schließlich mußten wir Dich sogar herborgen, damit Dich Verwandte und Freunde der Veronese bewundern konnten. Du wurdest auf der ganzen Insel liebevoll bestaunt. Das alles geschah ohne die Peinlichkeiten, die Neugier oder Sensationslust begleiten, sondern mit jener bezwingenden Herzlichkeit, mit der ich mir immer die Hirten um die Krippe von Bethlehem vorgestellt habe. Immerzu war ich umschwärmt von hübschen Mädchen, was mir gar nicht unangenehm war, wenngleich es nicht meinetwegen geschah.


Bei unserem Behördengang warst Du auch mit. Unbeeindruckt fuhrst Du mit allen Fähren und Vaporetti über das glitzernde Wasser hin, ließest Dich im Wägelchen durch Venedigs menschendurchströmte Calli fahren. Auch für Deinen Vater war es ein ganz neues Venediggefühl, einmal nicht auf der Suche nach Venedigs Schätzen, sondern nach einem Beamten in jenem Amtsgebäude. Dieses befand sich dann aber doch stilecht in einem alten Palazzo, vor dem die Gondeln schaukelten, der Rialto im Hintergrund.


Venedig, Pellestrina, Chioggia hinter uns lassend traten wir am Sonntag die Heimreise an. Schmerzlich wurde uns bewußt, daß wir wieder bei den wilden Bergvölkern in den Alpen waren, als bei einem Rastaufenthalt in der Steiermark einige Betrunkene Deine kleine Mammi anpöbelten. Zur Strafe wechselten wir Deine Windel gleich auf der Gasthausbank und ließen sie samt gehörigem Inhalt unter der Bank zurück. So ist halt der steirische Brauch, juchhe!


Die große Reise war sicherlich anstrengend für Dich kleines Baby, aber auch diese Prüfung hast Du mit Bravour gemeistert. Natürlich mußte Deine Mammi bis an die Grenzen ihrer Fantasie vorstoßen, um Dich zu beruhigen, wenn Dir das ewige Stillsitzen schon zu lange dauerte. Aber Du hast es hingenommen, im Auto oder auf der Gasthausbank gewechselt zu werden, südliche Hitze vertragen, auch im unangenehmen Wechsel mit alpiner Frische, unregelmäßig und manchmal unter gar nicht babygerechten Umständen zu speisen oder schlafen zu müssen. All das hast Du ohne Übelkeit oder gar Krankheit ertragen, was schon ein Beweis für Deine starke körperliche Verfassung war. Die Strapazen waren kleine Fische für Dich, so konnten die vergnüglichen Gesichtspunkte des Reisens überwiegen. Das Reisen, die Reise hat Dir, hat uns allen gefallen.

Seltsam, bei Deiner Geburt lag Deine Zukunft ganz im Ungewissen. Wer wäre auf den Gedanken gekommen, daß Du ausgerechnet nach Götzendorf kommen würdest? Und schon planen Deine Mammi und Papa die nächste Ungewißheit. Wer weiß, ob nicht in Deinem zweiten Lebensjahr ein Triestiner aus Dir wird? Ich glaube, Dir käme es gelegen. Deine dunkle Haut mag südliche Lüfte.


So, jetzt habe ich genug gekämpft mit diesem Bericht. Einiges habe ich nicht hineingeschrieben. Etwas muß noch übrigbleiben, damit ich es Dir später erzählen kann. An den Abenden etwa, wann Dir das Umherwandern zum Einschlafen nicht mehr genügen wird. Gebe Gott, daß wir dann beisammen sein werden und über vieles reden können.


Lieber Mario, nimm hier Dein erstes Lebensjahr in schriftlicher Form entgegen von Deinem Papa, dem ersten Freund in Deinem Leben. Wenngleich der Papa allein geschrieben hat, so steckt doch hinter jedem Wort Deine Mammi mit ihrer ganzen Liebe für Dich, die nicht vieler Worte bedarf. Du wirst Deine Dir beschiedene Welt genauso selbstverständlich erobern wie die Herzen von Mammi und Papa und Federica und der Pellestrini. Laß Dir dabei ein bißchen helfen! Wir haben Dich lieb, kleiner Mario, und niemand kann das noch rückgängig machen. Dein Schutzengel aus Bozen hat bisher aufmerksam über Dich gewacht, möge er Dir weiterhin die Treue halten!


Dein Pappa

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