worin vorkommen: die Donau, Pannonien, Noricum, Spanien, Rom, Ostarrichi, Ungarn, Wiener Neustadt, Mosonmagiaróvár, Hegyeshalom, die Rax, dasLeithagebirge, Götzendorf, Wasenbruck, Trautmannsdorf, Sarasdorf, Bruck an der Leitha, die Kalkalpen, Caorle, die Stopfenreuther Au, Alterlaa, Jedlesee, das Stift Sankt Florian, Skandinavien, Tschernobyl, Kiew, die Ukraine, Zwentendorf, Three Mile Island, Bozen, Döbling, Margarethen am Moos, die Donausueben, die Quaden, die Römer, die Goten, die Vandalen, die Hunnen, die Magyaren, die Schwaben, das Heilige Römische Reich, Bayern, die Babenberger, die Russen, Fred Sinowatz, Ludwig van Beethoven, Anna-Maria Erdödy, Franz Xaver Brauchle, der SC Columbia, der Verein der Beethoven-Gedenkstätte in Floridsdorf, Leopold Wech, die Jeneweingasse, Heinrich Bönisch, Ridolf Kirchschläger, die Familie Krois, Norbert Zimmer, Bruno Kreisky, sowie eine dunkle Detektiv-Story.
Gestɒttӕn bittaschӕn, hӕß ich Sár odӕr ӕn bissel zӕrtlichӕr Sárviz. Bin ich ӕns achtzig lɒng, dɒs hӕßt hundertochtzig Kilomӕtӕr von Schӕtel bis Sohlӕ. Dɒs hӕßt, von Lɒnzenkirchӕn bӕ Wienar Nӕstɒdt bis Mosonmagyaróvár bӕ Hegyeshalom. Dɒs hӕßt, ɒf mir kӕnnӕn Sie forӕn mit Nɒchӕn von Bӕrg Rax bis Duna. Spӕtӕrӕ Lӕt von drüben hɒm mich gnɒnnt Lajta, so wie ɒlle Lӕt in Cislajtanien, Lӕitha.
Wɒs, Sie beschwӕrӕn sich ibɒ schrӕcklichӕs Schrift? Nɒ gut, gӕb ich zu, ist villӕcht gewӕhnungsbedirftig. Wӕrd ich mich bemiehen, német Schrӕbung mɒchӕn. Mӕnӕn Tonfɒll wӕrdӕn Sie dɒnn jɒ trotzdӕm hɒbӕn in Ohr.
Wie ich komme zu meinem ungarischen Akzent? Joi, zuerst ich war lang gar nicht wichtig. So ein kleiner Fluss wie viele andere in Gegend. Kein Vergleich mit mächtigem Donaustrom. Ist aber bittaschön nur so mächtig, weil ich und viele andere ihm helfen dabei. Und selbst der mächtige Strom war kein unüberwindliches Hindernis für die Donausueben oder Quaden, die haben besiedelt ganze Gegend nördlich und südlich von Donau. Dann aber sind gekommen Römer. Starkes Militär! Haben gesagt, „Terra nostra und basta”. Donau ist geworden nördliche Grenze von römisches Reich. Und damit bin ich geworden befördert von irgendein Fluss zu Grenzfluss, sozusagen vom einfachen Soldat zu Wachtmeister. Nicht so wichtig wie General Donau, nein, aber interne Grenze zwischen Pannonien und Noricum. Römer waren gescheit, hätten großes Gebiet nie können halten allein mit römischen Leuten. Haben sich arrangiert mit Anführer von Sueben. Leider die haben viel gestritten untereinander und hat gegeben immer wieder Aufstand, obwohl es Sueben ist gegangen gut und immer besser. Haben Römer ihnen Landwirtschaft beigebracht. Nach einer Weile hat angefangen großes Tohuwabohu. Sind gekommen Goten, Vandalen und Hunnen. Haben vor sich hergetrieben Magyaren. Magyaren haben verjagt Sueben nach Westen (Schwaben!), sogar bis nach Spanien. Einige Magyaren sind weitergezogen zum Teil nach Nordeuropa, zum größeren Teil geblieben in Pannonien. Goten, Vandalen, Hunnen nach Rom. War Terra Nostra per terra. War ich degradiert, wieder irgendein Fluss. Wieder nach einer Weile hat sich langsam formiert das Heilige Römische Reich. Haben die Bayern die Magyaren nach und nach gedrängt zurück in die östlichen Teile von Pannonien. Ist sich entstanden Ostarrichi. Haben die Babenberger mich wieder befördert, diesmal gleich zum Oberleutnant. War ich jetzt wichtiger Grenzfluss zu Ungarn auf fast meiner ganzen Länge. Wenn ich mir so überlege, von Wiener Neustadt wär es nur ein kurzer Weg direkt hinüber zum Meer der Wiener, da könnte ich mir sparen viel Mühe. Wenn da nicht wäre diese mittelgebirgsartige Erhebung den ganzen langen See entlang, nennt sich Leithagebirge. So bleibt mir nix anderes übrig, als um das ganze Gebirge herum schleichen nach Norden. Und auf dem ganzen Weg hab ich müssen immer trennen Ungarn von Österreich. War ich lange akzeptiert in meinem Rang von beiden Seiten. Außer einmal in der Renaissance, da haben die Österreicher ein Stück der Grenze auf den Kamm vom Gebirge hinauf verlegt, weil da Dörfer von österreichischen Adeligen sind gelegen. Waren die Ungarn die ganze Zeit sauer deswegen. Hat sich aber erledigt nach dem Ende der Monarchie. Hat die Bevölkerung von Westungarn sich in einer Abstimmung entschieden, hinfort zu Österreich gehören. Joi, Mamma, schon wieder degradiert! Diesmal zum Gefreiten. Jetzt bin ich nur noch so ein Grenzflusserl, oder Grenzerlfluss, zwischen Niederösterreich und Burgenland. Ich denke oft an meine große ungarische Zeit, von da kommt meine Nostalgie zum Ungarischen. Aber, wo fließt Wasser, nix ist endgültig. Schaun wir einmal.
Dort, wo auf meinem Weg von der Rax Richtung Norden die hinterfotzigen Leithaberge endlich freigeben ein mäßiges Gefälle Richtung Osten, liegt Götzendorf. Schon seit Wasenbruck ein Auwald begleitet meine Ufer, erstreckt sich über Götzendorf und Trautmannsdorf bis nach Sarasdorf. Reichen Erlen und Eschen von mittlerem Wuchs bis dicht ans Wasser. Besser, an die Wasser, denn bin ich in diesem Bereich und darüber hinaus bis nach Bruck an der Leitha zweiläufig wie eine Darne. Sie wissen nicht, was ist Darne? Ist sich Flinte mit zwei Läufen. Zwei Läufe, so wie ich. Heißt mein westlich/nördliches Bein ‘Deutsche Leitha’, mein östlich/südliches ‘Ungarische Leitha’. Ist nicht viel anzufangen mit der Au, schon gar nicht mit dem Streifen zwischen den Läufen. Ist das Holz minderwertig und die Bringung viel zu aufwändig. Nur hie und da ein halb verfallener Steg gewährt Zutritt zu Mesopotamien. Ist die Au wildreich. In der Jagdsaison sind unterwegs die Waidmänner mit den anderen Doppelläufen. Zahlreiche Pfade durchziehen die Au, die meisten parallel zu mir. Es ist immer dunkel, modrig und ein wenig unheimlich im schwarzen Dickicht. Das spüren besonders die Kinder der Spaziergänger. Da können gelegentliche Ausblicke auf sonnige Einsprengsel und grüne Wiesen schon sehr beruhigen. Bei schönem Wetter an arbeitsfreien Tagen einige Menschengruppen ziehen durch die Au mit Kindern und Hunden. Ansonsten die Au gehört den Einsamen, den Sorgen und Kummer Tragenden und, selten genug, einem Liebespaar.
Konnte ich nie in die Zukunft schauen. Hätte mir als stiller, unbedeutender Fluss nie gedacht, einmal zu werden bedeutend, dann wieder still und unbedeutend, dann wieder groß und respektiert und wieder lieb, aber unwichtig. So kann ich auch nicht abschätzen, welche Zukunft ist mir beschieden in dieser menschenverseuchten Welt. Kann nur sagen, es ist mir einerlei. Mögen sie wie seit eh und je einander einhauen die Schädel, stechen, brennen, in die Luft jagen, schließlich erschöpft innehalten, nach kurzer Pause geht doch alles wieder los von vorne, mit noch effizienteren Methoden. Ist mir gleich. Folge ich meinem Weg. Unbeirrt. Mündet mein Wasser in die Donau, hat das nächste schon den Lauf aufgenommen in den Kalkalpen. Werde ich netzen die Felder, werde grünen die Auen. Muss nur fließen, fließen, fließen.
***
An diesem Sonntag hatten wir meine Eltern zu Besuch. Zufrieden saßen wir nach einem guten Mittagessen um den großen Speisetisch. Der Vater war etwas abgespannt. Er nahm sich ein Beispiel an dem Hund, der sich faul unter dem Tisch ausgestreckt hatte. Keine Angst, der Vater kroch nicht unter das Speisemöbel. Er zog sich, wie es sich für einen Mann seines hohen Alters gehört, ins Nebenzimmer zurück, um auf dem Sofa sein Schläfchen zu halten. Meine beiden liebsten Damen, meine Frau und meine Mutter, wollten mich indessen auf einem Spaziergang begleiten.
Als der Hund merkte, dass alle sich vom Tisch erhoben, sprang auch er munter in die Höhe. Stumm und interessiert fragte er mit großen Augen, was nun werden sollte. Die Mutter teilte ihm mit, dass er mit uns hinauslaufen dürfte, was er ohne weiteres verstand. In freudiger Zustimmung zitterte sein kupierter Schwanzstummel.
Der Hund hieß Rigo. Er war ein stämmiger Boxerrüde. Meine Eltern hatten ihn aufgenommen, als er zwei Jahre alt war. Zwar wirkte er gefährlich mit seinem kräftigen, braun-weiß gezeichneten Körper und dem furchterregenden Gebiss unter den lang herabhängenden Lefzen, doch war er gutmütig zu allen Menschen und harmlos wie ein Lamm. Nur gegen seine Artgenossen verhielt er sich manchmal unfreundlich. Mancher Dienende trägt unter seinesgleichen die Nase so hoch wie sein Herr und so identifizierte Rigo sich wohl eher mit uns Menschen als mit seinen Mithunden. Deshalb hielten meine Eltern, die in der Stadt lebten, Rigo bei jedem Ausgang an der Leine. Obwohl er abgerichtet war, verhielt er sich an der Leine nicht mustergültig, sondern nützte den geringen Bewegungsspielraum den sie ihm erlaubte, so weit als möglich aus. Befehle führte er dann nur andeutungsweise aus und vergaß sie gleich wieder. Nur manchmal, wenn ich meine Eltern in der Stadt besuchte, durfte Rigo unter meinem Kommando ohne Leine laufen. Als wäre er sich der Verantwortung bewusst, die ihm seine ungewohnte Freiheit auferlegte, war er mir der gehorsamste Begleiter. Ohne Erlaubnis wich er keinen Schritt zur Seite. Näherten sich fremde Hunde, würdigte er sie keines Blickes. Es muss schon auf dem ersten dieser Ausgänge gewesen sein, dass wir unzerbrechliche Freundschaft schlossen. Ich war der ältere Freund des Tiers, nicht sein Herr.
Heute zog eine Unzahl kleiner Wattewölkchen einträchtig in Geschwindigkeit und Richtung über den Frühjahrshimmel. Der Tag war windig, aber in dem Wind lag jener Duft, der uns alljährlich von Neuem begeistert, der überwältigende Duft des neu aufblühenden Jahres. Während der Vater in unserem Haus schlief, spazierte ich mit meiner Frau und der Mutter durch das Dorf, den Feldern entgegen. Rigo musste auf meinen Befehl bei Fuß marschieren, solange sich noch Häuser in der Nähe befanden. Unsere Freundschaft hatte mittlerweile gut sieben Jahre ungetrübt überstanden. Außerhalb der Siedlung erlaubte ich Rigo, nach seinem Belieben umherzutollen und der Hund stürmte in wilder Lust hundert, zweihundert Meter davon, kehrte im schärfsten Galopp zurück, witterte wollüstig all die fremden, erregenden Düfte, erschrak vor dem tiefhängenden Zweig eines Strauches, den der Wind plötzlich bewegte, stob wieder davon und absolvierte so ein Vielfaches unserer Wegstrecke.
Wir näherten uns dem Fluss. Nichts Reizvolleres gab es für Rigo als diesen schattigen Weg am Wasser entlang. Obwohl er die Strecke schon gut kannte, hielt er doch jedes Mal von Neuem fasziniert im Laufen inne und spitzte die Ohren. Geheimnisvolles Plätschern und Glucksen, das zusammen mit dem kühlen, noch winterlichen Hauch aus dem Dunkel des Auwalds heraufstieg, in dem der Wasserlauf sich verbarg.
Rigos Spaziergänge am Wasser endeten selten ohne Bad. Die Mutter pflegte zwar zu schimpfen, wenn der Hund mit einer dicken grauen Schlammpackung vom Ausgang zurückkehrte, aber wer konnte Rigo ernstlich böse sein, wenn er mit natürlicher Lust seinen Instinkten nachgab, oder mir, wenn ich es zuließ.
Diesmal achteten wir nicht so sehr auf den Hund, denn die Frauen hatten einiges zu beschwatzen, und ich hörte gedankenversunken darüber hinweg. Erst ein plumpes Aufplatschen ließ meine Mutter aufhorchen und gab mir die vergnügte Gewissheit: Jetzt ist Rigo in den Fluss gesprungen. Das Geräusch war allerdings nicht aus nächster Nähe gekommen. Während die Mutter befürchtete, dass Rigo schon wieder ein reinigendes Bad in der Wanne benötigen würde, näherten wir uns der Stelle, an der im nächsten Moment ein nasser Hund aus dem Gebüsch springen würde, um sich ordentlich Wasser aus dem Fell zu schütteln. Doch es erschien kein Hund und nichts schüttelte sich. Stattdessen platschte es, noch in ungewöhnlich schnellem, bald aber langsamer werdendem Rhythmus vom Fluss her. Wir drangen in das Augehölz ein, um nachzusehen, voran meine Mutter in urweiblicher Sorge um ihr Ersatzkind, ich eher in der gelassenen und gleichzeitig gespannten Erwartung des Waidmanns vor dem Anblick. Es dauerte eine Weile, bis wir uns durch das dichte Unterholz gekämpft hatten, in dessen Wurzeln wir uns verfingen. Das Platschen ist inzwischen recht müde geworden. Dafür vernehme ich ein scheußliches Gurgeln, das jetzt auch mich in ernste Sorge versetzt. Ich erblicke den Hund im Fluss. Noch einmal schlägt sein Vorderlauf verzweifelt auf das fließende Wasser und schon taucht er mit dem wuchtigen Schädel in der Flut unter.
Ich weiß nicht mehr genau, wie es mir gelingt, so rasch das steil abfallende Ufer hinunterzuklettern, Rigos schon nicht mehr sichtbaren Körper an irgendeinem Teil zu erwischen und sein Gewicht über die für den Hund unüberwindliche Böschung zu hieven. Rigo prustet und keucht, hustet immer wieder das verschluckte Wasser aus der Lunge. Beide sind wir voller nassem Schlamm.
Als wir uns vom Schrecken erholt hatten, war das Beinaheunglück leicht zu rekonstruieren. Das Ufer war an der Stelle so steil, dass Rigo aus eigener Kraft nicht aus dem Wasser konnte. Und in der sich steigernden Panik, in der Todesangst reichte seine Intelligenz nicht aus, um sich an eine gangbarere Stelle treiben zu lassen.
So hatte ich Rigo sein Hundeleben gerettet. Oder vielleicht meine Mutter in ihrer bisweilen für übertrieben gehaltenen Sorge hatte es ihm gerettet, denn wer weiß, ob ich aus Eigenem so bald nachgesehen hätte. Nur einige Sekunden später wäre es zu spät gewesen.
Die Auswirkungen dieses Ereignisses auf mein Verhältnis zu Rigo waren überraschend. Die bislang unbeschwerte, unkomplizierte, natürliche Beziehung zwischen Freund und Freund hatte durch den Vorfall unerwartet einen Sprung bekommen. Etwas stand zwischen uns seither. Manches Ereignis bleibt unauslöschlich stehen im Gedächtnis der Beteiligten. Ein erstmaliger Augenblick tiefer Liebe, ein tiefgehender Streit, eine tiefe Beschämung, ein beglückender Erfolg, eine Rettung. Als Retter habe ich mich nie gefühlt, eher mitschuldig an einem schlimmen Vorfall. Wie gerne hätte ich das Rigo erklärt! Unsere Zuneigung blieb bestehen, doch verstörte unsere Blicke, wenn sie sich trafen, fortan eine seltsame Ungleichheit. Die Ungleichheit zwischen Gerettetem und vermeintlichem Retter.
Die Stadt hat nichts von der Fröhlichkeit des weißen Winters. In tristen Straßen liegen zusammengeschobene Schmutzhaufen, nasser Matsch, grau wie die nassen Pflastersteine. Dunkel sind die Tage. Die zeitige, lange Nacht nimmt allen Trost. Durch eine solche Straße wandere ich mit der Mutter. An der Leine geht der Hund. Schleppend ist sein Gang. Das greise Tier folgt uns ohne zu fragen, wohin. Die Zeit, die seit dem einschneidenden Ereignis vergangen ist, hat mich ein paar Jahre älter gemacht, Rigo aber zum Greis. Noch durchschüttelt seinen alten Körper die Freude, wenn wir einander nach Längerem wiedersehen. Aber das wilde Hin und Her ist zu einem ungelenken Zittern geworden. Die Behaarung des schweren Schädels ist noch schütterer geworden und grauer, weißer die Borsten an den schwarzen Lefzen. Die Krankheiten des Alters sind gekommen. Nierenunterfunktion, Gelenksarthrose mit allen leidigen Folgen. Ständig plagender Durst, Lähmungserscheinungen, Unsauberkeit. Rigo will bellen, aber die Stimme aus dem fast zahnlosen Maul überschlägt sich. Gut gemeinte Zurufe erscheinen Rigo wie Befehle. Und er gehorcht. Aber auch sein Gehorchen hat sich verändert. Es ist jetzt das stille sich Fügen eines Greises. In den großen, klaren, immer noch braunen Augen steht die Demut eines Gnadenbrotempfängers.
Mit diesem Ausdruck in den Augen hinkt der Hund keuchend durch die seichten Pfützen aus schmutzigem Schmelzwasser. Das Streusalz beißt an den Pfoten. Langsam geht es vorwärts. Rigo merkt unser Rücksicht nehmen und muss es sich doch gefallen lassen. Ich muss an das Trommelwirbeln seiner Pfoten denken im stürmischen Galopp auf dem Feldweg am Fluss. Wie seine Zunge lustvoll das Nass ins Maul schleuderte. Jetzt treibt ihn der Durst, den schmutzigen Schnee von den nassen Matschbergen zu fressen. Wir lassen ihn gewähren. Schleckend blickt er auf, weil das erwartete Pfui, lass das, nicht kommt.
Endlich sind wir in der Tierklinik angekommen. Rigo liegt vom Gehen erschöpft auf dem Boden. Während wir warten, betreibt die Mutter Konversation mit den übrigen Anwesenden. Ihre Stimme klingt gepresst. Ich bin still. Meine Gedanken schweifen ab. Man sagt ja, ein treuer Hund überlebe seinen Herrn nicht lange. Ist etwas Wahres daran? Rigos ständiger Herr, mein alter Vater, ist vor wenigen Monaten gestorben. Auch er hatte ein Nierenleiden. Er musste die gleichen Medikamente einnehmen wie jetzt Rigo.
Wir sind an der Reihe. Im Behandlungsraum hebt der Tierarzt mit der Assistentin unseren schweren Burschen auf den Behandlungstisch. Rigo leistet keine Gegenwehr. Der Tierarzt ist gewissenhaft. Er untersucht Rigo noch einmal genau. Er wendet sich uns zu und schüttelt still den Kopf. Rigo liegt wie ein Lamm auf der Opfertasse. Seine bullige Nase zuckt witternd. Rigo wittert mich. In seinen großen runden Augen steht deutlich der Ausdruck jener Abhängigkeit vom Retter. Rigo hat uns zeit seines Lebens Kameradschaft gegeben, Freundschaft gegeben, Freude gegeben. Und was haben wir ihm gegeben? Etwas zu fressen, etwas zu gehorchen, Unterkunft, manchmal Güte, manchmal Ungeduld und Strafe, ein Kettenband um den Hals. Jetzt geben wir ihm noch den Tod.
Der Veterinär hat eine Kanüle in eine Vene an einem Hinterlauf eigeführt. Ein paar Tropfen schwarzen Blutes fallen auf die Stahlpritsche. An die Kanüle wird eine Spritze mit ein wenig klarer Flüssigkeit angeschlossen. Die Assistentin hält Rigo fest, obwohl es nicht nötig wäre, während der Finger des Arztes schon auf den Kolben drückt. Meine Mutter hat den Raum verlassen. Ich stehe dort, wo Rigos Schädel auf der Metalltasse liegt, streichle seine Lefzen. Rigo muss meine Witterung haben. Vertraut er mir oder ahnt er den Verrat? Mein Gott, warum wehrst du dich nicht, will es in mir aufbegehren. Du musst um dich schlagen mit deinen kräftigen Pranken, musst beißen was immer zu erwischen ist, die Assistentin und die Hand des Tierarztes, musst auch mich beißen und wegstoßen, musst rennen so schnell es geht, ich werde dir nichts befehlen. Der Kolben hat ein Drittel seines Weges zurückgelegt. Langsam setzt die Hand ihren Druck fort. Rigo streckt seine Zunge weit aus dem Maul. Spürt er einen bitteren Geschmack? Ich fühle Rigos Atem stoßweise aus der Nase blasen. Der Kolben hat die Hälfte des Weges knapp überschritten, da geht kaum merkbar ein leises Zittern durch Rigos Leib. Gleichzeitig hört das Atmen auf.
Die Assistentin legt ihre Hand prüfend an die Stelle, wo eben noch ein Hundeherz geschlagen hat. Jetzt ist alles still. Man versucht, Rigos Zunge in sein Maul zu stopfen, an dem etwas Schaum klebt. Der Tierarzt wäscht seine Hände. Auf dem Tisch liegt eine Hundeleiche. Schlaff hängen alle Muskeln, gehorchend nur noch der Schwerkraft.
Die Mutter zahlt an der Kasse für die Behandlung und für die Entsorgung. Auf der Quittung steht gedruckt: Wir haben heute Ihren (handschriftlich: Boxerrüden Rigo, 11) Jahre alt, durch die Überdosis eines Betäubungsmittels eingeschläfert. Die Behandlung war völlig schmerzlos.
***
Die in Gruppen kommen sind nicht interessant für mich, es sei denn, es handle sich um Truppen. Militär habe ich aber schon lange nicht mehr gesehen, abgesehen von ein paar Panzerfahrten auf den Übungsgeländen der Kasernen in Götzendorf und Kaisersteinbruch. Davor sind die Russen vorbeigekommen, aber nicht durch meine Au, sondern schön den Straßen entlang. Auch die Jäger können mich nicht aus der Ruhe bringen. Schon gar nicht heute mit ihren unfairen Feuerwaffen. Ebenso wenig die Spaziergänger mit ihren Hunden und Kinderwagen. Da tut sich selten was. Einmal wäre fast ein Hund ertrunken, aber das sind seltene Ausnahmen. Viel interessanter finde ich die Einzelgänger. Die haben oft seltsame Motive. Zum Beispiel der, der den Hund herausgezogen hat. Der ist oft hier herumgeschlichen allein oder zu zweit.
Allein ist er mehrmals in der Abenddämmerung bis nach Sarasdorf gegangen. Er ging nicht schlendernd, sondern mit raschem Schritt, als hätte er ein bestimmtes Ziel. Dort, wo die Au schon an erste Wohnhäuser grenzt, schien er plötzlich alle Zeit der Welt zu haben. Verborgen hinter Büschen wartete er auf etwas, oder auf jemanden? Nach einer längeren Weile ging er, nunmehr bedächtig, durch die eingebrochene Dunkelheit zurück nach Götzendorf. Eines Abends, als er wieder im Gebüsch lauerte, öffnete sich die Hintertür des letzten an meine Au grenzenden Gartens. Heraus kam eine Frau mittleren Alters, gehüllt in einen Trachtenponcho. Sie schritt gemächlich den Weg entlang, der das Ufer meines deutschen Arms säumt. Der Mann wartete, bis die Frau fast außer Sichtweite war. Dann folgte er ihr in einiger Entfernung, gerade weit genug um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Er war dabei bedacht, jederzeit hinter einem Baum, hinter einem Busch zu verschwinden, sollte die Frau sich umwenden. Wenn sie ihn bemerkte, würde er das Nachstellen aufgeben und es ein anderes Mal von Neuem versuchen, war seine Absicht. Die Frau querte eine Feldbrücke, trat in meinen Wald ein und folgte dem Pfad Richtung Trautmannsdorf. Hätte er der Frau in der Stadt in belebten Straßen folgen sollen, es wäre ihm im Schutz des Trubels viel leichter gefallen als hier in der Au, wo jede Bewegung, jedes Geräusch auffallen musste. Die Frau schien nicht zu bemerken, dass jemand ihr folgt. Sie wandte sich nicht um, schritt ohne Eile, aber zielstrebig voran. Nach kurzer Strecke verschwand sie vom Pfad. Vorsichtig näherte sich ihr Verfolger. Dort, wo die Frau nach rechts vom Weg abgebogen war, befand sich ein halb verfaulter Steg. Sie musste diesen glitschigen, morschen Steg genommen haben, um wieder auf meine nördliche Seite zu gelangen. Der Mann lauschte hinüber in die schon eingefallene Dunkelheit über dem warmen Spätsommerabend, bewölkt und mondlos. Er hörte nichts und konnte auch nichts Besonderes erkennen. Also übersetzte auch er mein deutsches Wasser. Nach dem Passieren einer dünnen Baumreihe am jenseitigen Ufer öffnete sich eine weite freie Fläche. Nur mehr schemenhaft nahm er in einiger Entfernung die Umrisse eines Gebäudes wahr. Es musste ein riesiges Gebäude sein, das sich dort hinten erhob. Im Näherkommen hielt der Mann es in der Dunkelheit für eine verfallene Kaserne. Einen Augenblick lang dachte er, er befände sich auf dem Gelände der Götzendorfer Panzerkaserne. Aber das konnte nicht sein. So lange waren sie nicht gegangen. Außerdem gab es um die Götzendorfer Kaserne überall Laternen und Fahrzeuge und drinnen Leben. Soldaten und Flüchtlinge. Hier war es völlig still und finster, aus keinem Fenster, keiner Spalte drang irgendein Licht. Obwohl er schon längere Zeit in der Gegend wohnte, an diese Stelle war er nie zuvor gelangt. Von der Frau war nichts mehr zu sehen. Dem Mann wurde es einigermaßen unheimlich. Er vermied es, geradewegs über die freie Fläche auf das Gebäude zuzugehen, sondern schlich am Waldrand entlang, der ihn in einem Bogen einer der Flanken des Gebäudes näherbrachte. Da hörte er plötzlich eine Männerstimme. Die Stimme war ein Bariton, klang leise, warm und einschmeichelnd. Von derselben Stelle wehte verhaltenes Lachen herüber. Es muss die Frau gewesen sein. Die Beiden befanden sich wohl direkt an der Ecke des riesigen Kastens, keine dreißig Meter von ihm entfernt. Eine Flamme blitzte auf, beleuchtete einen Teil des aus dem Poncho ragenden Gesichts der Frau, dann die Wange des Mannes. Er zündete für sie beide Zigaretten an. Der Beobachter am Waldrand bewegte sich nicht weiter. Er spitzte die Ohren. Vielleicht konnte er ja etwas vom Gespräch des Paares verstehen. Für die Dauer der Zigaretten vernahm er nichts als das gelegentliche Ausblasen des Rauchs, die Beiden taten es mit Genuss. Die Augen des Beobachters hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt und er konnte die Silhouetten des Paares jetzt ausmachen. Sie lehnten eng aneinander an der aufragenden Mauer und rauchten. Wenn ihm dies möglich war, würden die beiden umgekehrt auch ihn wahrnehmen können, befürchtete der Beobachter und suchte vorsichtig und langsam Deckung hinter dem nächsten Busch. Ein Zweig knackste unter seinem Schuh. Erschrocken hielt er den Atem an und jegliche Bewegung. Die Beiden an der Mauer reagierten nicht. Im Wald knackste immer wieder irgendetwas. Bald fielen die Zigaretten zu Boden, die Glut verlosch. Die Gestalten wendeten sich einander zu. Sie taten, was der Mann am Waldrand erwartet hatte, sie umarmten einander und tauschten viele lange Küsse. Die Frau flüsterte etwas, der Mann auch, aber am Waldrand konnte man nichts davon verstehen. Umschlungen bewegten sie sich um die Ecke des Gebäudes und waren somit dem Blick des Beobachters entzogen. Er hörte das Geräusch wie von einem ungeschmierten Torband und das dumpfe Anschlagen eines Tors an seinen Stock. Er wagte es jetzt, sich den Waldrand entlang weiterzubewegen und gewann bald Sicht auf die Gebäudeseite um die Ecke herum. Das Bauwerk lag da in der Finsternis als wäre es völlig verlassen. Aber eine Frau und ein Mann waren offenbar gerade hinter dem verwitterten Brettertor verschwunden, das zu einem Lagerraum oder dergleichen gehören mochte. Neben dem Tor befand sich ein Fenster mit zerschmetterten Flügeln. Der Späher wagte sich nicht in dessen Nähe. Wenn man ihn entdeckte? Immerhin hörte er von drinnen leises Reden neben anderen Geräuschen, die nicht klar zuzuordnen waren. Jetzt polterte drinnen etwas zu Boden. Der Mann fluchte. Die Frau lachte. Dann hörte es sich an als würde das, was gepoltert hatte, zurechtgerückt. Die Frau schien dazu Ratschläge zu geben. Dann war es wieder ganz still für eine Weile. Nach und nach schwindelte sich ein anderes Geräusch in die nächtliche Stille. Ganz leise zuerst, kaum wahrnehmbar. Ein etwas akzentuiertes Atmen in langsamer Folge, das sich nach und nach intensivierte, nicht im Tempo, doch in der Lautstärke, die anwuchs zu einem regelmäßigen schweren Atmen. Aus. Ein. Aus. Ein. Es kam von der Frau und ließ ihr kaum Luft für ihre wiederholten verhaltenen Rufe, „Martin, du Lieber! Nein! Martin! Martin!“. Das Atmen steigerte sich zum Keuchen. Das Keuchen mündete in ein lautes, rhythmisches Stöhnen. Es hörte sich ebenso genussvoll wie bitter an. Das Stöhnen gewann an Tonhöhe, kletterte bis an die oberste Grenze des weiblichen Stimmumfangs. Es war die Frau, die sich keinen Deut mehr darum scherte, was ringsum geschah, nur noch ihre alleräußerste Lust lebte.
Es war nicht nötig, dass der Späher näher rückte. Die Gewissheit, die er gesucht hatte, er hatte sie gefunden. Er suchte den Weg zurück an mein Ufer, stolpernd wegen der Unwegsamkeit im Dunkeln, stolpernd, weil er etwas von der Erregung aus dem Erlebten auf den Weg mitnahm, stolpernd, weil sein Blut zu einem guten Teil sich dort befand, wo es jetzt nicht hingehörte.
***
Liebe Gretl, Schwesterherz!
Hoffentlich erschrickst Du nicht, wenn Du einen Brief von mir in der Post siehst. Ist ja wahr, ich schreibe sonst so selten. Jetzt bist Du aber schon viel länger weg als üblich und es gibt ein paar Sachen, die ich loswerden muss. Und wenn es um bestimmte Themen geht, habe ich nur Dich als Klagemauer. Der Papa, dieser alles wissende Herr Pfarrgemeinderat, würde mich mit nassen Fetzen aus dem Haus jagen und unser arroganter Herr Bruder würde mich nur auslachen. Sicher, mit Mutti kann ich über Vieles reden. Wenn Du aber zu Ende liest, wirst Du verstehen, dass ich dies hier nicht einmal Mutti anvertrauen kann.
Bevor ich loslege, lass mich ganz fest an Dich denken. Wie geht’s Dir in Ephesos? Hast Du was Tolles ausgebuddelt? Habt Ihr die Bibliothek bald zusammengeklaubt? Ich lese hier, dass die Türken Euch demnächst wieder nach Hause schicken werden? Und dass andererseits Euer Budget sowieso auf den Hund gekommen ist?
Mit Arbeit schaut’s bei mir immer noch schlecht aus und es sind doch jetzt schon zwei Jahre seit der Matura. Wo ich mich nicht überall beworben, vorgestellt habe. Ich sehe ihnen an, wie sie mich zuerst für attraktiv halten. Aber sobald ich meinen Mund aufmache, ist Schluss mit freundlich. Du weißt ja, mein Stottern. In der Aufregung eines Bewerbungsgesprächs ist es noch ärger. Würde ich jetzt mit Dir reden, mein Stottern wär nicht so schlimm, trotzdem würde es Dich nerven. So hat es sein Gutes, dass ich schreiben muss. Sie haben mich zu einem Psychotherapeuten in Wien geschickt. Er hat mich gefragt, ob ich von Papa träume. Das hat mich an den fürchterlichen Traum erinnert, Du weißt schon, den ich mit zwölf geträumt hab und der mir so wahr vorgekommen ist. Natürlich hab ich dem Arzt nichts davon gesagt, nur, dass ich nie von Papa träume, aber dabei hab ich gestottert wie selten. Lehrerin habe ich mir ja schon längst abgeschminkt, aber dass sie mich nicht einmal im Kindergarten wollen? Mein Traum, der Papa würde mich studieren lassen, wenn ich keine Arbeit finde, hat sich zerschlagen. Er sagt, ich bin zu blöd dafür, so wie überhaupt für alles. Archäologie, das hätte mich schon interessiert. Buddeln und pinseln, da macht es nichts, wenn man stottert. Hast Du keine Verwendung für mich? Ich könnte Euch zu Mittag Palatschinken machen.
Stell Dir vor, uns gegenüber ist eine neue Familie eingezogen ins leere Heindl-Haus. Sie haben etwas Leben in unsere verschlafene Straße gewirbelt. Sie sind beide um die dreißig. Er arbeitet bei einer Versicherung in Wien. Die Frau ist Italienerin. Sie ist gewöhnlich zuhause, aber häufig auch unterwegs als Übersetzerin. An den Wochenenden kommen oft seine Eltern zu Besuch mit Hund und Großmutter. Ganz freundliche Leute, besonders die Mutter. Schade, dass unsere Häuser so abschotten. Wenn man einmal drinnen ist, hört und sieht man nichts mehr vom Nachbarn. Stell Dir vor, sie haben zwei polnische Flüchtlinge aus der Kaserne aufgenommen. Ein Ehepaar! Die haben mit weiteren Polen das ganze Haus umgebaut. Der Papa hat schon geschimpft, weil zwei Flüchtlinge so nah an uns wohnen. Dass da aber noch mehr kamen und pfuschten, das machte ihn fuchsteufelswild. Am liebsten hätte er sie angezeigt. Aber die Mutti hat gesagt, untersteh dich, und er hat es nicht gemacht. Kennst ja die Mutti. Allen helfen, die es nötig haben könnten, schon auf den leisesten Verdacht hin. So hatte sie sich schon ein wenig angefreundet gehabt mit der Italienerin. Den Mann hab ich unlängst getroffen beim Spazierengehen in der Au. Er war im Krankenstand, weil er sich beim Fußball das Kahnbein gebrochen hat. Wir haben den Spaziergang dann gemeinsam fortgesetzt. Man könnte meinen, dass wir dabei viel geplaudert haben. Zuerst nicht. Ich habe den Mund gehalten, weil ich mich fürs Stottern geschämt hab. Er hat natürlich schon gewusst, dass ich stottere. Ich bin sicher, er hat vermeiden wollen mich zum Reden zu bringen, damit ich mich nicht schämen muss. So sind wir eine Weile still nebeneinander hergegangen. Ich hab gedacht, genauso gut könnten wir jeder für sich gehen. Dann haben in der Ferne die Kirchenglocken zu läuten begonnen. Ich hab gesagt, die Abendmesse beginnt. Er hat gesagt, er ist ausgetreten. Mein Papa ist Pfarrgemeinderat, hab ich gesagt. „Ich mag Jesus trotzdem“, hat er gesagt. Jetzt hab ich nicht gewusst, hat er das gesagt wegen seinem Austritt oder wegen dem Pfarrgemeinderat. Daraus hat sich eine angeregte Diskussion ergeben über Glauben und Kirche, Moral und Ethik. Ich hab doch den Papa verteidigen müssen. Das hat ihn amüsiert, aber er war dabei gar nicht zynisch, wie es der Papa gewesen wäre. Über ihn hat er respektvoll gesprochen und meine Argumente hat er gelten lassen, hat mich dabei so von der Seite väterlich lieb angeschaut, vielleicht nicht zuletzt, weil ich mir mit meinen Argumenten selber die Rutsche gelegt hab. Am Ende war ich fast so weit, selber auch auszutreten. Was mich aber am meisten gewundert hat, ich hab während der ganzen Unterhaltung fast gar nicht gestottert. Es hat erst wieder angefangen, wie ich daran gedacht hab, was der Papa sagen würde, wenn ich jetzt austräte. Ganz stark war es wieder da. Man soll nicht solchen Blödsinn reden! Stottern wollte ich nicht und so gingen wir schweigend weiter. Ein umgefallener Baum versperrte den Weg. Trotz Gipsarm sprang Rainer, so heißt er, behände darüber hinweg und reichte mir helfend die Hand. Bis knapp vors Dorf hat er sie nicht mehr losgelassen und ich habe sie ihm nicht entzogen. Momentan bin ich über mich selber erschrocken. Rainer ist doch ein verheirateter Mann. Und seine Frau Muttis Freundin. Andererseits, Hand in Hand spazieren gehen und dabei über die Kirche diskutieren, so schlimm kann das doch nicht sein? Meine Freundin Hedi würde sich totlachen. Und Agi erst!
Seither bin ich öfters mit Rainer Hand in Hand durch die Au gegangen. Ich war überzeugt, nein, er hatte bestimmt keine ungebührlichen Absichten. Andererseits, wenn ihn die Berührung unserer Handflächen genauso erregte wie mich… Um uns davon abzulenken, redeten wir was das Zeug hält über Gott und die Welt. Ich hab kaum gestottert. Das alles war wunderschön, aber es hat uns nicht abgelenkt.
Selbstverständlich hat die Mutti bemerkt, dass etwas mit mir nicht stimmt. Die Häufigkeit meiner Spaziergänge, mein sofortiges Zurückziehen nach dem Heimkommen… Ich glaube nicht, dass sie Rainer im Verdacht hat. Gut, dass unsere Häuser uns so abschotten. Wenn er hinten durch die Gartentür verschwindet, merkt das kein Mensch in unserer Straße. Mutti ahnt nicht einmal, dass Rainer nicht daheim ist, wenn er mich durch die Au begleitet.
Dann kam gestern. Gestern in der Au hat er versucht mich zu küssen. Ich hatte das erwartet und befürchtet. Es hat nicht viel gefehlt und es wäre geschehen, was nicht geschehen darf. Der Papa hat es verhindert. Denn genau in jenem Augenblick ist der Traum wieder in mir aufgestiegen. Dieser dumme, immer wieder alles zerstörende Traum. Wir sind dann sehr rasch ins Dorf zurückgegangen, ohne zu reden. Ich habe mich in mein Zimmer eingesperrt und das Abendessen verweigert. Das Aushorchen durch die Anderen hätte ich nicht ertragen. Ich stottere wieder ganz furchtbar.
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Bei die Richter hab i die Tischlersachn im Zubau gmacht, Bad und Sauna. Sie sind von Anfang an so nett zu mir gwesn, wie wenn wir schon immer bekannt gwesn wärn. Habn mich zum Essen eingladn und es ausghaltn, wenn ich nachher net gleich verschwundn, sondern lang mit ihnen sitzen bliebn bin. Mit denen redn heißt, dauernd was Interessantes erfahrn und s‘ist trotzdem lustig. Bei den meistn Dorfbewohnern da weiß man schon seit ewig, von was sie wieder redn werdn, es ist immer dasselbe, schon tausendmal ghört. Die Andern, von denen mehr zu erwartn wär, tätn sich net mit einem Möbeltischler hersetzn. Die Richter schon. Der Rainer hat ganz schön gschaut, wie ich erzählt hab, was ich schon alles glesn hab und was ich jetzt grad les. Wir sind drauf zu redn kommen, weil ich mir ihr Bücherregal näher angschaut hab. Im Gegensatz zu den Meistn da les ich hie und da ein Buch, wenn ich zufällig eins derwisch. Kaufen tu ich mir keins. Von da hab ich auch kein so überfüllts Bücherregal. Durch die italienische Küche von der Frau habn wir auch viel über Italien gredt. War ja schon am Meer in Tschaorle. Die Annamaria bewunder ich überhaupt. So ein quirliges Maderl. Schön is net, aber oho. Na ja, mit meine vierzig bin ich gegn sie schon a älteres Semester. Mir scheint, sie hat nix dagegn, dass ich öfters einfach so vorbeikomm und mich zu ihr setz, auch wenn der Rainer noch net daham ist. Ist viel angenehmer als daham bei der Meinign. Dort ist immer so eine giftige Stimmung. Obwohl ich nix sag, sie ist in einem fort angfressn. Weiß eigentlich gar net, wieso wir noch zsamm sind. So ist das. Zuerst treibn dich die Fraun raus aus dem Haus und dann sind‘s noch bös, wenn du draußn eine andre kennenlernst, die lieb ist zu dir. Die Annamaria ist echt lieb. Ein Bissl funkn tut‘s schon zwischn uns. Also, wenn ich heimkommen tät von der Arbeit und da sitzt jedes Mal einer bei meiner Frau, ich tät ihn hochkantig rausschmeißn. Aber der Rainer tut wie wenn nix wär. Versteh ich net ganz. Aber mei, mir soll‘s Recht sein. Neulich, am Stephanitag, erwisch ich die zwei grad noch, wie’s mit’n Auto wegfahren wolln. In die Stopfenreuther Au, habn sie gsagt. Wegn dem Donaukraftwerk, wo die ganzn Hirschn demonstriern dagegn. Aber wenn ich will, kann ich ruhig neingehn und lesn. Die Halina ist eh auch da. Hab ich mir net zweimal sagn lassn. Wie’s finster wordn ist, sind’s heimkommen. War eine Volksfeststimmung bei der Weihnacht in der Au, habn sie gsagt. Und alles friedlich. Der Sinowatz hat eine Nachdenkpause angeordnet. Nur a paar Gewerkschaftler haben gstänkert, aber die Naturschützer warn viel mehr und die Rotn sind ins Gasthaus gangen, saufn. Der Rainer hat dann angfangen zu fragn, ob es meine Frau net kümmert, wenn ich so weng daham bin. Ich hab gsagt, dass sie in letzter Zeit oft verschwindt und ich weiß net, wohin. Sie geht zu Fuß in die Au, sagt sie, muss allein sein, aber ich mein, sie hat einen Freund. Eigentlich könnt’s mir ja egal sein. Ist es aber net. Vielleicht wär’s mir egal, wenn ich es sicher wüsst. Aber so, wo ich es net weiß, magerlt’s mich die ganze Zeit. Der Rainer hat gsagt, ich soll sie einfach fragn. Aber die sagt mir net einmal, wo sie hingeht. Da wird sie mir sagn, sie hat einen Freund! Damit ich einen Grund hab für die Scheidung? Das Gespräch hat mich ziemlich mitgnommen, ich hab kaum die Tränen zruckhaltn können. Der Rainer hat dann versprochn, er wird schaun, ob er die Sache aufklärn kann. Die Wochn drauf hat er mir gsagt, sie hat einen Freund. Nur so viel hat er gsagt. Sie hat einen Freund. Keine Einzelheitn. Also, viel besser ist mir jetzt auch net.
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Brainstorming: Welche Voraussetzungen braucht es für einen guten Gruppenleiter?
Kompetenz in der Materie, Gewandtheit, Führungskompetenz, Verhandlungsgeschick, Akzeptanz bei den Kollegen und Vorgesetzten, Charakterfestigkeit, Loyalität, Durchblick durchs System, Gerechtigkeitssinn, Durchsetzungsvermögen, Nervenstärke, Teamfähigkeit, Überzeugungskraft, Beurteilungssicherheit, Intuition, Analysesicherheit, Ausdruckskraft, Strategie, Korrektheit, Delegierungsbereitschaft, Motivationsfähigkeit, vernünftige Fehlertoleranz, Flexibilität…
Von alldem besaß Gruppenleiter Friese wenig. Als mein Fußballfreund Manfred Skat, den Innendienst verließ, um hinfort im Vertrieb viel mehr Geld zu verdienen, rückte Friese ihm nach. Er kam zu uns aus der Zentrale, was ihn von Haus aus verdächtig machte. Friese war ein bärtiger Mittdreißiger. Viele gesalbte Worte, nichtssagend. Grundsätze wie Kaugummi. Klingt gar nicht nach Piefke, doch das war er. Wahrscheinlich war er hier auf Empfehlung der deutschen Allianz. Akte hatte er keine zu bearbeiten. Er war verheiratet und hatte drei herzige Töchter im Schulalter. Auch ihr Sprachkolorit klang ziemlich nördlich. Einmal im Jahr lud er uns Schädlinge ein zu einer privaten Plauderei in seinen Schrebergarten, der an einer nordöstlichen, wenig frequentierten Bahnlinie lag im Schatten eines hohen Bahndamms. Da saßen sie nun und tranken und snackten und lachten und talkten small über Belangloses. Nichts davon interessierte mich. Ich trank Bier und imbisste und schaute Frieses Töchtern zu beim Spielen. Über kurz oder lang war ich bei ihnen und spielte mit. Die Kinder waren spontan und freuten sich über den unerwarteten Onkel. Nach einer Weile fiel das meinen weiblichen und männlichen Kollegen auf. Sie begannen Witze darüber zu machen. Ob Friese mich als Schwiegersohn akzeptieren könnte und dass Friese mich ja nicht aus den Augen lassen sollte und was weiß ich, was noch alles. Ich sollte das noch lange im Büro hören. Es war mir egal. Ich fand das Spielen mit den Mädchen unterhaltsamer als das Partygeschwätz und hielt damit nicht hinter dem Berg. Letztlich blieb auch Friese nicht allzu lange unser unmittelbarer Chef, er kehrte eines Tages wieder in die Zentrale zurück.
Es musste also jemand Gruppenleiter werden. In Vogt hätte ich alle eingangs erwähnten Begabungen vereint gesehen. Bei Kurti Lachner wusste man noch nicht recht. Er war ein sehr junger, kleiner Mann, nett und freundlich, der seit nicht allzu langer Zeit Kollege in der Abteilung war. Aber gerade ihn hat die Leitung zum Maat gemacht. Wie viele der benötigten Voraussetzungen er mitbrachte, würde sich noch zeigen. Eine davon war ausgeprägt, die Loyalität. Vielleicht reichte sie, objektiv gesehen, eine Spur zu deutlich in die Analbereiche der Vorgesetzten hinein. Er war aber insgesamt ein liebes Bürschchen und ich gönnte ihm den Erfolg. Ich selbst war fern jeder Karriereambition und zeigte das auch deutlich bei jeder Gelegenheit. Mein Motto war, ‘Ich will nichts werden, ich will sein’. Mit Kurti verband mich also ein sehr gutes Verhältnis. Nicht zuletzt dadurch lernte er mich recht gut kennen. Vielleicht gelang es ihm ja, das negative Bild der Vorgesetzten von mir zurechtzurücken. Auch Vogt war letztlich nicht beleidigt, oder er zeigte es nicht. Unsere Arbeit war bisher ziemlich selbstständig gewesen und blieb es auch mit Kurti.
Kurti gehörte zu unserer Filialfußballmannschaft. Wie die meisten Leichtgewichte war er schnell. Das kam ihm auch beim Tennis zugute. Wie meine war auch seine Tennisgeschichte noch kurz und unberührt von professioneller Instruktion. Umso größer war unsere Freude und der Ehrgeiz. In der Filiale gab es mehrere Tennisspieler, alle von einer gewissen Perfektion wenigstens dem Grunde nach. Wir spielten gelegentlich auf verschiedenen Plätzen im südlichen Wien und in einer Sporthalle in Alterlaa, in der schönen Jahreszeit aber regelmäßig in Jedlesee, wo Beethoven unser Gastgeber war. Im Zusammenhang mit Tennis war mir Beethoven bisher wenig bekannt. Bei Beethoven und Jedlesee denkt man eher an die Gräfin Anna-Maria(!) Erdödy, deren Landhaus Beethoven öfters als Gast frequentierte. In jenen Tagen war Erdödy nicht mehr mit dem Grafen verheiratet, sondern mit dem Musiklehrer ihrer Kinder liiert, Franz Xaver Brauchle. Es kursiert das Gerücht, Beethoven sei bei einem seiner Besuche im Landhaus plötzlich verschwunden gewesen. Alle hätten gedacht, er sei nach Wien zurückgekehrt. Erst einige Tage danach habe Brauchle Beethoven in einem entlegenen Teil der weitläufigen Liegenschaft aufgefunden, fest entschlossen, Hungers zu sterben. Das Grundstück reichte damals bis fast an die Donau. Heute befindet sich dort der Sportplatz des SC Columbia. Tatsächlich verehrte die Gräfin Beethoven als Künstler und war sie eine seiner engsten Vertrauten, die ihn nicht selten mit ganz banalen Sachen unterstützte. Beethoven widmete ihr Klaviertrios und Cellosonaten. Das Landhaus Erdödy steht noch. In den Tagen, von denen hier erzählt wird, stand es im Eigentum der Wiener Allianz. Wer immer dafür verantwortlich war, es zeugt von äußerst beschränktem Geschmack, in den Garten gleich anschließend an das Haus einen Tennisplatz einzubauen mit Umkleide und Duschen in einem Nebenflügel des Hauptgebäudes. Ich muss zugeben, auf dieser Tennisanlage habe ich immer mit sehr gemischten Gefühlen gespielt. Ich hatte immer das Gefühl, Beethoven giftete sich zu Tode über die unberechenbaren Rhythmen der Schlaggeräusche und unsere spontanen Siegesschreie oder Flüche. Vielleicht aber inspirierte ihn das an seinem Wolkenschreibtisch zu einer Tenniskantate. Die Bewohner des nächsten Wohnhauses, die abends ihre Ruhe haben wollten, beschwerten sich über den störenden Lärm. An die Anwesenheit Beethovens erinnerte ein Museum, das im gegenüberliegenden Flügel beherbergt war. Immer wieder wurden dort Musikabende oder Vorträge von einem eigens dazu gegründeten Verein organisiert. Ich wohnte zwei oder drei dieser Darbietungen bei, wegen der familiären Atmosphäre mit ausgesprochenem Vergnügen. Der weitere Verlauf für den ‘Verein der Beethoven-Gedenkstätte in Floridsdorf’ ist leider auch kein Ruhmesblatt für die Wiener Allianz und ihre Eigentumsnachfolger, wie der nachfolgende Text deutlich zeigt, den ich von der Internetseite des Vereins kopiert habe.
„Der Verein wurde 1971 von Dr. Leopold Wech und einem Kreis idealistischer Mitstreiter gegründet. Zu diesem Zeitpunkt war das Erdödy-Schlösschen in der Jeneweingasse noch im Besitz von Heinrich Bönisch.
"Diese Vorhaben wurden viel früher Wirklichkeit als es sich die kühnsten Optimisten vorstellen konnten. Bereits 1973 wurden das Haus Die Vision der Vereinsgründer war es, in dem Schlösschen einmal eine Kulturstätte einzurichten und die Erinnerung an die Gräfin Erdödy und an Ludwig van Beethoven, der nachweislich 1815 hier mehrmals zu Gast war, wachzuhalten.
"Diese Vorhaben wurden viel früher Wirklichkeit als es sich die kühnsten Optimisten vorstellen konnten. Bereits 1973 wurden das Haus und die dazugehörige Liegenschaft von einer Versicherungsgesellschaft gekauft und umgebaut. Ein Teil des Hauses wurde dem Verein für seine Aktivitäten zur Verfügung gestellt. 1976 konnte der Konzertsaal - unter Beisein des damaligen Bundespräsidenten Dr. Kirchschläger - eröffnet werden.
"Seit damals fand ein regelmäßiger Veranstaltungsbetrieb statt: Klavierkonzerte, Kammermusik, Liederabende, Chorkonzerte, Wienerlieder-Abende, Lesungen,.... bis dato ca. 2000 (!) Veranstaltungen. In dem Hause traten sowohl arrivierte Künstler als auch Studierende auf, und auch die sogenannten Amateure fanden hier eine Möglichkeit vor interessiertem Publikum ihr Können zu präsentieren.
"Daneben entstand auch ein Museum, das die Geschichte des Hauses, die Beziehung von L.v. Beethoven zu Gräfin Erdödy und die Geschichte des Vereines präsentiert. 1987 wurde an die Fassade des Hauses eine Gedenktafel für Gräfin Erdödy angebracht. 1991 erfolgte eine nochmalige Renovierung, 1996 wurde der Museumstrakt neugestaltet.
"Die Finanzierung des Vereinsbetriebes (Betriebskosten, Druckkosten, Postgebühren, notwendige Reparaturen und Renovierungsarbeiten, Künstlergagen…) erfolgte hauptsächlich durch Mitgliedsbeiträge (ca. 400 Mitglieder) und Spenden, aber auch durch Subventionen des Kulturamtes und des Bezirkes Floridsdorf. Sämtliche Arbeiten (Künstlermanagement, Büroarbeiten, Kassenführung, PR-Arbeit, Betreuung der Veranstaltungen, Forschungsarbeit...) wurden ehrenamtlich erledigt.
"Seit 2002 ist das Haus in Privatbesitz der Familie Krois. Sie überließ uns weiterhin die von uns benützten Räume gegen Bezahlung der anteiligen Betriebskosten (2005 mussten wir zwei Räume – das Künstlerzimmer und den Archivraum an die Besitzer zurückgeben).
"2012 wurde alles anders: Am 30. Juni 2012 ging für den Verein der Freunde der Beethoven-Gedenkstätte eine Ära zu Ende. Wir mussten unseren Vereinssitz in der Jeneweingasse aufgeben, das jahrelange Präkarium wurde uns vom Besitzer der Liegenschaft gekündigt. Angeblich war es mit dem ehem. Generaldirektor der Wr. Allianz, Herrn DDr. Zimmer, schon beim Verkauf des Hauses an Familie Krois so ausgemacht worden, dass wir nur für 10 Jahre im Haus bleiben könnten - Dies habe ich allerdings im Jahr 2011 das erste Mal gehört.
"Somit war es notwendig geworden, eine Unterkunft für unser umfangreiches Archiv, für die Forschungsunterlagen, unsere Bibliothek, für Büromaterial, Kopierer, Möbel… zu finden.
"Quasi in letzter Sekunde konnten wir Räumlichkeiten für unser Büro organisieren: In der Nähe des Hauses der Begegnung in der Angererstraße. Die Einrichtung des Saales sowie des Museums überließen wir leihweise unserem Hausbesitzer.
"Leider mussten wir im Laufe der Saison 2012/13 feststellen, dass ein Veranstaltungs- und Museumsbetrieb nach unseren Vorstellungen so nicht mehr möglich ist. Das Heizungsproblem im Winter, die mangelnde Pflege der von unserem Verein benützten Räumlichkeiten sowie die zunehmende Unordnung (z.B. im Garderobenraum) und zahlreiche Ärgernisse (immer wieder verschlossene Türen vor Veranstaltungen, vergessene Führungen und Proben) nahmen ein nicht mehr tolerierbares Ausmaß an. Dazu kamen noch die Ankündigungen von Seiten des Hausherren, dass zukünftig nicht immer das „Künstlerzimmer“ zur Verfügung stehen kann, (weil sein Unternehmen seit April 2013 in das Beethovenhaus übersiedelt ist) und ab Sommer 2014 der Museumstrakt nicht mehr unserem Verein zur Verfügung stehen wird und somit die Ausstellungsstücke im Konzertsaal und im Vorraum untergebracht werden sollen (was aus Platzgründen unmöglich ist).
"Mit diesen Fakten beschäftigte sich die Vorstandssitzung unseres Vereines im April 2013. Nach ausführlichen Diskussionen und langer Beratung kam es zum einstimmigen Beschluss, mit Ende der Saison das Beethovenhaus mit Sack und Pack zu verlassen. Um zu gewährleisten, dass die in Jahrzehnten mühsam zusammengetragenen Museumsobjekte weiterhin für die Öffentlichkeit zugänglich sind und auch unsere Veranstaltungstätigkeit weitergehen kann, wurde eine Kooperation mit dem Bezirksmuseum Floridsdorf eingegangen.
"Unser Verein hat die von ihm errichtete Gedenkstätte verlassen...
nach ca. 40 Jahren
nach ca. 2000 Veranstaltungen
nach ca. 30.000 geleisteten ehrenamtlichen Arbeitsstunden“
Das klingt, als wäre es um einen x-beliebigen Tennisverein gegangen. Tatsächlich aber, und dessen scheint sich weder das Direktorium der Versicherungsgesellschaft bewusst gewesen zu sein noch deren Eigentumsnachfolger im Landhaus Erdödy, noch die Behörden des Bezirks Floridsdorf, noch die Stadt Wien, ging es um das greifbare Andenken eines der größten im Raum Wien bewahlheimateten Komponisten aller Zeiten und seiner Mäzenatin, auf deren Einfluss es wahrscheinlich zurückzuführen ist, dass Beethoven nicht zurückkehrte nach Deutschland. Gut möglich, dass der Tennisplatz 2013 noch existierte. Ich weiß es nicht, denn da war ich schon lange nicht mehr bei der Wiener Allianz. Heute jedenfalls ist er verschwunden zugunsten einer Grünfläche. Dass dort überhaupt jemals Tennis gespielt wurde, zeigt eines: Der Tennisplatz war der Wiener Allianz wichtiger als das Gedenken an einen bestehenden Originalschauplatz, mustergültig gepflegt von einem Verein aus glühenden Idealisten, wo einst Beethovens Gefühle in Musik transzendierten. Aber was soll’s! Die Amerikaner als Besatzer haben ja auch Tennis gespielt im schönsten Barocksaal des Stifts Sankt Florian. Und schließlich war Beethoven ja auch nur ein Piefke, wie der Friese.
Wenn Kurti und ich Tennis spielten, waren wir Athleten. Das abgeklärte Verhalten der Tennisspieler, die bei aller Schnelligkeit bedächtige Art, die das Tennis so edel macht, das war unsere Sache nicht. Bei uns geschah alles im Laufschritt. Wir hatten das mitgenommen aus den Fußballtrainings. Bälle zusammenklauben, Seiten wechseln, alles in höchstem Tempo. Dem Partner einen Ball fürs Service zuspielen, das hieß bei uns, ihm den Ball wuchtig hinschießen, sodass er keine Chance hatte, ihn ruhig anzunehmen, sondern erst recht weit laufen musste, um ihn aufzusammeln. Auf diese Weise förderten wir unsere Kondition. Und zerstörten unsere Konzentration. Die im Tennis so wichtige Sammlung der Person in einem ruhenden Mittelpunkt gab es bei uns nicht. Daher war unser Spiel zerfahren und zufällig, alles, aber kein Tennis. Erfahrenere Spieler schauten uns an wie zwei Verrückte. Uns aber machte es Spaß auch auf diese seltsame Weise. Kurti kam öfters zu mir nach Götzendorf, seit in der Au eine Tennisanlage errichtet worden war. Ich war selbstverständlich von Anfang an Mitglied geworden und spielte mit Kollegen vom Fußballverein und anderen Götzendorfern. Mit dem Fleischhauer lieferte ich mir wüste Gefechte bei wechselndem Erfolg. Danach saßen wir auf der Terrasse des Clubstüberls bei einem Bier oder mehreren beisammen. Der Fleischhauer freute sich über einen Sieg und ich an der goldenen Abendstimmung in der Au. Das Clubstüberl wurde gerne besucht, auch von zahlreichen Passanten, die mit Tennis gar nichts zu tun hatten. Es war immer viel Betrieb und beste Stimmung. Das Lokal war beliebt nicht zuletzt bei der weiblichen Jugend von Götzendorf und den unverheirateten Frauen. Den bekannten Männern zuschauen, wie sie sich beim Tennis lächerlich machten, bereitete mehr Spaß als jedes gewöhnliche Café.
Für die Tage ab 26. April 1986 war ein großes Mai-Turnier ausgeschrieben mit Endspiel am ersten Mai. Das Wetter war wunderschön. Sonnenschein und blauer Himmel. Ich gewann jeden Tag ein Spiel und sollte am ersten Mai im Endspiel auf den Fleischhauer treffen. Am Sonntag, 27. April, meldeten die Nachrichten erhöhte Strahlenwerte in Skandinavien, deren Ursache zunächst unerklärlich war. Tags darauf berichtete das russische Fernsehen über einen Brand im Atomkraftwerk von Tschernobyl. Erst am Dienstag, 29. April, berichteten die Nachrichten über einen schweren Unfall in einem Atomkraftwerk bei Kiew. Die Messungen hätten inzwischen auch in Ostösterreich erhöhte Werte ergeben, wenngleich nicht in besorgniserregendem Maß. Solange die Wetterlage keine Regenwolken aus der Ukraine heranführte, wäre keine besondere Gefährdung gegeben. Trotzdem wurde davon abgeraten, im Freien Sport zu betreiben. Kleinkinder sollten nicht spazieren gefahren werden oder in der Sandkiste spielen. Die Warnungen vor Pilzen und dem Fleisch von Wild aus den Wäldern kamen später, als die Falloutwolken aus Skandinavien nach Ostösterreich geblasen worden waren und sich unterwegs und schließlich hier ausregneten. Die Strahlung war schon schwächer als noch im hohen Norden, trotzdem rieten die Experten jetzt zu Maßnahmen, die das Leben im Freien und den Verzehr verstrahlter Lebensmittel schmerzhaft beschnitten.
So, das war es dann, dachte ich. Vor sieben Jahren haben wir uns in einer Volksabstimmung entschieden, das zum Einschalten bereite Atomkraftwerk in Zwentendorf nicht in Betrieb zu nehmen. Die Abstimmung hatte eine hauchdünne Mehrheit gegen das Kraftwerk erbracht. Wahrscheinlich nur um den damals schon ziemlich grantigen und selbstherrlichen Bruno Kreisky loszuwerden, der für diesen Fall seinen Rücktritt angekündigt hatte. Die Frage hatte tiefe Risse durch die Bevölkerung aufgeworfen. Überall diskutierte man alle Pros und Kontras durch. Die einen hatten Angst um ihre Kinder, die anderen erklärten sich bereit, direkt neben dem Kraftwerk zu wohnen, weil es nirgends so sicher wäre wie dort. Außerdem würde es ja von Österreichern gefahren werden, da konnte ja nun wirklich nichts mehr passieren. Mich selbst stimmten Garantien solcher Art eher skeptisch. Manche waren unerschütterlich in ihrem Vertrauen, selbst als das Jahr darauf in Three Mile Island ein GAU auftrat. Die Meldungen darüber waren um nichts transparenter als jetzt die russischen über Tschernobyl. Ich jedenfalls war sehr froh, dass der Größte Anzunehmende Unfall in Zwentendorf sich auf einen Verkehrsunfall beim Abtransport der abgewrackten und danach verhökerten Teile beschränkte.
Und jetzt war es aus mit Fußball und Tennis in Götzendorf, weil irgendwo in der Ukraine ein Kraftwerk brannte. Dass der Brand eine Verniedlichung war, wurde in den folgenden Tagen klar. Der Kraftwerksblock war nicht mehr vorhanden. Die Kernschmelze war eingetreten. Das Tennisturnier wurde nicht abgesagt. Um die Mittagszeit spielte ich mit dem Fleischhauer das Finale. Es war bestimmt nur Einbildung, aber ich hatte das Gefühl, dass irgendetwas anders war als sonst. Ich konnte nicht sagen, was anders war, aber die Sonne schien anders, der Himmel war anders blau und die Strahlung, die doch so niedrig sein sollte, ich konnte sie förmlich spüren. Ob sie mir auch mehr Schub fürs Tennis gab, bleibe dahingestellt, jedenfalls gewann ich diesmal gegen den fleischigen Fleischhauer.
Er war leicht verbittert, stellte aber trotzdem die Grillwürstel zur Verfügung, die den Nachmittag bei Bier und weißen Spritzern gemütlich machen sollten. Grillmeister war wie immer der Fredl, der dabei nicht viel Unterschied machte zwischen den Debrezinern und seinen Fingern. Es war noch mehr Betrieb als sonst, in Götzendorf und Umgebung wusste man sehr genau, wo jeweils etwas los war. Annamaria hielt sich in Bozen auf, konnte also meinen grandiosen Turniersieg nicht miterleben. An einem langen, schmalen Tisch feierten die Finalteilnehmer und die Turnierleitung, aber auch die Dorfbewohner, die rechtzeitig einen Platz hier ergattert hatten. Eine Gruppe junger Frauen saß mir schräg gegenüber, flankiert von ländlichen Männern, die mit den Hasen Schmäh führten. Die Männer kamen mir ziemlich alt vor, wie sie mit ihren Goldzähnen an den Gläsern und mit beringten Fingern an den jungen Frauen hingen. Zu meinem Missvergnügen redeten diese Weiber, noch Mädchen fast, über meinen Fußballunfall, der mich zwei Wochen zuvor betroffen hatte. Das Missgeschick hatte sich direkt vor ihnen an der Outlinie ereignet, wo sie hinter der Eisenbarriere postiert waren, wodurch sie alles Großaufnahme mitansehen konnten. Ich hatte schon gehofft, der Vorfall sei vergessen, weil außer den Mädchen niemand in der Nähe stand. Jetzt aber begannen diese Gänse Andeutungen darüber zu schnattern. Dazwischen kicherten sie lustvoll und verschämt oder lachten prustend heraus. Zuerst war ich mir nicht sicher, ob sie wirklich meinen Unfall meinten, aber die Männer merkten natürlich, dass sich da etwas Außergewöhnliches anbahnte und kitzelten aus diesen Zicken nach und nach deutlichere Details heraus, die jedoch, eingebettet in glucksendes Lachen und undeutliche Aussprache, den Männern immer noch unverständlich bleiben mussten, mir, dem Hauptdarsteller aber klarmachten, dass genau mein Unfall Thema der allgemeinen Erheiterung war. Dabei schauten mich diese Jungkühe immer wieder prüfend an. Sie wollten wohl herausfinden, ob ich es vorzöge, wenn sie die ganze Geschichte nicht zum Besten gäben. Wenn sie mir so direkt in die Augen schauten, musste ich zugeben, dass zwei von ihnen recht hübsch waren, die anderen beiden doch wenigstens charmant, wobei die eine ziemlich wohlgenährt war, um nicht zu sagen dick. Wie ihre Freundinnen trug sie schwarze Shorts, die so eng waren, dass darunter sich die Konturen ihres Strings abzeichneten, und ein nabelfreies rosa Trikot, deutlich ohne irgendwas darunter. Was die anderen sexy machte, ließ die Dicke wie einen abgeschmackten Pudding wirken. Ich nahm an, dass sie bei der Uniformierung nur mitmachte, um die Gemeinschaft ihrer Gruppe zu betonen. Das Lachen in ihrem Gesicht war aber natürlich und gewinnend und ihre Sprache weniger anzüglich als die ihrer Freundinnen. Mir war klar, dass diese Mädchen heute oder bei anderer Gelegenheit keine Ruhe vor den Männern haben würden, bis alles restlos aufgedeckt sein würde. Wenn schon meine Schmach an die Öffentlichkeit musste, so sollte die Dicke sie schildern. „Erzähl du,“ sagte ich zu ihr und stieg nach hinten über die Bank. Ich ging mir noch ein Paar Würstel holen. Während ich am Grill wartend mit dem Fredl über die Strahlung scherzte, horchte ich mit einem Ohr zum Tisch hinüber. Verstehen konnte ich im allgemeinen Lärm nichts, aber die Lachsalve, die alsbald alles übertönend aufbrandete, machte klar, dass es jetzt heraußen war.
Was mich am Fußballspielen für Götzendorf am meisten begeisterte, war der schöne Rasenplatz. Unserer lag idyllisch mitten im Auwald. Aber auch die meisten Anlagen unserer Konkurrenten, also den Nachbarorten, wiesen tadellose Rasenfelder auf. Aus Wien war ich es ganz anders gewohnt. Black&White und Konsorten spielten auf Feldern, die einmal vor langer Zeit Rasen gehabt hatten. Wenn jetzt noch irgendwo ein Grasbüschel auf dem weiten festgestampften Lehmboden stand oder nach Regen aus dem Sumpf ragte, meistens in den Ecken, störte es höchstens den geraden Lauf des Balls oder man stolperte darüber. Ein Platz in Döbling hatte sogar ein Feld aus rotem Tennissand und das war nicht das Schlechteste, weil er wenigstens glatt und eben war. Allerdings, wer sich bei einem Sturz aufschürfte, so gut er die Wunden auch spülte und wusch, er musste lange warten, bis die restlichen Sandkörner herausgeeitert waren. Lange Zeit also war das Spiel auf kurzem grünen Rasen ein unerfüllter Traum geblieben. Hier auf dem Land war das ganz normal. Man spielte demzufolge mit mehr körperlichem Einsatz, nicht nur, weil die Gegenspieler kräftiger waren, auch weil man bei einem Sturz sanft landete und Verletzungen nicht so sehr fürchten musste. Vielleicht gerade, weil ich hier forscher an die Sache ging, hatte ich zwei ernstere Verletzungen in Götzendorf davongetragen. Die eine, als ich mich bei einem gewöhnlichen Sturz mit der Hand abstützte und mein Kahnbein brach. Die andere beim abendlichen Training bei Scheinwerferlicht. Die Scheinwerfer waren nicht professionell eingerichtet. Es waren einfach zwei starke Lampen auf nicht allzu hohen Holzmasten an einer der Torseiten. Sie waren nur fürs Training vor einem Tor gedacht und ließen den restlichen Platz im Dunkel. Natürlich war man geblendet, wenn man in ihre Richtung schauen musste. Wir übten Torschüsse aus verschiedenen Entfernungen. Wer daneben schoss, musste seinen Ball auf der finsteren Wiese hinter dem Tor suchen. Bei einem solchen Fehlschuss war ich unterwegs in das schwarze Loch Richtung Wiese, als ich wie von einem Projektil getroffen hinfiel. Ich dachte, eine Granate hätte meinen Kopf weggefetzt. Ein Glück, dass ich mich nach einiger Zeit der Benommenheit selber aufrappeln konnte. In der Finsternis im höheren Gras liegend hätte kein Schwein mich gefunden. Die Sache war so: Ein Kamerad, der ebenfalls seinen Ball geholt hatte, wollte diesen nicht zurücktragen, sondern ließ einen satten Schuss in Richtung Feld los, wo ich geblendet eben daherkam. Der unerwartete Aufprall gegen meinen Schädel hatte meinen Kiefer ausgerenkt. Er stand schief. Zuerst konnte ich den Mund nicht schließen. Der Kiefer war blockiert. Als der Mund nach etlichen Versuchen und mit Hilfeleistung der Kameraden doch zu war, verhinderte die Sperre, dass ich ihn wieder öffnete. Trotzdem fuhr ich nicht ins Krankenhaus zur Kontrolle, sondern setzte mich mit den anderen ins Gasthaus, wo wie üblich die Schnulzen aus den Fünfzigern gesungen wurden. Beim Singen übte ich die Bewegungen des Kiefers, das Schließen und Öffnen des Mundes war schmerzhaft, aber einigermaßen wieder möglich. Es beruhigte mich, dass mir das Bier nicht aus dem Maul rann beim Trinken. Die Kiefersperre begleitete mich, wenngleich nach und nach abnehmend, für mehrere Jahrzehnte.
Der Stunt, den die jungen Frauen soeben den älteren Männern und dem Fleischhauer geschildert hatten, war aber ein ganz anderer. Am Samstag vor zwei Wochen war ich in der Götzendorfer Fußballmannschaft eingesetzt als linker Verteidiger. Heimspiel der Unterklasse gegen Margarethen am Moos. Noch in der Nacht davor hatte es geregnet. Das Gras war nass und rutschig. Wir waren neu eingekleidet mit hellblauen Trikots und dunkelgrauen Hosen, die ein lokaler Gewerbebetrieb gespendet hatte. Auf der Brust prangte in dunkelblauer Schrift groß der Name ‘Köck’ und auf den Shorts, dort wo sie an der Vorderseite der Oberschenkel endeten, in der hellblauen Farbe der Trikots schmal aber gut lesbar, rechts ‘Köck’ und links ‘Eier’. Die Hosen waren mit einem Innenfutter versehen. Das stellte damals eine luxuriöse Neuheit dar und wurde beim Ankleiden von den Akteuren breit diskutiert. Die eigene Unterhose wäre nicht mehr nötig, meinten die einen, aber sicher doch, die anderen. Immer aufgeschlossen für Neues entschied ich mich für ohne. Das Innenfutter bestand aus einem Netz. Das Laufen fühlte sich luftig an und leicht. Einziger Wermutstropfen, ich hatte eine Hose erwischt, die mir etwas zu groß war. Ich musste sie daher immer wieder zurechtziehen. In der Pause würde ich schauen, ob es ein kleineres Exemplar gäbe. Das tat ich wohl, gleichzeitig aber zog ich auch meine eigene Unterhose wieder an. Weil ich nämlich knapp vor Halbzeit bei der Verfolgung eines Gegners von ihm gerempelt, ich sage gefoult, wurde und auf dem nassen Gras dahinrutschte Richtung Seitenout. Meine unfreiwillige Rutschpartie endete an der Seitenlinie direkt vor der Mädchengruppe. Die stießen halb entsetzte, halb belustigte, jedenfalls spitze Schreie aus, weil durch das Rutschen der zu weite Hosenbeinansatz mit der Aufschrift ‘Köck’ samt Innenfutter mir bis zur Hüfte hinaufgezogen wurde. So lag ich vor dem Jungdamenkomitee Götzendorfs auf dem grünen Rasen in meiner ganzen männlichen Pracht. Auf dem linken Hosenbein lasen die Damen ‘Eier’ und auf dem rechten, das ganz zerknittert war, ‘Cock’.
Ab sofort wusste das also ganz Götzendorf. Man kann sich das Hallo vorstellen, als ich an den Tisch zurückkehrte. Für Unterhaltung bis zum Abend war gesorgt. Es kam der Moment, da ich das Thema leid war und auch genug getrunken hatte. Ich nahm meinen kleinen Pokal und machte die Runde zur Verabschiedung von den mir bekannten Personen, die in der Nähe des Clubhauses locker verstreut standen. Mancher hatte einen Witz über den Fußballflitzer auf Lager, die anderen ließen durch ihr verschmitztes Grinsen erkennen, dass sie informiert waren. Alle gratulierten mir natürlich zum Turniersieg. Als ich mit der Runde fertig war, traf ich im Halbdunkel unerwartet auf die Dicke. Sie war nicht nur rund, sondern auch ziemlich klein. Obwohl sie es schon an unserem Tisch getan hatte, gratulierte auch sie mir nochmals. Dabei umarmte sie, da sie höher nicht heraufreichte, meine umgehängte Tennistasche und reckte mir ihr Gesicht entgegen. Mir schien es eine normale Reaktion, dass ich mich dem runden Gesichtchen mit den geschlossenen Augen entgegenbeugte, um sie auf die Wange zu küssen. Ich möchte weder ihr noch mir Schuld daran geben, dass der flüchtige Kuss auf die Wange geradewegs zu ihren Lippen verrutschte. Diese Evi, ich hatte früher mitbekommen, dass ihre Freundinnen sie so nannten, brannte für mich. Die Intensität ihres Kusses ließ daran keinen Zweifel. Um mich drehte sich die Welt und es war mir egal ob vom Bier oder von Evis Kuss. Mit feuchten Augen fragte Evi mich, ob sie ihre Gratulationen später noch fortsetzen dürfte. Sie müsste aber zuerst ihre Freundinnen nach Hause fahren. Das könnte schon eine Weile dauern. Ich weiß nicht, was mich ritt, wahrscheinlich der Teufel, als ich sagte, sie könnte mich danach zuhause besuchen. Ich brauchte ihr nicht zu erklären, wo ich wohnte, sie wusste das genau. Doch riet ich ihr, von hinten aus der Parallelstraße zu kommen, ich würde das Gartentor unversperrt lassen. Evi küsste mich noch einmal mit allem, was sie hatte, dann trennten wir uns.
Trotz des Fußmarsches nach Hause drehte sich mein Kopf immer noch, als ich über den Gartenweg zur Hintertür wankte und aufsperrte. Ich ging noch einmal unter die Dusche, obwohl ich das schon nach dem Match im Clubhaus getan hatte. Der Schwindel ließ dann etwas nach. Ich rief Annamaria in Bozen an und berichtete meinen Turniersieg und dass die Welt hier trotz Tschernobyl noch stand. Sie war kurz angebunden, wollte aber nicht sagen, weshalb. War sie eine Hellseherin? Ich war sicher, Evi hätte nur geblufft und würde es sich bestimmt noch überlegen, in das fremde Haus zu dem verheirateten Mann zu gehen, von dem sie nur durch Zufall ein intimes Detail gesehen hatte. Ich spürte die Müdigkeit der mehreren Tennisspiele der letzten Tage und auch des heutigen heißen und feuchtfröhlichen Turnierendes und ging zu Bett.
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Die anderen wollen in die Disco. Ich fahr sie dorthin nach Fischamend, lehn es aber ab, mit hinein zu kommen. Ich hab noch was vor, sag ich mit einer Bestimmtheit, die meine Freundinnen verstehn lassen, dass es wirklich so ist. Ihr müsst schaun, wie ihr dann nach Haus kommt. Das ist noch nie ein Problem gwesn und wahrscheinlich wolln sie ja auch gar net nach Haus. Auf der Fahrt zruck nach Götzendorf kommen mir Zweifel. In das fremde Haus zu dem verheirateten Mann? Verrucht ist es schon, aber verwerflich? Da mach ich mir keinen Kopf. Nur, wenn‘s Komplikationen gibt? Die Frau ist in Italien, hat er gsagt. Aber wenn sie plötzlich doch auftaucht? Einen Skandal muss ich ja net unbedingt habn. Auf der anderen Seite, es ist ja gerade das Verruchte, was mich anturnt. Und wenn er es sich anders überlegt hat? Na ja, dann wird die Gartentür versperrt sein und ich fahr zruck zur Disco. Schad wär‘s. Mein gelber Puch ist bekannt wie ein bunter Hund. Ich lass ihn am Bahnhof stehn, dann glaubn sie, ich bin nach Wien. Gottseidank ein finsterer Abend. Ka Mond, kane Stern. Der Fußgängerweg vom Bahnhof nach Götzendorf City ist ein paar Meter nebn der Landstraßen. Zug ist keiner fällig um die Zeit. Niemand wird mich kennen. Kühl ist’s mir mit meiner leichten Jackn über dem dünnen Top. Das Gehn wärmt aber schon. Da ist auch schon die Gassn. Es muss eins von die letzten Türln sein vor der Kurvn. Das da? Wahrscheinlich. Ich schau durchs Gitter. Da drin ist alls finster. Mein Gott, jetzt wird mir doch flau im Magn. Hätt mir net dacht, dass es so unheimlich wird. Wenn das Türl offn ist, kann‘s nur das richtige sein. Wenn‘s aber zu ist, dann vielleicht doch net. Auf der anderen Seite, wenn es offn ist und ich spazier da beim Nachbarn hinein? Oh Verzeihung, hab mich im Türl geirrt, wird net wirklich viel helfn. Schöner Holler. Das Türl ist zu. Klemmt’s vielleicht? Der blöde Hund weiter vorn in der Gassn könnt auch die Pappn haltn. Na, der Rainer hat net aufgsperrt. Der mag seine Frau. Schad, das Bussl war schon gschmackig. Moment, vielleicht ist es doch das nächste? Ich schau durch die Holzlatten. Da auch alls finster. Schaut net so aus, wie wenn da einer wart auf mich. Das Säuseln vom Wind, wie wenn wer flüstert. Und überall knackst’s und raschelt’s. Echt ein Horror. Ich drück die Schnalln, des Türl geht auf. Ganz leicht. Ich fall fast nein in den Gartn. War eine Stufn runter. Wenn net, vielleicht wär ich umdreht. Na ja, immerhin, drin bin ich. Hätt nie gedacht, wie lang fufzg Meter sein können. Ein Uhu ruft. Wenn der Uhu ruft, stirbt einer, sagt die Omi. Mit jedem Schritt wird’s gspenstischer. Das Haus liegt wie tot und wird immer schwärzer im Näherkommen. Eine Katz rennt mir über den Weg. Von rechts nach links. Gottseidank. Glück dir brings. Wär sie von links kommen, schnurstracks wär ich umdreht. Da unter den Bögn zwitschert‘s ausm Vogelkäfig. Ich bin an der Haustür. Mein Herz pumpert wie narrisch. Mein Gott, er hätt ja ein Licht lassn können, wenn er auf mich wart. Die Haustür ist auch offn. Die Schnalln quietscht ganz leise. Ich steig zwei Stufn nauf und bin im Haus. Alls finster. Licht werd ich aber net machn. Von der Straßenbeleuchtung vorm Haus leuchtet‘s ein Bissl rein, grad so, dass man sieht, wo was steht. Jetzt ist mir a Spur leichter. Aber net viel. Wenn ich da doch net richtig bin? Die verhaftn mich noch als Einbrecher. Oder erschießn mich. Der Uhu! Nach rechts, das ist die Kuchl. Ich schleich weiter. Links zum Wohnzimmer. Da ist kein Rainer. Wieder links ein Salettl. Die Tür gradaus ist zu. Ist verglast. Drinnen kein Licht. Wurscht jetzt. Wenn ich jetzt noch umdreh, ärger ich mich ewig. Ich schau rein. Kästen. Ein Bett. Da schlaft einer. Jedenfalls rührt er sich net und atmet. Das Gsicht ist zu mir gricht. Der Rainer!
Ja, was ist denn mit dem los? Der weiß, ich komm und geht einfach schlafn! Die Angst, was ich durchgmacht hab! Na, sowas hab ich noch net erlebt. Vielleicht will er, dass ich wieder geh? Ist mir auch egal. Das wird er mir büßn, der Schuft. Den hab ich mir jetzt aber ehrlich verdient. Ich hab net viel auszuziehn. Die Jackn weg und die Schuh, die Shorts noch. Und ganz vorsichtig und sacht hinein unter die Deckn, damit ich ihm gratulier, dem lieben, fremden, verheirateten Mann.
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17.1.1980
Geiselnahme in Teheran. Einmarsch der SU in Afghanistan. Es brandelt im Weltgebäude. Die Regierung streitet über die Frage, ob Propaganda-Ständer der Parteien auch außerhalb der Wahlkampfzeiten stehen dürfen.
24.1.1980
Club 2 um Strafvollzug mit Broda. Was für ein Glück für die SPÖ, für Österreich, Männer wie Broda zu haben. In der Öffentlichkeit dafür leider kein Dank, nur Hass. In solcher Hinsicht entspreche ich dem brieflichen Anwurf des bedauernswerten Pfarrers Vielnascher und bin halt rot.
29.1.1980
Doppelzüngigkeit der Politik. Im Iran sind die Revolutionäre Verbrecher. In Afghanistan Helden. [Die USA unterstützen den afghanischen Widerstand gegen die SU. Jene Gruppen, die uns das Leben noch gehörig sauer machen werden.]
5.2.1980
Club 2 über die politische Weltlage. Olaf Palme, Alfons Dalma, einem ehemaligen Führungsstäbler der Bundeswehr, einem sowjetischen Korrespondenten einer Ostberliner Zeitung. Der Deutsche singt Heldentenor. Der Russe Bariton. Von Dalma kommt heiße Luft. Palme intoniert richtig.
16.2.1980
Eröffnung der U-Bahn in Rom. Laut österreichischer Berichterstattung ein äußerst negatives Ereignis. 20 Jahre Bauzeit. Wird Verkehrschaos nicht mildern. Oftmaliger Stillstand der Arbeiten aus Geldmangel, unterschwellig Faulheit. Von den archäologischen Funden als Baubremse hört man wenig. In einer Zeit der allgemeinen Aggressivität sollten die Medien kalmieren, nicht aufhetzen. In der BRD werden die Dinge anders dargestellt. Den Missständen wird schmunzelndes Verständnis entgegengebracht, so wie der österreichischen gemütlichen Schlamperei. Und wir?
22.2.1981
Bei meinen alten Damen. Mamma drückt mir einen Sack mit alten Briefen in die Hand. Jetzt, wo ich allein zuhaus bin, könnte ich sie sichten, eventuell verbrennen. [Es sind die Briefe meiner längst versunkenen Brieffreundinnen in England und Finnland. Auch Margarets Briefe. Meine Brieffreundschaften endeten fast alle in beidseitigen Liebeserklärungen.] Wo ich allein bin! Als hätte ich es nötig, eine ganz natürliche Sache, meine Vergangenheit, vor Annamaria zu verbergen! Oder hat Mamma vielleicht nicht ganz unrecht? Ich nehme den Packen also mit.
Am Abend sitze ich am Küchentisch, um mich herum kleine Haufen beschriebenen Papiers. Vor mir steht die romantischste Zeit meines Lebens wieder auf, meine Jugend. Ich sehe manches, worauf ich stolz sein darf, anderes, wofür ich mich schämen muss. Ich erkenne, dass ich gute Grundlagen hatte, zum Teil auch gute Möglichkeiten, genützt habe ich sie nicht. Ich war zu verträumt und viel zu ungeduldig. Auch fehlte mir die Fähigkeit, die Selbstsicherheit, zwischen Beständigem und Flüchtigem zu unterscheiden. Die Jahre – und Annamaria, die Meisterin – mein glücklichster Zufall – haben mich gelehrt. Verbrennen? Mamma, wo denkst du hin?
[Blick ein paar Jahre in die Zukunft: Aus irgendeinem Grund suche ich die alten Briefe. Vergeblich. Annamaria hat sie alle verbrannt.]
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