worin vorkommen: Bozen, Venezia, die Adria, Santa Croce, Lido, Canale di Giudecca, die Kirchen Redentore, Santa Maria della Salute, San Giorgio Maggiore, Riva degli Schiavoni, der Palazzo Ducale, die Basilica San Marco, Mestre, Santa Lucia, Alberoni, Chioggia, der Corso del Popolo, die Fondamenta Merlin, das Albergo Grande Italia, der Palazzo Granaio, die Kathedrale Maria Assunta, der Canal Vena, Santa Maria del Mare, San Lazarro, der Palazzo Ducale, der Duomo di Ognisanti, der Campo Manin, sowie bedenkliche Immobiliengeschäfte
Annamarias Mutter geht es nicht gut, erfahren wir von Bianca. Das Herz. Es will nicht mehr so richtig. Sie nimmt Medikamente dafür. Um selbst zu sehen, was los ist, besuchen wir Bozen. Es fällt mir auf, dass ich Rosa Longo immer als Annamarias Mutter bezeichnet habe, nie als meine Schwiegermutter. Noch scheint ihr Zustand nicht so schlimm zu sein, dass sie nicht in ihrer Wohnung bleiben könnte. Die Nachbarin kümmert sich fürsorglich um sie. Bianca kommt auch regelmäßig vorbei. Sie wird übrigens bald in Pension gehen. Bianca – in Pension? Die ist ja ein paar Jahre jünger als ich! An so etwas wie Pension habe ich noch nie einen Gedanken verschwendet. Umso mehr überrascht es mich, dass diese im blühenden Leben stehende junge Frau in Pension gehen sollte. Und doch können Angestellte der Stadt Bozen mit sechsunddreißig dieses Privileg in Anspruch nehmen. Ich glaube, das ist der Öffentlichkeit nicht bewusst, sonst gäbe es bestimmt Aufruhr. Wahrscheinlich gibt es eine stillschweigende Übereinkunft, darüber nicht zu reden. Stattdessen hält man die Öffentlichkeit mit Themen beschäftigt, die jeden aufregen, etwa das Patentino. Was mit dem Südtirol-Paket über das Zweite Autonomiestatut beschlossen wurde, sicherte den Status der Tiroler Bevölkerung recht gut ab. Die Tiroler konnten sich wieder als Herren im eigenen Haus fühlen, in einem Haus mit sehr vielen italienischen Mitbewohnern allerdings. Das neue Selbstbewusstsein einerseits und andererseits die Sorge, die weiterhin andauernde Zuwanderung von Italienern könnte die Machtverhältnisse umkehren, bewog die Tiroler zu überschießenden Maßnahmen. So machten sie die Aufnahme in den öffentlichen Dienst von der Beherrschung der deutschen Sprache abhängig. Öffentlicher Dienst wurde dabei sehr weit gefasst. Sogar das Reinigungspersonal in Krankenhäusern und Schulen oder Hilfsarbeiter der öffentlichen Gartenpflege gehörten dazu. Die Deutschkenntnisse mussten durch das erfolgreiche Ablegen einer Prüfung nachgewiesen werden, das positive Zertifikat hieß Patentino. Das Patentino als Diplom war bei den Italienern gleichermaßen verhasst und ersehnt, die Prüfung gefürchtet. Wozu sollte jemand, der nach Schulschluss ein leeres Klassenzimmer reinigte, ein beachtliches Deutschniveau benötigen. Es lag auf der Hand, dass damit und mit anderen ähnlichen Bestimmungen die Tiroler die Macht in den eigenen Reihen halten wollten. Vielleicht wollte man sich auch für die Zeiten revanchieren, in denen ausschließlich Italienisch Amtssprache war und man sich öffentlich nicht in Tiroler Tracht zeigen durfte. Die Italiener verhielten sich so, wie man es sich von ihnen erwarten würde. Sie tobten und – lernten. Jedes erzwungen erlernte neue Vokabel vermehrte den Sprachschatz - und den Hass. Bianca hat natürlich das Patentino. Sehr viele Jahre waren es nicht, dass sie es benötigte. Im Ruhestand diente es nur noch eingerahmt als Wandschmuck. Die Substanz dahinter blieb allerdings nützlich. Bianca konnte mit mir einigermaßen deutsch reden.
Hinsichtlich ihrer Mutter bis zu einem gewissen Grad beruhigt, schlägt Annamaria vor, ein paar Tage Venedig anzuhängen. Sie habe Termine erst wieder zwei Wochen später. Ich habe noch Resturlaub, informiere kurzerhand die Firma und schon sind wir unterwegs Richtung Venezia. Bei unserem letzten Venedig-Besuch hatten wir die Autofähre von Santa Croce zum Lido genommen. Wir waren auf dem Lido in einem kleinen Hotel untergekommen. Dadurch konnten wir das teure Garagieren im Parkhaus vermeiden. Die schönste Weise in Venedig anzukommen ist per Schiff von der Adria her. Ist man weder Teilnehmer an einer Kreuzfahrt noch Yachtbesitzer, ist das leider kaum praktikabel. Die Autofähre Santa Croce-Lido ist eine kostengünstige Alternative. Das nicht gar so kleine Schiff macht keinen so infernalischen Krach wie die Vaporetti und gleitet in ruhiger Fahrt durch den Canale di Giudecca, vorbei an der Redentore-Kirche, Santa Maria della Salute, San Giorgio Maggiore, von drüben grüßt die Riva degli Schiavoni mit dem Palazzo Ducale und dem Campanile der Basilika San Marco. Die andere Möglichkeit, nämlich in Mestre wild zu parken und mit Sack und Pack per Bahn über die Brücke nach Santa Lucia, hatten wir auch ausprobiert, aber in ständiger Sorge, weil uns klar war, dass die Mestriner den zahlreichen fremden Wildparkern alles andere als wohlgesonnen waren und manchmal den Vehikeln, die ihren Parkraum verstellten, ein bleibendes Andenken verpassten. Dazu kamen eine Unzahl Kleinkrimineller, die Jagd machten auf Autoradios. Aus all diesen Gründen hatten wir damals Venedig lieber vom Lido her durchstreift, aber auch in der anderen Richtung hinunter den langen Lido erforscht und an seinem Ende mit der Fähre von Alberoni nach Pellestrina übergesetzt, die ganze Länge von Pellestrina abgeklappert und schließlich mit dem Vaporetto Chioggia angesteuert. In Chioggia hatten wir uns sofort verliebt. Die Mikroversion von Venedig, aber heller, heiterer, luftiger, leichter, hatte es uns angetan. Leider war unser Aufenthalt in Chioggia ziemlich kurz gewesen, weil wir die Fähre zurück nach Pellestrina erreichen mussten. Wir waren uns aber sicher, diese Bekanntschaft musste vertieft werden.
Rasch sind wir uns einig, diesmal Chioggia direkt anzusteuern. Wir fahren den ganzen Corso del Popolo entlang. Das ist damals noch möglich. Später wird die ganze Altstadt weitgehend autofrei sein. Der Corso endet an der Fondamenta Merlin, das ist der nördliche Kai von Chioggia, wo die Personenfähre nach Pellestrina anlegt. Gleich gegenüber lädt das Hotel Grande Italia zum Bleiben und wirklich bekommen wir ohne Probleme ein geräumiges Zimmer mit dem wunderschönen Blick auf den langen Landstreifen von Pellestrina, weiter zum Lido, bei guter Sicht hinüber bis nach Venedig. Den Abend lassen wir uns von Chioggia verzaubern, schlendern durch die mittelalterlichen Calli, vorüber am mittelalterlichen Uhrturm mit dem blauen Zifferblatt mit den stilisierten Sonnenstrahlen, von denen einer als einsamer Zeiger die vierundzwanzig Tagesstunden umkreist, der Palazzo Granaio, ein Getreidespeicher aus dem vierzehnten Jahrhundert, die Kathedrale Santa Maria Assunta mit dem Stadttor, das sich dem Verkehr des sechzehnten Jahrhunderts entgegenstemmen konnte, dem heutigen aber nicht mehr als eine lässige Lenkbewegung abverlangt. An jeder Ecke bieten Ristoranti sowie Trattorie Frutti di Mare an, frisch angeliefert über den hübschen Canal Vena, die zentrale Wasserstraße Chioggias. Unwiderstehlich. Frittierte Sardellen, etwas Weißbrot, ein Glas Pinot, das ist das Leben. Es ist dämmrig geworden, das Fehlen der Tageshitze fühlt sich plötzlich kühl an. Auf dem Corso ist der Corso im Gang. Eingebettet in den Menschenstrom schlendern wir zurück zum Hotel. È tutto vero: Grande, l’Italia.
Morgen geht's hinüber nach Pellestrina.
Die Überfahrt auf dem offenen, windigen Teil des Vaporettos dauert nur ein paar Minuten. Die Anlegestelle ist nicht an der Südspitze Pellestrinas. Die ist breiter als der Rest des Landstreifens. Im Vorbeigleiten blickt man auf sandiges Gelände und verfallende militärische Verteidigungsanlagen. Das Vaporetto tuckert an der Westseite dahin, also in der Lagune, wo man für die Boote Fahrrinnen durch das seichte Wasser gebaggert hat, die mit Holzpfählen gekennzeichnet sind, von den neugierigen Möwen als Aussichtswarten in Beschlag genommen. Die Insel ist nun sehr schmal, nur wenige Meter sind es bis hinüber zum Ostufer. Dieses wird begleitet von einer schweren steinernen Mauer, die gegen die oft sehr raue See schützen soll. Schützen? Seltsam. Was sollen diese enormen Befestigungen denn schützen? Die paar Meter unbrauchbares Land? Zum Teil scheint der ganze Landstreifen aus nichts anderem zu bestehen als dieser Befestigungsmauer. Zwei Kilometer weiter nördlich verbreitert sich die Insel. Man erkennt einige erste Gebäude. Dort legt das Vaporetto an, gleich neben dem südlichsten zivilisatorischen Objekt, dem Friedhof. Wer bis nach Venedig will, muss hier auf den Bus umsteigen. Der fährt die ganze Insel entlang, trifft in Santa Maria del Mare die Autofähre, die er nach nur zwei Kilometern drüben auf dem Lido wieder verlässt, um auch diesen der ganzen Länge nach zu durchfahren bis nach San Lazzaro, wo die Passagiere wieder auf ein Vaporetto umsteigen, das sie zum Palazzo Ducale bringt. Heutzutage scheint eine Vaporetto-Linie von Chioggia über Pellestrina und den Lido direkt nach Venedig zu verkehren, was die Reise vielleicht bequemer, aber meiner Einschätzung nach kaum schneller machen kann. Wir aber verlassen hier beim Friedhof das laute Vaporetto und vertrauen uns unseren Beinen an. Die Durchzugsstraße für Autos an der Seeseite immer an den Befestigungsmauern entlang, ‚Murazzi‘ genannt, wir meiden sie, verläuft doch an der Lagune dem Ufer folgend die schöne Seite der Insel, die hier etwa zweihundert Meter breit ist. Zwischen diesen beiden Adern stehen die kleinen Häuser der Einwohner, zum Teil an schmalen, eng verwinkelten Calli. Dort haben die Gebäude eine winzige Grundfläche, teilweise nicht mehr als zwanzig, dreißig Quadratmeter, dafür ragen sie in die Höhe, einen oder zwei Stock, lehnen eins am anderen, oft windschief, als wollten Betrunkene einander stützen. Abgesehen vom verwitterten Grau vieler Häuser ist die häufigste Farbe karminrot, zumeist verblasst, grüne und braune Fassaden zwischendurch ergeben ein buntes Durcheinander. Viele Gebäude zeigen an ihrer Fassade stolz den Kamin, unten breit, nach oben hin mit elegantem Schwung sich verjüngend. An Schnüren hängt allenthalben Wäsche zum Trocknen. Bunte Beflaggung zu unseren Ehren. Viele der Häuser sind in schlechtem Erhaltungszustand, die wenigen, die fein herausgeputzt sind, zeigen, wie hübsch sie alle sein könnten. Dennoch haben gerade auch die verfallenden ihren Charme, zeigen sie doch, dass sie von ihren Bewohnern geliebt werden, durch Blumenschmuck und tausend kleine Zierlichkeiten. Es gibt aber auch Teile der Insel, die nicht dicht bebaut sind. Dort finden sich auch größere Landpalazzi in Gärten, die meisten davon ziemlich heruntergekommen. Wo sie eng zusammenstehen, haben sie keine Gärten. Das ist sozusagen Stadtgebiet. Brauchen sie auch nicht, ein Großteil des Lebens spielt sich ohnedies im Freien ab. Der schönste Raum des Häuschens ist vor der Haustür die Piazzetta, die ist nicht sehr breit, ein Dutzend Meter von der Hauswand zum Wasser, dafür aber mehrere Kilometer lang in beiden Richtungen. Die Lagune glitzert im milden Licht, am Kai liegen viele kleine und einige größere Fischerboote, an einigen primitiven Werften kann man beobachten, wie die schwarzen venezianischen Gondeln gebaut oder restauriert werden. Der Verkehr in der Lagune ist belebter als an Land. Auf dem Wasser tummeln sich Motorboote in jeglicher Richtung, nicht alle halten sich an die Geschwindigkeitsbeschränkung. An Land fährt selten ein Auto, eher noch kleinere Lastwagen oder die ganz kleinen dreirädrigen Ape-Lastenroller. Man fährt Rad auf der Insel oder Motorboot. Zu Fuß gehen nur die wenigen Touristen wie wir. Kinder spielen auf der Straße, Hunde laufen frei umher, Katzen durchstreifen die Calli auf der Jagd nach Fressbarem oder liegen genüsslich im Schatten auf einem kühlen Stein. Alles läuft ruhig ab, nicht immer leise, aber ohne Hast. Auf einfachen Holzsesseln vor den Haustüren sitzen alte Männer und beobachten rauchend das immer gleiche Geschehen, vor anderen Türen oder hinter offenen Fenstern sitzen Frauen an ihrer Handarbeit. Sie stricken oder klöppeln. Die fertigen Produkte bieten sie gerne den Inselbesuchern feil. Die meisten Passanten sind Italiener aus der näheren und ferneren Umgebung, die hier einen Nachmittag der Entspannung suchen. Die Ausländer, genauer gesagt, eine gewisse Sorte von ihnen, beginnen gerade nach und nach die Insel zu entdecken. Die anderen machen sich nicht die Mühe, nehmen sich nicht die Zeit herüberzukommen. Es gibt keine großartigen Bauten oder Kunstwerke zu besichtigen, nur unverfälschtes traditionelles venezianisches Lokalkolorit zu erleben.
Das also sollen die Murazzi schützen vor Neptuns Zorn? Wohl erscheint mir all dies äußerst beschützenswert, doch wer würde im achtzehnten Jahrhundert die gigantische Arbeit auf sich nehmen, die gewaltigen Kosten aufbringen, ein so langes Bollwerk gegen des Meeres Wüten zu errichten für eine insgesamt unbedeutende Ansiedlung? Man muss schon nach dem Reichtum suchen, um die Spur aufzunehmen zum Zweck der riesigen Anlage. Der Abendwind vom Land zur See trägt ihn heran, den Geruch des Geldes, das in früheren Zeiten mehr noch als heute in Venedig angehäuft lag. Beim Dogen und dem venezianischen Adel, wenngleich schon im Niedergang, war es noch reichlich vorhanden. Die Osmanen rochen es auch, drängten heran, wollten es haben. Da beschlossen die Veneziani, einen Teil davon zu opfern, um den größeren Teil für sich zu behalten. Die einzigartige Lage Venedigs, von Wasser umgeben, hat es mit sich gebracht, dass die Republik so lange jeder fremden Gewalt trotzen konnte. Der Wall vor der Lagune sollte die Gefahr von der See her herabsetzen. Einen weiteren, wenigstens gleich wichtigen Vorteil sollte er mit sich bringen: Allzu oft ließen schwere Stürme das Meer über die vorgelagerten Inseln einfach hinwegschwappen, wodurch Venedig noch viel verheerender überflutet wurde als heute durch das Bisschen Acqua Alta. Schon dieser Schutz würde die hohen Kosten des Walls rechtfertigen.
In moderner Zeit versuchen Techniker den Hochwasserschutz Venedigs durch mechanische Sperrwerke zu verbessern. Leider liegt er heute nicht mehr im Wind, der Geruch des Geldes. Nein, weg ist es nicht, nur anderswo. Vielleicht wäre es ohnehin nur verschwendet in solchen Projekten. Noch spricht niemand vom Klimawandel. Obwohl schon voll im Gang, ist er noch weitestgehend unbemerkt. Der Club of Rome warnt vor dem Wahn unaufhörliches Wachstums. Die durch die Veränderung des Klimas erwartbaren Folgen werden noch nicht gesehen. Noch eine kurze Frist, dann wird die Pracht Venedigs endgültig versunken sein, mit ihm die Murazzi und Pellestrina.
Wir biegen ein in eine Calle in der Meinung hier eine Abkürzung zu nehmen, stehen aber unvermittelt auf einer kleinen Piazzetta, die nur diesen einen Zugang hat. Im Umkehren bemerken wir ein kleines Pappschild, auf dem in unbeholfenen Blockbuchstaben zu lesen ist ‘VENDESI’. Das Schild steht zwischen den Gitterstäben eines Fensters, das zu einem sehr schmalen Haus gehört. Neben einer engen Eingangstür ist es das einzige Fenster in der grünen Fassade, daneben beginnt schon die braune Front des Nachbargebäudes. Über der Tür und dem Fenster im Erdgeschoß gibt es im Obergeschoß noch zwei Fenster unter dem ziemlich flachen Dach. Die schmale Fassade wirkt noch schmäler durch den Kamin, der daraus leicht hervorspringt und, aus Platzmangel ohne Schwung, zwischen den Maueröffnungen zum Dach hinan steigt. Das Haus ist offenbar seit Längerem unbewohnt. Wo der Staub eine Ablagefläche findet, dort liegt er auch. Es ist aber noch nicht soweit, dass man von Verwahrlosung sprechen kann. Wir schauen uns an. In unserem Blick nehmen wir erstaunt ein gemeinsames Interesse für dieses Angebot wahr. Meine, unsere Italienpläne. Mir ist schon klar, dass Pellestrina kein geeigneter Ort ist für einen nicht lokal Berufstätigen. Zu umständlich und lang wäre die tägliche Reise zur Arbeit. Aber so leben wie hier in Pellestrina, das würde ich schon sehr gerne.
Jetzt bemerken wir, dass es doch einen Durchgang gibt entlang der Seitenfront des grünen Häuschens, nicht viel breiter als einen guten Meter. Neugierig schlüpfen wir durch. An der Seite gibt es zwei kleine Fensterchen wie zur Belüftung. Hinter dem Haus, dessen Seite länger ist als seine schmale Vorderfront, öffnen sich zwischen Maschenzäunen verwilderte Gärten bis hin zur Durchzugsstraße, die mehr als hundert Meter entfernt ist. In einem davon grast eine Ziege mit ihrem Bock. Dahinter blaut das Meer. Zutritt zu den Gärten haben wir nicht. Ein verrostetes Gittertor verwehrt ihn uns. Allerdings haben wir von hier Blick auf die Gartenseite des verkäuflichen Hauses. Der anschließende Garten dürfte nicht dazugehören. Es gibt keinen Ausgang aus dem Haus dorthin. Nur ein Fenster ebenerdig und zwei im ersten Stock. Mehr gibt es hier nicht zu sehen und wir kehren zurück auf die Piazzetta auf der anderen Seite. Eine ältere Frau tritt aus einem Nachbarhaus, um einen kleinen Teppich auszubürsten. Annamaria tritt an sie heran, um Näheres über das Verkaufsangebot zu erfahren. Die Frau teilt mit, ein altes Paar habe in dem Häuschen gelebt, zuletzt, bis vor zweieinhalb Jahren, nur noch die alte Frau. Sie haben eine Enkelin, die in Deutschland lebe in einem Pflegeheim. Sie könne nicht reisen. Ein Notar in Venedig kümmere sich um den Verkauf des Hauses, aber anscheinend doch nicht. Sie nennt uns den Namen des Notars.
Unser Wochenendausflug hat plötzlich eine ganz andere Relevanz bekommen. Ohne grundsätzlich die Sinnhaftigkeit unseres Tuns anzuzweifeln, suchen und finden wir eine Telefonzelle. Das Telefonbuch darin besteht nur aus ein paar Papierfetzen. In einer nahen Bar treiben wir ein vollständiges Exemplar auf. Es gibt drei Notare in Venedig mit diesem Namen. Annamaria ruft sie der Reihe nach an. Keiner von ihnen antwortet. Kein Wunder, es ist Samstag. Mit ihm ins Gespräch gekommen, überrascht uns der Barista mit der Mitteilung, er habe die Schlüssel zu dem Haus an der Piazzetta. Wir können es anschauen, wenn wir wollen. Er kramt die Schlüssel aus einer Lade und beauftragt einen jungen Burschen, uns das Haus zu öffnen. Er hat einige Mühe, das Schloss aufzubekommen, bevor die staubige Tür in den Angeln knarrt. Wir betreten einen Raum, der innen nicht so winzig erscheint, wie wir es von außen vermutet hätten. Er ist zwar schmal, reicht dafür aber in die Tiefe. Es ist eine Wohnküche. Die Möbel sind mit Tüchern bedeckt, alles liegt unter einer deutlich sichtbaren Staubschicht. Es sind die einfachen Möbel eines Salottos, alt und schadhaft. Zwischen der Eingangstür und dem Fenster gähnt eine schmale Öffnung in der Wand für ein offenes Feuer. Der hintere Bereich, schmäler als der Salotto, beherbergt die Küche. An der langgestreckten Außenwand ist sie vom Salotto getrennt durch einen Vorsprung, hinter dem sich ein sehr kleines Bad befindet. Hinter dem Bad findet ein gemauerter Holzherd Platz, der sicherlich längst nicht mehr beheizt wurde. Auf der Herdfläche steht ein kleiner vorsintflutlicher Gasherd mit zwei Kochstellen. Ein quadratischer weißer Tisch dient offenbar gleichzeitig zum Kochen und Essen. Die Spüle ist vor dem Fenster angeordnet, das den Blick auf die Gärten freigibt. Ich drehe am Wasserhahn. Es kommt kein Wasser. Abgesperrt. Wo der Küchenbereich beginnt, gelangt man durch eine unverschlossene Öffnung zu einer engen und steilen Holzstiege. Sie knarrt bei jedem unserer Schritte hinauf ins Obergeschoß. Man findet sich in einem geräumigen Zimmer mit zwei Fenstern, wohl dem Schlafraum. Durch die Fenster schaut man über die Gärten mit den Ziegen hinweg auf die offene See hinter der Durchzugsstraße. Gegenüber gelangt man durch eine Tür in eine kleinere Kammer, deren zwei Fenster über die Piazzetta hinweg durch eine Calle auf einen Ausschnitt der Lagune blicken lassen. Einrichtung ist hier oben nicht vorhanden. Der Boden ist aus Holzplanken, alt, aber anscheinend gesund. Das gilt gleichermaßen für die sichtbaren Balken der Dachkonstruktion und die Holzschalung dazwischen. Ich schaue hinunter auf die Piazzetta. Dass dort Mario auf seinem Tretroller herumkurvt, ist wohl einer Spiegelung der Zukunft geschuldet.
Von Venedig sehen wir an diesem Wochenende wenig. Wir verbringen die Tage in Pellestrina, dessen Infrastruktur wir minutiös erforschen. Die Bars, ein Restaurant mit Gästezimmern, zwei oder drei Trattorie, ein paar kleinere Kirchlein, die größere Kirche, Duomo di Ognisanti genannt, die Tabaccherie, die einem Vianello und einem Scarpa gehören, das Postamt, ein Fußballplatz, der Carabinieriposten, und immer wieder die Piazzetta mit dem grünen Häuschen. Die Abende in Chioggia, ständig im Gespräch, was wir mit dem Häuschen machen würden, wie wir es restaurieren und einrichten würden. Dabei scheuen wir keine Mühen und noch weniger Kosten. Das ist leicht, denn es ist ja nur ein unerfüllbarer Traum.
Träume verfliegen. Das Leben nimmt seinen Lauf. Ich bezahle für Schadenereignisse, lehne andere Zahlungen ab, prozessiere, mache Dienstreisen durch Niederösterreich, spiele mit Mario, spiele Fußball, höre Ö1, Annamaria spielt mit Mario, macht ihre Dienstreisen, kürzere und längere. Nach einer Längeren kommt sie zurück und sagt nebenbei: „Ich hab ein Haus gekauft.“
„Du hast was?“ frage ich belustigt.
„Ich hab’s gekauft.“ Annamaria ist ganz ernst.
„Was hast du gekauft?“
„Na ja, das Haus, du weißt schon.“
„Was für ein Haus?“
„Na welches schon? Dreimal kannst du raten.“
„Du hast das Haus in Pellestrina gekauft?“
„Genau.“
„Hast du im Lotto gewonnen?“
„War grad günstig.“
Der Dialog kommt mir bekannt vor.
Der Abend und die Tage danach sind voll mit Erörterungen über das Haus in Pellestrina und die Konsequenzen, die sich aus dem Kauf ergeben. Die Restaurierung! Ich muss an Nest denken, an Walter und Opas Münzsammlung.
„Wir werden Zeit haben dazu“, sagt Annamaria. Pellestrina steht wie ganz Venedig unter Denkmalschutz. Man muss jede Änderung der Behörde anzeigen und bewilligen lassen. Das kann dauern. Das wird ganz bestimmt dauern und womöglich Schmiergeld kosten. Und wer soll das alles machen aus der Entfernung? „Ich bin ja manchmal in der Gegend“, sagt Annamaria. Sie hat überdies schon einen Geometra beauftragt, die Einreichpläne zu erstellen. “Bis die Bewilligung da ist, können wir das Haus provisorisch einrichten und unsere Urlaube dort verbringen. Wenn du brav bist, nehm ich dich sogar mit.“ Das tröstet mich. Das scheue Mädchen voller Unsicherheit, in das ich mich verliebt hatte, ist das nicht mehr.
Ich werde nie genau wissen, ob der Geometra die Bestimmungen nicht so genau kennt, oder ob er die Pläne mehrmals zeichnen muss, damit der Auftrag etwas lukrativer wird. Wahrscheinlich aber ist es nur die Schikane der Beamten, denen der Geometra nicht zu Gesicht stehen mag, oder sie kennen sich selber nicht aus in dem Gewirr von Normen. Die fremdenfeindliche Seite der Möglichkeiten fällt wohl aus, denn die neue Eigentümerin ist ja Italienerin. Andererseits, wenn es stimmt, dass die Venezianer auf die Veroneser so herabblicken wie die Tiroler auf die Wiener… Jedenfalls, die Monde nehmen zu, sie nehmen ab, sind voll und verschwinden, sie tun das immer wieder, vom Bauamt hört man so wenig wie vom Geometra. Wir wollen selber nachfragen. Ich begleite Annamaria. Über den schönen Campo Manin zu schlendern verliert beträchtlich an Magie, wenn man mit ganz persönlichen Problemen zum Bauamt muss. Der Beamte ist unwirsch. Man merkt ihm den Widerwillen an, mit dem er in einer gigantischen Kartei sucht. Zu meiner Verwunderung findet er eine Karte, auf der unser Vorhaben verzeichnet ist. Er schickt uns in ein Büro im zweiten Stock. Eine dicke Frau heißt uns warten und verschwindet. Ich weiß, sie holt die Akte. Zwanzig Minuten später kommt sie damit zurück.
„Es liegt an den Fenstern“, sagt sie. „Elox-Alu geht gar nicht.“
Mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich hasse eloxiertes Aluminium. Andererseits, genau dieses Material sieht man an achtzig Prozent der Gebäude in Pellestrina. Annamaria wendet das ein.
„Schauen Sie, die Leute machen, was sie wollen. Mit dem Risiko, dass wir eines Tages kommen und alles rausreißen lassen. Bewilligen können wir das nicht. Wer hat denn die Pläne gemacht? – Ah, der Geometra N., hähä.“
Annamaria sagt, wir ändern den Antrag auf Holzzargen.
„Gut, sagt die Beamtin. Kein Problem. Vorsicht bei der Fensterfläche! Ich warte auf die korrigierten Pläne. Dann schauen wir, was sonst noch zu beanstanden ist.“
Wieder gehen wir über den Campo Manin, ohne den Blick zu heben.
Annamaria bitter: „Bist du wirklich fest entschlossen, in diesem Land zu leben?“
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