42 Verluste

Verluste

worin vorkommen: Venedig, der Styx, Schönbrunn Kino, Erika Kino, Anton Bruckner, Anita Ekberg. Peter Alexander, Branntweinlokal Brandstetter, die Schweiz, Lux Kino, Maria-Theresien Kino, Stiefelkönig, Sport-Dobias, Brieftaube, die Europäische Union, Theater in der Josefstadt, Fritz Eckhart, Merck, Sharp & Dohme, Hans Strobl, Wolfgang Strobl, 'Graf Bobby', 'Sperrstund is', 'Kasimir und Karoline', 'Tatort', 'Also sprach Zarathustra', das ganze durchweht von 'Maria durch ein Dornwald ging'

Mein Gott, wenn er mir nur net von der Leiter runterfällt! Ist ja so ein Tollpatsch, mein Tinole. Fünf Meter überm Gehsteig auf der Leiter, die Hände voll mit den Buchstaben, der Wind blast, das kann net gut gehn. Nein, gut kann das net gehn.


Fünf Meter überm Gehsteig die Filmtitel tauschen, die alten Buchstaben weg und die neuen setzen, damit die Leut wissen, was gspielt wird. Rote Buchstaben für den Titel, schwarze Buchstaben für die Darsteller. Rote und schwarze Buchstaben vor einer weiß leuchtenden Glasscheibe. Dabei bin ich ja selber schuld an dem gfährlichen Gschäft. Wie ich glesen hab, das Schönbrunn-Kino sucht einen Billeteur, bin ich gleich hin. Der Chef hat gsagt, ich kann gleich heut anfangen. Da hat er aber gschaut, wie ich gsagt hab, es geht ja net um mich, sondern um meinen Mann. "Also, soll er halt kommen", hat er gsagt. Sein Kollege, der Finkes, ist ja auch net jünger. Aber viel beweglicher. Viel beweglicher auf der Leiter. Ja, der Finkes kommt eh auch dran beim Buchstaben setzen. Jedes zweite Mal. Heute ist aber mein Tinole auf der Leiter. Der Finkes wechselt derweil die Plakate in den Schaukästen. Das sollte der Tino machen, net rauf auf die Leiter. Ich weiß net, warum der Tino net redet mit dem Finkes. Der ist eh so nett. Bestimmt würde er es immer für den Tino machen. Aber der Tino redet ja nix. Bevor der was redet, klettert er lieber selber rauf auf die Leiter. Mein Gott, ich würd ja hinfahren und die Buchstaben für den Tino wechseln, aber ich sitz ja selber in der Kinokassa. Nein, net im selben Kino. Ich im Erika-Kino in der Kaiserstraße, der Tino ist Billeteur im Schönbrunn-Kino bei der Kennedy-Brücke. Also, wenn ich noch Friseurin wär, ich tät alles stehen und liegen lassen und dem Tino die Buchstaben wechseln. Aber das Gschäft hab ich ja aufgeben müssen, wie ich die scharfen chemischen Präparate net mehr vertragen hab.


"Küss die Hand, gnä Frau, für jetzt noch? Hat noch net angfangen, der Hauptfilm. Die Wochenschau lauft. Fußfrei gibt’s auch noch. A bissl seitlich halt. So, bitte. Zwölf Schilling, bitte. Dank Ihnen schön, gnä Frau. Gute Unterhaltung! – (Truntschn!)"


Was immer man verlangt, ich spiel meine Rolle. Überzeugend spiel ich meine Rolle. Sind alle sehr zufrieden damit, wie ich sie spiele. ‘Und wie's da drin aussieht, geht niemand was an.’ Hätt net glaubt, dass ich's einmal so echt spüren würd, wie ich's noch auf der Bühne gsungen hab.


Letzte Woche war der Finkes bei uns mit seiner Frau. Da hätt ich ihn selber fragen können. Aber ich hab immer mit der Edith reden müssen, weil die zwei Männer so viel zu besprechen ghabt haben. Der Finkes macht nämlich einen Schmalfilm übern Bruckner und da wird er dem Tino seine Hand filmen, wie sie Noten schreibt. Statt dass er für den Tino auf die Leiter steigt! Wenn das nur gut geht!


Ist schon bequemer in der Kinokassa. Kein Vergleich mit der Kofferfabrik in der Hütteldorferstraße. Da hab ich mit einem VW-Transporter Koffer an die Lederwarengeschäfte in Wien und Umgebung zugstellt. Marke 'Elephant'. Den Posten hab ich kriegt gegen die Bewerbung von ein paar Männern. Gschleppt hab ich genug. Es waren immer mehrere Koffer ineinander gschachtelt und in Packpapier eingwickelt. Von der Firma hab ich einen grauen Overall bekommen als Arbeitsgewand. Der Rainer hat sich geniert für mich, wie ich so in seiner Schule zur Elternbesprechung auftaucht bin. Außer mir waren noch zwei Männer Auslieferer. Die haben mich zuerst blöd angschaut. Dann haben sie aber bemerkt, dass ich ein guter Kumpel bin. Auch die Rolle hab ich gut gspielt. Von da an haben sie mir die feinsten Touren überlassen.


"Erika Kino. – Ah, guten Abend, Herr Kommerzialrat. – Morgen 'La dolce vita'. - Ja, Anita Ekberg. – Genau, im Trevi-Brunnen. Ganz nass. Ist sehr sehenswert. – Zwei Stück, 19 Uhr. – Ah, Ihre Gattin mag die Ekberg nicht. Nur eine. - Aber gerne, Herr Kommerzialrat. – Verstehe, sollte sie anrufen, spielen wir 'Graf Bobby.' Ja, Peter Alexander. – Aber sicher, Herr Kommerzialrat. Sie können sich auf mich verlassen. Guten Abend und herzlichen Gruß an die liebe Frau Gemahlin. – (Depp.)"


Die Kofferfabrik hat eines Tages zugesperrt. Na, wegen mir sicher net. Bin dann zum Brandstetter in sein Branntweinlokal auf der Hernalser Hauptstraße. Nein, net hinter der Budel. Bin in der Kassa gsessen in so einem gschlossenen Glaskobel und hab für die Getränke abkassiert. Das Lokal war geräumig. Man hat schon aufpassen müssen, um den Überblick zu behalten. Konzentrieren hab ich mich müssen. Und manchmal streng sein mit den Angsoffenen. Wieder ein bissl anders, die Rolle. Gstimmt hat die Abrechnung immer. Der Chef hat das Lokal von seinen Eltern übernommen. Eine sehr katholische Familie. Kaum zu glauben, ein Branntweiner! Eine schöne Stimme hat er ghabt, der Brandstetter. Bei Ladenschluss ist er immer mit einer Glocke durchs Lokal gezogen und hat gsungen “Sperrstund is…” Hat das Lokal eines Tages zugsperrt und ist in die Schweiz gezogen. Betreut dort Blinde.


"Erika Kino. – Nein, leider, die Stelle als Filmvorführer ist schon vergeben. – Ja, schad. Alles Gute!"

Dienstzeugnis


Frau Maria Richter war in unserem Betrieb geraume Zeit als Kassierin tätig. Die ihr übertragenen Aufgaben gingen dabei über den genannten Bereich hinaus in Richtung Verkaufs-Organisation und -leitung. Sie hat alle Obliegenheiten stets zur vollen Zufriedenheit der Kunden, der Mitarbeiter und somit der Geschäftsführung wahrgenommen. Sie ist fleißig und genau, zuverlässig und loyal, aufrichtig und ehrlich, freundlich und einfühlsam, von blitzschneller Auffassungsgabe und voll des Wiener Charmes, der sie auch dann nicht verlässt, wenn Positionen mit Bestimmtheit vertreten werden müssen. Mit ihr zusammenzuarbeiten schafft ein gutes Betriebsklima und ist nie unangenehm gewesen. Frau Richter scheidet aus unserem Betrieb gegen unseren Wunsch, aus Gründen, die für sie selbst unbeeinflussbar sind. Wir wünschen ihr für ihren weiteren Lebensweg das Allerbeste.


Brandstetter

Wein- und Branntweinstube


Bespaletz Kinos

Erika-Kino, Lux-Kino, Maria Theresien-Kino

 

Stiefelkönig


Sport Dobias


Brieftaube

Exquisite Damenmoden



Tino ist immer kränker und schwächer geworden. Es sind hauptsächlich die Nieren gewesen. Ich hab keine Arbeit mehr angenommen, um ganz für Tino da sein zu können. Zum Glück ist Mamma in dieser Zeit noch kerngesund gewesen. Zu dritt haben wir immer noch weite Reisen unternommen. Tino und Mamma haben die schöne Jahreszeit in diversen Sommerfrische-Quartieren zugebracht. Ich bin abends nach der Arbeit hingekommen. Tino hat, abgesehen von seinen Beschwerden und dem hintergründig immer gegenwärtigen beruflichen Scheitern, einen schönen Lebensabend gehabt. Er hat von Optimismus gestrotzt. Die Welt wird alle ihre Probleme lösen, war sein Credo. Jeden Tag wird etwas Wichtiges dazu erfunden. Nur hinsichtlich der Europäischen Union ist er skeptisch gewesen. "Das wird nix", hat er schon bei ihrer Gründung gewusst. Als Kenner der enormen Unterschiedlichkeit der europäischen Bevölkerungen hat er sich nicht vorstellen können, wie die alle es miteinander in einer Union aushalten sollten. 1978 haben die Ärzte nichts mehr für ihn tun können.


In meinem Leben hat es keine größere Katastrophe gegeben als Tinos Tod. Anfangs habe ich gar nicht verstehen können, nein nicht verstehen wollen, dass er nicht mehr da ist, hab es einfach nicht akzeptiert, dass er nicht mehr da ist. Meine Nerven sind immer meine Schwachstelle gewesen. Für eine kurze Zeit nach dem Krieg war ich sogar in einer Nervenklinik in Behandlung. Jetzt bin ich wieder in eine Nervenkrise gefallen. Das ist einmal keine Rolle gewesen. Es war das echte Leben. Mamma, Rainer und Annamaria sind sehr erschrocken und mehr in Sorge um mich gewesen als in Trauer um Tino. Rainer hat mir zugeredet, ich soll doch wieder etwas am Theater machen, wenn schon nicht spielen, aber wenigstens etwas in der Nähe des Theaters. Ich hab ein paar Bewerbungen geschrieben nach Deutschland und an Theater in Wien, ob sie nicht eine Komische Alte brauchen können. Das Theater in der Josefstadt hat mir eine Statistenrolle gegeben in 'Kasimir und Karoline'. Lange Bühnenpräsenz und drei gesprochene Sätze. Erst bin ich sehr froh darüber gewesen, aber dann hat mich jede Vorstellung innerlich aufgerieben. Ganz vorne an der Rampe hab ich hinunter geschaut zum Publikum, da ist plötzlich ein Orchestergraben gewesen, den es gar nicht gibt, Tino dirigiert… Bin froh gewesen, als die Spielzeit zu Ende gewesen ist. Ich hätte bleiben können für die nächste Spielzeit, hab mich aber nicht entschließen können. Hab es dann beim Fernsehen versucht. In einem 'Tatort' hab ich ein Dienstmädchen gespielt, ein paar Sätze Text mit Fritz Eckhart. Es ist so unpersönlich gewesen ohne Publikum. Ich hab überhaupt nicht komisch sein dürfen. Eine Großaufnahme hab ich gehabt, hab mich dabei schlecht gefühlt.


Mamma ist meine starke Stütze gewesen in dieser Zeit. Mit ihren einfachen, nicht in die Tiefe gehenden, beruhigenden Worten, mit ihrer Beständigkeit hat sie mich nach und nach getröstet. Ein Glück, dass sie noch bei mir war. Ich weiß nicht, wie es sonst geendet hätte. Mehr als für mein Leben werde ich ihr dafür immer danken.


Ich war jetzt sechsundfünfzig. Arbeit zu finden wird nicht leicht sein, dachte ich und überflog die Annoncen in der Zeitung. Da, ein Chauffeur wird gesucht! Wenn damals ein Chauffeur gesucht wurde, dann meinten die auch Chauffeur und keine Chauffeuse. Den Posten hab ich aber trotzdem bekommen. Merck, Sharp & Dohme, Kastenwagen, Pakete zustellen an Apotheken, Spitäler und zur Post, Pakete abholen, Bankwege, ein reifes Mädchen für alles. Das Büropersonal bestand überwiegend aus jungen Pupperln, eingebildet, ich weiß nicht auf was, aber sie mochten mich Alte. Ich war für sie keine Konkurrenz. Und weil ich zwischendurch ihre privaten Aufträge schupfte. Ich konnte mir die Zeit einteilen. Niemand fragte nach.


Endlich hatte ich meine Jahre zusammen für die Pension. Durch meine Zeit zuhause bei Tino hatten mir etliche gefehlt. Die Pakete waren kleiner als die Elephanten-Koffer. Trotzdem, das Herumsausen fiel mir schon schwer. Also übergab ich den Kastenwagen in jüngere Hände, die wieder männlich waren. Ich würde mich jetzt um meine Mutter kümmern.


Mein Jugendfreund, Hans Strobl, hatte die Wohnung unter uns im Fleminghof bekommen und lebte dort mit seiner Frau. Er hatte einen Sohn, der ein paar Jahre jünger war als Rainer. Er hieß Gottfried, hatte studiert und war Augenarzt geworden. Nach seiner Krankenhauszeit hatte er eine Facharztpraxis in der Sandleitengasse aufgemacht. Sie ging nicht überwältigend gut und hätte eine professionelle Assistentin nicht getragen. Eines Tages fragte mich Hans, ob ich nicht ein paar Stunden die Woche bei seinem Sohn in der Ordination aushelfen könnte. Meine Pension war klein, das Pensionsloch groß und so sagte ich ja.

 

Eine neue Rolle. Ich empfing die Patienten mit herzlicher Freundlichkeit, merkte mir ihre Namen, warum sie in Behandlung waren und manches private Detail, verkürzte ihnen die Wartezeit mit anteilnehmender Plauderei, wenn sie das wollten, tropfte ihnen die Augen ein, assistierte dem Doktor wenn nötig bei der Behandlung, wimmelte die Pharmavertreter ab, baute freundliche Verbindungen zu Optikern in der Umgebung auf, stimmte die Krankenkassen gnädig, sorgte für die gründliche Desinfizierung der Utensilien, hellte die Ordination mit einfachen Mitteln etwas auf, da eine bunte Zimmerpflanze, da ein paar Kinderbücher, leise, beruhigende Musik aus einem Kassettenspieler. Nach wenigen Wochen war die Ordination überlaufen. Ich musste Termine verweigern oder sehr langfristig ansetzen, weil der Doktor nicht alles schaffen hätte können, selbst wenn er Tag und Nacht gearbeitet hätte, was überhaupt nicht sein Naturell war. Die Leute liebten mich. Sie verwöhnten mich mit Blumen, Schokolade und ungarischer Salami, steckten mir Trinkgeld zu und schickten Dankbriefe. Die Praxis lief nun wie am Schnürchen. Trotzdem blieb es beim vereinbarten Anfangsgehalt. Es machte mir nichts aus. Ich spielte meine Rolle.


Meine Auftritte beim Doktor waren nicht leicht. Ich litt schon seit vielen Jahren an einem Schmerzsyndrom, dessen Ursache auch in unzähligen Untersuchungen nicht festgestellt werden konnte. Selbst eine Operation am Steißbein hat nicht geholfen, obwohl der Arzt es hoch und heilig versprochen hatte. Rainer meinte, die Schmerzen seien seelisch begründet. Er schenkte mir eine eigenhändige Abschrift des Weihnachtslieds 'Maria durch ein' Dornwald ging'. Gut beobachtet. Trotz meiner kasperlhaften Rollenspielerei hatte mein ganzes Leben nur aus Schmerzen bestanden. Schmerzen um meine Eltern, Schmerzen um meinen Sohn, Schmerzen um Tino, Schmerzen um Mamma, nichts als Schmerzen. Noch in jüngeren Jahren hat mir ein übereifriger Dentist alle Zähne gerissen in nur zwei Sitzungen. Die darauffolgenden Schmerzen nahmen kein Ende. Es ist bis heute nicht gelungen, eine Zahnprothese anzufertigen, die ich schmerzfrei tragen hätte können. Jede Stunde war eine Qual. Immer wenn ich mich unbeobachtet glaubte, nahm ich die Prothese sofort heraus. Ich musste sie auch im Ristorante in Venedig herausnehmen. Ein Ausflug mit Rainer und Soile. Wusste dann nicht mehr, wohin ich sie gesteckt hatte. Rainer rief in dem Restaurant an, ob sie nicht die Zähne seiner Mutter gefunden hätten. Ich fand sie dann in meinem Zimmer in einer Schachtel. Natürlich schämte ich mich ohne Zähne, aber was sollte ich machen. Dann die unerklärlichen Kreuzschmerzen. Ich hielt es nicht lange aus mit ihnen. Niemand konnte feststellen, was sie verursachte. Ein Arzt nach dem anderen vermutete irgendeine Ursache. Es waren alles Fehldiagnosen. Einer sägte mir das Steißbein ab. Jetzt konnte ich auch nicht mehr schmerzfrei sitzen. Rainer war sicher, die Schmerzen wären psychosomatisch. Die Schmerzambulanz verschrieb mir schwere Opioide und Schlafmittel. Ich nahm sie regelmäßig und über Jahre. Selbstverständlich entwickelte ich eine Abhängigkeit. Dann ging es ohne Oxycodin und Halcion überhaupt nicht mehr. Immer nur lächeln war meine Devise in allen meinen Rollen.


Die Jahre liefen dahin. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass Mamma, ansonsten ganz gesund, Grauen Star entwickelte. An beiden Augen. Mein Doktor riet zur Operation, aber Mamma wollte nicht, hielt sich für schon zu alt. "Schau, Maria", sagte sie, "du kannst ja immer bei mir bleiben. Führst mich halt an der Hand, wenn ich gar nix mehr seh." War eben ein einfaches Gemüt und konnte sich gewisse Dinge nicht richtig vorstellen. Als sie schließlich blind war, willigte sie auf Zureden meines Doktors ein zur Operation eines Auges. Der Eingriff war ziemlich erfolgreich. Mamma konnte sogar wieder die Zeitung lesen. Dafür verschlechterte sich ihr Gesamtzustand. Jetzt traten alle Alterserscheinungen gebündelt hervor. Sie war zum Pflegefall geworden. Ich pflegte Mamma so gut ich konnte, bis zu ihrem Tod. Ich saß an ihrem Bett, als sie ganz ruhig die Augen schloss und aufhörte zu atmen. 


***

Ich besuche den Vater im Krankenzimmer. Er sagt immer, du musst nicht kommen. Doch er freut sich über meine Besuche. Die Mutter ist ständig um ihn. Von den Ärzten kommen erfreuliche, beruhigende, ermutigende Befunde. Am Freitag bin ich mit dem Vater allein.


Durch den kleinen Park wirbelt in kleinen Pirouetten des Jahres nutzlos gewordenes Laub. Die letzte Wärme lugt durch das breite, offenstehende Fenster, schleicht mit dem Licht einer sparsamen Herbstsonne zögernd in den Raum. Das Weiß des Krankenzimmers blendet. Der Vater trägt eine unmoderne, billige Brille mit dunklem Glas. Sein Lächeln, als er mich erkennt.


Abwechselnd plaudern wir und schweigen. Wenn wir plaudern, klingt seine Stimme ruhig, leicht und warm. Wärmer und leichter und ruhiger als zuletzt klingt die Stimme des Vaters. Wenn wir schweigen, atme ich seine innere Ruhe, die mich gleichermaßen ermutigt und bekümmert. Wenn wir plaudern, besprechen wir belanglose Dinge, die für kurze Tage die Welt erregen, nicht den Vater. Die wichtigeren Dinge, die bleibenden, beschweigen wir. Plaudern ist Gerede, Schweigen ist Gedenken. Plaudern ist Getue, Schweigen ist Tun. Plaudern ist Zeit vertreiben, Schweigen ist Zeit anhalten. Plaudern ist Vergessen, Schweigen ist Behalten. Plaudern ist Verständigung, Schweigen ist Verstehen. Plaudern ist seicht. Tiefer ist das Schweigen. Ich sehe, dass der Vater vom Plaudern müde geworden ist, müder vielleicht vom Schweigen. Kuss von zahnlosen Lippen. Salut nonchalant. Der angebrachte Gruß wird verschwiegen.


Am frühen Morgen ist der Vater gestorben. Langsam öffnen sich mir Türen zu lange nicht gelüfteten Räumen, zu modrigen Abstellkammern. Verstaubte Sachen kommen ans Licht. Erinnerungen an Gepflogenheiten tauchen auf. Eine dunkle Krawatte wählen und wenig tröstende Worte für meine arme Mutter. Eine Dosis Trotz gegen das Unabänderliche. Der strahlend helle Herbsttag schmeckt wie Spott.


Gleichzeitig schließen sich andere Türen. Ihre Innenseiten sind fein verziert. Nach außen bilden sie rohe, abschreckende Bollwerke. Automatisch schließen sich diese Türen bis zum Anschlag. Alles hat sich jetzt in den Vorhöfen abzuspielen, wo es überschaubar, kontrollierbar ist. Nichts darf ins Innere dringen, wo schreckliche Verwüstungen zu befürchten wären. Strenge Wachen haben jeden Angriff auf das Zentrum schon im Vorfeld zurückzuschlagen.


Noch am Nachmittag steigt ein weißer Supermond blass wie eine Wolke den seidenblauen Himmel hinan. Man kann zusehen, wie der Mond gelber, der Horizont schwärzer wird. Als die Sterne hinzutreten, ein einzelner zuerst, dann ihre ganze Zahl, da steht die runde Mondscheibe schon hoch in ihrer Mitte. Ihr Licht ist jetzt wieder weiß, aber nicht das weiche Weiß ihrer Geburt, sondern ein abgeklärtes, ruhig strahlendes Weiß von einsamer Kälte. Die Scheibe wird kleiner, als entferne sie sich stetig hin zu den Sternen. Da bemerke ich, auf irgendeinem vergessenen Weg ist die Trauer doch in mein Herz geschlüpft. Jetzt ist sie da und ich achte nicht der Verwüstungen, nicht einmal des Wehs.


Man nimmt einen Sack, steckt einen Anzug hinein, ein Hemd. Die Kleidung muss ins Krankenhaus gebracht werden. Das Krankenhaus ist kein Krankenhaus mehr, sondern ein Totenhaus. Jemand wird dem Toten das Hemd anziehen, die Hose, das Jackett. Der Vater wird nicht mithelfen. Wird meinen, das sei nicht nötig, nackt wäre er angekommen und nackt wolle er wieder gehen. Die Mutter aber will so tun, wie es sich gehört. Wir bringen den Sack mit der Kleidung zum Krankenhaus. Jemand wird sie dem Vater anziehen.


Der Portier hält uns auf. Ein blühender Mann in den besten Jahren, in gutem Ernährungszustand. Er trägt einen weißen Arbeitsmantel. Auf vieles hat er zu achten. Er muss die ferngesteuerte Schranke betätigen, Wagen ein- und ausfahren lassen, andere abweisen, Aufzeichnungen führen, Auskünfte geben. Wohin? Er fragt kurz und streng. Zum Vater, antworte ich ebenso kurz und will weitergehen. Der Mann verstellt uns den Eingang. Will da jemand außerhalb der Besuchszeit durchschlüpfen? Außerhalb der Besuchszeit. Außerhalb der Zeit. Außerhalb.


Er ist tot. Ich bin kurz und grob. Die Flügeltür, das grobe, abschreckende Bollwerk. Er ist am Samstag gestorben, erklärt die Mutter verbindlicher.


Dem Portier ist es nicht peinlich, dass in seinem Spital gestorben wurde. Weshalb auch? Viel wird in diesem Spital gestorben. Er aber ist nur für das Passieren des Haupttors zuständig. Ob lebendig oder tot passiert wird, dafür ist er nicht verantwortlich. Das ist etwas anderes, sagt er und gibt den Weg frei. Etwas anderes. Außerhalb der Zeit. Zulässig. Außerhalb.


Der Wegweiser, Prosektur, Tischlerei, neben dem Eingang zur Aufnahme. Vor meinen Augen die Flügeltür, die sich öffnet. An der Innenseite die feinen Verzierungen. Soloeinsatz des Vaters, guten Morgen. Dann tutti, guten Morgen, guten Morgen. Willkommen außerhalb.


Die Tür zur Prosektur ist verschlossen. Klopfen, Läuten, nichts. Eine Schwester, eilig unterwegs (weshalb eilig?), erklärt, man müsse etwas warten. Wenn niemand komme, könne man den Sack auch beim Portier abgeben. Ich warte mit der Mutter und dem Sack. Durch die beige geölte Mauer sehe ich den Raum dahinter, tischhohe Pritschen, Baren auf Rollen, dreimal vier Kühlschranktüren an einer Wand. Hinter einer davon gehört der tote Vater zu den Kleidern im Sack. Niemand kommt. Mit der Mutter und dem Sack zur Internen Station.


Die Mutter in Tränen. Die Schwester tröstet. Es ist schnell gegangen. Der Vater hatte nicht zu leiden. Sie hat keine Ahnung, was alles der Vater zu leiden hatte. Plötzlich ein Pyjama neben der Schwester. Ein kleiner, magerer älterer Herr steckt drin. Er mengt sich ein. Ich kann Ihnen sagen, das war ein herrlicher Tod! Großartig war das! Der Pyjama ist ganz begeistert. Smoking, Opernfoyer, Enthusiasmus nach gelungenem Bühnentod.


Die Schwester übergibt mir einen Sack, darin sind die jämmerlichen Habseligkeiten des Vaters. Die billige dunkle Brille. Der Gehstock passt nicht in den Sack. Ich muss quittieren. Mit der weinenden Mutter, dem Stock und den beiden Säcken zum Portier. Er drückt gerade den Knopf, damit die Schranke aufgeht. Jemand passiert, lebendig oder tot. Die Schranke schließt automatisch. Automatisch weist uns der Portier zur Prosektur. Danke, ich weiß. Außerhalb. Ich stelle ihm den einen Sack in seine Loge und hoffe auf den Triumph der Menschen über die Automaten. Sonst muss der Vater wirklich nackt fortgehen.


Nach den zermürbenden letzten Diensten, Amtswegen, Veranlassungen verlangt die grausame Gesellschaft noch die quälenden Rituale. Die Mutter ist tapfer. Sie lässt es sich nicht nehmen, auch diese letzten Dienste selber zu besorgen. Noch ist sie tapfer, der Schmerz noch vom Schock zugedeckt. Der Zusammenbruch kommt später.


Der Vater wollte eine Feuerbestattung. Jetzt liegt er in seinem Anzug unter dem schwarzen Tuch in seinem Sarg. Die Flammen warten schon. Die Flammen müssen noch warten. Stumm sitzen einige wenige Bekannte in den Bankreihen. Sie müssen warten. Der evangelische Pfarrer ist noch nicht da. Der Vater wartet nicht. Er liegt. Die Zeit ist stehengeblieben. Eines wollte er mich immer lehren: Geduld. Habe ich nie richtig verstanden. Jetzt begreife ich. Der Zeremonienmeister ungeduldig: Wenn der Pfarrer nicht bald kommt, muss die Totenfeier abgesagt werden. Hier im Hafen zur Unendlichkeit gelten noch die Gesetze der Zeit. Die Abfahrten sind genau festgelegt. Draußen auf dem Styx mag die Zeit keine Rolle spielen. Hier im Hafen aber muss noch Pünktlichkeit herrschen. Schon wartet der nächste Nachen aufs Ablegen. Ein junger Mann mit Aktentasche kommt angerannt. Es ist der Pfarrer. Während er mit mir den Ablauf bespricht, nimmt er aus der Aktentasche seinen Talar und zieht ihn über. So habe ich die Staatsanwälte gesehen, bevor sie dem Lebenden vorwarfen, dass ein anderer tot war.


Finkes liest meinen Nachruf.


Als Zarathustra vom Tode des geduldigen Wanderers erfuhr, stand er lange mit geschlossenem Auge.  Dann aber glühte Feuer über sein Antlitz und er rief aus: So ist die Sonne deinem Sterne nachgesunken, auf dass er nicht erblinde!


Den Begleitern seines Freundes aber, dem Albatros und der Eidechse, denen Flügelschlag und Atem stocken wollten, rief er hin: Freuet euch mit mir! Wie Kette und Kugel, schwer von geschmiedetem Eisen, hing diesem lägst Untergegangenen die Erde an einem Beine. Die Kette ist gebrochen. Freier geht der Geist allein auf Wanderschaft. O gönnt dem diese Freiheit, der, obgleich sein Untergang ihm bitter schmeckte, doch ohne je zu murren mit euch zu Tale schritt. Nicht abermals das Bitterste in euch, sondern das Hellste streuet ihm an seinen neuen Weg!


Da Zarathustra so gesprochen hatte, legte der Vogel sich in seine Schwingen, stieg einsam in die Höhen, bis Berg und Tal einander glätteten. Das Reptil aber breitete sich vor seine Höhle und wachte über das herrenlose Werk.


Der Pfarrer bemüht sich, eine persönliche Ansprache zu halten, aber wie soll er das schaffen? Er hat keinen von uns je gekannt. Die Rede gerät ihm zur Plauderei. Plaudern ist Gerede, Schweigen ist Gedenken. Plaudern ist Getue, Schweigen ist Tun. Plaudern ist Zeit vertreiben, Schweigen ist Zeit anhalten. Plaudern ist Vergessen, Schweigen ist Behalten. Plaudern ist Verständigung, Schweigen ist Verstehen. Plaudern ist seicht. Tiefer ist das Schweigen.


Der Sarg beginnt langsam in den Steinboden zu versinken. Der Nachen legt ab. Die Mutter möchte mit. „Am sehrsten!“, ruft sie dem Kahn nach. Am sehrsten hat sie seinen Passagier geliebt, am sehrsten wird sie ihn vermissen. Über der Stelle schließt sich eine Stahlklappe. Abschreckendes Bollwerk. Unsere Zeit für die Ewigkeit ist noch nicht gekommen. Die Mutter muss noch warten. Geduld! Wir alle sind Wartende.

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