worin vorkommen: Pressbaum, der Wolfgangsee, Auhof, Linz, Bozen, der Falkenstein, Nürnberg, Ingolstadt, Altmünster, der Traunsee, das Tote Gebirge, Traunkirchen, Ebensee, Bad Gleichenberg, Fürstenfeld, Peenemünde, Wilhelmsburg, das Triestingtal, Baden, der Offensee, der Hohe Priel, der Kleine Priel, das Almtal, der Almsee, die Ödseen, das Salzkammergut, der Grundlsee, der Graf Czernin, der Hundskogel, Griechenland, Basel, Barcelona, Düsseldorf, dr Kärntner Ring, das Warscheneck, Hinterstoder, Vorderstoder, der Piessling-Ursprung, Spital am Pyhrn, dr Gleinkersee, das Linzer Landestheater, Althea Bridges (Turandot), Lorenz Myer (Altoum, Mauro Lampi (Kalaf), Jean-Anne Teal (Liu), Roman Zeilinger musikalische Leitung), das Stift St. Florian, Anton Bruckner, der Heilige Wolfgang, Ver Sacrum, Die Zauberflöte, Peter Weber (Muffi) (Papageno), Wolf Gayler (musikalische Leitung), Günter Neubert (Tamino), Christian Bösch, Wilhelm Teepe (Monostatos), Heinz-Klaus Egger (Sarastro), Yoshi Ito (Papagena), Konrad Lornz, Margaret Thatcher, Bruno Kreisky, sowie ein zerrissener Wanderer mit beginnendem Blasenproblem
Einmal jährlich schickt die Allianz ein paar Mitarbeiter aus jeder Landesdirektion zur Schulung. Mein erstes Schulungsseminar wird in einem mittelalterlichen Gasthof im Ortskern von Pressbaum abgehalten. Meterdicke Mauern, Kreuzgewölbe. Finster und feucht. Ploner ist dabei und einige Kollegen von anderen Landesdirektionen. Mit Ploner teile ich ein Doppelzimmer im ersten Stock. Mitten in der Nacht, oder besser in der Mitte des Nachtteils, der nach dem Bierabend übrig geblieben ist, schrecken wir auf durch einen anhaltenden furchtbar lauten Lärm, als hätte jemand eine Diesellokomotive mitten in unserem Zimmer abgestellt mit laufendem Motor. Ploner macht Licht. Außer dem Lärm ist im Zimmer nichts Außergewöhnliches festzustellen. Wir stürzen zum Fenster, beide splitternackt. Zwei Meter vor dem Fenster schaut ein Soldat aus dem Turm eines Panzers zu uns herüber. Ich erwarte Ploners strenge Frage, „Wer sind Sie und was wollen Sie?“. Doch er sagt nichts. Es ist eine ganze Kolonne von Panzern. Sie befinden sich auf einer Übung. Aus irgendeinem Grund gibt es einen Aufenthalt weiter vorne in der engen Gasse. Das Gemäuer des Gasthofs bebt um die Wette mit dem Fensterglas, wie das zuletzt wahrscheinlich im Krieg vorgekommen sein mag. Der Soldat schaut uns lachend an und salutiert. Zwei verdatterte Nackte erwidern zaghaft. Was er sich über uns denken mag? Nachts nackt mit einem nackten Kollegen am Fenster einem Panzersoldaten auf dem Turm gegenüberzustehen, das schweißt zusammen.
Später werden die Schulungen professioneller und feudaler. Der Allianz ist es gelungen, am Ufer des Wolfgangsees ein weitläufiges Herrschaftshaus zu erwerben, den Auhof. Es liegt in einem großen Park mit riesigen alten Platanen und Mischwald. Eine hundert Meter lange Uferstrecke gehört dazu. Es ist das einzige Seegrundstück mit einer derartigen Uferlänge. Man schätzt sich glücklich, fünf oder zehn Meter zu ergattern. Jenseits des Sees sind die Berge des Salzkammerguts aufgefädelt mit ihren charakteristischen, oft komischen Formen. Man hat das Haus für Seminarzwecke adaptiert. In diesem traumhaften Ambiente dürfen wir eine Woche verbringen. In der Früh noch vor dem Frühstück gibt es für freiwillige Teilnehmer Morgensport mit einem kleinen Lauf über die Nadeln auf den Waldwegen. Die Luft mit ihren tausend Düften ist einzigartig. Der See lädt ein zum Baden, doch die Seminare finden hauptsächlich im Spätherbst statt, da würde uns die Wassertemperatur rasch wieder vertreiben. Tagsüber wird das Seminarprogramm abgespult, doch die großflächigen Fenster der Schulungsräume sind zum See hin gerichtet. Die Stimmung ist mehr wie Urlaub als wie Schule. Die Vorträge sind lebhaft, interessant und nützlich. Zwei oder drei höchstrangige Fachvorgesetzte aus der übergeordneten Zentralschadenabteilung halten sie. Dr. Dietl oder Dr. Pokorn, von uns einfach Popcorn genannt. Die Stimmung ist seriöser als im Großraum. Mitarbeit ist gefordert. Die Vortragenden aus der Direktion versuchen, sich ein Bild zu machen über die Qualifikationen ihrer Zuhörer. Mein Eindruck ist, dabei komme ich ziemlich gut weg. In einer der Pausen stehen wir in kleinen Gruppen im Freien mit dem Vortragenden beisammen in der Nähe unserer geparkten Autos. Die Blicke der Umstehenden sind auf meinen 121er gerichtet. Sie reden anerkennend und ein bisschen neidvoll über den Wagen. Niemand kann sagen, wem er gehört. Zuletzt oute ich mich. "Das ist meiner." Auch ein funkelndes Steinchen im Mosaik.
Das Essen ist hervorragend. Ich könnte mich das ganze Jahr hier weiterbilden lassen, wenn sie mich Annamaria mitnehmen ließen. Es gibt einen Tennisplatz. Oft ist er schon für den Winter eingemottet, aber im Fall von zeitigen Seminarterminen gehen sich nach dem Mittagessen ein paar Schläge aus. Nachts der Blick aus dem Zimmer über den See. Er spiegelt die Sterne, die so hell sind wie nur in seltenen Augenblicken. Ich schaue zu, wie sie am Firmament dahinwandern. Dort drüben, dieser ganz tiefe, er wird gleich hinter der Kontur des Berghorns verschwinden. Geduldig warte ich in der Stille eine lange Zeit, bis er an der anderen Seite des Mugels wieder auftaucht.
***
8.3.1980
In Linz um 17 Uhr angekommen. Annamaria mit dem Zug aus Bozen um 18 Uhr 01. Turandot am Linzer Landestheater. Oper ist für kleine Theater gemacht, nicht für Riesenarenen. Hier springt der Funke sofort, wenn auch die letzte Perfektion fehlt. Althea Bridges (Turandot), stimmstark und sicher. Lorenz Myers (Altoum), schöner Bass, ergreifende Darstellung. Mauro Lampi (Kalaf), ausgeschriener Blechhäfn, indisponiert oder bereits hinüber? Hat dennoch viel Applaus. Buh! Jean-Anne Teal (Liu) brachte eine erschütternde Vorstellung. Staatsopernreif. Den Namen wird man sich merken müssen. Blick ins Orchester (unter Roman Zeilinger): Linzer, Japaner und Behm. (Wie man sich täuschen kann… Jean-Anne Teal google ich einmal bei den Bregenzer Festspielen, Fairy Queen, 2. Fee, als Solistin bei der Chorgemeinschaft Leonding und danach als Stimmbildnerin an der Mansfield University. Das deutet darauf hin, dass sie 1980 nicht mehr so jung war, wie sie als Liu in Linz wirkte.)
Auf der Rückfahrt am nächsten Tag St. Florian, Stiftsbesichtigung. Im Hof spielen einige Buben Fußball. „Geh scheißn!“ Könnte der Bruckner-Toni sein.
29.9.1981
Vom Standpunkt eines unkritischen Mitglieds der modernen Zivilisation aus betrachtet, erscheint es durchaus notwendig, dass die Beziehungen zwischen den zivilisierten Individuen und ihren zivilisatorischen Einrichtungen durch Spielregeln geregelt werden, wie Gesetze, Verordnungen, Verträge, usf. Zivilisation, das ist eine gigantische Laube, planlos entstanden durch ständigen Umbau, immer nur einer bestimmten, besonders drängenden Not gehorchend, Brett auf Brett genagelt, Gesetz auf Gesetz geleimt und wieder abgerissen, das eine zu kurz, das andere zu breit, ein drittes zu lang oder zu stark, und alles löchrig und zerspalten, modrig, wackelig, zugig, lebensgefährlich, mitgenommen vom Sturm der Zeiten, niedergebrannt, notdürftig zusammengeflickt, windschief, ohne Sinn für Schönheit. In dieser Laube wurlt es wie in einem Ameisenhaufen. Man rennt, hüpft, schwingt sich, seilt sich hinauf, lässt sich tragen von einer Ebene zur nächsten, von einem Brett zum andern, von Verordnung zu Verordnung. Mancher ist schon abgestürzt und hat sich die Glieder ordentlich durchgeschüttelt dabei. Aber brav rappelt man sich wieder auf und los geht’s von Neuem. Denn eines haben alle gemeinsam: das Ziel, so hoch hinauf zum luftigen Dach zu gelangen wie nur irgend möglich. So turnen alle in den Spielregeln hin und her, werfen mit Bestimmungen, ducken sich unter Gesetze, stolpern über Verträge, wiegen sich auf Erlässen, sonnen sich unter Paragrafen, ersticken unter Verboten, hanteln sich weiter über Vorschriften und fühlen sich allesamt und ausnahmslos ständig betrogen. Ja, Betrogene seid ihr alle, die ihr in eurem Zivilisationsgebäude streitet um jeden Millimeter, die ihr feilscht um Paragrafen, die ihr euch verstrickt in Spielregeln. Teilnehmer seid ihr alle an einem gigantischen DKT-Spiel und Verlierer alle, alle. Betrogene um eure kleine Gerechtigkeit. Blinde für die Regeln des menschlichen Herzens, des göttlichen Geistes und der natürlichen ausgleichenden Gerechtigkeit. Betrogen um eure menschliche Freiheit.
Gedanken während eines trockenen Vortrags über Versicherungsbedingungen.
30.9.1981
Aufrüstung an allen Fronten. Du stellst einen Panzer auf? Ich eine Rakete. Du hältst dir eine Bomberflotte? Ich Satelliten. Du produzierst chemische Waffen? Ich nukleare!
Aufrüstung auch in Sankt Wolfgang. Vor tausend Jahren hat hier der heilige Wolfgang eine Axt vom Falkenstein hinab geschleudert, vielleicht nach dem Teufel. Wo sie liegenblieb, wollte er eine Kirche bauen. Heute fliegen in Sankt Wolfgang, so wie überall in der Welt, immer noch die Hackeln. Wir empfangen aus dem Mund eines Psychologen Kriegsmaterial, das uns unseren Kontrahenten, den Millimeterfeilschern, überlegen machen wird. Einige psychologische Tricks, wissenschaftlich erarbeitet und erfolgreich getestet, werden unser Arsenal vervollständigen. Eine feine Waffe ist das, elegant, messerscharf, sauber und unsichtbar. Wie an unsichtbaren Fäden die Marionetten können wir jetzt unsere Kontrahenten genau dorthin lenken, wo wir sie haben wollen. Im Idealfall werden sie glücklich von uns gehen, obwohl sie kein einziges Feld weitergerückt sind auf dem verwirrenden Spielplan. Wir halten Manöver ab, probieren den Einsatz moderner Lenkwaffen. Abwechselnd spielen wir Angreifer und Verteidiger. Doch diese Manöververteidiger hier kennen unsere Angriffswaffen. Sie stellen sich darauf ein und schießen mit gleicher Munition zurück. Und da sehe ich ein: diese schöne neue Waffe wird nicht die letzte sein. Der Gegner wird nachrüsten. War es nicht so mit allen früheren Waffen? Was hilft heute noch das Kleingedruckte? Selbst unter uns ist seine Anwendung nur noch verpönt!
Heiliger Wolfgang, warum hast du damals so schlecht gezielt?
„Seine Welt zeige der Künstler, die Schönheit, die mit ihm geboren wird, die niemals noch war, die niemals mehr sein wird.“
Entdeckt im Ver Sacrum beim Schmökern in Muffis Nürnberger Bibliothek.
Am Abend die „Zauberflöte“. Anständige Orchesterarbeit (Wolfgang Gayler). Taminos „Zu Hilfe!“ (Günter Neubert) charakterisiert gleich zu Beginn treffend diese Figur. Mut ist nicht gerade Taminos Stärke. Nicht nur vor der schrecklichen Schlange wird Tamino zittern, sondern noch oft auf seinem Weg zum Menschsein. Vor Papageno, den Damen, den Knaben wird er große Töne spucken, aber ein simples, wenn auch bestimmtes „Zurück!“ kann ihn verzagen machen. Dies verzeiht ihm seine Ohnmacht der Schlange gegenüber: Er ist noch nicht Mensch, soll ein solcher erst werden. Dann Muffi als Papageno. Es lässt sich nicht vermeiden, Vergleiche mit dem in letzter Zeit populären Christian Bösch zu ziehen. Muffis Vogelfänger ist nicht akrobatisch wie Böschs, aber heiter bewegt. Papagenos Vögel sind kleine, flinke Dinger. Ein Riese hat es schwer sie zu fangen. Bösch macht aus seinem Naturmenschen einen ur-Wiener Naturmenschen. Von Muffi hört man nur andeutungsweise hin und wieder wienerische Laute, gerade so viel, dass die Sympathie der Franken fürs Wienerische angesprochen wird. Im Übrigen sehen die Franken nicht einen Papageno vom Prater, sondern einen, mit dem sie sich durchaus identifizieren können. Von Muffis Text versteht man jedes Wort. Er ist ein hervorragender Sprecher. Der Duktus klingt manchmal wie aus einem Märchenhörspiel, aber bitte, wir sind in einer Zauberoper. Die ausgezeichnete Artikulation bleibt auch beim Singen erhalten. Muffis sängerische Leistung ist bewundernswert. Die Intonation ist stets sauber, ohne störende Ungenauigkeiten. Jeder Ton hat die exakte Länge, die notwendige Stütze, jede Phrase das vom Dirigenten verlangte Tempo. Man bemerkt keine Schwierigkeiten im Stimmumfang, die Stimme ist schön entwickelt, fein im Piano, mächtig im Forte. In der Szene mit Monostatos (Wilhelm Teepe) erscheint uns ein Papageno, der sich für sein anfängliches Erschrecken bald selber auslacht und entschlossener handelt als sein zum Menschwerden bestimmter Weggefährte. Rührend gelingt auch die Szene mit Pamina (S. Markovich [?]), ein musikalischer Höhepunkt, da sie und Muffi ganz mozartgerecht musizieren. Die Flucht misslingt. Sarastros Erscheinen wird angekündigt. „Was sollen wir nun sprechen?“ Pamina ist fest entschlossen reinen Tisch zu machen. „Die Wahrheit, die Wahrheit!“, und mich amüsiert in diesem Augenblick der Gedanke an eine Aufführung in russischer Sprache. Sarastro (Heinz Klaus Ecker) Hat es nicht sehr schwer und kann seinen gepflegten Bass konzentriert zur Geltung bringen. E. Bajew [?] hingegen hat mit den schwierigen Arien der „Königin der Nacht“ einige Kämpfe auszutragen. In den Texten des Programmhefts geht es um das unendliche Thema der Bedeutung dieses Werks. Das Rätsel der „Zauberflöte“ wird nie ganz zu ergründen sein, umso weniger, je mehr man es wissenschaftlich zu lösen versucht. Und doch wird man in allen Zeiten intuitiv empfinden, dass hier sich eine tief in uns schlummernde Wahrheit erahnen lässt. Nachts nach der Vorstellung werde ich Muffi mit meinem Verdacht konfrontieren, ob nicht die Rolle zutreffender ‚Königin der Macht‘ sein sollte. Er wird mich anschauen wie einen Deppen. Die Wissenschaft fragt sich heute, ob nicht Schikaneder und Mozart aus ganz handfesten Gründen der Tageskonkurrenz die ursprünglich vielleicht umgekehrte Wertigkeit Sarastro/Königin vertauscht haben. Könnten wir diese Frage auch eindeutig beantworten und tausend andere auch, es würde uns dem Mysterium nicht näherbringen. Dieser Stoff, vor allem im Gewand dieser Musik, lässt das Bestehen unfassbarer Zusammenhänge ahnen mit einer Welt, die so tief in uns ist und in die wir so tief verwurzelt sind, dass nur der Blick zu den Sternen, deren Staub wir sind, oder das Hineinhorchen in die Musik, deren Schwingungen sich paaren mit denen unserer Seele, uns ihre wirkliche Existenz auf beruhigende Weise bestätigt.
Papagena kommt aus Japan. Wir kennen sie schon aus Ingolstadt („Heimliche Ehe“). Sie ist recht lieb japanisch und heißt Yoshi Ito. Die drei Knaben sind in Nürnberg ebensolche Damen wie die drei Damen. Einer der Geharnischten ist F. Giorgio [?}, von dem Muffi herrliche Rezepte aus der italienischen Küche bekommt.
In der Zauberoper befinden wir uns in früher Morgenstunde. Selbstmordstunde in bedrückendem Morgengrau. Gerade eben haben die drei Knaben Pamina daran gehindert, sich den Dolch in die Brust zu stoßen, da haben die kleinen Lebensretter schon den nächsten Einsatzbefehl. Papageno ist im Begriff, seinen Hals an einen Ast zu knüpfen. Der Baum steht bereit, an seinem Ast baumelt schon der Strick. Regieeinfall, denke ich. Denkste. Muffi zieht seinen eigenen Strick hervor und befestigt ihn neben dem anderen. Der Einfall scheint mir schwer verständlich. Später sitzen wir in größerem Kreis beim Chinesen, da wird klar, der Einfall war kein Einfall. Der Inspizient hat einfach vergessen, den Strick von der letzten Zauberflöte abzunehmen. Muffis Kommentar hinter den Kulissen war sehr wienerisch. Man wird schon verstanden haben.
***
Die schönen Tage in Aranjuez sind nun zu Ende. Die Herren Direktoren sind dahintergekommen, dass es ewig schade wäre, den Auhof nicht selber zu nutzen für den eigenen Urlaub oder als exquisites Domizil für Persönlichkeiten, denen man verpflichtet ist oder deren Huld man anfüttern möchte. Welcher Schwachkopf hat denn dieses Juwel zu einer Seminaranlage fürs Fußvolk umbauen lassen? Das heißt wirklich, Perlen vor die Säue werfen. Diese Banausen wissen doch gar nicht zu schätzen, was ihnen da geboten wird. Versicherungsbedingungen können sie in jedem einfachen Gasthof stucken. Dazu brauchen sie wirklich keine Seeresidenz.
So tagen und nächtigen wir seit vielen Jahren wieder in einfachen Gasthöfen, immerhin auch diese an schön gelegenen Orten meistens in der geografischen Mitte Österreichs, weil die Seminarteilnehmer aus dem ganzen Land hier zusammengezogen werden. Diesmal sind wir in einem Gasthof in Altmünster am Traunsee zur Fortbildung. Es ist Anfang Mai. Ich bin mit einem Kollegen in seinem Auto angereist, weil ich beschlossen habe, am Ende der Seminarwoche meine Beine zu verwenden, wenigstens für einen Teil des Heimwegs. Während meine Kollegen nach der Verabschiedung Freitagmittag sich in ihre Autos setzen und abdüsen, schlendere ich mit meinem Rucksack zu Fuß hinunter zum See. Das Wetter ist kühl und regnerisch. An den oben noch verschneiten Bergen ziehen ein paar dunkle Wolken umher, lassen den See aber ungetrübt. Ich muss nicht lange warten, da legt auch schon das Linienschiff am Steg an. Ich lasse mich nieder auf einen der vielen leeren Sitze im Freien am Heck und genieße die Fahrt über den ruhigen See mit den wunderschönen Ausblicken. Mehr als in die anderen Richtungen schweift mein Auge über die Berge im Südosten. Dorthin soll mein Weg mich führen, aber nicht über die Gipfel, die noch schneebedeckt sind. Ich bin zuversichtlich, auf mittleren Höhen an ihnen vorbei zu finden. Meine Wanderkarte wird mir dabei helfen. Groß gedruckt über die Region kann man „Totes Gebirge" lesen.
Mehrere Anlegestellen läuft mein Schiffchen an, die meisten vergeblich, weil niemand aus- oder einsteigt. Ich frage mich, was mich bewogen hat zu dieser einsamen Wanderung. Selbstfindung? Wo stehe ich eigentlich in diesem Leben? Was habe ich getan? Was soll ich tun? Meine spontane Vereinigung mit Annamaria – die glücklichen Jahre – erwachen wir gerade aus einem Traum? Ihre immer länger werdenden Dolmetschreisen mit unbestimmter Rückkehr. Ein Gift hat sich eingeschlichen in meine Gedanken, nicht zuletzt vielleicht wegen eigenen Fehlverhaltens. Wenn ich Annamaria darauf anspreche, erhalte ich ausweichende Antworten. Annamarias Sehnsucht nach einem Kind haben wir durch Adoption eines fremden Knaben gemildert. Sein unbekannter Vater war farbig, seine Mutter drogenabhängig und HIV-positiv. Aids war noch nicht lange bekannt und schwer zu beherrschen, der Umgang damit noch hochproblematisch, die Forschung stand noch am Anfang. Ich hatte trotzdem der Aufnahme des wenige Wochen alten Knaben zugestimmt. Wie es uns bestimmt war, keine eigenen Kinder zu haben, so war es uns offenbar auch bestimmt, dieses Kind zu bekommen. Sollte es uns bestimmt sein früh an Aids zu sterben, so sei es eben so. Die Welt würde sich trotzdem weiterdrehen. Dieser kleine Knabe aber brauchte Eltern und Annamaria brauchte dieses Kind. Gesunde – und größere, also bereits vorerzogene – Kinder waren fast ausschließlich in Pflege zu haben, nicht zur Adoption. Fälle, in denen die leibliche Mutter ihr Kind nach langer Zeit doch wieder zurückhaben wollte, waren zahlreich und bekannt. Eine unlösbare Tragödie mit vielen Beteiligten. Dieser kleine Knabe war wegen der besonderen Umstände für eine unwiderrufliche Adoption sofort freigegeben. Das Jugendamt hat uns gründlich durchleuchtet, bevor es uns die Aufgabe zutraute. Viele Fragen wurden uns gestellt. Manche davon habe ich statt mit klaren Aussagen mit meinen Kindergedichten beantwortet. Ich war mir nicht sicher, ob das zielführend wäre, aber auch das überließ ich getrost der Vorsehung. Nach wenigen Tagen der Vorbereitung holten wir Mario vom Wilhelminenspital ab. Zur vereinbarten Zeit sollte Annamaria direkt von einem Arbeitseinsatz kommend in der Klinik erscheinen. Sie hatte aber deutlich Verspätung und so war ich allein dort, um die Hinweise zur Pflege von den Krankenschwestern entgegenzunehmen. Sie gaben Mario nicht gern her. Er war ihr Liebling geworden. So ergab sich für mich eine nette erste Stunde mit Mario und den Pflegerinnen ohne seine neue Mutter. Na toll. Als sie endlich kam, verpackten wir Mario in den mitgebrachten Kindersitz und diesen ins Auto. Meine Gefühle auf dieser Fahrt nach Götzendorf waren mehr von der bangen Art. Dem Stolz verweigere ich mich ohnedies beharrlich und hatte dafür auch keinen Grund. Mir war, als führte ich ein Neugeborenes mit seiner Mutter in eine ungewisse Zukunft.
Wir passieren das malerische Kirchlein auf der felsigen Halbinsel vor Traunkirchen. In mir ziehen Bilder vorüber. Wie Annamaria darauf bestand, Mario taufen zu lassen. Ich für meinen Teil betrachtete das als höchst überflüssig, doch respektierte ich ihren Wunsch. Hochwürden Vielnascher hatte die Pfarre inzwischen einem jüngeren und aufgeschlosseneren Kollegen übergeben, der ein überraschend schönes Fest in der Götzendorfer Kirche gestaltete, bei dem den wenigen Teilnehmern Wein und Brot kredenzt wurden. Weil Mario nichts bekam außer ein wenig Wasser auf den Kopf, protestierte er ein wenig. Ich hatte einen hebräischen Text zu lesen und bemühte mich um authentische Betonung. Den vielen Debatten über das Taufkleid hatte ich ein baldiges Ende gemacht. Es gäbe kein passenderes Taufkleid als die nackte Haut, bestimmte ich. So bekam Mario nur ein einfaches Tuch zum Schutz gegen die Kühle der Kirche und war beim Akt der Taufe nackt.
Ich sehe mich auf Winterreise, stundenlang die winterlichen Felder um Götzendorf umkreisen mit Mario im Kinderwagen. Der Wind bläst und die Hasen flüchten. Annamaria böse, weil ich dem Kind zu viel zumute.
Der HIV-Infekt störte nicht weiter. Man musste nur aufpassen, Marios Blut nicht direkt auf die eigenen Schleimhäute zu bekommen. Bald aber stellte sich eine andere Entwicklung als viel böser heraus. Mario hatte eine Fehlstellung der Hüfte und musste für viele Monate bei Tag und bei Nacht eine Spreizhose tragen. Das ist eine kurze Hose, die nur eine Beinstellung zulässt, die Oberschenkel diametral auseinander wie bei einem Spagat. Man muss sich vorstellen, das Kind am Beginn seines Bewegungsdrangs derart lange und stark eingeschränkt, es war eine wahre Qual für Mario, aber auch für uns selbst. An den heißen Sommertagen dazu die Hitze, wir kamen uns vor wie Folterknechte. Mario ertrug es mit erstaunlicher Gleichmut, obgleich man sah, wie er litt. Er gewöhnte sich an das Marterwerkzeug. Wir aber konnten uns daran nicht gewöhnen und litten die ganze Zeit mit. Die Zeit, die nicht und nicht vergehen wollte, und als bei der lang ersehnten Enduntersuchung das Ergebnis lautete, noch drei Monate, waren wir uns sicher, es müsse ewig so weitergehen. Wir begannen, einander Vorwürfe zu machen. Nicht wegen Marios Behinderung, aber wegen hundert unbedeutender Kleinigkeiten, wie sie alltäglich auftreten.
Wir nähern uns Ebensee. Ich denke daran, wie wir die Pflegeaufgaben den Möglichkeiten entsprechend teilten. Wenn ich Mario mit deutschen und italienischen Liedern in den Schlaf sang, konnte es schon passieren, dass ich selber einschlief, während Mario sich munter mit seinem Spielzeug beschäftigte. Wie er eines Tages, als ich einen kurzen Augenblick nicht hinschaute, aus der Gartenschaukel fiel. Das konnte eigentlich gar nicht passieren, so fest war er zwischen den Stäben eingeklemmt. Es passierte aber trotzdem. Ich sah gerade noch, wie er unter der leeren Schaukel mit dem Kopf voran auf den Boden stürzte. Ich sah mich schon vor dem Strafrichter und im Knast, noch schlimmer aber, vor der schärfsten möglichen Richterin: Annamaria. Mario schien völlig unverletzt. Er wollte sofort wieder auf die Schaukel. Ich sehe uns drei in dem schönen, geräumigen Zimmer einer Pension in Bad Gleichenberg. Ein paar Tage ausspannen in der späten Saison. Das Zimmer war groß genug für Marios Spielzeug. Am liebsten beschäftigte er sich mit einem Blatt Papier, auf das er unentwegt Autos zeichnete. Sein erstes Wort war übrigens nicht Mama gewesen oder Papa, sondern Auto. Wir machten ausgedehnte Spaziergänge im Kurpark oder lasen. Da, plötzlich ein Krach im Vorzimmer und Marios Weinen, leise zuerst, dann verzweifelt laut. Wir stürzten ins Vorzimmer, sahen Mario am langen Spiegel stehen. Der Spiegel hing nicht mehr an der Wand, er war herabgefallen und lehnte an der Mauer. Es dauerte einen Augenblick, bis mir klar wurde, was passiert war. Der Spiegel war auf Marios Fuß gefallen und stand immer noch auf ihm. Als wir ihn befreiten, sahen wir Blut durch den kleinen Socken dringen. Wir zogen ihm den Socken vom Fuß und stellten entsetzt fest, dass im Bereich der kleinen Zehe eine Wunde klaffte. Die Wunde war nicht sehr groß, aber die Zehe war praktisch nicht mehr vorhanden. Ich schnappte mir Mario, Annamaria die Socke, vielleicht befand sich der Rest der Zehe ja noch dort drin. Wie wir waren, Annamaria im Morgenmantel, ich im Pyjama, stürzten wir zum Auto und ich raste, alle Regeln missachtend, nach Fürstenfeld zum Krankenhaus. Ich war froh, dass ich gelernt hatte zu rasen, aber sicher. Ich bahnte mir den Weg zwischen Wartenden hindurch zur Notaufnahme, verweigerte das Ausfüllen von Formularen und erzwang, dass Mario sofort behandelt wurde. Während wir warteten, holten wir uns einen Kaffee aus dem Automaten. Vorüberkommende Schwestern fragten uns besorgt, in welche Abteilung wir gehörten. Wegen unseres Nachtgewands dachten sie, wir wären von dort ausgebüxt. Dann wurde Mario gebracht mit verbundenem Bein. Ein Arzt erklärte, die Zehe wäre nicht mehr zu retten gewesen, völlig zerquetscht, amputiert, keine wesentliche Beeinträchtigung der Funktionen…
Mit den wenigen übrigen Fahrgästen verlasse ich das Schifflein am südlichsten Punkt des Traunsees, in Ebensee. Vom dortigen Konzentrationslager habe ich einmal gehört. Ich dachte, es handelte sich um einen Steinbruch. Dass die Häftlinge dort Stollen in den Berg treiben sollten, um die unterirdische Entwicklung der V2 zu ermöglichen, nachdem Peenemünde ausgebombt worden war, werde ich erst später erfahren. Steinbruch oder Stollen graben, wieder einmal fühle ich mich mitschuldig an dem menschlichen Desaster.
Den Rucksack auf den Schultern und die Karte in der Hand dirigiere ich mich durch Ebensee zu einem schmalen Sträßchen, anfangs noch gesäumt von niedrigen kleinen Häuschen, die über kurz oder lang dem alles einhüllenden Wald weichen. Schritt für Schritt folge ich dem Karrenweg bergan, endlich allein mit mir. Ich erinnere einen anderen Weg, den ich einst auch allein gewandert bin, als ein Lebensabschnitt für mich zu Ende ging und der kommende noch verschwommen im dichten Nebel lag. Das Bundesheer lag hinter mir. Das Leben konnte beginnen, aber welches? Ähnlich regnerisches Wetter wie heute. Mit der Bahn nach Wilhelmsburg. Dann mit dem Rucksack unter der Regenpelerine und der Karte in der Hand östlich in die Berge. Auf gut Glück wollte ich mich überraschen lassen, was da käme. Bergauf und bergab über grünende Weiden und durch dunkle Wälder. Vor einer geschlossenen Ausflugshütte kramte ich mitgebrachten Speck, Brot und Cola hervor und spürte, dass es trotz Bewegung und üppiger Labung kalt wurde. Nass und kalt. Ich dachte an die Einsamkeit der Dichter und ihrer Figuren und wanderte weiter. Es begann nun stark zu regnen. Binnen Kurzem war ich – Pelerine hin, Pelerine her - völlig durchnässt, vom Schweiß der Anstrengung am Oberkörper, vom Regen die Oberschenkel abwärts. Ich begann richtig zu frieren und entschloss mich, die Berge zu verlassen und den nächsten Weg zur Triestingtalstraße zu suchen. Nach Stunden stand ich bibbernd an der Haltestelle und wartete auf den Bus nach Baden.
Kalkalpen waren es seinerzeit und Kalkalpen sind es heute, aber doch von anderem Kaliber. Besorgt schaue ich zum Himmel, ob ein ähnlicher Schmiss zu befürchten sei wie damals. Es sieht aber, obgleich man in den Bergen nie wissen kann, nicht sehr unfreundlich aus. Ich steuere den Offensee an, erwarte ihn schon hinter jeder Wegbiegung, da liegt etwas abseits des Karrenwegs wie eine Insel inmitten eines Sees von violetten und weißen Anemonen eine verwitterte Forsthütte. Ich schaue durch die unversehrten Fenstergläser. Zwei Räume, einer völlig leer, im anderen nichts als ein großer modernder Holztisch. Zu meiner Überraschung ist die Tür nicht versperrt. Ich betrete die Hütte, krame mitgebrachten Speck, Brot und Cola hervor. Mein üppiges Abendessen im Sitzen auf dem Tisch. Laut Karte ist es viel zu weit bis zu einer möglichen Unterkunft. Also ernenne ich meine faulende, wackelige Dinnertafel auch noch zur Bettstatt. Hart ist das Lager. Werde ich im Schlaf hinunterfallen? Kein Radio, kein Fernsehen, kein Krimi. An ihrer Stelle machen die Geräusche des Waldes die Einsamkeit unheimlich, aber das gleichmütige Rauschen vom Bach wirkt beruhigend. Es dauert nicht lang, bis ich mit der einbrechenden Dunkelheit einschlafe.
***
17.4.1981
'Nachtstudio' über Todeserlebnisse von Menschen, die reanimiert werden konnten. Als angenehm, ja erlösend empfanden sie ihr Sterben, nahmen als schon körperlose Seelen die Trennung wahr von ihrem Körper und hatten nicht den Eindruck eines Endes, sondern vielleicht einer Verwandlung. Diese Berichte passen sehr gut in mein erahntes Weltbild (Mikro-, Makrokosmos, Energiewandlung). Jedenfalls entsprechen diese Schilderungen auch meinen Erfahrungen beim Tod meines Vaters und meines Schwiegervaters. Annamaria schien ihr sterbender Vater mit zunehmender Todesnähe einer Erlösung näherzukommen. Und Tinos Körper schien bei meinem letzten Besuch im Krankenhaus zu blühen, ja er strahlte in unfassbarer Frische. „So gut wie heute Nacht habe ich lange nicht geschlafen.“ sagte er. War seine Seele schon unterwegs, heraus aus seinem Körper?
Ich erinnere mich an das Erlebnis, als meine Seele im Begriff war, meinen Körper zu verlassen. Damals, auf meiner Wanderung vom Traunsee zum Offensee, als ich in jener Forsthütte auf dem Tisch schlafend nächtigte, da hatte ich das Gefühl, aus mir herausgeschlüpft zu sein. Zwar könnte ich nicht sagen, dass ich mich in allen Einzelheiten dort liegen sah. Auf seltsame Weise waren mir auch ohne bildlich zu sehen alle Einzelheiten präsent. Vor allem aber geschah nicht – wie oft im Traum – etwas mit mir, sondern mit dem dort, der auf dem Tisch lag. Für eine mir nicht bekannte Zeit entfernte ich mich von jenem in der Forsthütte auf dem Tisch schlafenden Körper. Ganz deutlich spüre ich noch heute das seltsame Gefühl, als ich – wer weiß, weshalb – langsam wieder in den bereits starren Körper hineinsank und mit prickelndem neuen Leben füllte. Ich glaube heute, dass das damals geschah, weil der Natur nie näher verbunden war als auf dieser Wanderung. Das Erlebnis, die Wanderung haben mich zutiefst verändert, in einer Weise, wie sie diese Menschen mit den bewusst gewordenen Todeserlebnissen schildern. Kein Fremder ist mehr der Tod, vor dem mir grauen muss, sondern ein Freund, der mich überall hin begleitet, ohne dabei aufdringlich zu sein, mein bester Freund, der, weil er immer da ist, da sein wird, wenn die Zeit gekommen ist.
***
Ein paarmal schrecken Geräusche mich auf in der Nacht, schaue aus allen Fenstern, doch nur der Wind bewegt die Zweige der hohen Fichten. Beim nächsten Erwachen lacht draußen schon ein früher, heller Tag. Ich begebe mich ins Bad, das ist der Bach da drüben, und mache Katzenwäsche mit dem klaren, kalten Wasser. Einen der mitgebrachten Äpfel verspeise ich schon im Weiterziehen. Das Frühstück ist noch nicht lange zu Ende, da taucht er vor mir auf wie ein Geschenk des Himmels: der Offensee. Reglos liegt er da. In Schönheit erstarrt. Nicht überdrüssig der Einsamkeit, wie ich selbst.
Noch bin ich heute nicht weit gewandert, doch zwingt mich die Erhabenheit des Orts zur Rast. Vielleicht säße ich noch heute dort auf jenem Stein, hätte nicht meine innere Ungeduld mich bald wieder aufbrechen lassen. Meine Schritte sind bedächtig, als müsse ich meine Unruhe bezwingen. Das Wunderschöne, auf das ich unvermutet gestoßen bin, kann mich nicht festhalten. Wer nicht bereit ist zu Veränderung und Reise… Allzu bald bin ich um den See herum. Noch ein Blick zurück und ich trete wieder ein in den Wald.
Einen Jungwald seh ich am Wege stehn
flankiert von bemoosten Alten,
die mit Liebe und Sorge heruntersehn
auf die frischgrünen Kindergestalten.
Die Jungen, die Alten sind alle gleich.
Nur die Zeit stellt sie auseinander.
An Jahren so arm und so reich zugleich –
ewiges Zeitengewander!
Hin und wieder gibt eine Lichtung den Blick frei auf die verschneite Kette des Hohen und des Kleinen Priel, der meine anfängliche Hoffnung auf eine Querung zunichtemacht. Also weiter unterhalb der höheren Regionen. Das Wetter ist heute etwas besser als gestern. Grau mit helleren Phasen, trocken. Der Wind spielt in den bewaldeten Bergtälern nicht die große Rolle. Ich wandere dahin, Schritt für Schritt, freue mich an den wechselnden Farben der Ausblicke und der oft klagenden, oft heiteren Polyphonie des Vogelchors mit wichtigtuerischen Soli. Immer munter rauf und runter erreiche ich gegen Mittag das Almtal und wende mich nach Süden, wo ich bald auf eine lockere Ansiedlung stoße, deren Besonderheit in dem schweren Quader eines oberösterreichischen Bauernhauses besteht, oder auch in der Weide davor. Sie ist voller Gänse. Das sind die Probanden der „Konrad Lorenz Forschungsstelle für Ethologie“. Konrad Lorenz, Nazi, Verhaltensforscher, Nobelpreisträger, Warner vor der „Verhausschweinung des Menschen“. Die Gänse bewegen sich frei auf der Weide und dem angrenzenden Bach, der sich dort zu einem Teich erweitert. Wenn es ihnen passt, fliegen sie eine Runde, um bald wieder auf ihrer Basisstation zu landen. Ein bisschen verhausganst kommen sie mir vor. Es ist Wochenende. Das ganze Almtal ist für Nah und Fern ein beliebtes Ausflugsziel. Trotz des unsicheren Wetters herrscht hier reger Betrieb. Die Gänse stört das nicht. Im nahen Gasthaus freue ich mich an einer heißen Suppe, bevor ich meine Beine zurück ans Werk schicke. Bald erreiche ich den Almsee, sozusagen als Fleißaufgabe, denn um weiter nach Osten voran zu kommen, muss ich den halben Weg zur biologischen Station zurück. Von dort kann ich dann in Richtung Ödseen abbiegen.
Es wandert sich schön, wenn die Füße in den Schuhen blasenfrei bleiben. Eine Weisheit, derer man sich erst dann bewusst wird, wenn das Gegenteil eingetreten ist. Eine kleine Blase an der kleinen Zehe hat sich bemerkbar gemacht. Ist aber nicht so schlimm wie damals für Ryszard auf der Wanderung mit Annamaria und Halina, auch im Salzkammergut, ganz in der Nähe eigentlich, gerade jenseits der Gebirgskette, vom Grundlsee aus. Die Wahl unseres Ausflugsorts war wohl meinen Gedanken an Mamma und den Grafen Czernin geschuldet. Am besten gefiel mir dort das kunstvolle „Paschen“ der Männer zur Volksmusik am Abend im Gasthaus. Ryszard hatte ich mein zweites Paar Wanderschuhe geborgt. Er hatte sie zuvor nicht eingegangen. Wir waren schon weit im Gelände, fernab jeder Straße, als ich sein verkniffenes Gesicht bemerkte. Er wollte es nicht zugeben, aber seine Füße schmerzten schon seit längerer Zeit zunehmend. Als wir schließlich nachschauten, bot sich uns ein schreckliches Bild. An beiden Füßen gab es kaum eine Stelle mit unverwundeter Haut. Wir stützten Ryszard auf dem kürzesten Weg zum nächsten Forstweg, der für ihn zu einem sehr langen wurde. Er legte ihn in Socken ohne Schuhe zurück. Zum Glück kam endlich ein Geländewagen vorüber, der ihn und Halina ins Tal mitnahm. Damals war mein Leben mit Annamaria noch völlig blasenfrei gewesen. Irgendwann haben wir dann aber doch eine aufgerissen. Wir haben sie – wie ich diese jetzt – mit einem Pflaster versorgt und waren uns sicher, dass es nicht bei dieser einen bleiben würde. Da lagen wir nicht ganz falsch. Die Gegend, in der ich mich befinde, ist kaum besiedelt. Wenn ich nicht zurückgehen will ins Almtal, kann ich nicht mit einem nahen Nachtquartier rechnen. Glücksfälle wie letzte Nacht treten in der Regel nicht oft hintereinander auf. Also weiter mit den Blasen und die so gut es geht versorgen. Ich gelange an die beiden Ödseen, ohne unterwegs Behausungen vorzufinden und so muss es weitergehen, Blase hin, Blase her. Wegen des bedeckten Himmels kommt auch die Dämmerung früher. Ich bin richtig froh, als eine Lichtung den Blick auf ein Gehöft freigibt. Keine Antwort auf mein Klopfen. Die Tür ist unversperrt. Ich trete ein und rufe, da kommt die Bäuerin die Stiege herunter. Ich rechne mit einem Lager in der Scheune, doch die drahtige Mittvierzigerin bietet mir eine Kammer im Haus an zur Nächtigung. Sie sind auf gelegentliche Wanderer durchaus eingerichtet dort oben am Hundskogel. Ich bekomme sogar eine Eierspeis mit Hausbrot und ein großes Glas Wein. Die Bauersfrau hört sich an, wo ich herkomme und was für eine Wanderung ich vorhabe. Ihr Mann ist noch im Wald, sagt sie. Auf dem Tisch ein kleines Sträußchen Frühlingsblumen und eine von der Tochter bemalte Glückwunschkarte: Muttertag. Mama und Mamma hören heute nichts von mir. Sind sie gewohnt. Zur Eierspeis – leider – Nachrichten und Sport im Fernsehen. Margaret Thatchers erste Verfügungen als britische Premierministerin. Kreiskys erste Verfügungen als neugewählter österreichischer Bundeskanzler. Vorschau auf den kurz bevorstehenden Eintritt Griechenlands in die EU. Vorschau auf das Europapokalendspiel der Cupsieger in Basel, Barcelona – Fortuna Düsseldorf. Die zehnjährige Tochter macht dabei Hausaufgaben. Der Bauer ist auch noch nicht zurück, als es Zeit ist für uns alle, um am Polster zu horchen. Ob sie sich keine Sorgen macht um ihren Mann, frage ich sie. „Na, naa. Die Haderlumpen san sicher wieder unten im Wirtshaus.“ Die Kammer ist klein und einfach, das Bett mit Laken und Felddecke. Trotzdem schlafe ich vorzüglich die ganze Nacht durch.
Bis sechs Uhr. Da weckt mich das Radio von nebenan. Ö3-Wecker. Fahrbahnenge wegen Baustelle am Kärntner Ring. Alle Einfahrtsstraßen dichter Kolonnenverkehr und Stau. Vor meinem Fenster das Warscheneck. Hier stauen sich die Wolken. Fürs Frühstück, kommt mir vor, ist es noch zeitig. Aber den Bauern lerne ich wieder nicht kennen. Er ist schon wieder im Wald unterwegs. Das bin ich auch bald nach dem dünnen Kaffee im Emailhäferl und Schmalzbrot. Das Wetter hat sich weiter gebessert und bietet längere sonnige Abschnitte. Durch die Erfahrungen der letzten Tage mutiger geworden, folge ich mehr der Karte auch abseits der Wanderwege, immer auf der Suche nach der kürzesten Strecke unterhalb der Schneegrenze in einem großen Bogen um das östliche Ende des Toten Gebirges. Die Blasen am rechten Fuß sind durch Heftpflaster entschärft. Wo ich den Bächen ohne Markierung folge, geht es langsam voran. Immer wieder muss ich nach einer gangbaren Route Ausschau halten, mich durch schwer passierbares Dickicht kämpfen oder am Ufer von Stein zu Stein balancieren. Nach dem dritten Fehltritt ins knietiefe Wasser spielt auch das keine Rolle mehr und ich steige, wo es geboten erscheint, auch absichtlich hinein. Manchmal erweist es sich als unvermeidlich umzukehren und eine kleine Entfernung auf anderer Strecke zu überwinden. Den Zeitverlust hole ich auf den Wanderwegen und Forststraßen im mir genehmen zügigen Schritt wieder ein. So gelange ich am Nachmittag nach Hinter- und danach nach Vorderstoder und weiter zum Piessling-Ursprung. Dessen Bezeichnung ist auf der Karte vermerkt, doch ahne ich nicht, was mich erwartet und sich mir so unvermutet darbietet. Meine atemlose Bewunderung gilt einer großen Felshöhle, deren Boden ein klares dunkelgrünes, offenbar tiefes Wasser bedeckt, welches dort sich beständig sammelt und mit dem reichen Überschuss einen wildromantisch rauschenden Bach zu Tal entlässt. Was für ein Privileg, an diesem beliebten Wanderziel ganz allein ohne störende Ausflügler verweilen zu dürfen. Andächtig stehe ich eine Weile in stillem, ehrfürchtigem Staunen vor dem Naturwunder. Tiefgrün und geheimnisvoll bricht es aus der dunklen Höhle hervor wie ein Blick aus Annamarias Auge. Das Wasser aus der Höhle und der Blick aus Annamarias Seele, in gleicher Weise senken sie sich in mein Herz und alle Blasen sind vergessen. Der Piessling-Ursprung festigt meinen Entschluss: Diese Wanderung muss jetzt zu ihrem Ende kommen. Auf kürzestem Weg werde ich mich nach Spital am Pyhrn begeben, um von dort mit der Bahn zurückzukehren. Nach Hause.
So werden meine Schritte entschlossener, das Tempo auf den letzten Kilometern angezogen. Noch eine kleine Pause muss ich einlegen, gezwungen von der unsäglich melancholischen Einsamkeit der Wasserfläche des Gleinkersees. Die Sonne ist schon lange hinter den Gipfeln verschwunden. Grau und schwer liegt das graue Oval des Sees am Ausgang der hohen Berge, von wo er munter herbeigeronnen, um hier zu erstarren wie ein unterbelichtetes Schwarzweißfoto. Ich lasse mich nieder auf einer Bank am menschenleeren Ufer und lasse die Traurigkeit ein. Es ist eine Traurigkeit, die tief drinnen mit einer lebhaften Zuversicht ringt.
Traurig sitz ich am stillen See.
Abschiednehmen ist schwer wie Blei.
Sehnt mich auch dort eine Geliebte herbei,
dir hier tu ich weh, indem ich geh.
Der andern aber, indem ich bliebe.
Wie zerrissen ist diese Liebe!
Diese Treue kann ich euch schwören:
dass ich nur geh, um wiederzukehren.
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