worin vorkommen: Triest, Riva Tre Novembre, Pordenone, das Trautmannsdorfer Schloss, Laßnitzhöhe, Graz, die Rechbauerstraße, Athen, Pordenone, Pack, Griffen, das Kanaltal, die Fella, Udine, der Tagliamento, der Viale Cossetti, Peter Weber (Muffi), Wolfgang A. Mozart, Tosca, Luigi Illica, Scarpia sowie: nicht immer ist die korrekte Titulierung die beste
Die Schrunden an den Herzen werden zahlreicher hüben und drüben. Ich grüble, woran das liegen mag. Für so manche Verletzung, ich weiß es, trage ich Schuld. Mario hat das Problem nicht gemildert, vielleicht im Gegenteil. Was also könnte unserem Leben jene frische Liebe der Anfangsjahre zurückbringen? Ich verstehe, dass Annamaria, die ihr Herz so ungeschützt vor sich herträgt, es nicht leicht hat hier im Land der schwerfälligen Menschen, die das ihre hinter einem dicken Panzer versperren, damit ihm nur ja nichts passiert. Würde unser Zusammenleben sich zum Besseren ändern, wenn wir in Italien lebten? Das jedenfalls habe ich durch Annamaria gelernt, die Vorurteile der Älpler gegen Italiener sind nicht treffender als alle Vorurteile, nämlich kaum. Meine durchwegs angenehmen Erfahrungen mit Italien und den Italienern lassen mich vermuten, dass mir ein dauerhafter Wechsel dorthin verträglicher wäre als Annamaria ihre Lage hier. Mein Italienisch ist immer noch mangelhaft, jedenfalls in der praktischen Anwendung. Der tägliche Umgang damit und die durch die Übersetzungen erworbenen Kenntnisse sollten aber eine rasche Anpassung ermöglichen. Mit Billigung meiner Chefs strecke ich meine Fühler aus zur Generali, weil diese zurzeit Haupteigentümerin der Wiener Allianz ist. Ich werde zu einem Gespräch eingeladen, fahre nach Triest, übernachte in einer schmutzigen Pension in einer der lauten Durchzugsstraßen im Zentrum. Am nächsten Morgen der Gesprächstermin in der Generaldirektion der Generali. Der neoklassizistische Palazzo an der Riva Tre Novembre ist die erste nennenswerte Barrikade, die der Brise vom Golf herein die Stirn bietet. Vor dem stilvollen Gebäude in Ehrfurcht erstarrend kommt mir vor, dass hier wahrscheinlich eine Krawatte angebracht wäre. Also drehe ich noch eine Runde auf der Suche nach einem Modegeschäft, kaufe einen Kultstrick, der zu meinem Freizeithemd ganz sicher nicht passt und finde mich danach wieder an dem Habsburger Palazzo ein. Eigentlich sollte ich mich hier so zuhause fühlen wie auf der Ringstraße in Wien, aber genau genommen, richtig zuhause fühle ich mich auch dort nicht. Überdies hat meine Shoppingexkursion einige Verspätung verursacht. Erleichtert stelle ich fest, dass man mich ohnehin nicht so richtig erwartet hat, denn es dauert eine Weile, bis die dezent gekleideten Vorzimmerschönheiten mit ihren auf blass getrimmten Makeups herausfinden, dass ich kein verirrter Tourist, sondern wirklich angemeldet bin. Nach einigem bemühten Herumtelefonieren folge ich der jüngsten von ihnen durch Gänge, die sich in einer Staatsoper befinden könnten. Sie öffnet eine stuckdekorierte Flügeltür. Ich erwarte dahinter mindestens den Kaiser. Dort neben einem Barockschreibtisch, der umso riesiger scheint, weil er außer einer futuristischen Leuchte, einer geschlossenen Ledermappe, einer aufgeschlagenen Zeitung und einem modernen Telefon leer ist, steht ein soignierter alter Herr, einen Kopf kleiner als ich, Rundglatze, makelloser dunkler Anzug mit weißem Stecktuch, die silberne Krawatte von einer breiten silbernen Spange ans Hemd gefesselt. Sein Blick auf mich über die Antikbrille hinweg wirkt etwas entgeistert, die Lippen haben die Absicht etwas zu sagen wohl aufgegeben und stehen halb offen. Um mir nicht die auffällig beringte Hand reichen zu müssen, springt er behände hinter den Schreibtisch und telefoniert, ich verstehe kein Wort, worum es geht. Die kleine Sekretärin sieht mich von der Seite her verlegen an. Der Herr hinter dem leeren Tisch gibt ihr einige knappe Anweisungen, wendet sich dann an mich auf Deutsch: „Guten Tag, Herr Rickter“. Es ist das einzige, was er zu mir sagt. Die junge Frau bittet mich, ihr neuerlich zu folgen. Über einige verwinkelte Stiegen erreichen wir nun Gänge, die weit nüchterner gestaltet sind. Wir betreten ein ganz gewöhnliches Büro durch eine Glastür. Hier ist nichts leer. Alles voller Akten, wie ich es gewohnt bin. Ein typisches Arbeitsbüro. Ein Mann in kamelbrauner Hose und frischem weißem Hemd mit bunter Krawatte greift sich sein Sakko und zieht es über. Er reicht mir die Hand und bietet mir Platz auf einem Freischwingerstuhl neben seinem Schreibtisch an, nachdem er einige Akten von dort entfernt hat. An einem anderen Arbeitsplatz im selben Büro ist eine Mitarbeiterin an einem Bildschirm beschäftigt. Auch buckelig, aber viel zierlicher als was ich von daheim kenne. Der Bildschirm. Die Mitarbeiterin ist ein Twen, klein, schlank und eine Wucht. Man kann nicht sagen, dass sie auf ihrem Bürostuhl sitzt, bestenfalls dient die Sitzfläche an ihrem vordersten Rand einer ungefähren Berührung durch den rundesten Teil des Gluteus Maximus. Maximus, genau. Ihre Haltung gewinnt dadurch perfekte Eleganz. Allerdings wird durch diese Sitzposition ihr hell- und dunkelgrün karierter Minirock bis an den Ansatz der Nylons nach oben gezogen. Damit und mit der zartgelben, dünnen Seidenbluse mit einem hellgrünen Schal, der allein die Sittsamkeit des großzügig geschnittenen Blusenrevers rettet, zieht sie meine Augen immer wieder an. Ohne einen Blick zu uns herüber zu werfen tippt dieser Haufen Glut eiskalt an ihrer Tastatur. Radebrechend und von vielen Handbewegungen unterstützt erzähle ich, was ich in Wien mache. Der Anblick der reizenden Bellezza lässt mich eine Sekunde lang zögern, aber dann erkläre ich doch tapfer, dass ich beabsichtige, mit meiner italienischen Frau und unserem Sohn nach Italien zu übersiedeln. Der Mann hat meine Blicke auf seine Mitarbeiterin nicht übersehen. Doch hört er mir mit einer vielleicht vorgetäuschten Konzentration zu, etwas erstaunt und wahrscheinlich leidend wegen der Zeitverschwendung. Stronzo, mag er denken. Wo er meinem Gestammel nicht mehr folgen kann, springt, ohne ihren Blick vom Bildschirm zu nehmen, diese verlockende Ghiacciola ein und hilft ein wenig aus mit dem einen oder anderen Vokabel. Ich glaube, er redet von den formalen Problemen, die ein solcher Schritt für einen Ausländer und für die Gesellschaft mit sich bringen würde, verstehe aber keine Einzelheiten. Nur, dass Österreich vielleicht bald Mitglied der Europäischen Union werden wird. Dann könne man vielleicht weitersehen. Auch in diesem Fall würden aber die Gewerkschaften ein starkes Wörtchen mitzureden haben. Das wird wohl nichts mit der Generali, denke ich und überlege, wie ich diesen kühlen Feuerkäfer in ein Ristorante bekomme.
Gar nicht so selten kommt es vor, dass unsere Kunden Unfälle im Ausland bauen oder auch im Inland mit Ausländerbeteiligung. Manchmal sind sogar mehrere Nationalitäten in ein Ereignis verwickelt. Dann wird es für alle Beteiligten kompliziert, sogar für uns Profis. Wer ist schuld? Welche Ansprüche haben die Beteiligten? Wer ist zuständig? Wie kommuniziert man? Man sollte meinen, innerhalb eines internationalen Konzerns sollte die jeweilige Schwestergesellschaft solche Aufgaben gut abdecken können. Weit gefehlt! In der Praxis gelingt das zumeist nicht zufriedenstellend, sei es aus Mangel an Interesse, weil die Mühe sich nicht lohnt, weil man nicht über das eigene Geld entscheidet, wegen Verständigungsprobleme, vor allem aber weil selbst die spezialisierten Kenntnisse der Mitarbeiter an der eigenen Staatsgrenze enden. Zum Glück gibt es den Pscheidl. Dem Hörensagen nach war der Steirer nach dem Krieg in Jugoslawien in einen Verkehrsunfall verwickelt worden, dessen wirtschaftliche Folgen niemand abzuwickeln vermochte, nicht die Versicherungen, nicht die Anwälte, niemand. Pscheidl begann, sich selber mit der Materie auseinanderzusetzen. Er studierte die infrage stehenden Rechtsordnungen, die Judikaturen und vor allem die legalen und illegalen Praktiken in den einzelnen Ländern und den betroffenen Versicherungsgesellschaften. Er erkannte die Marktlücke, die sich hier auftat und gründete ein Schadenbearbeitungsbüro namens Avus. Er nützte die Kenntnisse von ausländischen Profis, die seine Wege kreuzten und mit denen er sich anfreundete. Viele von ihnen arbeiteten seither für Avus. Ob als angestellte Mitarbeiter oder als freie Konsulenten, Pscheidl summierte sie alle zum Personalstand. Die Versicherungsbranche im In- und Ausland kannte er inzwischen wie seine Westentasche und die Branche kannte ihn. Sein Unternehmen breitete sich bald über weite Teile Europas aus. Der Hauptsitz war in Graz. Ich kenne Avus, weil die Mitarbeiter seines Wiener Büros häufig Schäden mit uns zu regulieren haben, über Korrespondenz auch das Grazer Büro. Dieter, den Sohn Pscheidls, der nach seinem Studium in die Firma eingetreten war, lernte ich kennen, als er in der Vorweihnachtszeit die Ochsentour mit kleinen Weihnachtsgaben durch die Schadenabteilungen aller Gesellschaften machte und sicherlich auch durch die Direktionsebenen, dort wohl mit größeren Gaben. So wie es die lokalen Praktiken verlangen.
Generali hat nicht geklappt, denke ich, aber warum nicht Avus? Ich weiß, dass die ein Büro in Pordenone haben. Vielleicht ist das ja die ideale Stelle für einen österreichischen Schadenmann in Italien? Ohne viel nachzudenken fahre ich ins Wiener Avus-Büro und informiere den Leiter über meine Pläne. Avus war schon immer ein Sammelbecken von Schadenleuten aus Versicherungen, ist ja naheliegend, und Lackner, der Wiener Chef, zeigt sich sofort interessiert. Man bekommt nicht alle Tage einen – wenigstens national - ausgebildeten Profi, der trotz siebzehn Jahren Berufserfahrung noch nicht zum alten Eisen gehört.
Zu meiner Überraschung zeigt sich Annamaria nicht besonders angetan von meinem Vorhaben. Trotz der vielen Umstände, die sie hier stören, scheint es irgendetwas zu geben, das sie nur ungern aufgeben möchte. Die Zeit drängt. In ein paar Tagen kommt Pscheidl Junior nach Wien. Da sollen Entscheidungen fallen. Ich nagle sie daher gleich beim Abendessen fest.
„Ich verstehe nicht, weshalb du jetzt zögerst. Du hast doch so oft gewünscht, in Italien zu sein. Jetzt, wo sich diese Möglichkeit bietet…“
„Wir müssen auch an Mario denken. Er beginnt gerade zu reden. Deutsch.“
„Mario wird ohne Probleme italienisch aufwachsen. Von mir wird er dazu Deutsch lernen. Ein unschätzbarer Vorteil für einen jungen Mann in Italien.“
„Du tötest deine Mutter, wenn du fortgehst. Sie hat nur noch dich außer Mamma.“
„Die beiden alten Damen können uns doch besuchen, wenn sie wollen auch für länger. Ich glaube, beide werden damit ganz gut fertig werden.“
„Mein Gott, mir genügen die Wochenenden, wenn sie angetanzt kommen. Soll ich sie in Italien jeden Tag am Hals haben?“
„Annamaria, das sind doch alles keine unlösbaren Probleme. Mama wird sehr schnell Anschluss finden in Italien. Du kennst sie doch. Wenn du es willst, kannst du ihr dort genauso aus dem Weg gehen wie hier.“
„Hast du gar keine Angst um deinen guten Job? Was ist, wenn es nicht klappt mit der Avus? Vergisst du, dass du Verantwortung hast für unseren Sohn?“
„Schau, Annamaria, ich bin einmal als kleiner Bub über den Heldenplatz gegangen und habe mir überhaupt nicht vorstellen können, was einmal aus mir wird. Da hab ich die Gänseblümchen im Rasen gesehen, hab gesehen wie sie blühen, ohne ein Problem daraus zu machen. Das hat mir Mut gemacht. Mut ohne Sicherheit. Sonst wär’s ja kein Mut. Und schau, es ist alles gut geworden ganz ohne Sicherheit. Wie ich die Schule abgebrochen hab, wie sie mich bei Hertz gefeuert haben, der Mut hat mich letzten Endes immer gut bedient. Dass wir zusammengegangen sind, hat es da Sicherheit gegeben? Hat es nicht. Nur Mut. Zugegeben, das schaut jetzt nicht so rosig aus, aber ich glaube daran, dass mit Mut vieles wieder gut werden kann.“
„Rainer, du drängst mich in die Enge. Du erdrückst mich mit deinen Argumenten. Ich kriege keine Luft! Hör zu. Es gibt noch einen Grund, wieso ich jetzt nicht fort möchte. Ich werde ihn dir sagen, wenn du versprichst keine Fragen zu stellen. Es genügt, wenn du das Wesentliche weißt. Du musst keine Einzelheiten wissen.“
Mir schwant, dass was ich zu hören bekommen werde nichts Erfreuliches sein wird. „Schieß los.“
„Schau, Rainer, wir haben so viel Schönes miteinander erlebt. Jetzt ist das Profil abgefahren, du merkst es ja selber. Du bist immer mehr mit dir selbst beschäftigt.“
„Fühlst du dich vernachlässigt?“
„Vernachlässigt? Nein. Rainer, nicht vernachlässigt. Ich werde geliebt. Es gibt da einen, der mich so sehr liebt, ich glaube, mehr als du mich jemals geliebt hast. Jedenfalls mehr als du mich jetzt liebst.“
„Mehr als ich dich jetzt liebe? Ich adoptiere ein Kind für dich, ich gebe meine Heimat für dich auf, gebe dir deine Heimat zurück. Kann man jemanden mehr lieben?“
„Man kann, Rainer. Er kann. Es sind nicht große Gesten, die die Liebe zeigen. Es sind mehr die kleinen Dinge. Viele kleine Dinge. So wie viele kleine Dinge trotz großer Gesten die Nichtliebe zeigen können.“
Ich erlebe ein Replay des Augenblicks, als ich von Brigittes altem Liebhaber erfuhr. Der Wein schmeckt bitter.
„Liebst du ihn?“
„Rainer, ich liebe dich.“
Unsere Blicke treffen einander. Meine Augen sind groß und erstaunt.
„Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben. Du hast aufgehört mich zu lieben. Der Andere liebt mich jetzt und über die Maßen. Ich weiß nicht, ob er mich morgen noch lieben wird. Wie ich nicht wusste, ob du mich morgen noch lieben würdest. Heute gehöre ich ihm, weil ich ihm gehören muss.“
Gegen alle Vernunft springe ich vom Stuhl, ziehe meine Schuhe an und laufe hinaus in die Au. Ich achte nicht auf den Weg, stehe aber plötzlich vor dem Trautmannsdorfer Schloss. Bedrohlich ragt sein plumper Korpus in die Nacht. Die Stille ist vollkommen, doch ich höre sie schreien.
Es ist spät, als ich zurückkehre. Annamaria ist noch wach.
„Was soll jetzt werden?“ frage ich.
„Rainer, du entscheidest. Aber ich komme jetzt nicht nach Italien. Er braucht mich hier.“
Nur wenige Tage später treffe ich Dieter Pscheidl. Ich habe entschieden. Es dauert keine halbe Stunde und wir sind uns einig. Ich werde zu Avus wechseln und mich anfangs in Wien, dann in Graz einarbeiten, mit dem Aspekt, bei erster sich bietender Gelegenheit nach Pordenone zu wechseln. Es wird noch einige Zeit vergehen bis dahin. Wer weiß, was noch passieren wird.
***
Wir gaben ein großes Abschiedsfest in Götzendorf für meine Allianz-Kollegen. Die ganze Schadenabteilung, einige Kollegen aus anderen Abteilungen, die Chefs, sogar der joviale Landesdirektor Waldschläger, mit dem ich nie ganz grün geworden bin. Seiner kurzen Rede zufolge wäre ich einer seiner meistgeschätzten Mitarbeiter gewesen und die ganze Gesellschaft ginge ohne mich einer düsteren Zukunft entgegen. Ich hatte nur mitgeteilt, dass ich zu Avus wechsle, den Hintergrund Italien nie erwähnt, aber alle wussten es. Manche waren gerührt, viele konnten es nicht verstehen. Wie blöd muss man sein, um nach siebzehn Jahren eine Stelle aufzugeben, die bis zur Pension relativ gesichert erscheint, auf die Abfertigung zu verzichten, ein schöner Batzen Geld! Ja, wenn ein Millionengewinn dahinter stünde. Das hier aber wäre ein Salto mortale ohne Netz. Trotzdem war die Stimmung bestens, wenigstens die der Anderen, alle wollten Mario auf dem Arm halten. Annamaria war eine aufmerksame Gastgeberin. Die Gäste fühlten sich wohl. Von unserem wirklichen Problem ahnten sie nichts.
Der Beginn bei Avus in Wien in einem finsteren Gassenlokal war eine triste Angelegenheit. Das Mobiliar war abgenutzt wie das Personal, bestehend aus Lackner, seiner Frau, beide Tiroler, und noch einer Person. Ich bearbeitete kleine, uninteressante lokale Schadenfälle mit Ausländerbeteiligung, lernte dabei aber erste wichtige Grundlagen der Materie kennen. Es war still im Büro. Jeder arbeitete vor sich hin, ohne viel zu reden. Nur ganz sporadisch kam Lackner ein Lacher aus, mir kam vor, weniger vom Herzen als aus Verzweiflung. Die gleich langen Tage erschienen viel länger als die bei der Allianz. Würde es in Graz besser werden? Wenn nicht, dann gute Nacht.
Wien dauerte nur zwei Monate. Gottseidank. Die abendliche Südautobahn, kurz vor Graz die Laßnitzhöhe. Die Sonne war untergegangen und hinterließ ein Meer in Orange und Rot. War die Straße auch kurvig, sie führte letztlich genau hinein in dieses Farbenscherzo. Ein treffenderes Anzeichen für die kommenden Veränderungen konnte es nicht geben. Heute Mittag noch Hauseigentümer, Frau und Kind und Garten, schon denselben Abend einsamer Bewohner dieser engen Kammer im Kolpingheim, die wenigen in einer Reisetasche mitgebrachten Sachen im schmalen Schrank verstauend. Sepp, einer meiner zukünftigen Kollegen wohnte auch hier. Es war noch kein Jahr, dass er aus Oberösterreich zu Avus in Graz gestoßen ist. Ein stiller, junger Mann, freundlich, in sich gefestigt, nach dem Jusstudium in Linz den rechtsaffinen Job angenommen, um damit Geld zu verdienen. Auf seine Vermittlung geht meine Unterkunft hier zurück. Fürs erste.
Am nächsten Morgen gehen wir miteinander zu Fuß vom Kolpingheim in die Rechbauerstraße. Graz an einem Herbstmorgen. Nebel. Feuchte Kälte nistet sich ein in die Kleider. Viele eifrig kurbelnde Radfahrer inmitten der Abgaswolken. Wir nehmen die Nebenstraßen. Zwanzig Minuten fürs erste Kennenlernen. Sepp Schörghuber ist in der Inlandabteilung. Schadenfälle im südlichen Österreich. Da werde auch ich anfangen. Hier sind die meisten Bezüge zu meiner bisherigen Tätigkeit gegeben, die ja auch Inland war. Über den Abteilungsleiter, den sie „Gott“ nennen, will Sepp sich nicht richtig äußern. Ich würde ohnehin gleich vor ihm stehen. Es klingt so, als käme gleich das Jüngste Gericht. Die Firma ist in einem mehrstöckigen Wohnhaus aus dem Fin de Siecle untergebracht, das sie zur Gänze einnimmt. Das Inland liegt in einem Teil des Erdgeschosses. Ich lerne zwei junge, sehr weibliche Büroengel kennen. Und Gott. Sepp will mich vorstellen. Wir betreten das Allerheiligste Gottes. Gott ist einige Jahre älter und ein wenig größer als ich. Das Jackett seines hellen Anzugs hat er abgelegt. Die dunkle Krawatte kontrastiert zum weißen Hemd. Er sitzt hinter einem Schreibtisch, der trotz seiner eindrucksvollen Maße überladen ist mit sehr dicken Akten. Über den oberen Rand seiner Brille hinweg schaut er mich kurz an, wendet sich aber sofort an Sepp. „Wissen Sie, Schörghuber, was los war, als ich hier reingekommen bin?“
Sepp weiß es nicht.
„Daaas Feeenster waaar oooffen!“ Gottes Brüllen klingt wie Donnerhall. „Oooffen! Offenes Fenster!Daaas gaanze Wooocheneeende!“
Solche Töne habe ich zuletzt beim Bundesheer vernommen, wenn der irre Ausbildner namens Blutauge irgendwo Staub fand, der dort nicht hingehörte.
„Herr Gotschuly“, entgegnet Sepp verdattert, „die Fensterflügel waren verschränkt…“ Er will fortsetzen, aber Gott unterbricht ihn.
„Verschränkt ist offen, Schörghuber. Hab ich nicht angeordnet, dass das Fenster niemals offen bleiben darf, wenn niemand im Büro ist?“
„Schon, Herr Gotschuly“, sagt Sepp defensiv, „aber…“
„Aber gibt’s nicht!“ Gott donnert nicht mehr, klingt aber scharf wie ein Messer. „Wenn ich sage, verschlossen, dann heißt das verschlossen! Und nicht verschränkt! Die Konkurrenz schläft nicht. Verschränkte Fenster sind kein Hindernis, schon gar nicht hier ebenerdig zur Straße hinaus. Die warten nur darauf, dass eines Tages ein Fenster nicht richtig zu ist und schon sind sie drinnen und schnüffeln alles aus! Außerdem, haben Sie schon einmal von Ausschließungsgründen in der Elementarversicherung gehört? Offenes Fenster ist einer davon! Wollen Sie, dass wir pleitegehen, Schörghuber? Oder stecken Sie vielleicht sogar mit denen unter einer Decke?“
Ich bin perplex. Bin ich hier im Fort Knox, umzingelt von der Panzerknackerbande? „Herr Gotschuly“, rechtfertigt sich Sepp, „ich war am Sonntag, gestern, den ganzen Tag hier, arbeiten. Das Fenster war verschränkt. Ich dachte, es war Ihre Absicht, wenn Sie es so hinterlassen haben.“
„Wurscht, Schörghuber! Völlig wurscht! Wer das Büro verlässt, hat zu schauen, dass alles verschlossen ist und finster, ist verantwortlich dafür! Verantwortlich, Schörghuber! Sie haben das Büro zuletzt verlassen und das Fenster war offen!“ Sein Ton ändert sich plötzlich in geflissentliche Vertrautheit. „Soweit ich gesehen habe, ist gottlob nichts passiert. Schwein gehabt, Schörghuber. Wir dürfen denen keine Chance lassen, Schörghuber. Sowas darf einfach nicht mehr passieren, gelt?“ (Er spricht es mit offenem ö aus, also „gö“). Und mit sich wieder verschärfender Stimme, „Sonst können S‘ wieder Äpfel klauben im Mostviertel, gö?“. Überhaupt, wo wir doch jetzt mit einem echten Experten beglückt sind, gö?“ Damit wendet er sich mir zu.
Obwohl die ganze Szene Sepp galt, stehe auch ich da wie ein begossener Pudel. Gott reicht mir die Hand über den Tisch hinweg. Sie ist schwammig und schweißnass. „Wir haben von Ihnen nur das Beste gehört, Richter. Hoffentlich enttäuschen Sie uns nicht. Sie werden sehen, wir haben hier ein kleines Schmuckkasterl von Schadenabteilung, gö? Wahrscheinlich die Eliteabteilung in Europa. Wir bekommen Anfragen von den renommiertesten Anstalten aller Nationen. Hier geht nichts raus, was nicht perfekt ist, gö? Und wissen Sie, Richter, wer entscheidet, ob was perfekt ist?“ Er wartet meine Antwort nicht ab. „Genau. - Schörghuber zeigt Ihnen alles, gö? Ich hab schon ein paar Akterln für Sie hergerichtet. Sind ein paar gschmackige Zuckerln dabei, gö? Bin gespannt, wie Sie das anlegen werden. Bevor S‘ anfangen, gehen S‘ aber rauf zum Direktor sich vorstellen, gö?“
Noch schwindelig von der unerwarteten Szene bei Gott steige ich durchs alte Stiegenhaus hinauf zu den Chefbüros. Man hat dem Gründerzeitbau seinen Charakter gelassen und keinen Lift eingebaut. Der Herr Doktor Pscheidl und der Herr Direktor seien gerade in einer Besprechung, sagt die Sekretärin, aber durch die offene Tür hört man Pscheidl Juniors Stimme, „Soll reinkommen.“ Vater und Sohn sitzen an einem Couchtisch mit Kaffeetassen, Zeitungen und ein paar Arbeitsmappen. Der Junior auf dem Sofa vor der Wand, der Senior auf einem Fauteuil, das einmal bordeauxrot gewesen sein mag. Der Direktor ist ein kleiner, schlanker Mann in schwarzem Anzug mit silbern karierter Krawatte, runder Kopf mit kurzem, glattem, grauen Haar, vorne schon etwas licht, aus weit auseinander stehenden Augen schießen scharfe Blicke, darunter zieht sich ein breiter Mund von Wange zu Wange. Der Sohn im braunen Tagesanzug stellt mich dem Vater vor. Die beiden gut gekleideten Herren sitzen, ich stehe vor ihnen, ganz casual. Wir wechseln einige Worte über meine Absichten Italien betreffend. Ich bin schon ein blöder Hund. Wieso fällt es mir so schwer, den Senior mit „Herr Direktor“ anzureden? Seine Augenbraue zuckt doch merklich, wenn ich seinen Sohn „Herr Doktor“ nenne, den Senior aber einfach „Herr Pscheidl“. Er hat sich das sicherlich so vorgestellt: Ich würde ihn „Herr Kommerzialrat“ nennen und er würde jovial berichtigen, „Sagen Sie einfach Direktor.“ Und jetzt tituliert dieser Schnösel ihn „Herr Pscheidl“. Hätte ich gewusst, dass die Geschichten, die ich über die Entstehung von Avus gehört hatte, nur sehr ungefähr zutrafen, hätte ich gewusst, unter welchen Umständen dieser Mann seine Firma aufgebaut hat, vor allem in den ersten Nachkriegsjahren, alles ringsum zerstört, vorhanden nur der Mangel an allem, ein Transportunternehmen aufgebaut hat mit Verkehr über die Zonengrenzen hinweg, wieviel tausend Schwierigkeiten und Probleme er zu überwinden hatte, um einen LKW zusammenzubasteln aus drei schrottreifen Wehrmachtslastern, ihn in Bewegung zu setzen, in Bewegung zu halten und bald noch drei weitere, sie alle aus plötzlicher sowjetischer Beschlagnahme loszueisen, einen davon Tag und Nacht selber zu fahren, Treibstoff zu organisieren, bei den Amerikanern Wachauer Wein gegen LKW-Reifen einzutauschen, die Lastwagen wieder zu verkaufen, um die Schäden abzudecken, welche seine Fahrer durch Unfälle verursacht hatten, für die keine ausreichende Versicherungsdeckung bestand, wodurch dann der zweite, zutreffende Teil meiner Geschichte ins Rollen kam, ich hätte den Mann anerkennend mit „Herr Direktor“ angesprochen. Das alles weiß ich aber nicht. Und so kommt es mir eine schäbige Schleimerei vor, ihn Direktor zu nennen. Vielleicht imponiert es ihm ja, wenn einmal einer nicht den Staub von seinen Schuhen leckt. Was für eine Fehleinschätzung! Töricht, wenn man bedenkt, dass der Mann mich postwendend heimschicken kann nach Götzendorf, ohne Geld, ohne Job. Zum Glück tut er es nicht. Vielleicht ist es ihm doch wichtiger, meine fachlichen Ressourcen zu bekommen. Dennoch wird diese Demütigung nicht in Vergessenheit geraten und vielleicht noch eine wichtige Rolle spielen.
***
Gottes paar Akterln bestanden aus einem Stapel schwerer, abgegriffener Wälzer. Hat man eine Akte von Anfang an selber bearbeitet, so nimmt man sie zur Hand und kennt sich aus. Das meiste hat man schon studiert, bevor man es in die Akte aufgenommen hat. Sich in eine umfangreiche fremde Akte einzulesen, kann schon geraume Zeit dauern. Für Gottes Schinken waren zwischen einem halben Tag und drei Tage erforderlich. Allzu lange durfte es nicht dauern, das war mir klar, Überfliegen ging aber auch nicht, denn jedes übersehene Detail würde Gott in seinem Vorurteil bestärken, er wäre als einziger imstande, das Problem zu lösen. Und dass die Leitung unfähig wäre, geeignete Mitarbeiter aufzutreiben. Hatte er nicht schon genug am Hals, Schörghuber, den Metierneuling, ausbilden zu müssen? Dazu jetzt auch noch den Neuen. Beim Lesen der Akte, die zuvor Gott selbst bearbeitet hatte, lernte ich einiges über seine Arbeitsweise und Kenntnisse. Aber auch über seine Lücken, denn niemand ist perfekt, nicht einmal Gott. Bald bemerkte ich, dass die Akten jeweils dort aufhörten, wo komplizierte Rentenberechnungen nötig waren. Manchmal schien der Schritt schon getan, weil ein Ergebnis vorlag, bei genauerem Hinsehen zeigte sich aber, dass es eher auf Kalkül beruhte, als auf Kalkulation. Es fiel mir nicht schwer, die Berechnungen vorzunehmen oder richtigzustellen. In anderen Fällen bestand das Problem darin, entsprechende Judikatur aufzutreiben. Man muss bedenken, dass es noch kein Internet zum Nachsuchen gab. Trotzdem fiel mir auch das nicht schwer, weil ich in der Erkenntnis, um was für einen Schatz es sich handelte, meine umfangreiche Judikatursammlung, über viele Jahre für mich angelegt, mitgenommen hatte, die vorhandene öffentliche Sammlungen oft sehr wirksam ergänzte. Die fremdsprachlichen Aktenteile waren übersetzt von Mitarbeitern der Auslandabteilungen. Das Warten auf die Übersetzungen verlängerte die Bearbeitungszeiten beträchtlich. Was Englisch, Italienisch und Französisch anlangte, wäre das für mich nicht notwendig gewesen. Sepp sprach Englisch. Das kam hier aber nur sporadisch vor. Gott, der Allmächtige, hatte zwar die Fremdsprachen geschaffen, auf Seinen undurchschaubaren Plan geht aber auch das Einander nicht verstehen zurück, beides verwendete Er sogar als Waffe. Unser irdischer Gott versuchte, Sprachdefizite durch österreichischen Charme und viele „Gös“ auszugleichen.
Schon bei der Allianz war mir aufgefallen, dass ich nach Beauftragung von Avus kaum Rückmeldungen zum Fortgang der Sache erhielt. Ich musste immer erst nachfragen, dann kam eine oft wenig sagende Information meist dilatorischer Art. Das führte zu unangenehmen Fehleinschätzungen bei der erforderlichen Reserveerstellung. Außerdem schloss es jeden unter Umständen möglichen Beitrag des Auftraggebers zur Problemlösung aus. Hatte ich damals noch angenommen, dass es sich um Ausreißer gehandelt hätte, die immer einmal vorkommen können, so fiel mir jetzt auf, dass es sich um einen eher systemischen Mangel handelte. An Gottes mangelnden Fremdsprachkenntnissen konnte es nicht liegen, die meisten Auftraggeber waren aus Deutschland. Die fehlenden Infos über den Sachstand waren einer der Gründe für die von den Auftraggebern gepflegte Hassliebe Avus gegenüber. Man liebte Avus nicht, aber man brauchte den Pscheidl. Es gab nichts anderes. Ich nahm mir vor, diesbezüglich aufmerksamer zu sein.
Wahrscheinlich gehörte zum Test auch die Feststellung meiner Bereitschaft zu Überstunden. Die Arbeitszeit war fix geregelt. Montag bis Freitag mit einer Stunde Mittagspause, Samstag bis dreizehn Uhr. Wer wie Sepp und ich sowie viele andere Mitarbeiter weit von der Familie entfernt war, durfte seine Samstagstunden auf die anderen fünf Tage aufteilen. Ich fuhr aber wie Sepp nicht jedes Wochenende nachhause und im Lauf der Zeit immer weniger. Überstunden wurden nicht verlangt, aber gerne akzeptiert, wenn auch nicht bezahlt. Die Entlohnung insgesamt war aber in Ordnung. Ich bekam dasselbe wie von der Allianz. Wollte man Überstunden machen, konnte das nur im Büro geschehen, weil Gott angeordnet hatte, dass keine Akte das Büro verlassen durfte. Für Verhandlungen und Besprechungen außer Haus mussten die erforderlichen Teile kopiert werden, das Original blieb jedenfalls im Büro. Gott wollte so unerwünschtes Schnüffeln durch wer weiß wen oder gar den Verlust der Akte unterbinden. Also gab es oft lange Abende oder Wochenenden im Büro. Es störte mich nicht. Die Dienstnehmermentalität hatte ich bei der Allianz zurückgelassen. Ich begann, den Beruf wieder mit anderen Augen zu sehen, mit denen des Unternehmers. Ganz so wie dazumal im Car Rental.
Mein Akterl-Test muss überzeugend gelungen sein, denn Gottes Kritik war kleinlaut, kurz und ohne Substanz. Die meine hingegen umfangreich, sachlich begründet und wahrscheinlich schmerzlich. Als Gott sah, dass Sepp begann, bei mir Hilfestellung für seine Fortbildung zu finden, fing er wohl an sich Sorgen zu machen um seine Machtposition im All. Er unterstützte fortan meine Bestrebungen, den Wechsel nach Italien bald zu vollziehen. Mir war es recht.
Das Kolpingheim war eine Angelegenheit von zwei Wochen. Dann gewannen die wenigen Freizeitstunden an Farbe. Ein Platz in einer WG war frei. Ich eilte sofort dorthin, traf eine kleine, wüst aussehende Studentin an. Sie bat mich in die Küche. Sie schien aufgeräumt, abgesehen von offenbar soeben verwendetem Koch- und Essgeschirr. Dagmar war die Hauptmieterin und entschied über die Vergabe der beiden anderen Zimmer. Sie zündete sich eine Zigarette an und hielt auch mir die Packung hin. Ich lehnte ab, weil ich seit etwa zwei Jahren nicht mehr rauchte. Das Aufhören war mir leichtgefallen. Durch die Rosskur mit den Zigarren im Großraum hatten Glimmstängel aller Art begonnen mich anzuwidern. Zu meinem Erstaunen drückte Dagmar ihre Zigarette wieder aus. Sie benutzte dazu eine herumstehende Untertasse. „Du hast das Zimmer,“ sagte sie kühl. „Ich wollte nur sehen, ob du Raucher bist.“
Die Dreizimmer-Wohnung war dunkel, altmodisch möbliert, aber ruhig, in einer Nebenstraße nahe dem Kolpingheim. Daher traf ich weiterhin oft auf Sepp bei den morgendlichen Märschen durch Graz. Ich kann nicht verhehlen, dass ich spießbürgerlich genug war, das plötzliche Zusammenwohnen mit zwei jungen Frauen aufregend zu finden. Das legte sich aber bald, als ich sah, dass beide keinerlei Interesse an mir, dem Nichtraucher in den besten Jahren, bekundeten. Ihr Desinteresse ging so weit, dass ihr Aufwand bei der Verhüllung ihrer Reize vor mir ein absolutes Mindestmaß nicht überstieg. Sie betrachteten mich als Mitbewohnerin oder vielleicht auch als Vater. Sicherlich hatten sie ihre festen Freunde, wenngleich ich nie einen davon zu sehen bekam. Sowieso trafen wir äußerst selten aufeinander, kam ich doch meistens nur zum Schlafen heim. Die Tür zu Dagmars Zimmer stand immer halb offen. Man hörte von dort Popmusik, wenn sie zuhause war. Sie schien mir ein wenig verrückt, jedenfalls wankelmütig und fahrig. Ob die andere anwesend war, konnte ich nur am fehlenden Telefonapparat erkennen, den sie wegen der langen Schnur in ihr Zimmer mitnehmen konnte, was sie sehr häufig und lange, sehr lange tat. Für beide Damen war das Telefon ein Reizthema. Es war nicht das Bad und nicht die Küche. Es war das Telefon. Es gab keinen Zähler. Man schätzte die Dauer des Telefonats und legte den vermuteten Betrag in ein Gurkenglas. Klar, dass die Schätzungen im Laufe des Monats sehr weit von der bitteren Wirklichkeit abwichen. Wenn die Rechnung kam, mussten wir immer feststellen, dass weniger als die Hälfte eingezahlt worden war. Dann brachen gereizte Diskussionen aus, wer wieviel von dem fehlenden Geld beizusteuern hatte. Jede hatte selbstverständlich immer mehr als reichlich ins Gurkenglas geworfen. Aus den Diskussionen wurden erbitterte Streite. Das Problem schien jedes Mal völlig unlösbar. Die Debatten wurden meistens in der Früh während des Schichtwechsels beim Badezimmer geführt. Meine Mitbewohnerinnen schienen nicht zu ahnen, wie die weithin entblößten Formen der erzürnten Mädchen, nur wenig davon entfernt, einander in die Haare zu fahren, mich anturnten. Auf die Gefahr hin zur Arbeit zu spät zu kommen, unternahm ich so lange als möglich nichts, was dieses Spektakel abkürzen hätte können. Erst als die Auseinandersetzung in Tränen zu enden drohte, erklärte ich mich bereit, den fehlenden Betrag zu ersetzen. Für mich war es eine kleine Summe, aber für die beiden Studentinnen Grund genug, wüst über einander herzufallen. Sie schauten mich zuerst ungläubig an, begruben das Kriegsbeil und küssten mich nacheinander auf die Wange, wobei ich die Hitze der Haut der Kleineren und die Hitze des Atems der Größeren spürte. Ich freute mich auf den nächsten Monat und legte in der Folge absichtlich viel zu wenig für meine Telefonate ins Gurkenglas.
Wenn die Abende im Büro nicht zu lang wurden, informierte ich mich über das aktuelle Kulturangebot in der Stadt. Das Angebot mag in Wien umfangreicher gewesen sein, aber dort musste man sich lange vor einer Aufführung entscheiden Karten zu kaufen, wenn man überhaupt welche ergattern wollte. Ob man dann an dem betreffenden Abend in der Stimmung für die Aufführung war oder doch zu müde, war reiner Zufall. Hier in Graz war das Angebot auch sehr vielfältig und man konnte sich im letzten Augenblick für das eine oder das andere Ereignis entscheiden. Mit wenigen Ausnahmen bekam ich immer eine Karte. Ich besuchte mehrmals die Woche Oper, Schauspielhaus oder Stefaniensaal, je nach Lust und Laune. Noch öfter ging ich in die Musikakademie. Schon in Wien hatte ich bisweilen die Probeabende der Studierenden aufgesucht, die dabei Erfahrungen für Auftritte vor Publikum sammeln sollten. Dazu luden sie alle Verwandte und Bekannte ein. Muffi hatte ich an so einem Abend in Wien das erste Mal öffentlich gehört. Der Eintritt war geringfügig, hier in Graz kostenlos. Mehrere Ausführende sorgten dafür, dass nicht ausschließlich vor dem eigenen Publikum aufgetreten wurde, denn immer war auch die Zuhörerschaft der anderen Studierenden anwesend. Und auch der eine oder andere Musikschmarotzer wie ich. Auf diese Weise lernte ich eine Menge Literatur kennen und mehr als das auch, wo die speziellen Schwierigkeiten für den Künstler liegen. Die Sänger und Sängerinnen aller Stimmlagen, sämtliche Orchesterinstrumentalisten, alle am Klavier begleitet von gleichfalls Studierenden, manchmal von ihren Lehrern. Gegen Ende des Semesters gab es halbszenische Aufführungen von Opern, zumeist von Mozart, oder Oratorien. Wenn es auch noch ein gutes Stück Weges war zur annähernden Perfektion, der letzte Schliff noch fehlte, ich liebte es, den jungen Künstlern nahe zu sein, bei ihren ersten Auftritten mitzufiebern und kehrte immer begeistert oder beschwingt, jedenfalls bereichert zurück in mein WG-Zimmer. Einmal waren zwei Damen von der Ethniki Versicherung (Athen) in Graz zu Gast. Um dem Besuch einen besonderen Höhepunkt zu geben, waren sie in die Oper eingeladen. Wir wurden gefragt, wer die Gäste begleiten wollte. Selbstverständlich meldete ich mich. Es gab Tosca. Bei den Gästen war die eine oder andere Musik daraus bekannt, aber niemand von ihnen hatte je die ganze Oper gesehen. Keine also hatte eine Ahnung von der Handlung. So kam es, dass in den Pausen die griechischen Damen sich um mich scharten, da ich die jeweils gesehene Handlung und die des kommenden Aktes auf Englisch zu erklären versuchte. Wie man weiß, hat es die Story in sich. Man kann davon ausgehen, dass die Geschichte in Griechenland danach in vielen völlig unterschiedlichen Versionen erzählt wurde, von denen keine mit Illicas Libretto auch nur im Ansatz vereinbar wäre. Die Frage einer ratlosen Griechin, wieso Tosca dem lüstigen Scarpia nicht nachgegeben hat, was doch drei Leben gerettet hätte, konnte ich leider nicht plausibel ausräumen.
Dieter machte mich mit Gharibeh bekannt. Gharibeh war der für Italien zuständige Bereichsleiter. Er hatte also bei meiner Abstellung dorthin ein gewichtiges Wörtchen mitzureden. In seinem Vorleben war er ein syrischer Teppichhändler gewesen wie schon sein Vater. Auf welche Weise und mit welchen Qualifikationen er bei Avus Italien-Chef wurde, ist mir nie klargeworden. Mit seinem Arabisch konnte es nichts zu tun haben. Sein Deutsch war gut, aber mit starkem Akzent, durchsetzt von steirischer Mundart. Gharibeh war Mitte fünfzig, stattliche Figur, immer in unauffälligen Straßenanzügen, fleischiges Gesicht. War mein Italienisch damals noch stark ausbaufähig, so bedurfte seines eines Bauplans. Er überließ mir zwei sehr dicke Paperbacks über italienisches Schadenersatzrecht, die sollte ich gründlich studieren. Ich schaute in die Wälzer hinein. Die Materie war staubtrocken und setzte wohl Grundkenntnisse voraus, die ich nicht hatte. Vieles lief beim Schadenersatz in Italien ganz anders als in Österreich oder Deutschland. Das meiste in den Büchern blieb mir unverständlich oder war mir einfach zu langweilig. Der Text erlaubte es mir aber, mich in die Terminologie einzulesen. Ich fragte mich, wie Gharibeh die Materie entziffert haben mochte.
Gharibeh nahm mich in seinem biederen Wagen mit für einen Tag nach Pordenone. Dort befindet sich AVUS Italia. Wir fuhren gemächlich über die Autobahn, Pack, Griffen, dann durchs Kanaltal. Gharibeh fragte mich aus über meine Motive Italien betreffend und ich erzählte, was er längst von anderen wissen musste. Die seichte Fella schimmerte vom Talboden herauf. Schillerndes Türkis zwischen Massen hellgrauen Geschiebes. Die Viadukte der Autobahn wiesen mit der dunkelblauen Farbe ihres Unterbaus darauf hin, wie schwungvoll und kühn sie ins Tal gesetzt sind. Man kann darüber streiten, ob das Betonband den Anblick der Natur verunstaltet oder unterstreicht. Meine Blicke schweiften hinüber auf die Reste der alten Staatsstraße, wo zwanzig Jahre zuvor Riwula den Alfa in engen Kehren singen lassen und Weiß kurz nach Mitternacht die Sonne aufgehen gesehen hatte. Ab Udine auf der überlasteten Staatsstraße, die lange Brücke über das weite Schotterbett des Tagliamento nach Pordenone. Avus Italia saß am Viale Cossetti am östlichen Rand der Altstadt, wo nach dem Krieg die niedergeduckten Vorstadthäuser seinerzeit modernen, heute schon abgenutzten Wohn- und Wirtschaftspalazzi zum Opfer gefallen sind, im ersten Stock eines solchen Mehrzweckbaus. Der Syrer machte mich bekannt mit der Büroleiterin. „Freut mich, Tamara Scussel“, sagte sie. Eine sehr kleine blonde Mittvierzigerin, ihr langsam gesprochenes Deutsch war ganz offenkundig ihre Muttersprache. Jemand in der Ahnenreihe musste wohl ‚Schüssel‘ geheißen haben. Neugierig beäugte sie mich durch ihre Brille, die weit vorne auf einer blassen, kleinen, spitzen Nase saß. Wie zum Test wechselte sie bald ins Italienische. Da es sich nur um den üblichen Smalltalk handelte, behauptete ich mich ganz passabel, wenngleich sicher nicht fehlerfrei. Ich hatte Glück, dass sie rasch wieder auf Deutsch zurückgreifen musste, weil sonst Gharibeh nicht folgen hätte können. Während sie mit Gharibeh Geschäftliches besprach, das offenbar nicht für mich bestimmt war, weil die beiden sich dazu ins Büro des Liquidatore Principale zurückzogen. Chefliquidator Dellorusso war nicht anwesend, befand sich im Urlaub. Chefliquidator war etwas bombastisch, denn es gab keinen anderen. Wahrscheinlich sollte der Titel zum Ausdruck bringen, dass Dellorusso hier der Einzige war, der imstande war, mit seinen Widerparts, den Liquidatori der Versicherungen, ernsthaft zu verhandeln. Ich kannte Dellorusso namentlich, hatte aber bisher nicht mit ihm zu tun. Während also Scussel und Gharibeh sich in Dellorussos Büro austauschten, hatte ich Gelegenheit, mich umzuschauen. Das Office ist zweckmäßig bestückt, wirkt aber etwas zusammengestoppelt und unpersönlich. Eine durchgehende Fensterfront zum Viale hinaus machte es luftig und hell. Jedenfalls besser als Wien oder Graz, dachte ich. Eine groß gewachsene deutsch aussehende Frau war in dem weitläufigen Raum mit Büroarbeiten beschäftigt. Auf Deutsch machten wir uns bekannt, sie hieß Munes. Sie arbeitete gleich wieder weiter, dürfte viel zu tun gehabt haben, schien aber nicht gestresst. Ich schaute auf den Viale hinunter. Der Verkehr schob sich zäh durch die Einbahn. Ein Kleinlaster der Post, davor und dahinter je ein blau-weißer Alfa der Polizei, anscheinend ein Geldtransport. Der vordere Alfa musste wegen einer Behinderung abbremsen. Ebenso der Kastenwagen. Der hintere Alfa krachte prompt gegen die Hecktüren des Postwagens. Als wäre nichts geschehen, setzten alle drei ihre Fahrt fort. Vermutlich stand es so in den Dienstanweisungen. Ich musste lachen über diese Slapstickeinlage, machte Frau Munes darauf aufmerksam. Als sie zum Fenster kam, war unten alles wieder normal. Gharibeh und Frau Scussel stellten mich dann noch dem Avvocato Centrone vor. Seine Kanzlei lag Tür an Tür mit dem Avus-Büro. Centrone war Scussels Ehemann. Tatsächlich wurde Scussel innerhalb von Avus immer Centrone genannt, aber den italienischen Gepflogenheiten entsprechend blieb sie legal für immer Scussel. Centrone war ein angesehener Anwalt in Pordenone. Selbstverständlich Hausanwalt von Avus Italia. Für seine Kanzlei zweifellos ein schönes und sicheres Zubrot. Der Name Centrone stammt aus Süditalien. Tatsächlich war er ein untersetzter Mann mit rundem Gesicht und schwarzem Haar und Bart. Er schnitt das Thema Fußball an, ob sich Österreich für die EM in Deutschland wohl qualifizieren werde. Selbstverständlich, sagte Gharibeh und ich pflichtete ihm zum Spaß bei. Wir würden in der Endrunde Italien aus dem Bewerb schießen. Centrones Lachen darüber wirkte angestrengt. Tamara schlug einen Imbiss in einem Lokal in der Nähe des Büros vor. Zum Mittagessen war es schon zu spät. Wir müssten ohnedies gleich wieder zurück nach Graz, meinte Gharibeh. Centrone kam nicht mit, er erwartete eine Klientin. Er blieb dabei, selbst als seine Sekretärin einwarf, der Termin wäre erst nach zwei Stunden. In einem Café tranken wir ein Glas Chardonnay zu einem Gemeinschaftsteller mit Schinken und Melone, darauf einen Caffè, dann schien die Zeit anzuhalten. Tamara machte keine Anstalten zu zahlen, Gharibeh ebenso wenig. Es begann peinlich zu werden. Konnte die kleine Konsumation eine Rolle spielen in den Budgets von Pordenone oder Graz? War letzten Endes doch Pscheidls Kasse. Oder würde die Spesenabrechnung nicht akzeptiert werden? Aber selbst in diesem Fall, der Italien-Chef oder die Italien-Leiterin, Gattin eines betuchten Anwalts, für beide war diese Konsumation ein Klax! Ich überlegte schon, ob es vielleicht mir unbekannte Usancen gab und ich mich selbst erbarmen sollte, da erhob sich Gharibeh. Er ging aber nicht zur Kasse, sondern zum Klo. Es half nichts, als er zurückkam, war die Rechnung noch offen. Dann entspann sich ein bitterer Streit über die Bezahlung. Plötzlich wollten sowohl Gharibeh als auch Tamara unbedingt zahlen. Beide eilten sie zur Kasse und begannen zu rangeln, die Geldtaschen in der Hand. Der Barista schaute die beiden kurz an und nahm unter lautem Protest von Tamara dem verdutzten Gharibeh, der damit überhaupt nicht gerechnet hatte, den Geldschein aus der Hand. Einen Augenblick schien es, als wollte Gharibeh den Schein zurückerobern, da begann Tamara sich überschwänglich bei Gharibeh zu bedanken, was ihm jede Grundlage raubte, seine Zahlung ungeschehen zu machen. Mir schien, beide hätten dankend akzeptiert, wenn ich bezahlt hätte.
***
Auf Wochenende bei Annamaria und Mario. Annamaria zauberte schöne Mahlzeiten auf den perfekt gedeckten Tisch. Mario saß in seinem Babysessel und zeichnete mit dem Löffel Autos in die Luft. Alles wäre gewesen wie immer, wäre da nicht ihr Liebhaber mit am Tisch gesessen. Mit Würgen in der Kehle erzählte ich von Graz. Annamaria erzählte nichts. Es habe sich nichts geändert, sagte sie, mehr brauche ich nicht zu wissen. Sie war jetzt motorisiert. Ein Dreiradler mit Mopedmotor. Schaute aus wie der erste Wagen von Fred Feuerstein. War ohne Führerschein zu fahren. Sie hatte noch immer keinen. Ich hielt die Sache für äußerst gefährlich. Selbst einem geübten Fahrer konnte dieses Vehikel zum Verhängnis werden. Durch seine geringe Geschwindigkeit war es ein Verkehrshindernis für jeden flotten Fahrer, bisweilen ein völlig unerwartetes auf offener Landstraße. Umso mehr, wenn es von einer Anfängerin gesteuert wurde, die die Verkehrsregeln nur ungenügend kannte und mit der störrischen Technik zu kämpfen hatte. Die umherschleichende Klapperkiste war allen im Weg allein durch ihr Vorhandensein und noch mehr durch ihre unvorhersehbaren Manöver. Wie lange konnte das gutgehen? Mario gefiel das Mitfahren. Angeschnallt auf seinem Kindersitz sang er begeistert „Auto! Auto!“
Annamaria besuchte mich in Graz, übernachtete bei mir in der WG. War sie gekommen, um festzustellen, ob da etwas lief mit meinen Kommilitoninnen? Versuchte sie, etwas ins rechte Lot zu bringen? War die Geschichte mit dem Anderen überhaupt wahr? Hatte sie sie mir nur aufgetischt, um mehr Aufmerksamkeit von mir zu bekommen? Ich war mit Annamaria intim. Mein Verlangen nach ihr schien durch die neuen Verhältnisse noch gesteigert. Uns beiden fehlte die Größe uns einander zu versagen. Die Lust war jedoch vergiftet. Sie brachte einen Schmerz mit sich, bitter wie von einem Nagel im Fleisch, der allmählich zu rosten begann.
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