worin vorkommen: Sarasdorf, Sommerein, Innsbruck, Sankt Pölten, Padova, Ebergassing, Himberg, Maria Lanzendorf, Rothneusiedl, Meidling, Hietzing, Penzing, Auhof, Pressbaum, Eichgraben, Floridsdorfer Brücke, Reichsbrücke, Neulengbach, Maria Anzbach, Sankt Christophen, Nest, sowie ein nasses Fahrrad-Trial
Seit i gschiedn bin, sitz i noch öfter bei die Richter. Die san jetzt zu dritt. Habn a klanes Kind adoptiert. Mei, is der Bua liab! Hellbraun is er. A klaner Brauner. Mulatte. Die Mutter war a Weiße, Wienerin, hat leider gegiftelt. Der Vater unbekannt, jedenfalls a Neger. Des arme Hascherl hat Aids. Die traun sich was, die Richter. Außerdem muss er a Spreizhoserl tragn. A Fehlstellung vom Beckn. Des Hoserl zwingt die Oberschenkel ausanand wie wenn’s auf an Stock bundn wärn. A furchtbare Qual, besonders im Sommer in der Hitz. Hat er schon a paar Monat und muss’s noch aushaltn mindestens sechs Monat. Aber liab is er! I war dabei, wie er sein ersts Wort gsagt hat. Net Mama, net Papa, na, Auto hat er gsagt. Und er zeichnet schon. Lauter Autos.
Der Richard und die Halina san nach Wien zogn. Die Annamaria is jetzt noch mehr unterwegs als früher. Die Halina hat ihr a andere Polin vermittelt fürn Haushalt und für des Kind. Ja, die Ulla. Zuerst war i a bissl traurig, weil i die Annamaria immer weniger seh. I kenn mi ja net so aus mit solche Jobs. Aber mir kommt des manchmal mehr spanisch vor als italienisch. Wenn i der Rainer wär, i tät a bissl mehr aufpassn. Die Ulla, mei, is de super! Net mehr so jung, aber eine Wucht! Net mager, überall was zum Angreifn und viel Holz vor der Hüttn. Und wie sie liab redt! Und wie die Äugerln funkeln. A Weltfrau! Und liab is die zu mir. I hab’s zuerst gar net glaubn können. Bussln und schmusen geht, aber mehr net vor der Hochzeit, sagt sie. Katholikin.
***
Ich weiß, dass Annamarias Jobs so richtig brummen. Ich sehe sie kaum noch daheim. Franz macht in letzter Zeit so seltsame Bemerkungen darüber. Könnte er sich sparen. Ist wohl besonders misstrauisch wegen der Misere mit seiner Frau. Die wohnt jetzt mit ihrem Martin in Franz‘ Haus in Sarasdorf. Franz ist nach Sommerein in die Wohnung zu seiner alten Mutter gezogen. Zum Übernachten. Tagsüber wohnt er ja bei uns. Wenn Franz wüsste, was er mit seinen Andeutungen anrichtet! Ich muss ja zugeben, so prickelnd wie früher ist es nicht mehr in unserer Ehe. Das scheint mir aber ganz normal nach sechzehn Jahren. Du kannst versuchen, einem Straßenfeger-Film einen zweiten Teil folgen zu lassen. In der Regel wird die Fortsetzung im Vergleich mit dem ersten Teil dürr bleiben. Unser Leben ist doch reich. Ein kleiner Sohn, Musik, Sport, Freunde, international, polyglott. Wir haben unser Auskommen, sind schuldenfrei, es fehlt uns an nichts. Was wollen wir mehr? Wir haben spannende Pläne. Wir werden in Italien leben, Annamaria und ich werden für die zweite Halbzeit Heimat und Fremde tauschen. Und dann kommt Franz mit seinen geflüsterten Eingebungen. Er hat ja recht! Es schießt mir durch den Kopf wie ein Projektil. Annamarias Geliebter! Jagos Gift wirkt gut.
Freitagnachmittag. Anruf von Annamaria. Der Job in Innsbruck mit der AGA (Technische Gase) sollte gestern zu Ende sein. Aber der Techniker habe sie gebeten, sie morgen weiter zu begleiten nach Sankt Pölten, wo ein unvorhergesehenes Problem aufgetaucht sei. Am Montag habe sie einen Termin in Padova. Sie werde nicht wie geplant heute heimkommen, sondern am Sonntag Früh von Sankt Pölten direkt nach Padova fahren. Sie wünsche uns allen ein schönes Wochenende. Ulla ist nicht erfreut. Sie hätte sich ein freies Wochenende mit Franz gewünscht. Franz ist es egal. Er kann ja auch hier mit Ulla zusammen sein. Schon will ich Ulla sagen, dass sie ihr Wochenende frei genießen kann, weil ich die zwei Tage durchaus allein mit Mario zurechtkomme, da trifft mich ein Blick von Franz, der, wie mir scheint, voller Mitleid ist. „Versteh i eigentlich net. Wie fahrt man von Sankt Pölten direkt nach Padua? Wär doch kein Problem für sie, wenn sie Samstag heimkommt und Sonntagabend nach Padua fahrt? Über Wien muss sie doch sowieso“, ätzt Iago. Da ergreift ein irrwitziger Plan Besitz von mir. Sankt Pölten, das unvorhergesehene Problem, ich werde es mir anschauen. Es spielt keine Rolle, dass ich das Wochenende über kein Auto habe. Es ist bei Zoran zur jährlichen technischen Überprüfung. Sankt Pölten, ist doch ein Katzensprung. Das pack ich mit dem Rad. Ich grapsche mir den kleinen Rucksack, stecke die Wasserflasche hinein, einen Pulli und die Pelerine, denn das Wetter ist wechselhaft. Ach ja, eine Schachtel Pocket Coffee zum Mitbringen für Annamaria. „Ich mach eine Radltour“, sage ich knapp, setze mich auf das Klapprad und trete die Gregorigasse hinauf.
Ebergassing, Himberg, Maria Lanzendorf, Rothneusiedl, das ist genau die Strecke, die ich auch zur Arbeit fahre, wenn es gerade passt, durchaus auch mit dem Rad. Es ist schon Abend, aber noch hell. Ich kann den Dynamo noch weglassen. Dunkelgraue Wolken wechseln ab mit hellgrauen. Ob es regnen wird? Ärgerlich ist der lebhafte Westwind. Wird schon anstrengend mit der Zeit.
Meidling, Hietzing, Penzing, Auhof, das ist jetzt schon das Doppelte des Gewohnten. Das Treten wird mühsam. Der Wind hört nicht auf, im Gegenteil, wird heftiger. Bisher ist es unmerklich bergauf gegangen, doch jetzt machen sich die Hügel des Wienerwaldes bemerkbar. Es ist dunkel geworden, ich muss das Licht einschalten. Die Reibung des Dynamos am Reifen ist minimal, aber wenn du schon müde bist und der Wind dir entgegenbläst, empfindest du sie auf jedem Meter wie eine enorme Bremse.
Kurz vor Pressbaum treffen mich erste Regentropfen. In Pressbaum muss ich die Pelerine überziehen. Es schüttet. Reiten, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht. Treten, treten, treten. Und der Mut ist so müde geworden und die Sehnsucht so nass. Ja, wenn ich ein Rennrad hätte, aber mit diesem Klappradl? Durch Eichgraben quäle ich mich nur noch mühsam dahin. Der Zweibrückenlauf fällt mir ein. Wie ich als Bub einmal daran teilgenommen habe. Ein Massenwettlauf von der Floridsdorfer Brücke zur Reichsbrücke. Dreitausend Meter durch das Überschwemmungsgebiet, die Donauinsel gab es noch nicht. Dreitausend Meter laufen, das konnte ich. Das konnte nur ich gewinnen. Hunderte Läufer waren am Start. Ich habe kein Startsignal gesehen oder gehört. Auf einmal rannten alle los. Nicht maßvoll rannten sie los, der Entfernung entsprechend. Nein, sie rannten, als ginge es um ihr Leben, wie Sprinter rannten sie. Da musste ich doch mithalten, sonst würde ich noch Letzter. Über Stock und Stein, durch die zahlreichen Bombentrichter rannten wir, sehr bald langsamer werdend. Die Reichsbrücke wollte kaum näherkommen. Ich sah Läufer stolpern, stürzen, im Gras liegen, in den Bombendolinen, konnte mich selbst kaum noch auf den Beinen halten. Als sie begannen mich zu überholen, war mein Wille gebrochen. Keuchend wie ein Kriegsross legte ich mich hin und wartete ab, ob ich sterben oder mich erholen würde. Ich sah wie Sanitäter sich um die Erschöpften kümmerten. Zu mir ist keiner gekommen. Nach einiger Zeit kam ich wieder halbwegs zu mir. Ich schleppte mich zur Straßenbahn. Auf der Heimfahrt schämte ich mich, als würden alle mir die Niederlage anmerken.
Genauso erschöpft hänge ich jetzt auf dem Klapprad, unterwegs nach Neulengbach. Wäre da ein Bombentrichter, ich würde mich hineinlegen zum Sterben. Aber meine Frontleuchte erhellt die Umgebung nicht, auch weil meine Geschwindigkeit nahe Null ist. Nach einer Ewigkeit tauchen Häuser auf. Maria Anzbach steht auf der Ortstafel. Ein Gasthaus an der Hauptstraße hat noch das Licht an. Ich gehe hinein, die Wirtin will gerade zusperren. Sie ist ganz erschrocken über meine Erscheinung. Durchnässt, erschöpft frage ich nach einem Zimmer. Ich muss sehr elend wirken. Obwohl es kein Gasthof ist, vielleicht früher einmal einer war, bekomme ich ein kleines Fremdenzimmer und einen Liter Obi. Ich ziehe die nassen Sachen aus und schlüpfe nackt unter die Decke. Die Flasche mit dem Apfelsaft kann ich nur zur Hälfte leeren. Für mehr reicht die Kraft nicht, zumal auch das Essen der Pocket Coffee einige davon in Anspruch nimmt. Die Frage, wie es Annamaria jetzt gehe, taucht nur kurz in meinem Kopf auf, ohne zu bohren oder zu schmerzen. Ein traumloser Schlaf deckt gnädig alles zu.
Ich erwache spät am nächsten Vormittag. Meine Sachen sind immer noch nass. Eklig, sie wieder anzuziehen. Es hat aufgehört zu regnen, aber der Himmel ist grau wie gestern. Die Wirtin stellt mir Kaffee und Buttersemmel hin. Neugierig stellt sie einige Fragen, die ich gestern nicht beantworten hätte können und die ich heute nicht beantworten will und letztlich auch nicht kann. Wo ich hinwill? Sankt Pölten ist heute genauso weit entfernt wie gestern, einen Katzensprung. Zwanzig Kilometer vielleicht. Doch in der gestrigen Erschöpfung hat sich mein Misstrauen aufgelöst wie in Salzsäure. Es ist mir ganz egal, was ich in Sankt Pölten vorfinden würde oder nicht, und außerdem habe ich keine Pocket Coffee mehr. Ich strample dieselbe Strecke zurück nach Götzendorf. Mit einer Ausnahme: bei Sankt Christophen biege ich ab nach Nest. Die verfallene Zauberhütte ist wiederhergestellt zu einem süßen Knusperhäuschen. Ein starker Rückenwind treibt mich an.
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