worin vorkommen: New York, Turku, Schladming, Graz, das Sporthotel Royer, Ismaning, München, Bischofshofen, Istanbul, das Ruhrgebiet, die Steiermark, Stockholm, Malmö, der Hochwurzen, der Semmering, das Hotel Panjans, der Semmering, Wien, Liezen, Leoben, Bruck an der Mur, Kindberg, das Hotel am Stephansplatz, Steffi Graf, Gabriele Sabatini, der Erzherzog-Johann-Jodler, sowie das Ende eines Lebensabschnitts und der Anfang eines vielversprechenden neuen.
Die Nachmittags-Rushhour war in vollem Gang. Die Frau im grauen Nissan steuerte diesen so flott es der Verkehr zuließ, aber ohne Hast und in jeder Situation genauso wie in der Fahrschule gelernt. Mag sein, dass der eine oder andere Verkehrsteilnehmer sich ein wenig lebhafter benimmt, im Grunde sind sie alle brav und vernünftig. Wie die Verkehrseinrichtungen angelegt sind begünstigt dieses Verhalten. Alles überall strikt geregelt durch Bodenmarkierungen und klare, gut postierte Verkehrszeichen. Die Kreuzungen übersichtlich, die Straßen breit, selbst die Nebenstraßen kann man nicht als schmal bezeichnen. Die Wischer fegten gelegentlich feine Tröpfchen von der Scheibe. Der kurze Sommer war endgültig vorbei. Wenn man davon absieht, dass die Autos noch ohne Spikereifen unterwegs waren, konnte man nicht sagen, ob es noch Herbst war oder schon Winter. Man konnte auch nicht sagen, ob es noch hell war oder schon dunkel. Der Tag war die ganze Zeit grau. In diesem Land war vorgeschrieben, immer mit eingeschaltetem Licht zu fahren. Meistens wäre es sowieso notwendig gewesen. Der Nissan hatte das Stadtzentrum verlassen, befand sich jetzt auf der mehrspurigen Ausfallstraße nach Norden, die keine Kurven, sondern höchstens kaum wahrnehmbare Biegungen macht und in einem Abstand von zehn Meter Rasenfläche, oft mit Entwässerungsgraben, von einem breiten Streifen für Fußgänger und Radfahrer begleitet wird. Trotz der großzügigen Verhältnisse ist die Höchstgeschwindigkeit auf fünfzig km/h beschränkt. Erst weiter draußen sind atemberaubende sechzig erlaubt. Eine Viertelstunde später bog der Nissan ab auf eine Nebenstraße. Auch hier der begleitende Radweg, anschließend kleine Stadtrandhäuschen, teilweise im Wald verborgen. Etwas später lagen nur noch Felder an der Straße, in größerer Entfernung vereinzelte Gehöfte. Die Wälder dahinter waren nur noch als dunklere Schattierungen in der grauen Suppe wahrzunehmen. Jetzt verdichteten sich wieder die Wohnhäuser, die meisten Bungalows oder höchstens einstöckig. Für Private war es nicht notwendig, in die Höhe zu bauen. Platz gab es im Übermaß. Es waren viel mehr Gebäude vorhanden als man von der Straße her erkennen konnte. Die meisten waren im Wald verborgen. Wäre es sonnig gewesen, hätte man außerdem hie und da die fünften und sechsten Geschoße von Wohnblocks aus dem Wald ragen sehen können. Die Frau im Nissan fuhr ein Stück auf einer gesandeten Straße durch den Wald und hielt vor einem Bungalow. Man hätte meinen können, er stünde allein in der Gegend. Schaute man aber genau, konnte man, zwischen den Bäumen des Waldes hindurch, weitere Gebäude bemerken.
Ihr Mann war schon am Nachmittag mit dem Bus heimgekommen. An den Fahrrädern, die vor der Haustür angelehnt waren, erkannte sie, dass ihre beiden Töchter auch daheim waren. Sie nahm ihre Handtasche, stieg aus dem Nissan und betrat das einstöckige Wohnhaus. Ein schwarz-weißer Cockerspaniel sprang an ihr hoch und tobte vor Freude bellend um sie herum. Sie musste ihn abwehren, damit er ihr nicht den hellen Trenchcoat beschmutzte und die Nylons zerriss. Kirsi, die Vierzehnjährige, lag lesend ausgestreckt auf der Couch im Wohnzimmer. Sanna, ihre ältere Schwester war wohl in ihrem Zimmer oben. Man hörte von dort Popmusik. Der Mann dürfte wie gewöhnlich drüben in der Bibliothek ein paar Akten für den morgigen Tag studieren, jedenfalls war er weder in der Küche noch im Wohnzimmer. „War jemand mit dem Hund?“ fragte die Frau. Kirsi schaute nur kurz auf und las weiter. Die Frau nahm die Leine. Der Hund hatte es genau beobachtet und wohl auch sehnsüchtig erwartet. Außer Rand und Band sprang er um sie herum und vor ihr her ins Freie.
Der Spaziergang mit dem Hund war erfolgreich und daher kurz. Die Frau kehrte sogleich zum Haus zurück, um das Essen für die Familie vorzubereiten. Die Frau hing die Leine und den Mantel an den Haken im Vorzimmer und ging in die Küche. Unterwegs traf sie den Mann, der „Moi“ sagte und hinauf in den Nachtbereich verschwand. Während die Frau verschiedene Zutaten ins Faschierte mischte, tat sich nichts Besonderes im Haus. Der Mann blieb oben, Kirsi las, Sanna hörte Pop in ihrem Zimmer. Der Spaniel forderte sein Goodie. Nachdem die Frau das Faschierte ins Rohr geschoben hatte, schaltete sie das Radio ein, um die Nachrichten zu hören, während sie den Salat wusch. „Die deutsche Tennisspielerin Steffi Graf hat das Endspiel der US Open in New York gegen die Argentinierin Gabriela Sabatini gewonnen. Sie hat damit in diesem Jahr alle Grand Slam Turniere gewinnen können.“ Die Frau stellte vier Teller auf den Esstisch in der Küche. Das Besteck musste sie aus der Spülmaschine nehmen, die fertig gewaschen hatte, aber nicht ausgeräumt war. „Essen!“ rief sie laut, während sie den faschierten Braten aus dem Rohr nahm und rasch noch vier Wassergläser, gleichfalls aus der Maschine, auf den Tisch stellte. Der Mann kam in die Küche. Er war jetzt umgezogen. Von der Arbeit war er fein gekleidet heimgekommen. Seine Arbeit als Richter in Turku verlangte es so. Seine Kleidung war jetzt einfacher, wenngleich immer noch korrekt. Die Krawatte hatte er weggelassen. Er setzte sich an den Tisch und nahm sich von dem faschierten Braten mit hartgekochten Eiern darin und von dem Salat. „Kirsi, Sanna, Essen!“ rief die Frau und bediente sich ihrerseits. Der Mann füllte sein Glas und das der Frau mit Wasser aus der Flasche. Von den Mädchen keine Spur. „Essen, verdammt noch mal! Essen!“ rief die Frau ziemlich zornig. Kirsi kam zögerlich in die Küche und nahm ein sehr kleines Stück Faschiertes, dafür eine Menge Salat. „Was gibt’s denn?“ rief Sanna von oben. „Faschiertes“, rief die Frau zurück. „Eiscreme!“, rief der Mann. Sanna erschien in der Küche. Sie nahm ein Dessertschüsselchen aus dem Spüler, ging zum Kühlschrank, nahm Eiscreme aus einer Packung und füllte damit die Schüssel. Damit verschwand sie wieder ins Obergeschoß, ohne etwas zu sagen. Der Mann sagte auch nichts. Die Frau spürte Wut in sich aufsteigen, aber auch sie sagte nichts. Sie fragte sich, wie lange sie das noch aushalten konnte.
Sie dachte an den Nachmittag im Büro. Als sie aus der Kaffeepause kam, hatte ihre Kollegin zu ihr gesagt, „Oh, Soile, Tania hat nach dir gefragt. Schau doch zu ihr hinüber.“
Die Abteilungsleiterin hatte sie dann gefragt, „Soile, ist zwar ein bisschen spät dafür jetzt, aber wärst du bereit, Ende des Monats ein paar Tage nach Österreich zu fahren?“
Was für eine Frage! Sie wäre überall hingefahren. Alles war besser als zuhause und hier. Reisen. Abwechslung. Interessante Leute treffen, Ausländer! Gutes Essen, das man weder selber machen noch selber bezahlen musste. Betten, die man nicht selber machen musste. Zimmer, die täglich von anderen aufgeräumt wurden. Für ein paar Tage eine wichtige Person sein. Eine Woche wahres Märchen.
„Es ist wieder eine Tagung von Avus, diesmal in – warte, wie heißt der Ort? Ja – Schladming. Ist irgendwo bei Graz. Ich kann dich also anmelden?“
„Klar fahr ich, Tania. Danke, dass du mich schickst.“ Das Du zwischen der Vorgesetzten und der Angestellten war keine besondere Vertraulichkeit. In diesem Land ist immer jeder mit jedem per Du. ‚Sie‘ wird nur in ganz besonderen Ausnahmsfällen gepflogen.
„Du bist hier die Auslandspezialistin. Wirst uns ziemlich fehlen in der Zeit.“
„Na ja, notfalls könnt ihr mich ja erreichen in – wo?“
„Schladming.“
„Okay, Schladming.“
„Wär nicht so einfach. Avus hat kein Büro dort. Findet alles in einem Hotel statt.“ Man erinnere sich, es gab noch keine Handys, Emails, SMS und dergleichen. „Ich gehe davon aus, dass du alles Wichtige vorher erledigst.“
„Klar, Tania. Kannst dich auf mich verlassen. Ich ruf euch dann selber jeden Tag an.“
„Ende des Monats fahr ich eine Woche nach Österreich“, sagte Soile zu ihrem Mann.
„So. Aha. Jo.“ sagte Ilkka abwesend. Und nach langer Pause: „Meine Eltern haben angefragt wegen Weihnachten. Ich hab gesagt, wie immer. Erster Tag bei uns, zweiter bei ihnen. Okay?“
Soile antwortete nicht. Ilkka hatte ohnehin keine Antwort erwartet.
***
Gott verkündete einen Sondereinsatz. Keine Abwesenheit in der Woche 38. Kein Urlaub, kein Krankenstand. In dieser Woche würde die internationale Avus-Tagung stattfinden mit über zweihundert Gästen aus ganz Europa und darüber hinaus. Schadenleute von Versicherungsgesellschaften, die mit Avus kooperierten und solche, von denen man es in Zukunft erwartete. Tagungsort wäre das Sporthotel Royer in Schladming. Die Teilnehmer würden am Dienstag anreisen. Mittwoch bis Freitag würden internationale Experten Vorträge halten über Schadenersatzrecht in diversen Ländern, Fortentwicklung des Grüne-Karte-Systems, neue Erkenntnisse der Unfallmedizin, Vorstellung des Unfallforschungszentrums der Allianz in Ismaning bei München und dergleichen. Von den Avus-Mitarbeitern wurde erwartet, dass sie bei den Abendveranstaltungen Kontakte pflegten oder neu knüpften, vorzugsweise mit den Teilnehmern aus den von ihnen betreuten Ländern. Wir von der Inlandabteilung hatten diesbezüglich freie Hand, weil unsere Aufträge aus allen Ländern kamen. Mein spezielles Interesse würde natürlich den Italienern gelten.
Sepp und ich fuhren mit Gott am Mittwoch nach der Tagesarbeit nach Schladming. Dabei hatten wir Gelegenheit, die Straße genauer unter die Lupe zu nehmen, der wir einen großen Teil unserer Arbeit zu verdanken hatten. Die Strecke zwischen Bischofshofen und Graz wurde allgemein „Gastarbeiterroute“ genannt, weil insbesondere zu Urlaubszeiten sich tausende Gastarbeiterautos auf der engen, bergigen und kurvenreichen Straße drängten, die damals noch nicht großzügig ausgebaut war. Die Autobahn war noch in weiter Ferne. Die Strecke war Teil der Fernroute München-Istanbul. Viele der Gastarbeiter waren zuvor einfache anatolische Schafbauern gewesen. Das Autofahren bei anspruchsvollen Verkehrsverhältnissen waren sie nicht gewohnt. Außerdem waren sie oft bereits übermüdet, wenn sie aus dem Ruhrgebiet kommend durch die Steiermark kurvten. Ihre überalterten Vehikel wiesen oft haarsträubende technische Mängel auf. Kein Wunder also, dass auf keiner anderen österreichischen Straße so viele Unfälle passierten wie auf der B113, die meisten mit Ausländerbeteiligung. Auf den Friedhöfen entlang der Route ruhen heute noch unzählige Türken. Archäologen in ferner Zukunft werden daraus vielleicht auf einen türkischen Kriegszug schließen. Viele dieser Unfälle waren äußerst folgenschwer. Für den, der sie zu regulieren hatte, ergab sich aus jedem einzelnen davon Arbeit auf Jahre hinaus.
Wir bezogen unsere Zimmer, kleideten uns um und trafen danach in den mehreren Cafés, Bars und Nebenräumen auf die Tagungsteilnehmer, die bei Drinks und Smalltalk auf die Öffnung des großen Speisesaals zum Abendessen warteten. Von den Gästen hätte ich nur die Leute von der Wiener Allianz erkennen können, Dietl oder Popkorn hätte ich mir erwartet, traf aber auf keinen von ihnen. Gott blieb bei deutschen Teilnehmern hängen, die waren natürlich weit in der Überzahl, dort befand sich auch Gharibeh. Sepp verlor ich rasch aus den Augen. Dr. Korajmann, ein junger Jurist aus Kärnten und sehr gut befreundet mit Sepp, dadurch auch mit mir, also Peter aus der Jugoslawienabteilung war zusammen mit den kroatischen Spezialistinnen in Gespräche mit jugoslawischen Gästen vertieft. Ein Grüppchen, einige Herren und ein paar Damen, fiel mir auf. Die Herren prusteten vor Lachen, während eine der Damen, eine etwas rundliche Blonde mittleren Alters in einem bunten Cocktailkleid in fortgesetztem Redefluss unter Tränen des Lachens irgendetwas wahnsinnig Lustiges schilderte. Sie bewegte sich dabei mit so lebhaften Gesten, dass ich sie trotz der Haarfarbe zuerst für eine Südländerin hielt. Aber das Englisch, das sie sprach, war lupenrein, frei von südländischem Akzent, sodass ich meine Vermutung wieder fallen ließ. Vergeblich suchte ich nach Frau Centrone. Durch die zahlreichen Lokalitäten schlendernd, ein Glas Prosecco in der Hand, wartete ich auf den Beginn des Abendessens. Endlich öffneten sich die Türen. Die Gäste begannen in den Saal zu strömen. In der Nähe des Eingangs versuchte ich immer noch, bekannte Gesichter zu entdecken, vergeblich. Als ich sah, dass inzwischen der Großteil der Gesellschaft an den schön gedeckten, großen runden Tischen Platz genommen hatte, gab ich die Suche nach Personen auf und begann jene andere nach einem freien Platz. Nachdem zwei oder drei Plätze, nach denen ich gefragt hatte, schon besetzt waren, streifte ich an einem Tisch mit zwei leeren Stühlen vorbei. Es war die lustige Gruppe mit der Dunkelblonden im bunten Cocktailkleid und hier hatte ich Glück, die Plätze waren noch frei. Ich stellte mich vor als Mitarbeiter von Avus Graz. Meine Tischnachbarn waren alle aus nördlichen Gefilden. Die Dunkelblonde hieß Carin Sundberg, und kam aus Stockholm in Begleitung einer zweiten Schwedin aus einer anderen Stadt. Einer der Herren kam aus Malmö. Sie unterhielten sich auf Englisch, weil auch Des Standon in der Runde war, ein schon betagter Engländer, der aber am lebhaftesten an Carins Scherzen Anteil nahm und auch selber mit seinem trockenen, durch Understatement hervorgehobenen Humor viel zur Heiterkeit beitrug. Mir schräg gegenüber befand sich noch eine zarte Dame meines Alters. Sie mochte die Ruhigste sein in der Gruppe, wenngleich auch sie nach Des‘ und Carins Scherzen laut herauslachen musste. Sie war aus Finnland und hieß Soile Lindström. Viel mehr sollte ich an diesem Abend von ihr nicht erfahren. Die Unterhaltung an diesem Tisch war ziemlich laut und sie sprach sehr leise. So lachte ich gerne mit den Anderen mit und es gelang mir, auch selber die eine oder andere Schnurre beizusteuern. Wir aßen ein recht gutes Einheitsmenu österreichischen Charakters, tranken reichlich, die Herren aus Schweden und England Bier, die Damen und ich guten Wein. Die Gäste genossen ganz offenkundig den Ausbruch aus dem üblichen Trott. Allerdings mussten sie solche außergewöhnlichen Tage nicht allzu lange entbehren, denn wer hierher entsendet war, der besuchte sicherlich auch etliche andere Tagungen im Laufe jedes Jahres. Die gute Stimmung setzte sich später noch fort in der Nähe der Bar, wenngleich nicht allzu lange, denn die Gäste waren müde von der Anreise und mussten die Wecker stellen, wenn sie am Morgen den Vortrag nicht versäumen wollten. Es soll Direktoren geben, die einen minutiösen Bericht über den Inhalt erwarteten. Die Stille war unter den ersten, die sich verabschiedeten. Ich blieb noch eine Weile beisammen mit Carin und Des, lernte dabei noch eine Reihe anderer Gäste kennen, keiner von ihnen aus dem Süden, dann verabschiedete sich auch Carin. Wer weiß, was sie heute noch vorhatte. Sepp und ich sollten am frühen Morgen mit Gott nach Graz zurückfahren, also blieb auch ich nicht mehr lange.
Unsere Rückkehr nach Graz galt nur der wichtigsten Tagesarbeit, denn am späteren Nachmittag saßen wir wieder in Gottes Wagen nach Schladming. Diesmal stand ein Abendessen in einem Berggasthaus auf dem Programm. Wir fuhren mit in einem der Busse, die sich mit den Tagungsteilnehmern die gewundene Hochwurzenstraße hinaufschlängelten. Die Fahrt war nicht lang, die Strecke nicht viel weiter als die zurückgelegten Höhenmeter. Das Lokal war gerade groß genug, um die ganze Gesellschaft in mehreren aneinandergereihten Räumen aufnehmen zu können. Das Ambiente war zünftig alpin, das Personal in steirischer Tracht. Ursteirisch auch Essen und Trinken. Klachlsuppe, Krautfleisch, Backhendlsalat, Blunzengröstl, Spagatkrapfen, Schladminger Bier, Schilcher, Weiß- und Grauburgunder. Ein Harmonikaspieler trieb die Stimmung an mit Schnaderhüpfeln und Jodlern, man hätte mitpaschen wollen. Nach den Hauptspeisen bat Dieter um Aufmerksamkeit, seine Mutter wolle eine gesangliche Darbietung zum Besten geben. Er sagte „Mutter“, obgleich die Dame ähnlichen Alters war wie er selbst. Sie war Pscheidl Seniors zweite Frau, selbstverständlich Jahrzehnte jünger. Dieters wirkliche Mutter arbeitete auch bei Avus, aber als einfache Bürokraft versteckt in einer Abteilung der Buchhaltung. Anscheinend hatte sie ihr Schicksal akzeptiert, jedenfalls hörte man nie etwas Gegenteiliges. Sieg der Vernunft? Frau Pscheidl also, die Jüngere, erhob sich, besprach sich kurz mit dem Harmonikaspieler und begann mit seiner Begleitung den Erzherzog Johann-Jodler. Die Stimme war altersentsprechend, war früher einmal ein Sopran. Sie kämpfte sich tapfer durch die Einleitung. Dann kam im Refrain der Jodler mit den höheren Noten. „Wenn das nur gutgeht,“ dachte ich noch, da musste die Sängerin schon abbrechen. Es war ihr einfach zu hoch. Sie hatte verabsäumt, mit dem Begleiter die ihr passende Tonart zu vereinbaren. Einen Augenblick herrschte verlegenes Schweigen, dann erhob sich aufmunternder Applaus. Frau Pscheidl versuchte nun den Harmonikaspieler zu einem tieferen Ansatz zu bewegen. Das schaffte aber wiederum dieser nicht und eine ganze Oktave tiefer, das hätte einerseits das Lied ruiniert, wäre aber auch für die Sängerin nicht machbar gewesen. So wurde der Versuch sang- und klanglos aufgegeben. Immerhin lenkte der Harmonikaspieler mit einer fulminanten Polka Schnell von dem Desaster ab und die Gesellschaft widmete sich den Desserts.
Der Höhepunkt der Tagung kam am dritten Abend. Es gab einen Galaabend im Hotel Royer. Gott hatte uns zugleich mit dem Urlaubsverbot zu anlassentsprechender Kleidung ermahnt. Er würde jeden fristlos entlassen, der an dem Abend schlechte Figur machte. Ich hatte deshalb aus Götzendorf den Anzug mitgebracht, den ich vor einigen Jahren anlässlich einer Silvesterfeier im Hotel Panhans am Semmering angeschafft hatte. Eine Stresemannhose und ein cremefarbenes Jackett über einer bordeauxroten Schärpe um die Hüften. Ich erinnerte mich an die Bemerkung eines der Gäste an unserem Tisch im Panhans, der mich in verächtlichem Ton darauf hinwies, Stresemann und weißes Jackett, das ginge gar nicht, zumal für den Abend. Dieser Snob hatte mir den ganzen Jahreswechsel versaut. Was aber konnte ich jetzt machen, ich besaß keinen anderen eleganten Anzug und auf keinen Fall würde ich auf eigene Kosten einen kaufen. Mein Selbstwertgefühl war also nicht das Allerbeste an diesem Abend. Es sank noch weiter, als ich bald feststellen musste, dass ich der Einzige mit weißem Jackett war. Ein wenig Erleichterung empfand ich, als ich die lustige Gesellschaft von Mittwochabend an demselben Tisch wieder versammelt fand und trotz meines Aufzugs bei der Frage nach dem freien Platz wieder keine Ablehnung erfuhr. Die Männer hatten ausnahmslos schwarze Anzüge an, Carin ein formenbetonendes, tief ausgeschnittenes rotes Kostüm und Soile ein zartes, duftiges blaues Kleid mit großer Stoffblume an der Brust. Jeder hatte hier die passende Kleidung. Im Grunde passte meine unpassende Kombination doch sehr gut zu mir.
Es gab ein raffiniertes Diner mit allem Drum und Dran. Ich genoss es umso mehr nach den vielen Abenden in der WG mit den rohen Rindsschnitzeln mit Chicorée. Während der Esspausen und im Gespräch mit den Tischnachbarn spürte ich immer wieder viele Blicke auf mich gerichtet, sogar die aller Pscheidl. Das weiße Jackett tat seine Wirkung. Mir war nur nicht klar, was für eine. Meine Tischgesellschaft schaute auch viel öfter auf mich als am ersten Abend. Aber was sie dachten, ließen sie nicht erraten. Carin war weniger lustig als am ersten Abend, Soile genauso still. Aus der relativ großen Entfernung bis zu ihr schauten mich zwei ernste Augen unentwegt an und in mir verstärkte sich der Eindruck, ihre Blicke wären weniger auf meine sonderbare Kleidung gerichtet als direkt in meine Augen.
Nach dem Essen folgte die Show eines Zauberkünstlers. Er zeigte Tricks, die verblüfften, wenngleich man sie nicht zum ersten Mal sah. Er verstand es, sie in sehr unterhaltsamer Art vorzutragen. Er holte sich einen Freiwilligen aus dem Publikum, es war Gharibeh, und entwendete dem Ahnungslosen nach und nach sämtliche Wertgegenstände. Ich überlegte schon, ob ich mich melden sollte. Ich hätte ihn gebeten, mein weißes Jackett in ein schwarzes zu verwandeln. Zu guter Letzt hypnotisierte er Gharibeh, der danach alles unwidersprochen ausführte, was der Magier von ihm verlangte. Etwa einer jungen Dame im Publikum seine Liebe zu erklären. Dabei waren die Reaktionen der jungen Frau noch viel komischer als Gharibehs Gestammel und Attacken. Schließlich befahl er Gharibeh, seinerseits die Frau zu hypnotisieren. Inzwischen stellte er Berechnungen an, wie lange es dauern würde, bis die ganze Gesellschaft seinem Willen ausgeliefert wäre, wenn die Beiden wiederum andere Zwei hypnotisierten und diese wieder vier Weitere und so fort. Nur acht Schritte, dann könnte er mit uns allen machen, was er wollte.
Unter Applaus zieht der Magier ab, nachdem er Gharibeh aus seinem Bann befreit und ihm Uhr und Brieftasche zurückgegeben hat. Gharibeh wird später schwören, sich an überhaupt nichts zu erinnern. Mitglieder einer kleinen Combo beziehen ihre Positionen an vorbereiteten Instrumenten am Rand der freien Fläche, die dem Zauberer für seinen Auftritt gedient hat und nun zur Tanzfläche wird, und beginnen, Musik zu machen. Auf die flotte Einleitung folgt ein Walzer. Dieter betritt den Tanzboden mit seiner Stiefmutter. Mit dem Walzer eröffnen sie das allgemeine Tanzvergnügen. Des fordert sogleich Carin auf. Die anderen Herren an unserem Tisch tanzen nicht oder wollen noch abwarten. Wieder trifft der ernste Blick von gegenüber meine Augen. Ich habe schon genug Probleme mit meinem Jackett, wenn ich mich jetzt auch noch mit dem Tanzen blamieren soll, ist der Abend für mich gelaufen. Ich habe den Deppenschritt noch in Erinnerung, aber heute tanzt man Standardtänze, von denen ich keine Ahnung habe. Nach mehreren dieser warmherzigen Blicke nehme ich mir ein Herz und fordere Soile auf. Die zarte Person kommt offenbar gerne mit. Ich denke, gut, dass es ein Foxtrott ist, denn wenn die Musik wilder wird, muss ich aufpassen, dieses zerbrechliche Körperchen nicht zu beschädigen. Bald nach den ersten zaghaften Schritten staune ich, wie problemlos die Abläufe gelingen. Wir tanzen in korrekter Haltung und es geht immer besser, je länger der Tanz dauert. Aus der Jahrzehnte zurückliegenden Tanzschule erinnere ich mich, dass zum Gesellschaftstanz auch eine anregende Konversation gehören sollte, aber wir sprechen nicht, lassen uns nur forttragen vom fließenden Rhythmus in unseren Beinen. Entgegen meiner ursprünglichen Absicht kehren wir nach dem Foxtrott nicht zu unserem Tisch zurück. Was danach alles gespielt und getanzt wurde, weiß ich nicht mehr. Was immer es war, wir haben keine Probleme mit den Schritten. Die Bewegungen ergeben sich wie von selbst aus der Musik und sie geraten erstaunlich harmonisch. Jetzt stört mich mein weißes Jackett nicht mehr. Im Gegenteil ich habe das Gefühl, wir seien ein elegantes Paar, das da über das Parkett schwebt, dieser Mann in seinen besten Jahren mit der Stresemannhose und dem weißen Jackett und die kleine, zierliche Frau in ihren besten Jahren mit dem blauen Tüllkleid und der großen weißen Stoffblume an der Schulter. Nach mehreren Tänzen wäre es wirklich an der Zeit, am Tisch einen Schluck oder mehrere aus unseren Gläsern zu nehmen, schon um der Gesellschaft gegenüber nicht unhöflich zu sein. Doch jedes Mal wenn ein Tanz vorbei ist, schaue ich in diese ernsten braunen Augen, schauen diese ernsten braunen Augen in die meinen und wir vergessen Durst und Etikette, erwachen erst wieder aus der Starre mit den ersten Takten der neuen Musik. Weiter wiegen wir uns im Tempo der Melodien und ich spüre, wie meine Tanzpartnerin mir folgen möchte in meinem Versuch, die korrekte Armhaltung aufzulockern und gegen eine engere zu tauschen. Wie ein schnurrendes Kätzchen schmiegt sie sich an mich. Jetzt ist es aus mit der Eleganz. Hier hält ein Liebespaar sich eng umschlungen, macht keine Schritte mehr, verlagert nur das Gewicht im Takt von einem Bein auf das andere, um in der sachten Bewegung der Körper mehr voneinander zu spüren. Mit allem was sie noch kontrollieren kann sucht sie an mir Halt, ihr Kopf an meiner Brust, unsere Hände zart verschränkt. Verloren berühren meine Lippen wieder und wieder kaum merklich dieses duftende Haar. Ich will und ich muss. Ein Wort höre ich mich flüstern: Soile! Sie hebt ihren Kopf, wirft in meine Augen hinein erneut diesen Blick, der in seinem Glanz einen kurzen Moment lang bebt. Und Soile antwortet mit meinem Namen.
Einen Augenblick später war Soile verschwunden. Ich habe keine Erinnerung daran, wie das geschehen konnte. Ich stand noch auf der Tanzfläche inmitten nur noch weniger Paare und Soile war weg. Ich wartete, sie kam nicht wieder. Ich lief durch die Bar und die Nebenräume, auch durch ein paar leere Gänge der Zimmerfluchten, sinnlos, weil ich nicht wusste, hinter welcher Tür sie sich verbergen mochte. Wieder hinunter in den Saal. Vielleicht war sie ja inzwischen zurückgekehrt. Nein, Soile blieb verschwunden. Das enttäuschende Ende eines wundervollen Traums.
***
Am Morgen Abreise der Gäste. Bus um Bus verlässt den Hotelbereich. Ich habe Order, als Reiseleiter einen der Busse nach Wien zu begleiten. Man hat mir Bargeld in die Hand gedrückt für eine Kaffeepause. Aus einiger Entfernung sehe ich, wie der Busfahrer Soiles großen Koffer im Gepäckkasten verstaut. Sie steigt ein ohne mich zu bemerken. Vielleicht hätte ich mein weißes Jackett auch heute anziehen sollen. Die Reisegesellschaft ist schläfrig. Es ist still im Bus. Ich sitze vorn neben dem Fahrer, der schweigend seine Arbeit macht. Regelmäßig streifen die riesigen Scheibenwischer die Rückstände von leichtem Regen ab. In einem Innenspiegel überblicke ich den ganzen Fahrgastraum. Soile hat im hinteren Drittel des Busses Platz genommen. Der Sitz neben ihr ist besetzt. Ich hoffe, dass meine Vermutung, die wollen alle nur ihre Ruhe, zutreffend sei und erspare ihnen Kommentare über das Mikrophon. Draußen ist ohnehin außer Grau nichts zu sehen. Die Fahrt geht über Liezen und Leoben. In Bruck an der Mur vereinbare ich mit dem Fahrer die Kaffeepause auf der Passhöhe des Semmerings. Bei der Durchfahrt durch Kindberg greife ich zum Mikro und kündige die Kaffeepause an in etwa dreißig Minuten. Der Bus hält auf der Passhöhe. Der Regen hat nachgelassen, der Wind hat ein paar Löcher in die Wolken gerissen, die Sonne will hervor. Trotzdem fühlt es sich kalt an nach dem geheizten Bus. Fröstelnd begeben sich die Fahrgäste rasch in das Kaffeerestaurant zur Stärkung. Ich stehe neben dem Ausstieg. Soile kommt an mir vorbei. Sie hält inne, reicht mir die Hand. Ungewöhnlich für Skandinavier. Die Berührung unserer Hände. Ein heftiges Beben durchzuckt ihre Augen, ihren ganzen zarten Körper. Dann geht sie weiter in das Café. Es ist gewiss: Soile liebt mich und ich möchte keinen Tag mehr leben ohne dieses Beben.
Die Reisegesellschaft trinkt Kaffee, manche essen Kuchen. Kurze Zeit später steigen alle wieder in den Bus. Ich bin nicht dabei, weil ich mit der Serviererin die Konsumationen abrechne. Eine Stunde später sind wir in Wien. Der Bus hält am Südbahnhof, um einige Reisende aussteigen zu lassen, die in Wien bleiben. Mit den meisten anderen fährt er weiter zum Flughafen. Soile bleibt in Wien. Ich rufe ein Taxi herbei, lade Soiles Koffer ein. Sie muss zum Hotel am Stephansplatz, hat nichts gegen meine Begleitung einzuwenden. Ihr Mann erwartet sie dort, sie werden das Wochenende in Wien verbringen und am Montag heim nach Finnland fliegen. Soile checkt ein. Ihr Mann hat das schon getan, ist aber nicht da. Wir nehmen einen Abschiedsdrink im Café. Ich mag keine Abschiede. Dieser aber kommt mir besonders frustrierend. Ich trinke aus und gehe mit den Worten „Ich mag das nicht.“ Klarzustellen, was genau ich nicht mag, scheitert an meiner Verwirrung.
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