Zwillinge

Zwillinge

worin vorkommen: Turku, Wien, ein doppelter Cognac, sowie ein doppeltes Frühchen

Wenn Soile von einer ihrer Schwestern aus Finnland angerufen wird, hält sich ihr Text genau an ein unsichtbares Drehbuch. Ich kenne die Reihenfolge der Wörter und Ausrufe schon auswendig und an welchen Stellen Soile ihr Lachen einstreut. Dasselbe Zeremoniell wiederholt sich am Ende jedes Gesprächs. Das Lachen hat mit Freude zu tun, kommt aber hauptsächlich von Soiles innerer Unsicherheit. Wenn es um Humor geht, lacht sie ganz anders. Dann platzt es richtig aus ihr heraus.


Bei diesem Anruf war alles ganz anders. Soile brach ihren Text nach zwei, drei Worten ab. Ihre Augen starrten ins Leere, als sie offenbar nur zuhörte, was am anderen Ende gesprochen wurde. Weil ihr die Beine versagten, musste sie sich setzen. Sie rann in den Fauteuil hinein wie eine sich auflösende Masse. Jetzt erst brachte sie entsetzte Laute hervor. Die Fragen, die sie ausstieß, waren unvollständige Sätze, das merkte sogar ich. Langsam nur nahm der Informationsfluss Fahrt auf. Gib mir einen Zettel, verlangte sie von mir. Ich reichte ihr Stift und Papier. Soile hat eine schöne weibliche Handschrift. Was ihre zitternde Hand jetzt zustande brachte, war kaum leserliches Gekritzel. Eine Telefonnummer.


„Was ist los“, fragte ich in höchster Sorge.


„Sirkku.“ Soiles Stimme klang monoton. Sie machte Atempausen zwischen den Wörtern. „Sanna – hat - Zwillinge. Es geht – ihr sehr - schlecht, - aber keiner – bekommt – Auskunft.“


Ich setzte mich auf die Armlehne des Fauteuils und nahm Soiles Hand. Der Kinderwunsch war für Sanna und Esa lange unerfüllt geblieben. Sie hatten das ganze Programm durchlaufen, das in diesen Fällen Hoffnung macht. Mehrere In-vitro-Fertilisationen blieben erfolglos, bevor es endlich doch klappte. Wir wussten, dass Sannas Niederkunft bevorstand, aber erst zwei Monate später. Bisher war alles normal verlaufen. Sirkkus Nachricht kam wie der berühmte Blitz aus heiterem Himmel.


Soiles Sprache wurde jetzt rasch und hitzig. „Ich fahre sofort nach Turku. Wann geht der nächste Flieger? Ich muss im Krankenhaus anrufen. Mir müssen sie doch sagen, wie es meiner Tochter geht!? Wie komme ich am schnellsten nach Wien?“


Selber erschrocken versuchte ich Soile zu beruhigen. Im günstigsten Fall konnte Soile in dreißig Stunden in Turku ankommen. In dieser Zeit würde sie nichts wissen über Sanna. Und was konnte sie schon für sie tun in Turku.


Soile wählte die notierte Nummer. Das Krankenhaus. Man verband sie mit der Station. Eine Schwester sagte, sie dürften keine Auskunft geben, nur an den Ehemann und die Eltern. „Aber ich bin ihre Mutter!“ Soile brüllte es in den Hörer. Die Schwester entgegnete, sie könnte das nicht überprüfen. Finnische Vorschriftengläubigkeit. „Lassen Sie mich mit dem Arzt sprechen, bitte!“


„Rufen Sie in einer halben Stunde wieder an.“ Wenigstens diese Aussicht nahm die Schwester Soile nicht.


Ich ging zum Schnapsschrank und goss zwei sehr große Cognac ein. Soile trank ihren rasch wie Medizin.


Durch das Gespräch mit dem Arzt und weitere Telefonate mit den Geschwistern und Esa setzte sich nach und nach das Mosaik zusammen. Bei Sanna hatte es Komplikationen gegeben, deren Auftreten zwar möglich geschienen hatten, aber nicht wirklich erwartet wurden. Man musste unverzüglich einen Notkaiserschnitt durchführen, um Sanna und die Zwillinge zu retten. Den Frühchen ging es den Umständen entsprechend gut. Es war ein Bub und ein Mädchen. Für Sanna, das zarte Persönchen, war der Eingriff äußerst belastend, aber man tat was man konnte, um sie über den Berg zu bringen. Es bestünde aber keine akute Gefahr.


Ich goss uns einen weiteren Cognac ein und stieß mit Soile an. „Auf die Zwillinge und Sanna und Esa! – Terve, Mumma!“ (Oma)

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