worin vorkommen: Kittilä, Levi, der Polarkreis, die Tunturi, Lappland, Kärnten, Zell am See, Dellach im Drautal, Turku, die Mikaelinkirkku, Wien, die Breitenseerkirche, Kärnten, Toni Sailer, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Karl-Heinz Grasser, Gabriel Fauré, Sicilienne op.78, sowie der Tanz einer Schamanin
Kittilä ist der nördlichste Ort, den ich jemals erreichen sollte. Levi mag Sportinteressierten ein Begriff sein. Seit 2004 werden am Beginn der Schisaison in Levi Weltcupslaloms ausgetragen. Levi ist ein Wintersportresort 150 Kilometer nördlich des Polarkreises in der Nähe von Kittilä, dem Hauptort der Gegend. Soile und ich schauen aus der Finnair-Maschine. Im milden Sonnenschein erstrecken sich endlos angezuckerte Nadelwälder, unterbrochen von schneeweißen Löchern. Wenn sie flach sind, sind die weißen Löcher unzählige Seen. Sind sie buckelig, dann sind sie die Gipfel der Tunturi. Tunturi heißen die runden Bergrücken, die sich hie und da aus der flachen Ebene über die Zuckerwälder erheben. Sie erreichen Höhen bis zu 800 Meter und übersteigen damit die Baumgrenze. Daher die von oben gesehenen weißen Löcher. Der kleine Jet kurvt um einen der Seen und landet problemlos auf der Schneepiste.
Unwahrscheinlich, dass wir hier in der winterlichen Märzeinsamkeit Lapplands eine Versicherung besuchen wollen. Auch das Schifahren ist nicht unseres. Mit Soile habe ich kürzlich einen Versuch im Langlauf unternommen. In Kärnten. Wir haben uns die Schi geliehen und sind losgefahren. Schifahren hatte ich auf Schulschikursen gelernt, allerdings alpin, und das war auch schon eine Weile her. Mit dem schmalen Gerät auf den schmalen Suren habe ich mich ganz passabel zurechtgefunden, abgesehen von den Schlittschuhschritten auf den Steigungen. Bergab hat es aber kein Halten gegeben. In der Manier eines Toni Sailer bin ich Soile davongerast. Ist unten eine Kurve gekommen, hat es mich unweigerlich zerrissen. Das Umsteigen hätte ich zuerst lernen sollen. Soile hätte eigentlich die Nordic-Expertin sein sollen. Sie ist ja jedes Jahr mit dem echten Richter in Kittilä auf Winterurlaub gewesen, einmal sogar in Zell am See. Sie sagt, in Kittilä hat sie nur gefroren, was ihr den Urlaub vergällt hat. Das Gelände in Kittilä ist auch nicht so steil gewesen wie hier in Dellach im Drautal. Die Abfahrten sind zwar kurz gewesen, aber allzu senkrecht.
Also keine Arbeitsreise und auch kein Winterurlaub diesmal in Kittilä. Was aber dann? Kirsi wartet auf uns im Flugplatzgebäude. Wir steigen zu ihr ins Auto. Auf den Straßen liegen 15 Zentimeter Schnee. Sie durchquert den kleinen Ort. Nach kurzer Autoschlittenfahrt halten wir an einer Gruppe von kleinen Holzchalets. In einem davon treffen wir auf Sanna und Esa mit ihren kleinen Zwillingen Waltteri und Julianna. Die sind natürlich die Hauptpersonen aller Wiedersehensemotionen. Kirsi entfernt sich bald wieder. Sie hat noch unglaublich viel zu tun. Morgen heiratet sie Vesa.
Das Chalet ist hübsch und geräumig. Der Schlafbereich ist oben, unten eine nette Wohnküche und die Sauna. Wir reden über Kirsi und Vesa, die derzeit in Kittilä leben. Vesa arbeitet hier. Er hat es also geschafft, in seinen Norden zurückzukehren, wo es wenigstens das halbe Jahr angenehm kalt ist und nicht so ein Weicheiwetter hat wie in Südfinnland. Aus dem Chalet nebenan hören wir ausgelassene Unterhaltung von Männern und Frauen bei lautem Technorock. Plötzlich fliegt die kleine Hintertür der Hütte auf. Drei junge Männer stürzen heraus, werfen sich in den Schnee und wälzen sich darin. Das Ende eines Saunaganges. Die Männer beginnen miteinander zu raufen. Ihr Geschrei ist norddeutsch. Die Szene ist kurz, denn die drei Germanen sind pudelnackt. Schade, dass die Frauen nicht herauskommen. Man hört ihr Gelächter aus der Hütte. Die Temperatur liegt bei minus fünfzehn. Die Sonne steht nahe dem Horizont. Bei uns würde sie in eineinhalb Stunden untergegangen sein. Hier dauert der Tag um diese Jahreszeit zwölf Stunden. Ende Mai wird kurz nach Mitternacht ein Tag anbrechen, der zwei Monate dauern wird.
Die Kirche in Kittilä ist ein einfaches Gebäude von bescheidenen Maßen. Fast könnte man meinen, es handle sich um eines der typischen alten Holzhäuser. Sie trägt auch deren gewöhnlichen beigen Anstrich und ist auch wirklich ganz aus Holz. Auch die Fenster ähneln den alten Wohnhäusern, sind aber größer als solche, dem Verhältnis zur Kubatur entsprechend, die natürlich einer größeren Menschenmenge Platz bieten muss. Ein einfaches Satteldach mit 45 Grad Neigung macht das Understatement perfekt. Wäre da nicht der gedrungene Turm an der Stirnseite mit seinem quadratischen Grundriss und das Querschiff am anderen Ende, die den Bau eindeutig als Kirche identifizieren, man könnte mutmaßen, man habe dieses Haus für sehr großgewachsene Bewohner bemessen. Im Inneren kontrastiert protestantische Kargheit mit nordischer Lebensqualität: der Kirchenraum ist beheizt.
In diesem Raum hat sich eine kleine Menschenmenge versammelt, um der Hochzeit von Kirsi und Vesa beizuwohnen. Die Trauzeugen, Vesas Eltern, seine Schwester, Soile und ich, Sanna und Esa mit den Zwillingen, Sirkku, etliche Freunde des Brautpaars und Bekannte, zum Teil auch mit kleinen Kindern. Die kleineren Kinder sind genauso affig herausgeputzt wie auf Hochzeiten hierzulande, die größeren festlich aber lässig, die Erwachsenen elegant. Alle waren sie vorher beim Friseur und die Frauen haben sich größte Mühe mit den Makeups gegeben. Anlässlich meiner Aussiedlung nach Kärnten hatte ich mir einen Kärntneranzug zugelegt. So ein braunes (Pseudo-)Trachten-Outfit. Man darf das durchaus wie ich selbst zu den hier abgehandelten Schmissen zählen. Diesen braunen Fummel trage ich zum gegebenen Anlass. Wenigstens interpretieren die Leute hier meinen Aufzug nicht als Outing für eine bestimmte Gesinnung. Die Zeremonie unterscheidet sich nicht wesentlich von dem uns bekannten Ritual. Bevor es zu den entscheidenden Fragen kommt, singt die Menge Psalmen. Die Beteiligung ist stark, der Gesang vital, nicht schleppend, die Intonation ziemlich korrekt. Man singt auswendig, kennt die Lieder gut. Ich nicht. Ich nehme eines der Liederbücher, finde den richtigen Psalm anhand der Nummer an der Setzkastentafel und versuche meine jahrzehntelange Singabstinenz zu überwinden. Damit höre ich schnell wieder auf. Die Umstehenden schauen den Komiker im braunen Anzug verstört an. Seine ungeübte Stimme will nicht mitmachen. Der finnische Text der Folgestrophen steht geblockt unterhalb der Noten. Ich verstehe kaum ein Wort davon und kann ihn auch nicht richtig den Noten zuordnen. Die Pastorin spricht Gebete, der Pastor verliert sich in einer endlosen Rede, aus der ich immer nur ‚Jumala’ (Gott) verstehe und noch ein anderes überraschendes Wort, das andauernd vorkommt: ‚sexy‘! Was erklärt da der Pastor andauernd den Brautleuten? Gut, es handelt sich um eine Firmengründung mit der Geschäftsidee Fortpflanzung. Aber hier vor Jumala? Des Rätsels Lösung: ‚sexi‘, also mit i, ist das Suffix für einen der fünfzehn Fälle. Herra Jumala!
Ein Kleinkind beginnt zu schreien und wird vom Vater aus der Kirche getragen. Ich schaue hinüber zu den Zwillingen. Sie verhalten sich ruhig. Meine Gedanken schweifen ab zur Dramatik ihrer Geburt und weiter zurück zu Sannas Hochzeit mit Esa. Sie haben in Turku geheiratet, in der neugotischen Mikaelinkirkku. Sie steht umgeben von stark befahrenen Durchzugsstraßen zwischen Blocks von modernen Wohnhäusern auf einer Anhöhe inmitten einer Rasenfläche. Von der Straße her führt eine steile Steintreppe hinauf zum Haupttor. Diese Kirche ist ungleich größer als die von Levi. Von außen erinnert sie mich auf den ersten Blick an die Breitenseerkirche in Wien, doch bei genauerer Betrachtung bemerkt man, dass sie an der Stirnseite zwei Türme hat, wovon einer hoch aufstrebt, während der zweite den Giebel des Schiffs nur wenig überragt. Über den drei gotischen Bögen des Eingangs beherbergt ein weiterer gotischer Spitzbogen, der den ganzen Raum zwischen den Türmen ausfüllt, ein riesiges Rundfenster, Rosette mag ich es nicht nennen, weil es keine von deren kunstvollen Verzierungen aufweist, es besticht durch seine schlichte Größe. Je vier große Spitzbögen erstrecken sich über die Außenseiten des Schiffs. Die Fenster in ihnen sind hoch, aber ebenso schmucklos wie das Rundfenster an der Stirnseite. Die Apsis wird an beiden Seiten von zwei wehrhaften Rundtürmen bewacht, deren runde Spitzdächer etwa die Höhe des kleineren Frontturms erreichen. Eine feste Burg ist unser Jumala.
Tritt man ein durch das Haupttor an der Stirnseite, lässt die beachtliche Höhe der Kirche einen hohen Innenraum erwarten, daher wird man überrascht und niedergedrückt von der Niedrigkeit des Refektoriums, dessen Gewölbe auf kurzen dicken Säulen lastet. Doch nur ein Weniges weiter öffnet sich der Raum in die gebührende Höhe. Seine gelbliche Helle und Weite vermitteln eine himmlische Leichtigkeit, die den Blick anzieht und mit ihm den Schritt. Nur rasch durch durch das schwere Refektorium, hin zum Licht. Die finstere Schwere am Eingang, als wolle Jumala sagen,
Langsam, lieber Väinämöinen!*
Zieh die Zügel deines Rosses!
Haste nicht Im finstern Forste.
Lenk zum Licht bedächtgen Schritt,
reichlich früh erfreun dich wirds.**
* Held des Kalevalas (finnische Mythologie)
** Parodie einer Nachdichtung von Kalevalaversen (Stabreim)
Mit den erwähnten vier großen Spitzbögen an der Außenseite korrespondieren hier im Innern vier Kreuzgewölbe, die das Schiff bilden. Die Grate der Gewölbe neigen sich tief den Basen entgegen, die ihrerseits den Graten entgegenstreben, sodass zwischen ihnen die schlanken Säulen selbst ziemlich kurz bleiben können. Ist der Himmel auch hoch, so ist er doch so nah. Emporen zu beiden Seiten bilden die Seitenschiffe. Integriert in die Stirnwand gibt ein wuchtiger Spitzbogen, dem Strahlenornamente seine Bedrohlichkeit zu nehmen versuchen, den Zutritt zur Apsis frei. Ihre drei Bleiglasfenster sind die einzigen bunt bemalten in der Kirche. Alle anderen sind milchig weiß ohne Abbildungen. Orgelmusik erklingt zur Unterstützung des Gesangs der Gemeinde. Sie kommt von hinten. Ich drehe mich um. Die Orgel thront auf der Empore über dem Refektorium unter einem Spitzbogen, der jenen vor der Apsis spiegelt. Artig gruppieren sich die Orgelpfeifen so, dass sie dem Licht Platz lassen, das durch das große Rundfenster einfällt.
Die dunkel gehaltenen Bankreihen waren zu zwei Dritteln gefüllt. Die vorderste war für die nächsten Verwandten reserviert. Links vom Mittelgang die Verwandten der Braut, rechts der Clan des Bräutigams. Erwartungsvoll standen alle still, den Blick nach hinten zum Refektorium gewandt. Von dort würde das Brautpaar in die Kirche einziehen. Ich stand im Mittelgang neben meinem Platz in der ersten Reihe, neben mir Soile in einem luftig leichten braunen Kleid, das an Charleston denken ließ. Ich trug einen hellgrauen Anzug und eine weinrote Fliege. Das Hemd spannte schon ein wenig über dem vorlauten Bauch. Richtig wohl fühlte ich mich nicht in meiner Rolle, die ich doch nur einnahm, weil ich einen Rivalen aus dem Feld geschlagen habe. Ach, da kam er ja, Ilkka, klein gewachsen, aber soigniert, silbriges Haar, schütter, doch wellig aufrauschend, wo es vorhanden war. Unter Mendelssohns Klängen geleitete er, Sannas Vater, das Brautpaar beim gemessenen Durchschreiten der Kirche bis zur Betbank vor dem Altar. Dort überließ er das Paar dem wartenden Priester. Das ist nicht der Pastor, sondern ein jüngerer Mann, ich glaube, ein Bekannter Sannas oder Esas, vielleicht ein Studienkollege. Mit einer Verbeugung reichte mir Ilkka die Hand, bevor er in der Reihe hinter uns Platz nahm. Ich nahm die Geste mit Erleichterung zur Kenntnis.
Sanna war bildschön. Ihr weißes Hochzeitskleid mit hoch aufgeplusterten Schulterrüschen über bloßen Armen und ausufernder Schleppe, um die sich ständig jemand kümmern musste. Perfektes Makeup um den verführerischen roten Mund. Ein wunderhübscher Brautstrauß stürzte wie ein weißer Wasserfall von ihrer Hand. Esa in schlichter Eleganz. Schwarzer Anzug mit weißer Frackfliege. Brille im schmal geschnittenen Gesicht. Von heute aus zurückblickend stelle ich eine Ähnlichkeit mit Karl Heinz Grasser fest.
Vor den Stufen zur Apsis stand ein Kurzflügel. Um ihn hat sich ein Sextett von jungen Frauen aufgestellt. Sie gehörten zu dem Chor, in dem Sanna sonst mitsang. Die Chorleiterin, Satu, war eine von Sannas engsten Freundinnen. Wie Sanna zu Soile über Satu gesprochen hatte, Soile war die Begeisterung übertrieben vorgekommen. War das nicht schon mehr Leidenschaft als Überschwang? Diese Gespräche hatte ich mangels Sprachkenntnis nicht direkt erfassen können. Soile hatte das später erwähnt. Die jungen Frauen trugen luftige Blusen in verschiedenen Farben und lange Röcke, eine von ihnen bevorzugte eine enge, gemusterte Hose. Zwei von ihnen bestachen mit hüftlangem Haar, blond und dunkel. Bestechend auch der Gesang aller Fünf. Begleitet vom Klavier brachten sie mit großer Kunstfertigkeit ein wunderschönes Lied zu Gehör. Es war ein finnisches Kunstlied, gesetzt in der Modernität der Sechzigerjahre. Alle intonierten in höchster Sauberkeit. Diese musikalische Hochleistung war bühnenreif. Ich staunte und verstand Sannas Schwärmerei für Satu. Ich musste an die langen Abende denken, als wir mit Sanna und Esa bei Chips, Schokolade, Brett- und Kartenspielen in endlose Gespräche verfallen waren. Sanna war nicht mehr restlos glücklich als Kindergartenpädagogin. Sie hielt vieles an der Organisation für verfehlt. Eltern, Kinder und Vorgesetzte nervten sie. Mir schien, sie würde gerne zu uns nach Kärnten kommen. Natürlich war das völlig unrealistisch. Mehr noch für Esa als für Sanna. Seinen guten Job im Fleischwarenvertrieb würde er sicherlich nicht aufgeben und seine Familie in Finnland zurücklassen. Sanna war schon wieder bereit, etwas Neues zu probieren.
In meine Nachdenklichkeit fielen Sannas und Esas Bekräftigung. „Tahdon“. Aus Sanna Lindström wurde Sanna Heikkilä.
Aus solchen Gedanken reißt mich Soile, die mein Abschweifen bemerkt hat. Sie stößt mich mit dem Ellenbogen an. „He is going to ask them now.“ Beide antworten vernehmbar, Vesa etwas verhalten, Kirsi resolut. „Tahdon“. Aus Kirsi Lindström wurde Kirsi Kuosku.
Dann bin ich wieder allein mit meinen Gedanken.
Beim Verlassen der Kirche waren Sanna und Esa dem üblichen Reishagel ausgesetzt. Das Einsteigen in den weinroten Audi, der schon bessere Zeiten gesehen haben musste, gestaltete sich schwierig. Sannas Schleppe wollte einfach nicht mit. Hinter dem Audi schepperte eine Dose, als er sich schließlich entfernte.
Das Hochzeitsmahl fand in einem Restaurant nahe der Uni statt. Ein nüchtern modernes Lokal in einem nüchtern modernen Großstadtgebäude. Keine Schnörksel, nichts Persönliches, alles nüchtern und gerade, verglast, adrett und sauber, kühl. Es nahmen nicht viel weniger Gäste teil als zuvor die Kirche gesehen hatte. Bei der Gruppierung der Tische und Dekorierung von Sannas Saal hatten wir zuvor unter Sirkkus Kuratel mitgeholfen. Danach war ich abkommandiert, die Gäste an der Garderobe zu begrüßen. Toll, wenn man keinen kennt und sprachbehindert ist. Tapfer spielte ich die Rolle. Die Gäste waren an langen Tischen zu sechst und zu zwölft in zwei Blöcke aufgeteilt. Zwischen den Blöcken stand an der Spitze des Saals die kleine Tafel der Brautleute. Sie hatten auf ihrem eigenen Sofa zu sitzen, das von daheim herangeschafft worden war. Weißes Leder. Bevor die Brautleute dort Platz nehmen durften, stellten sie sich nahe dem Saaleingang auf. Die Hochzeitsgäste defilierten an ihnen vorüber und beglückwünschten sie. Wer das brav erledigt hat, wurde mit einem Glas Erdbeersekt belohnt. Jetzt endlich durften auch die Hauptpersonen ihr weißes Sofa in Beschlag nehmen. Die Zeremonie war schon bisher anstrengend gewesen. Sie hatten Durst. Das Trinken war aber für sie mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, denn verbunden waren auch ihre beiden Trinkgläser mit einem kurzen Band. Ilkka hielt eine Ansprache, von der ich nichts verstand. Währenddessen nahmen kleine Mädchen Sannas engelhafte Erscheinung aus aller Nähe in Augenschein und noch kleinere Kinder hatten kein Problem damit, neugierig ihr Kleid zu betasten. Ob sie enttäuscht waren, dass ihre Händchen nicht darin versanken wie in einer Wolke? Eine erste ernüchternde Erfahrung: Nicht alles ist Himmel, was wie Himmel aussieht. Höflicher Applaus beendete seine Rede. Einen wichtigen Fixpunkt im Ablauf nahm der nun folgende Häävalssi (Hochzeitswalzer) ein. Zusammen mit Sanna hatten wir viel überlegt, was das sein könnte. Mein Vorschlag war Gabriel Fauré, Sicilienne op. 78. Ein langsamer Walzer voller melancholischer Poesie, Spätromantik wie sie nicht besser zu einem finnischen Hochzeitspaar und speziell zu Sanna passen könnte. Es wurde dann die Komposition eines Freundes, ein sehr epigonales Aufkochen traditioneller finnischer Elemente, ins Ohr gehend, aber abgedroschen wie der misslungene Versuch, einen Hit zu kreieren. Die Musik kam von zwei jungen Männern, Keyboard und kleines Schlagzeug, dazu eine Sängerin aus Satus Chor oder Satu selbst. Esa führte etwas steif, den Rücken abgewinkelt, gebeugt zur kleineren Sanna. Sie schwebte über die Tanzfläche in dem langen Kleid, mit dem Finger die Schleppe anhebend. Nach dem Häävalsi brandete kurz Applaus auf, dann wurde Esa von Ilkka abgelöst und Esa tanzte mit seiner Mutter. Schließlich wurde der Tanzboden der Allgemeinheit freigegeben und ich tanzte mit Soile. Ich musste auch mit Esas Mutter tanzen. Ein sehr sprödes Unterfangen. Ich versuchte, ein paar Worte zu wechseln, auf Deutsch, dann Englisch. „Esa hyvä poika“, wagte ich einen Vorstoß (Esa guter Junge). Sie blickte starr und schwieg. Wir waren vermutlich beide heilfroh, als die Musik aufhörte.
Ein Fest in Finnland ist undenkbar ohne besonderes Happening, jedenfalls in Soiles Familie. Organisatorin ist immer Soiles kleine Schwester Sirkku, wenn sie nicht selbst der festliche Anlass ist. Mag sein, dass die Schwestern und der Bruder in ihrer Kindheit und Jugend immer so kreativ miteinander gespielt haben, dass das Fortführen dieser Spielereien auch im reiferen Alter sie zurückversetzte in diese goldenen Epochen. Wie auch immer, die Einlagen gaben jedem Fest sein Spezielles, an das man nicht aufhörte sich zu erinnern. Diesmal erhob sich Kari, der Kapitän, mit der Erklärung, die Kirchenherren hätten das Aufgebot nicht gebilligt, weil Esa im Eheunterricht unaufmerksam gewesen wäre. Dies zwänge die Brautfamilie geradezu, vor der endgültigen Zustimmung zu dieser Eheschließung eine Nachprüfung abzuhalten. Die wichtigsten Exponenten der Brautfamilie würden jetzt je eine Frage stellen. Wehe Esa, wenn seine Antworten nicht zur allgemeinen Zufriedenheit ausfielen! Ilkka eröffnete die Befragung. Danach kam ich an die Reihe. Selbstverständlich hatte man mich in den Tagen davor eingeweiht und mir meine Frage aufgeschrieben. Glücklicherweise war sie kurz und bündig, sodass ich sie in Finnisch memorieren konnte. „Wie viele Kinder willst du haben?“ Der Saal lachte. Ich weiß nicht, ob über die Indiskretion oder über mein Finnisch. Für den Fall, dass Esa mein Kauderwelsch nicht verstünde, würde ich ihm den Zettel mit der Frage übergeben. Zu meiner Überraschung verstand er, wie offenbar auch die Gäste. Nachdem auch er sich sein Lachen verbissen hatte, hob er seine beiden Hände. An der einen waren drei Finger ausgestreckt, an der anderen zwei. Also fünf!? Der Saal lachte noch lauter. Esa übertönte das Gelächter: „Zwei – oder! – drei.“
Das Essen war wie allgemein gebräuchlich in Form eines Buffets. So gesehen war unser streikbedingtes Hochzeitsbuffet im Aquarius nichts Ungewöhnliches gewesen. Dieses hier übertraf aber das unsere bei weitem in seiner Vielfalt. Beim Gang zum langen Buffettisch wurde eine Rangordnung streng eingehalten, eine unbeugsame Regel, die sich auf alle Gänge erstreckte. Zuerst die Brautleute, dann die Eltern. In meiner Bescheidenheit wäre ich später gegangen. Soile zischte mir zu, komm jetzt. Als Starter war kaltes Buffet aufgetragen. Silli in allen Variationen, Rollmops, Lachs, kalt und warm geräuchert, Graved, Roastbeef, Schinken, Carpaccio, gefüllte Eier, verschiedene Salaatit, zu allem passende Saucen, Weißbrot, teils getoastet, leicht gesalzene Kunstbutter von der besseren Sorte, aber in der Konfektion aus dem Supermarkt. Ich versuchte verzweifelt, weder mich noch die Verwandten zu bekleckern, die hinter uns anstanden. Alle die guten Sachen warteten nur auf die Chance, ihrer Niedertracht nachzugeben und unkontrolliert durch die Luft zu fliegen, egal wohin. Ich fühlte die spezielle Beobachtung, unter der ich stand. Der ungeschlachte Alpenbewohner, der with the vicar’s wife durchgebrannt war. Am Ende der Tafel waren die Getränke aufgestellt. Milch, Wasser und Kalja (hausgemachtes niedrigalkoholisches Bier aus Roggenmalz). Wenn das Vorurteil, die Finnen söffen, zutrifft, dann nicht in dieser Gesellschaft, bei dieser Hochzeit.
Nach dem ersten Gang war ich eigentlich absolut voll. Jetzt aber ging’s erst los. Das warme Buffet war aufgetragen. Weißfisch, Lachs, Schweinemedaillons in Sauce, Hühnerfrikassee, Lihapulla, Salzkartoffel, Puikulaperuna (kleine, längliche Späterdäpfel aus Lappland), Erdäpfelpüree, Reis, Erbsen, Salate, unter anderem mit Nudeln, Weißbrot. Am Getränketisch waren jetzt auch noch Wein und Bier angeboten, aber der Zuspruch war mäßig. Zu viele Autolenker. Sie alle nahmen das Alkohollimit äußerst genau. Während ich noch mit dem Essen kämpfte, breitete sich im Saal Unruhe aus. Am weißen Sofa gab es einen Tumult. Eine Piratenfahne flog hin und her. Satu und ihre fünf Grazien stürzten sich auf Esa und fesselten seinen Oberkörper. Esa wurde abgeführt, ohne seine Braut noch einmal küssen zu können. Sanna teilte man mit, was sie tun könne, um ihren Mann auszulösen. Sie müsse sich ans Schlagzeug setzen und, vom Keyboarder begleitet, einen Song singen und das Ganze mit dem Schlagzeug rhythmisieren. Bevor ich ohne Mann nach Hause gehe, werde ich diese Zumutung auf mich nehmen, entschied sie. Der Keyboarder verstaute sie mit ihrer Schleppe auf den Schlagwerkersitz, richtete ein Mikrophon vor ihrem Mund ein und drückte ihr zwei Schlägel in die Hände. Er selbst setzte sich ans Keyboard und spielte einen wahrscheinlich allgemein bekannten Schlager. Sanna kannte nur wenig von dem Text, ihr Gesang beschränkte sich auf diese paar Wörter. Auf der Suche nach dem Text in ihren Gehirnwindungen vergaß sie auf den Rhythmus. Außerdem war ihr die Bedienung der Trommeln und Becken völlig fremd. Leidend strich sie mit einem Schlägel über die kleine Trommel und den Beckenrand. Der Keyboarder beendete die Nummer solo, wie er sie begonnen hatte. Sanna fürchtete, mit dieser Leistung ihren Schatz endgültig an die Piratinnen verloren zu haben und malte sich aus, welche physischen Qualen die Freibeuterinnen ihm zufügen würden. Hätte sie gesehen, wie Esa draußen an der Garderobe mit seinen Entführerinnen schäkerte, die Qualen wären allein auf ihrer Seite gelegen. Esa bedauerte, als die Frauen ihn am Strick in den Saal zurückführten in die Arme der erleichterten Sanna.
Danach wurde die vierstöckige Hochzeitstorte hereingetragen. Sanna und Esa schnitten sie gemeinsam an. Es war eine Biskuittorte mit Erdbeercremefüllung und üppiger Schlagobersdressur. Der Anzahl der Gäste entsprechend standen noch weitere Torten bereit. Zur Torte holte man sich Kaffee, selbstverständlich in der gebührlichen Reihenfolge.
Es wäre nicht ein Fest des Kanerva-Clans, hätte Sirkku nicht noch weitere Einlagen vorbereitet. So mussten Sanna und Esa Rücken an Rücken sitzend Fragen beantworten, ohne einander sehen zu können. Die Antworten sollten Rückschlüsse zulassen auf den Grad der mentalen Übereinstimmung der Frischvermählten. Widersprüche erheiterten die Gesellschaft. Trotzdem und obwohl jetzt auch härtere Getränke angeboten wurden, geriet das Fest nicht zum Gelage. Tauno sprach gern dem Wein zu und Kari dem Whisky. Beide wurden immer stiller. Sirkku würde sie fahren. Man saß gesittet und ruhig beisammen, leise plaudernd oder still beobachtend. Erste Gäste verabschiedeten sich, natürlich persönlich bei dem Brautpaar, mit herzlichen Umarmungen. Zuerst die mit kleinen Kindern. Dann, in Abständen andere. Mit einem Mal waren mehr Plätze leer als besetzt, da zog auch der Rest der Gesellschaft ab. Auf einmal waren auch Esa und Sanna weg. Das Schiff hatte abgelegt. Wohin? Wer weiß?
Hier in Levi wäre es zu Beginn des Hochzeitsmahls schon finster, würden da nicht die brennenden schwedischen Kerzen den Schnee beleuchten. Dicke Aststücke, die aufrechtstehend mit der Säge an der Oberseite kreuzweise tief eingeschnitten wurden. In die Spalten wurde eine kleine Menge brennbarer Flüssigkeit gegossen. Einmal angezündet erhellen diese Riesenkerzen die Umgebung ziemlich lange und sie erzeugen sofort eine behagliche Stimmung bei den eintrudelnden Gästen. Dazu kommen eine Anzahl Eislaternen, Kerzen, deren Flamme die Wände ihrer Gefäße aus Eis zum Leuchten bringen. Man hat Wasser in Gefäßen wie etwa Kübel gefrieren lassen, wobei das Eis sich an die Wände legte und in der Mitte einen Hohlraum für die Kerze ließ. Der Kübel wurde dann entfernt und was blieb, war ein Gefäß aus transparentem Eis.
Der Ablauf des Hochzeitsmahls entspricht etwa jenem von Turku, doch sind spezielle nordländische Effekte stärker betont. Vesas Vater konnte als Rentierhalter mehr Fleisch von seinen Tieren beisteuern, das in allen Variationen geboten wird. Vesa und sein Vater beteiligten sich an der jährlichen Elchjagd, die nicht beendet wurde, bevor die Beute für die ganze Jagdgemeinschaft reichte. Dabei kam den Jägern auch der eine oder andere Bär vor die Flinten. Auf dem Buffet finden sich daher auch kleine Mengen solcher Spezialitäten. Elchfleisch schmeckt nach meiner Erinnerung wie eine Kreuzung von Rotwild und Kalb. Es ist fein und fettarm.
Nicht nur die Kanervas im Süden legen Wert auf gediegene Unterhaltung, auch hier im hohen Norden besteht ein Fest nicht nur aus Essen und Trinken. Eine von Vesas Schwestern, Mari, fällt schon die ganze Zeit auf mit ihrer Aufmachung, die von vielen bunten samischen Elementen geprägt ist. In einer aufsehenerregenden Einlage rührt sie die heilige Trommel ‚kannus‘. Sie beginnt larghissimo mit einzelnen dumpfen Schlägen, stößt dazu hin und wieder einen gutturalen Ton aus, steigert die Schlagzahl nach und nach, die einzelnen Töne vereinigen sich zu einem mysteriösen Singsang zwischen Kopf- und Bruststimme, dem Jodeln ähnlich. Joik nennt sich der Gesang. Der Trommelrhythmus wird schneller, das Joiken packender. Ist Mari eine Schamanin, die Biejve (die Sonne als Schöpfergott) diesem Brautpaar gewogen stimmen möchte? Dagegen spricht, Mari ist eine junge Frau. Schamanin wird man in der Regel nach der Menopause. Also eine Einlage. Zuletzt wirbelt der Tierknochen über die Trommel, so wie Mari durch den Saal wirbelt, vor dem Brautpaar joikt, auf die Knie sinkt, um im nächsten Moment, man wundert sich, wie, hinter Kirsi und Vesa aufzutauchen und joikend die Trommel über deren Köpfen zu malträtieren, bis sie schließlich in Trance zu Boden sinkt. Beeindruckend! Hoffentlich auch für die Geister.
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