6 Wiener Sängerknabe

←← Titelseite ← 5 - Mauerbach 7 - Auf der Thaliastraße →

Wiener Sängerknabe

worin vorkommen: die Wiener Hofburg, Bellaria, Heldenplatz, Schweizer Tor, Augarten, Konzerthaus Wien, Josef Schnitt,  J. W. Goethe, Heinrich Werner, das 'Heidenröslein', 'Kling Klang Tellerlein', Zarah Leander, 'Kann denn Liebe Sünde sein', Giovanni P. Palestrina, Orlando di Lasso,  'Holla, welch gutes Echo,' Andrea Gabrieli, W. A. Mozart, 'Bastien und Bastienne', 'Die Zauberflöte', Gioachino Rossini, 'Signor Bruschino, Joseph Haydn, Franz Schubert, 'Ständchen, Nachthelle', Robert Schumann, 'Leben der Sinti und Roma' (kennen Sie nicht?- na, 'Zigeunerleben', was sonst?, Anton Bruckner, *Um Mitternacht', Johann Strauß, 'Rosen aus dem Süden', 'La Bohème', 'Die Macht des Schicksals', 'Die Meistersinger von Nürnberg', 'Turandot', 'Tosca', 'Carmen', 'Der Evangelimann', 'Das schlaue Füchslein', Engelbert Humperdinck, 'Hänsel und Gretel', Oskar Nedbal, 'Polenblut', Johann S. Bach, Charles Gounod, 'Ave Maria', Robert Kühbacher, Helmuth Froschauer, Gerhard Lang, Gerhard Track,

und von einem bettnässenden Fassadenkletterer an barockem Gebäude

Eines Tages, es muss wohl um die Zeit meiner steilen Schauspielerkarriere an der Scala gewesen sein, fragt meine Oma mich, ob ich nicht zu den Sängerknaben wolle. Zwar habe ich von denen schon gehört, aber eine richtige Vorstellung davon habe ich wohl nicht. Trotzdem sage ich sofort ja und noch am selben Tag bin ich bei der Aufnahmeprüfung zum Vorsingen. Es sind vielleicht dreißig Knaben da. Unter dem strengen Blick von Rektor Josef Schnitt, der in seiner Soutane anwesend ist, müssen wir unser Gefühl für Rhythmus und Gehör unter Beweis stellen, indem wir diverse vom Kapellmeister vorgeklatschte Rhythmen nachklatschen und ein paar auf dem Klavier vorgespielte Töne nachsingen oder aus einem angeschlagenen Dreiklang den mittleren Ton herausfiltern. Zum Schluss hat jeder noch ein Lied vorzutragen. Die Meisten wählen J. W. Goethes/Heinrich Werners ‚Heidenröslein‘, das scheint mir aber zu affig, doch fällt mir auch nichts Anderes ein als ‚Kann denn Liebe Sünde sein‘, aber die Stimme Zarah Leanders imitieren? In der Schule haben wir ‚Kling Klang Tellerlein, wer steht da vor der Tür‘ gelernt. Leider erinnere ich nur wenig mehr als die erste Textzeile, die ich also unbeirrt wiederhole. Zu meiner Überraschung werde ich aufgenommen. Das klingt nun nicht so sehr nach Schmissen, doch Geduld, Geduld, die folgen gleich.



Aufgenommen? Also erst einmal zugelassen zur Teilnahme an dem dreijährigen Vorbereitungskurs, der dreimal wöchentlich in der Hofburg abgehalten wird. Wir sitzen da in den langen Holzbänken und lernen Noten lesen, Solfeggio (vom Blatt singen), Atmen, Stützen (das Zwerchfell anspannen) und unsere Stimmchen werden gebildet. Zur Hofburg komme ich mit dem 46er oder mit dem vertrauten J-Wagen. Von der 'Bellaria' zu Fuß über den Heldenplatz zum Schweizer Tor. Die Gänseblümchen im Rasen verursachen mir einen Schub unschuldiger Freude. Im Vorübergehen frage ich sie, was eines Tages aus mir werden würde. Ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen.

Der Vorbereitungskurs ist absolviert. Ich muss ins Internat. Mein erster öffentlicher Auftritt mit den Wiener Sängerknaben ist in einem Konzert im Wiener Konzerthaus. Am Abend fahren uns ein Präfekt und Kapellmeister Robert Kühbacher in den zwei VW-Bussen, die den Sängerknaben gehören, die kurze Strecke vom Augarten zum Konzerthaus. Die Stadt ist dunkel, nebelig und kalt, durch die angelaufenen Scheiben der Busse erkennt man schemenhaft Ringstraßengebäude.


Die Umkleideräume befinden sich unter dem stufenweise ansteigenden Podium und sind denkbar einfach. Garderobehaken an den Wänden und Holzbänke. Platz ist für viel mehr als vierundzwanzig Knaben. Es finden hier ja oft Veranstaltungen mit hunderten Mitwirkenden statt. Neben dem Großen Saal werden Aufführungen manchmal gleichzeitig auch im Mozart- und im Schubert-Saal abgehalten. Den Berio-Saal im Keller hat es damals noch nicht gegeben.


Für den ersten Teil haben wir nur die Wintermäntel und Matrosenkappen abzulegen und uns ein wenig zurechtzumachen. Wir sind ja in der Galauniform gekommen. Schwarze Hose, weiße Matrosenbluse. Sind die Frisuren in Ordnung? Sitzen die Plastrons richtig? Sind die Hosentürl zu? Es gibt heute ein Standardprogramm, das heißt alte Musik im ersten Teil (Motetten von Giovanni P. Palestrina, Orlando di Lasso und Andrea Gabrieli). Diese wunderbaren vielstimmigen und polyphonen Gesänge haben mir das Herz geöffnet für die Schönheit der Musik, auch für ihren Inhaltsreichtum. Alles ist vorhanden, vom streng Geistlichen zum weltlichen Humor. Besonders in Erinnerung ist mir 'Holla, welch gutes Echo' von di Lasso. "Holla/holla, welch gutes Echo/Echo… - Sing uns ein Liedchen… - Warum nein?/warum nein? – Weil ich keine Lust hab/Lust hab…"


Unser Chor besteht aus zweiundzwanzig Buben plus zwei Neulingen, einer davon ich. Uns Neuen hat man eingeprägt, nur Mundbewegungen zu machen und ja nicht zu singen, schon gar nicht hörbar!, obwohl wir das ganze Programm studiert haben. Das gehört wohl zur Phase der Eingewöhnung.


In der Mitte der Bühne steht das Klavier, links davon die Sopranstimmen in zwei Reihen, darin versteckt das stumme Ich, und rechts der Alt. Heute bedaure ich, Sopran gewesen zu sein, also fast ständig die führende Stimme zu singen. Die Alte haben sich zweifellos viel mehr in den Kontrapunkt einfühlen können.


Im ersten Teil singen wir a cappella. Robert Kühbachers schwarze, hypnotisierende Augen, die Gesten, die keinen Zweifel zulassen, Sicherheit für die Einsätze vermitteln, einladend bisweilen, dann aber die fordernde Faust und nun wieder zwei Finger an den Lippen, der Arm am Hosenbund, um uns ans Stützen zu erinnern, der Zeigefinger zur Kontrolle der Tonhöhe, und immer wieder fordern seine Mundwinkel uns auf zu lächeln, ganz spontan folgt der Chor jeder seiner Weisungen.


Für den zweiten Teil werden wir uns umkleiden und schminken müssen. Die Begleitschwester hilft. Das Standardprogramm sieht immer die Kurzfassung eines Singspiels vor, Mozarts 'Bastien und Bastienne' oder wie heute Rossinis 'Il Signor Bruschino', wobei die Bassstimmen für zweiten Alt gesetzt sind. Wir Buben in Rokoko-Kostümen und -Perücken, das Publikum ist immer hin und weg. Jetzt kommt auch der Bösendorfer zu seinem Recht. Ich bewundere den jungen Kapellmeister, wie seine Hände neben dem virtuosen Klavierspiel noch Zeit finden zum Einsätze geben und Dirigieren.


Für Teil 3 wieder zurück in die Galauniformen. Es gibt Singbares aus Klassik (Wolfgang A. Mozart, Joseph Haydn (in Italien immer korrekt Franz Joseph Haydn genannt) und Romantik (Franz Schubert: 'Ständchen', 'Nachthelle', Robert Schumann: 'Zigeunerleben', Anton Bruckner: 'Um Mitternacht'), sowie Volkslieder und am Ende einen großen Wiener Walzer, diesmal Johann Strauß, 'Rosen aus dem Süden'. Wenn auch nur vom Klavier begleitet, die symphonische Einleitung, die kunstvollen Überleitungen zu den und zwischen den vier Walzerteilen! Ich vergesse alle Verbote und brülle drauf los. Kühbacher hat dafür nur ein Lächeln, fast ein Lachen übrig. Außer ihm und meinen Kollegen hat es niemand bemerkt. Der fulminante Schluss geht unter in einem Beifallsorkan.


Je nach Spielplan der Staatsoper haben einige von uns Operndienst. Wir singen die Kinderpartien in der Zauberflöte, Bohème, Macht des Schicksals, Meistersinger, Turandot, Tosca, Carmen, Evangelimann, Das schlaue Füchslein, und anderes mehr, auch in der Volksoper, 'Hänsel und Gretel', 'Polenblut'.


In der Zauberflöte kommen drei ausgewählte Solisten zum Einsatz (die 'Drei Knaben'). Zum Glück für das Publikum, die anderen Mitwirkenden und auch für die Wiener Sängerknaben war ich nie dabei. Es hätte sicher wieder einen fatalen Schmiss gegeben. Doch habe ich bis heute immer wieder der Leistung der drei Knaben meine kritische Einschätzung bewahrt, die dann besonders kritisch wird, wenn die drei Knaben von Frauensopranen gegeben werden.


Die anderen genannten Opern erfordern alle eine größere Knabengruppe, etwa einen halben Chor zumeist. Schaurig die Volksszene in Turandot mit dem blutrot aufsteigenden Mond. Ausgelassen die Ministranten in Tosca, aber erschütternd die Unheil verheißenden Harmonieschläge beim Erscheinen Scarpias. Schwierig die variierenden Vorzeichen in der Tonfolge der Gassenbuben in Carmen. Ergreifend die Bibelschule im Evangelimann. Schwierig auch das Memorieren der Passagen in einer schon beginnenden Auflösung der Harmonie im Schlauen Füchslein. Magisch die langsame Verwandlung des Waldes in einen Wald von Kindern in Hänsel und Gretel. Spaß in den Volksszenen in Polenblut auf der Drehbühne.


In einer Probe für Carmen stellt sich heraus, dass die teils komplizierten Tonfolgen weniger schwierig sind als das Marschieren im den Soldaten nachgeahmten Schritt, denn Karl Böhm ruft unserem stolpernden Helmut Reitmeier vom Dirigentenpult her zu: "Heb de Haxn, bleda Bua!" Und in die für einen Augenblick einsetzende Stille intonierte je wieder einer wie Erich Sillipp das Solo "Will das Pferd und diiie Trompete!"


Ich bin nicht einer von jenen Chorknaben, die regelmäßig für Soli herangezogen werden. Wenn es manchmal doch vorkommt, habe ich keine Ahnung, wieso ich. Eines Tages bin ich für das ‚Ave Maria‘ von Bach/Gounod eingeteilt, ich soll es anlässlich einer Hochzeit in der Hofmusikkapelle vom Chor aus vortragen, begleitet vom Kapellmeister an der Orgel. In der Hofburg befinden sich hoch oben in den Dachgeschossen die Proberäume, in denen die vorbereitenden Basiskurse der Sängerknaben abgehalten werden. Von dort ist es ein verschlungener Weg durch lange Gänge und durch mehrere Stiegenhäuser hinunter zur Kapelle.


Die Kapellmeister sind relativ junge Männer, Mitte oder Ende zwanzig, oft ehemalige Sängerknaben, talentiert sowohl musikalisch als auch pädagogisch und gute Pianisten, aber eben doch noch ziemlich am Anfang einer möglichen musikalischen Karriere. Robert Kühbacher, Helmuth Froschauer, Gerhard Lang und Gerhard Track sind es zu meiner Zeit. Mit einem von ihnen sitze ich also im Proberaum. Wir warten auf ein vereinbartes Klingelzeichen, worauf wir uns in die Kapelle begeben sollen. Es ist sehr fad. Es will kein Gespräch aufkommen, wir sind wohl beide nicht besonders kommunikativ.


Nach vielleicht vierzig Minuten kommt es mir vor, als hörte ich ein Klingeln. Dass der Kapellmeister keine Anstalten macht, zur Kapelle aufzubrechen, ist mir durchaus recht, habe ich doch starkes Lampenfieber. Nach einer kurzen Weile läutet es neuerlich und mehrmals hintereinander, aber der Kapellmeister scheint nichts zu hören. Na ja, in einer so großen Burg kann es wohl aus den verschiedensten Gründen klingeln? Es vergeht noch längere Zeit, bis er nach einem bedenklichen Blick auf seine Armbanduhr den Entschluss fasst, Klingeln oder nicht, mit mir zur Kapelle hinunter zu steigen. Als wir auf dem Chor ankommen, zieht das junge Ehepaar gerade durchs Tor hinaus und ein aufgeregter Mesner mit rotem Kopf kann seine fuchtelnden Arme nicht im Zaum halten. Der Kapellmeister beteuert, die Klingel habe nicht geläutet, oder ob vielleicht ich etwas gehört habe? Also, diese Klingel nicht.


Ich habe nie erfahren, ob das Ehepaar sein Geld zurückbekommen, oder ob es gar Schadenersatz und Schmerzengeld gefordert hat. Möglicherweise wäre die Schmerzengeldforderung höher gewesen, wäre ich zum Einsatz gekommen.


Eines Nachts erwache ich aus unruhigem Schlaf. Der Himmel flackert gespenstisch orange und rot und projiziert ein höllisches Spektakel durch die Fenster des Augartenpalais an die Decke unseres Schlafsaals. Die meisten Kameraden schlafen fest und bemerken nichts davon. Ob außer mir jemand wach ist, weiß ich nicht. Keiner sagt etwas. Und keiner rührt sich. Auch ich nicht. Na ja, jetzt ist es soweit, denke ich. Mit zehn Jahren habe ich noch keine klaren Vorstellungen von dem, was in der Welt vor sich geht, aber so viel habe ich schon mitbekommen, dass das Wettrüsten zwischen Ost und West Spitz auf Knopf steht und der Kalte Krieg jederzeit in einen heißen umschlagen kann. Jetzt ist es soweit, denke ich und beobachte den flackernden Schein in den Fenstern. Ob ich die Mama und die Oma und den Opa und den Tino je wiedersehen werde? – Am Morgen erfahre ich, dass es so schlimm doch nicht gekommen ist. Es ist nur die Börse abgebrannt. Das war am 13. April 1956.

Viele meiner Sängerknabenkameraden haben die ganze Welt bereist. Dieses Glück habe ich nicht gehabt. Mir waren eine sechs Monate lange Deutschlandtournee beschieden und einmal eine nach England. Der Track-Chor war von Japan her nach England gereist. Hier gab es strenge Jugendschutzbestimmungen, die zur Folge hatten, dass nicht alle Chormitglieder alle geplanten Konzerte singen durften. Deshalb wurde ich mit noch ein paar Knaben zur Verstärkung nach England abkommandiert. In Begleitung einer Betreuungsschwester übersetzten wir auf der Prince Baudouin den Ärmelkanal. Das war aber eher eine Alibimaßnahme. Im Großen und Ganzen hat immer der Originalchor gesungen. 

Diese Englandreise hat dennoch Weichen in mir gestellt, die jedenfalls für den Verlauf meiner Jugendjahre, vermutlich aber auch für die Horizonte meines ganzen Lebens entscheidend gewesen sind.


In London wohnten wir in einem kleinen Hotel. Als ich einmal nach dem Frühstück - die herrliche Neuigkeit Corn Flakes (Porridge, no thank you!) - als Letzter den Speiseraum verließ, waren nebenan Putzfrauen beschäftigt. Ich wusste nicht recht, ob es jetzt richtig wäre, die Tür zum Speiseraum zu schließen und fragte die Frauen höflich: „Shall I make to?“ Sie verstanden nicht, also wiederholte ich und gestikulierte. „Oh, shut!“, begriffen sie endlich. Es war der Anfang meiner Neigung zur englischen Sprache.



Zum Zeitvertreib in der Eisenbahn unterwegs nach Schottland wetten wir, wer die meisten Ortsnamen auf den Schildern der Bahnhöfe notieren werde können. Ich habe die meisten, werde aber disqualifiziert, weil sich darunter mehrmals Ortsnamen befinden wie ‚Cash Desk‘, ‚Exit‘, ‚Luggage‘, ‚Royal Railways‘, ‚Flowers‘, ‚Smokers‘, ‚Potable Water‘, ‚Estaminet‘, ‚Bookstall‘, ‚Staff‘, aber auch ‚Gentlemen‘ und ‚Ladies‘.

Auf Tournee in Deutschland werden wir, nachdem der kleine Kässbohrer Autobus auf dem Hauptplatz oder vor der Kirche des jeweiligen Städtchens angekommen ist, einzeln oder zu zweit Pflegefamilien zugeteilt, die für unsere Beherbergung Eintrittskarten zum Konzert bekommen. Ob allein oder zu zweit, oft werde ich oder werden wir dafür sorgen, dass diese Eintrittskarten schwer verdient sind.


Irgendwie ist mein Zimmerkamerad an Zigaretten gekommen. Wir haben die ganze Packung geraucht. Die Asche haben wir in einem Schuh gesammelt, den wir zuletzt durchs Fenster in den Garten ausgeleert haben. Eine Weile nach dem Öffnen des Fensters hat man auch wieder bis zur Zimmertür hinübersehen können.


Auf Sylt verbrachten wir einen freien Nachmittag auf dem Strand. Badesachen hatten wir nicht mit, wir begnügten uns damit, bis zum Unterrand der hinauf gerollten Uniformhosen ins Wasser zu gehen. Der Wellengang der Nordsee überraschte uns immer wieder mit einem höheren Schwall, der unsere Oberschenkel traf. Eine Spezialität der Nordsee sind die starken Gezeiten. Deshalb waren beim Aufbruch meine am Strand zurückgelassenen Schuhe verschwunden. Da wir am Abend Konzert hatten, ist gleich unsere Begleitschwester mit mir Schuhe kaufen gegangen.


Eine der Deutschlandtourneen berührte auch die Schweiz. Ich kam zu einer Pflegefamilie mit einer Violine lernenden Tochter in meinem Alter. In sie habe ich mich sofort – zum ersten Mal nach meiner ersten Volksschullehrerin - verliebt und trug danach ihr Bild durch halb Europa.

Tagebuch 31.12.1981 [auf Silvesterfahrt im Innkreis mit meiner Frau]


Laufen, Burghausen und viele andere Namen kleiner Orte erinnern mich an die lange Deutschlandtournee. Sechs Monate von Ort zu Ort, fast jeden Abend in einem anderen. Vormittags Fahrt im dunkelblauen Setra-Autobus, in dem es intensiv nach Orangen und Schokolade roch. Dazu kam der Dieselgeruch. Ein Gemisch, das mir Übelkeit verursachte. Noch viele Jahre später konnte ich keine Orangen sehen. Mittags Ankunft in deutscher Kleinstadt. Auf dem Hauptplatz Verteilungszeremonie. Freiwillige haben sich eingefunden, um ihren Pflegeknaben für zwölf Stunden abzuholen. Die Pflegeeltern haben sich zur Verfügung gestellt, den Buben Kost und Quartier zu geben. Dafür erhielten sie wohl Karten fürs Konzert. Da standen wir also einander gegenüber. Hier wir, in Zweierreihe, uniformiert im dunkelblauen Matrosenanzug. Drüben ein Häufchen Stadtbürger, die wir routiniert und scharfäugig in diverse Kategorien einzuteilen wussten. Am begehrtesten waren natürlich die Industriellen. Leicht nervös trappelten sie auf dem Fleck umher, eleganter Anzug, Blick auf die Armbanduhr, Blick auf uns Buben, Blick auf die füllige, stöckelbeschuhte Gattin, dezent aufgeputzt wie Mutter zum Geburtstag, der BMW Sechszylinder im Hintergrund war eindeutig nur diesen zuzuordnen. Elegante Fahrt an den Stadtrand zur Villa im Grünen. Die Industriellen hatten meistens selber Buben, die uns neugierig betrachteten, als wären wir seltsame Tiere. Wir hingegen fanden diese Industriellenkinder höchst überflüssig. Es war uns unbegreiflich, wozu diese eleganten Eltern solche dressierten Affen brauchten. Beim Essen an feierlich gedeckter Tafel die ewig gleichen Fragen und Antworten über unser Leben bei den Sängerknaben und über unsere Familie. Ich bekam Spaß am Flunkern, wenn ich beispielsweise behauptete, meine Mutter sei auf der Suche nach einem jungen Mann, seit mein alter Vater im Gefängnis sitze, weil er einem russischen Offizier gegenüber behauptet habe, Tschaikowsky wäre schwul gewesen. Nach dem Essen gab der Kleinere der Industriellenbuben etwas Musikalisches zum Besten, qualvolle Minuten mit Geige oder Klavier, standen wir doch weit über solchen Banalitäten. Wenn wir nicht sogleich beifällige Äußerungen abgaben, wurden wir subtil dazu genötigt. Gottseidank war es uns streng verboten, selber eine Privatvorstellung zu geben. Wenn wir bisweilen darum gebeten wurden, sollten wir höflich auf das Konzert am Abend verweisen. Es war eines der Gebote, die fast lückenlos von uns befolgt wurden.


Ein anderes Gebot hingegen wurde sehr missachtet: Du sollst deine Pflegeeltern nicht anbetteln. Gerade bei den Industriellen fiel das nicht immer leicht. In ihren Häusern gab es immer sehr schöne und große Modelleisenbahnanlagen, Märklin natürlich. Märklin-Waggons wurden von uns leidenschaftlich gesammelt. Ganz selten, und wenn, dann bei einer Industriellenfamilie, konnte es schon vorkommen, dass eine Lokomotive als Erinnerungsgeschenk gegeben wurde. Es konnte durchaus sein, dass so etwas unsere Meinung über die dressierten Äffchen relativierte.


Wenn nicht ein Nachmittagskonzert auf dem Programm stand oder eine Probe, dann mussten wir nachmittags ins Bett. Schlafen konnte ich aber selten. Meistens suchte ich nach interessanten Spielsachen in dem oft improvisierten Schlafraum. Ich erinnere mich an eine Schallplattensammlung, deren Prachtexemplare ich mir anhörte, ohne den Plattenspieler einzuschalten. Das hätte mich sofort des Nichtschlafens überführt. Ich legte die Platte auf, setzte die Nadel in die Rille und drehte mit der Hand den Teller, immer mit jener Geschwindigkeit, die mein Kunstbegriff für angezeigt hielt. Ob der Plattenspieler, wie die Schallplatten die Tortur überstanden haben, würde mich heute noch interessieren.


Abends gab es das Konzert, das meiner Erinnerung nach meistens wirklich gut gewesen sein muss. Die Leute waren begeistert, insbesondere die Pflegeeltern. Sie fühlten sich mitverantwortlich.


Am nächsten Morgen kontrollierte der strenge Präfekt, dem die Hand oft recht locker saß, vor dem Autobus anhand einer Liste, ob alle Pflegeeltern uns wieder abgegeben hatten. Wir schüttelten ihnen die Hände. Manchmal weinten die Pflegemuttis, aber die industriellen fast nie. Wir verstauten das kleine Köfferchen mit dem Märklin-Braunkohlestaubwaggon im Gepäckraum des Busses und uns selbst oben unter Schokolade und Orangen. Manchmal konnte es geschehen, dass zwei oder drei Auserwählte von Herrn Landgraf, dem Tourneemanager, in seinem Mercedes 300 mitgenommen wurden. Es war für uns ein tolles Erlebnis, mit hundertsechzig Sachen über die Autobahn zu flitzen.


Viel öfter als die Industriellen waren natürlich die Bürgerlichen. Biedere Geschäftsleute. Zu ihnen gehörte wohl der VW an der Ecke, womöglich auch der DKW Junior mit der neuen Leerlaufeinrichtung. Mit dem BMW konnte der VW nicht mithalten, aber im Bayrischen musste man immer hinten sitzen. Im Käfer hingegen, der bei aller Einfachheit doch auch etwas Gediegenes hatte, durfte man gelegentlich vorne neben dem Lenker mitfahren und manchmal sogar den kleinen Arm ausstrecken und das Lenkrad anfassen und für eine kurze gerade Strecke die Führung übernehmen. Das war schöner als BMW.


Schließlich gab es auch noch die Kategorie der ollen Tunten. Die Tunte war eine mehr oder weniger betagte, jedenfalls alleinstehende Dame, immer in bescheidenen Verhältnissen. An ihrem Alleinsein war meistens der Krieg schuld. Für die waren wir ungefähr so ein Fressen wie der Hänsel für die Hexe. Kein Auto wartete auf das geschrumpelte Weibchen. Zu ihrer einfachen Wohnung, meistens nicht weit vom Hauptplatz weg, gingen wir zu Fuß, oder wir fuhren – in größeren Städten – mit dem Obus. Schon unterwegs die obligate Konversation. Den Tunten aber log ich nichts vor. Sie waren mehr beeindruckt vom armen Komponisten, der mein Vater war, und von der frisierenden Operettensängerin. Mit der Tunte muss man eingehängt gehen. In der freien Hand trägt sie dein Köfferl. Mit ihren harten Absätzen hackt sie bei jedem Schritt ins Pflaster, dass du die Erschütterung über ihr Rückgrat bis in die Lenden zu spüren bekommst, wo dein Händchen eingehakt ist. Das eingehakt Gehen mit der Tunte ist mir zutiefst zuwider. Noch ahne ich nichts von der köstlichen Erregung, die die gleiche eingehakte Nähe, das gleiche Geräusch, die gleiche Erschütterung bewirken kann, wenn eine begehrte Frau sie erzeugt.


Eine Tunte allein, das mag noch angehen. Treten sie aber paarweise auf, dann wird es richtig schlimm. Ein Tuntenpaar kann entweder ständig mitsammen leben, sie sind dann oft Schwestern, oder sie haben sich eigens für den Zweck der Pflegeelternschaft zusammengetan. So oder so, ihr Kampf um die Vorherrschaft bei dir wirst du jedenfalls zu spüren bekommen. Du kannst die eine glücklich machen, wenn du mit ihr die längere Strecke eingehakt gehst, weil sie weniger hackt als die andere. Die versucht dafür, sich einen Ausgleich zu verschaffen, indem dich sie in das Bettchen bettet, das die erste aufgebettet hat in der Vorstellung, es würde sie sein, die dich einschläfert.


Für zwölf Stunden hat die Tunte die Möglichkeit, eine sehr konkrete Scheinmutterschaft zu erleben. Wenn sie dich am Morgen zum Bus getrippelt hat, werden Tränen fließen. Und wenn der Bus hinter der Ecke verschwunden ist, wird sie wieder heimtrippeln mit ihrem unerfüllbaren Traum.


Von den Tunten übrigens stammt all die Schokolade, stammen all die Orangen im Autobus. Mein Sitznachbar, der Norbert (Steger), hat von seinem Elektrohändler ein Fünfmarkstück bekommen und der Suppan von seinem Industriellen sogar ein Schuco-Rennauto.


Manchmal gibt es keine Pflegeeltern. Wir übernachten in einem Hotel oder, wie heute in Burghausen, in einer Jugendherberge, die oben in der Burg untergebracht ist. Noch etwas Besonderes wird heute eintreten. Wir bekommen Besuch. Unseren Aufenthalt an der österreichischen Grenze haben einige Eltern zum Anlass genommen, uns hier zu treffen. Meine Eltern haben die Fahrt mit einem anderen Elternpaar in dessen schönem Steyr 330 gemacht. Diese Eltern! Sind oft wirklich schwer zu verstehen. So eine schöne Fahrt und in dem tollen Dreidreißiger! Wissen das gar nicht zu schätzen! Der Nachmittag ist ausnahmsweise schlaffrei. Dafür Spaziergang mit Mama und Tino. Fotos vor den Sängerknabenplakaten auf der schmalen Brücke, die Österreich und Deutschland verbindet. Oder von Deutschland trennt? Auf der Brücke bis zur Mitte. Unter uns die brausende Salzach. Schon ist es Zeit zum Umziehen fürs Konzert. Morgen früh wieder Abfahrt in entgegengesetzten Richtungen. 


Irgendetwas muss sich nachteilig auf meine Psyche ausgewirkt haben. Ich begann Bett zu nässen. Unsere Begleitschwester kaufte eine Betteinlage aus Kautschuk und gab sie meinen Pflegeeltern mit. Ich weiß nicht, ob Familien mich abgelehnt haben, hat sich doch immer eine für mich gefunden, aber ich habe mich sehr geschämt. Meine Eltern brachten mich zu einem Psychiater. Er hypnotisierte mich und stellte mich auf Harndrang ein, der durchs Händewaschen ausgelöst werden sollte. Seither habe ich immer Harndrang, wenn ich mir nach dem Pipi die Hände wasche.


Die Chöre, die gerade nicht auf Tournee waren, verbrachten den August im Ferienquartier in Osttirol. Ein Gasthof in dem winzigen Ort Hinterbichl. Vormittags immer Probe, für die Nachmittage war Spielen im Freien oder eine Wanderung am Fuß des nahen Großvenedigers geplant. Während wir im Gasthaussaal probten, heizte draußen die Sonne am blauen Himmel die nächtlich frische Gebirgsluft auf. Bald verschwand die Sonne hinter dicken Kumuluswolken und pünktlich zu Mittag brach ein Gewitter los, das sich gewaschen hatte. Das ging so Tag für Tag. Zur Wanderung ist es nie gekommen. Im Hauptgebäude war eine italienische Familie zu Gast. Wir spielten mit deren kleinem Sohn, ohne uns mit Worten verständigen zu können. Aus Moos, Baumrinde und kleinen Holzstückchen bastelte er kleine Nachbildungen der umgebenden Landschaft. Aus diesem Paradies wurde ich jäh herausgerissen, als eines Tages der Herr Präfekt mich zu einem Gespräch holte und mir mitteilte, mein Großvater sei in der Nacht zuvor verstorben. Ich dachte an die geplünderte Münzensammlung, an die Gasthausbesuche mit dem Opa, wo ich ein Himbeerwasser bekam, während er mit anderen Männern Karten spielte. Wenn ich es wünschte, sagte der Präfekt, könnte ich mit der Bahn nach Wien fahren, jemand würde mich begleiten. Ich begriff aber, dass es für die Organisation ziemlich umständlich wäre. Ich blieb mit dem Chor in Hinterbichl.


Zwischen den Tourneen gab es viel zu stucken, musste doch der Lehrstoff des ganzen Schuljahrs in drei Monaten bewältigt werden. Die Klassenräume befanden sich in den oberen Stockwerken des barocken Augartenpalais. An der Außenseite befand sich vor den Fenstern zum Park hin ein nicht ganz schmales Gesims. Eines Tages komme ich in einer Pause auf die Idee, dort hinaus zu steigen, um mich die Wand entlang von einer Klasse zur anderen zu tasten. Zu meinem Fenster zurückgekehrt finde ich es geschlossen und drinnen hat schon die nächste Stunde begonnen. Dem Matheprofessor ist meine Abwesenheit nicht aufgefallen. Was bleibt mir anderes übrig als die nächsten fünfzig Minuten in luftiger Höhe eine barocke Karyatide darzustellen?

Einmal liegt ein bunter Haufen im Freien vor dem Eingangstor ins Palais. Ein paar Frauen stapfen um ihn herum und beklettern ihn auch. Der Haufen ist zwei Kubikmeter groß und besteht aus Damenschuhen. Viele schöne Farben. Hohe Absätze. Aber völlig durcheinander. Die Frauen müssen den jeweils zweiten Schuh in dem Riesenhaufen suchen. Ein Geschenk aus den USA für die Mütter der Wiener Sängerknaben. Mama kann nicht kommen. Das Geschäft.


Spind Nr. 75 steht im westlichen Stiegenhaus. Der westliche Trakt hat eine Stiege, die früher für das Gesinde bestimmt war, oder für Personen, die nicht gesehen werden sollten. Die zentrale Hauptstiege ist barock ausgeschmückt und mit einer weit geschwungenen, bequemen Treppe versehen. Sehr fotogen für unsere Pressefotos. Die westliche Stiege ist immer noch beeindruckend im Vergleich zu gewöhnlichen Wohnhäusern, aber schmucklos, weiß gekalkt. Dort steht eine Reihe Aufbewahrungsspinde. Nr. 75 ist meiner. Nur der wichtigste Inhalt ist mir in Erinnerung: mein Modellflugzeug und eine Dose Ovomaltine. Hab ich von Mama bekommen, weil ich angeblich Kalorien brauche. Das Zeug schmeckt so gut, ich bin richtig süchtig danach. Gedacht ist die Ovomaltine zum Einrühren in Milch, warm oder kalt. Am besten schmeckt sie aber einfach roh, mit dem Teelöffel eingenommen. Meine Wege durchs Palais richte ich so ein, dass ich über die westliche Stiege komme. Das ist der einzige Grund, weshalb ich gerne in die Klavierstunde gehe. Die Klavierlehrerin wartet in einem der Proberäume. Ich mache den Umweg über Spind 75. Der Löffel Ovomaltine im Vorbeigehen. Ansonsten mag ich die Klavierstunden nicht. Die Lehrerin ist eine fürchterliche alte Hexe und renkt mir jedes Mal die Finger aus, weil sie ihr zu steif sind. Auf dem Rückweg komme ich wie zufällig wieder am Spind 75 vorbei. Vielleicht habe ich mir deshalb die Spindnummer bis heute gemerkt und halte ich 75 für meine Glückszahl. Die Ovomaltine ist rau auf der Zunge und am Gaumen. Vermischt mit dem Speichel zergeht sie bald. Trotzdem, mehrere Teelöffel nacheinander genommen können schon den Mund wundscheuern. Das ist das Einzige, was meine Naschsucht etwas bremst. Das sollte sich die Regierung überlegen, der es nicht und nicht gelingen will, eine Ausgabenbremse einzurichten. Die Minister und Beamten dürften nur solches Geld ausgeben, das sie zuvor groschenweise gefressen haben. Sollte hinhauen.

***

Rainer sehe ich jetzt nur selten. Wenn er gelegentlich nach Hause kommt, muß er Tino vorführen, was für Fortschritte auf dem Klavier er im Internat gemacht hat. Bescheiden, kann ich nur sagen. Findet Tino auch.

***

In der Freizeit spielen die Kameraden hinter dem Palais Fußball. Die meisten kennen das schon von früher. Ich jedoch nicht und so bin ich den anderen einfach zu schlecht zum Mitspielen. Stattdessen falte ich Papierflieger und lasse sie von der Terrasse unter dem Dach zu Boden gleiten. Als ich ein einfaches Flugzeugmodell mit Gummimotor geschenkt bekomme, interessieren sich plötzlich einige Fußballer für die Dachterrasse. Von dort aus kann ich nicht sehen, wie manchmal meine Mutter um die Ecke des Gebäudes späht, um einen Blick auf mich zu erhaschen. Sie stellt aber nur fest, dass ich nicht mit den Anderen spiele und kehrt doppelt traurig nach Hause zurück. Als wir uns eines Tages doch treffen, fragt sie mich, ob sie mich aus dem Internat nehmen soll. Ebenso unkompliziert wie ich seinerzeit zum Beitritt ja gesagt hatte, nicke ich langsam mit dem Kopf und bald bin ich kein Sängerknabe mehr.



˄ ← ← Titelseite 7 - Auf der Thaliastraße →
Share by: