5 Mauerbach

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Mauerbach

worin vorkommen: Jules Verne,  'Der Kurier des Zaren',  Annaberg (Erzgebirge), Chemnitz. Döbeln, Komárom, Baden, Wels, Salzburg, Kitzbühel,  Jochberg, Karl Farkas, Sissy Kraner, Hugo Wiener, Gustav Zelibor, Radio Wien,  Max Schönherr, das Große Wiener Rundfunkorchester sowie die Einsicht, dass ein Postautobus und eine Puch 250 nicht kollidieren müssen, um ein Unglück zu erzeugen

Zu was soll das gut sein, Sommerfrische in dem verschlafenen Nest, ein paar Kilometer vom Geschäft! Maria ist alles andere als begeistert von der Idee. Mit Geschäft meint sie den Friseurladen.


Diesmal aber kratzt ihr mir nich' die Butter vom Brot. Was für beschissene Jahre sind das gewesen, die meine besten hätten sein sollen. Meine besten, das sind die vor den besten gewesen. Das Abitur, das gemeinsame Interesse mit den Klassenkameraden am Theater. Strindberg, Ibsen, Hofmannsthal, Brecht, Lehar. Über den kam ich zur Operette und die wurde mir zur Leidenschaft. Volontär an 'ner Bank sein heißt, ziemlich unbezahlt die Bankgeschäfte erlernen zu wollen. Mir war das alles piepegal. Ich wollte Musik lernen. Ich kaufte oder lieh alle Bücher über Musiktheorie, ging jeden Abend auf die Stehplätze in Berlin, lernte dirigieren, indem ich auf'm Stehplatz die Partitur mitlas und mitdirigierte und mich dabei ertappte, anders zu dirigieren als der Kapellmeister unten, lernte Kontrapunkt und Instrumentalisieren, nahm alle Jobs an, die irgend'nen Zusammenhang hatten mit Bühne, war Statist, Bühnenarbeiter, Platzanweiser, Korrepetitor, durfte schließlich mal 'ne Probe leiten. War für mich ganz selbstverständlich und hat mich nich' gewundert. Sollte ja so sein. Ich lernte von unsern Kapellmeistern und irgendwann sprang ich für einen von ihnen ein und übernahm die Vorstellung. Das passierte dann schon mal öfter und das gab mir den Mut, oder die Frechheit, mich in der Provinz als Korrepetitor zu bewerben. Genommen haben se mich in Freiberg als Kapellmeister, aber der Musikscheff war ständig krank und ich war von Anfang an voll im Geschäft, bis er ausschied und ich ihn ersetzen durfte. Ich begann selber zu komponieren, schrieb 'ne Operette. 'Der Kurier des Zaren' nach Jules Verne. Spielte darin schon mit einigen Amerikanismen. Haben wir in Freiberg aufgeführt, war 'n toller Erfolg in den Zeitungen und hat im Publikum eingeschlagen. Als Kapellmeister in Freiberg macht man alles. Musikalische Abende, Kurkonzerte, Oper, Operette, von der Einstudierung über die Premiere bis zum letzten Abend. Und man tingelt. Gastiert in Annaberg, in Chemnitz und auch in Döbeln. Auf einmal war da der rotzbübige Führer eines rotzbübig gewordenen tausendjährigen Reichs, das keine zwölf Jahre gedauert hat, gottseidank. Seine rotzbübigen Kumpane mit den Ledermänteln, die nachts meine jüdischen Musiker und Sänger aus dem Theater verschwinden haben lassen, die besten mitunter, und dann in der Glorie des totalen Kriegs die Rollbalken von meinem Theater runterließen und von allen andern auch, bis zum Endsieg. Gab's dann halt nicht. Mein Sohn Heinz hat das nich mehr mit ansehn müssen. Den haben se in der Hajot verrecken lassen, nachdem er sich beim Klettern an rostigem Stacheldraht Tetanus geholt hat. Das war sicherlich nicht der einzige Grund für meine Scheidung von Margarete, aber es gab einen Grund weniger, dass wir zusammenblieben. Dann der Barras bei der lächerlichen Künstlertruppe, ich traf nich' wenige Bekannte von sächsischen Theatern wieder in dieser Transporteinheit nahe der ungarischen Front. Kämpfer war da keiner dabei, aber das war den russischen Feuerorgeln egal. Da war ich schon in Maria verliebt, dieses überschäumende Wiener Springinkerl, an deren Können es zwar manches auszusetzen gab, wenn ich an die Intonation denke, von der Pronuntiation ganz zu schweigen. Wenig klar und dazu noch der austriakische Akzent. Und doch begeisterte sie mit ihrer Wiener Springinkerlhaftigkeit und dem austriakischen Akzent das Ensemble und dann sogar ganz Döbeln. Rein fachlich war ich eher distanziert und musste immer wieder mehr Disziplin einfordern, was von mir leider immer etwas abwertend rüberkommt. Doch dieses Wiener Springinkerl wusste mit ihren zwanzig Jahren genau, was sie wollte, und das war halt der Kapellmeister, also ich. Die hat sich rangeschmiss'n, ich muss sagen, das war schon sagenhaft. Na schön, da gab's auch andere, die sich Hoffnungen machten, aber die hat Maria alle in die Flucht geschlagen, wenn's sein musste, mit der Handtasche. Meine schwere Notentasche mit den Orchesterstimmen hat immer sie getragen, um in meiner Nähe zu sein und das Gewicht der Tasche hat nichts geändert an ihrer Springinkerlhaftigkeit. Andauernd brachte sie uns alle zum Lachen. Mich zum Lachen zu bringen, das ist bestimmt nich' leicht, aber bald begann ich zu schmunzeln und als sie in 'ner Einzelprobe versucht hat, mir die Wiener Artikulation von Springinkerl beizubringen, war ich hin und weg. Einmal sagte sie, Herr Kapellmeister, ich glaub' die Leut' fangen schon an über uns red'n. Es waren noch andere Zeiten. Unverheiratet zusammen ging nich'. Schon gar nich' in der Provinz. Nun bin ich ja eigentlich eher zurückhaltend und darum war es mir, als hörte ich mir selber von irgendwo außerhalb zu, als ich kühn antwortete, "Tja, wenn das so ist, dann müss'n wir ja nichts verbergen und könn'n ein Zimmer teilen." Bis dahin hatte jeder von uns ein Zimmer in Untermiete. Davon konnten wir jetzt eins einsparen. Viel verdienten wir ja nich', Maria noch weniger als ich. Gelebt hab'n wir im Wesentlichen von materiellen Zuwendungen von theateraffinen Gewerbetreibenden, mal 'ne Portion Wurst vom Fleischer, auch mal 'nen Kuchen vom Bäcker, hin und wieder 'ne Einladung zum Essen vom Wirten, und gelegentlich 'n Paket aus Wien von Marias Mutter mit Apfelstrudel und sogar Kohle! Ja, tatsächlich schickte sie 'n paar Kilo Kohle zum Heizen an Maria, weil die geschrieben hatte, Mamma, da is' sooo kolt. Und dann, wie schon gesagt, Theater zu, Einberufung. Maria zurück nach Wien. Sie als gelernte Friseuse hatte da 'ne Existenz im Laden der Eltern. Mit dem Fahrrad war ich aus unserer Stellung nach Komárom gefahren, um die Feldpost abzuholen, da las ich in Marias Brief, dass wir 'n Kind haben würden. Die Zeiten waren ja nich' gerade ideal fürs Kinderkriegen, aber es stand für mich ganz außer Frage, dass ich Maria heiraten würde. Zwanzig Jahre Altersunterschied, der Krieg, was kümmerte das das Kind und so hatte es auch mich nich' zu kümmern. Und Maria sah sowieso nur mich. Ihre Eltern sahen das wohl ganz anders. 'Nen Geschiedenen, zwanzig Jahre Älteren musste ihre Tochter haben, dazu noch ausgerechnet mit 'nem Hungerleiderberuf. Da fingen se schon an, mitten im Krieg, meine Nachkriegsprobleme. Maria hatte immer alles durchgesetzt. Mit zehn hatte sie durchgesetzt, dass ihre bereits geschiedenen Eltern 'n zweites Mal heirateten, später, dass sie neben der Friseurlehre die Schauspielschule besuchen durfte, dass sie mit nur neunzehn nach Deutschland durfte, als sie 'n Engagement da erhielt. Also setzte sie auch durch, diesen zwanzig Jahre älteren geschiedenen Mann mit Hungerleiderberuf mitten im Krieg zu ehelichen. Für die Hochzeit bekam ich drei Tage Urlaub. Marias Mutter machte a Gansl, das Tier wär‘ heute noch nich' weich gegart. Ich lernte meine Schwiegereltern kennen. Der Vater 'n kleiner, magerer Mann mit 'nem Holzbein aus'm ersten Weltkrieg. Der Mutter sah man an, dass sie mal füllig gewesen war, jetzt aber abgenommen hatte. Beide nur unwesentlich älter als ich, beide slawischer Abstammung, sie aus Böhmen, er aus Mähren. Zweite Einwanderergeneration nach der Industrialisierung. Der Vater zum Militär, dann in den Krieg, um dem Kaiser sein Bein zu opfern, dann einbeinig den ganzen Tag Haare schneiden. Die Mutter als junge Frau beim Grafen Czernin am Grundlsee logiert, dann den einbeinigen Friseur geheiratet. Küss-die-Hand-gnä'-Frau-Proletariat.


Unser Kommandant war 'n kluger Mann. Sobald der Kanonendonner im Osten 'ne gewisse Lautstärke erreichte, hörte man sein "Meine Herren, wir verlegen". Lieber als Kanonen hörte er sein Büchslein knallen auf Hasenjagd in den ungarischen Donauauen. Die Beute kam der ganzen Kompanie zugute zur Aufbesserung des Dosenfraßes. In unserer Transportkolonne waren fast nur Theaterleute. Intendanten, Musiker, Schauspieler, Sänger. Helden waren zu traurigen Helden geworden und Komiker zu traurigen Komikern. Keine Kämpfer. Die Bühnenarbeiter waren alle vorne an der Front. Der Humor lief bei uns wie geschmiert. Vor allem der sarkastische. Die Sänger, die auf der Bühne in 'Lippen schweigen' die Phrase 'Jeder Druck der Hände' verdreht hatten in 'Jeder Dreck der Hunde' oder 'Läuse Flöhe, meine Glieder' gaben jetzt zum Besten 'Deutschland, Deutschland, übel alles, alles Übel in der Welt'. Einen Radiosprecher hatten sie zu unserer Truppe geschickt, nachdem er im Studio, aber nicht auf Sendung, die abgedroschene Phrase ‚Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos‘ umgedreht hatte in ‚hoffnungslos, aber nicht ernst‘. Man musste also aufpassen. Denn ein paar schneidige Männer waren auch unter uns. Das waren pflichttätige Günstlinge von Bonzen, die sich im Kampf bewähren sollten, aber an 'nem einigermaßen sicheren Platz. Solche, die nachher sagen wollten, ich hab meine Pflicht getan. Oder, falls das Ding schiefgehen sollte, ich hab nur meine Pflicht getan. Die konnten glatt 'nen dicken Pluspunkt kassieren, wenn sie ein'n verpfiffen. Und für den war's dann aus mit Hasenessen und ruhige Kugel. Ab an die Front!


Wir konnten nur nachts fahren wegen der Tiefflieger. An so 'ner LKW-Kolonne konnten die richtig Spaß haben. Tagsüber hielten wir uns in den Wäldern versteckt, schliefen oder putzten unser Zeug. Ein paar wenige Geschickte reparierten die Lastwagen. Den Nachschub brachten wir in der Dunkelheit an die Front. Im fahlen Licht, das aus den Schlitzen der abgedunkelten Scheinwerfer drang, suchte der Kolonnenführer den Weg in der unbekannten Gegend.

 So zogen wir langsam die Donau hinauf, ich kam mir vor wie 'n Nibelunge auf'm Heimweg. Vor Baden bei Wien waren die Russen uns am nächsten und ich Maria und meinem neugeborenen Rainer. Wir bezogen Quartier in der dortigen Kaserne. Endlich mal wieder Wände und Wasser aus 'nem Rohr statt Zeltplanen und 'nem Bach. Maria hatte den Geist, durch das Chaos nach Baden zu radeln, um mich zu sehen. Sie erzählte mir, dass sie mit unserem Sohn und ihrer Mutter nach Tirol fahren wird. Die Plünderungen und Vergewaltigungen durch die russischen Soldaten hatten sich herumgesprochen. Der Vater würde versuchen, mit seinem Holzbein den Laden zu verteidigen. Ich bin Agnostiker, aber ich betete, dass Maria durch die in Auflösung begriffene Welt wohlbehalten nach Wien zurückkehren würde. Für unsern Kommandanten war es höchste Zeit zu verlegen. Es war bei Wels, als er den Krieg für beendet erklärte und seine Künstler in die Freiheit entließ. Frei war ich, aber vogelfrei. Es waren jede Menge 'Kettenhunde' unterwegs, Fanatiker mit 'nem Blechschild unterm Hals. Die waren wohl auch schon auf eigene Faust unterwegs, aber wehe es kam ihnen einer in die Quere, der der Desertion verdächtig schien, der hatte nur noch sehr kurz zu leben. Ich wollte nach Tirol zu Maria, musste ja hier irgendwo um die Ecke liegen. Zu Maria, klar. An den Gedanken, dass Maria jetzt Maria und Rainer heißen würde, musste ich mich noch gewöhnen. Ich wanderte durch die Wälder, immer westlich, wo die Gegend zu gefährlich schien, schlief ich tagsüber in 'nem Versteck und wanderte nachts. Nahe Salzburg besuchte ich 'ne Bekannte, die in Freiberg Souffleuse gewesen war. Hätte Maria das gewusst, wären wohl die Fetzn gflogn. Die Souffleuse hat mir flüstern können, wo in Tirol Maria war. Sie hatte erst kürzlich 'ne Ansichtskarte von Maria aus Kitzbühel erhalten. Darauf stand die Adresse in Jochberg. Ich hätte sonst kaum gewusst, wo ich suchen sollte. Der Umstand hätte Maria wohl besänftigt, aber mit den Zähnen geknirscht hätte sie trotzdem. Dass ich in Tirol war, erkannte ich an der Sprache der Leute. Eine Sprache, die hervorragend passt zu grollenden Gewittern an schroffen Bergen mit scharfen Kanten. Im Inntal und hinein ins Achental musste ich besonders vorsichtig sein. Da gab es noch operative SS-Einheiten, die da 'ne Alpenfestung errichten wollten. Schließlich bei Jochberg auf die Alm. Sportlich war ich ja nie und die lange Wanderung ohne vernünftiges Essen hatte ihr Übriges getan. Ich traf zuerst auf die Bäuerin, erwartete jeden Moment mein Todesurteil: die falsche Alm. Da aber kam Maria um die Hausecke und flog mir entgegen. Wir landeten beide im Hühnerdreck und ich blinzelte hinauf zu Marias Mutter mit 'nem Kleinkind auf'm Arm. Die Bergbäuerin dachte anfangs, die stürmische Begrüßung durch Maria hätte Ihrem Vater gegolten und Mamma sei meine Frau. Marias Mutter hieß auch Maria, aber alle nannten sie einfach Mamma. Ganz verstört war die Bäuerin, als sie dahinterkam, dass ich Marias Mann bin. Ich weiss nich', ob sie darüber geredet haben, aber Mamma und die Bäuerin waren sich offenbar einig, dass die Situation etwas Merkwürdiges hatte. Noch saurer wurde die Bäuerin, als es bei mir mit dem Ziegen melken nich' so gut klappte. Maria versuchte, mir bei ihr Respekt zu verschaffen. Sie erklärte ihr, ich sei Musikdirektor am Theater. Das ging gründlich daneben. Sie sei auch mal im Theater gewesen. Im Kasperltheater. Lustig war's! Die Bergbäuerin hatte wohl 'n Herz für Flüchtlinge, sonst hätte sie keine aufgenommen. Flüchtlinge ja, aber solche? Der Sommer wär' herrlich gewesen in den Bergen unter andern Umständen. So aber war's 'ne Kakophonie von Peinlichkeiten. Die Missbilligung durch die Hausherrin, meine Unzulänglichkeit in der Almwirtschaft, unsere Abhängigkeit von Mammas Schmuckvorrat, mit dem sie unseren Aufenthalt finanzierte. Ich hatte Einfälle für Kompositionen, machte Skizzen auf jeder Art Papier, das ich kriegen konnte. Maria hatte alle meine Noten mitgebracht (im Kinderwagen!), aber keine leeren Notenbögen. Und es gab kein vernünftiges Schreibgerät. 'N grober Zimmermannsstift war alles. In meiner Kritzelei sahen Mamma und die Bäuerin nichts als nutzlose Zeitverschwendung. Es gab ja so viel Wichtigeres zu tun. Wie gern wär' ich nach Deutschland gegangen, um zu sehen, was am Theater läuft. Wie aber, mit dem Kleinkind ins Ungewisse! Maria und ich, wir haben uns dort auf der Alm in Jochberg feierlich versprochen, jedes Engagement anzunehmen, was immer es sei und wo auch immer, aber nur wenn es für uns beide gemeinsam wäre. Ein Ding der Unmöglichkeit, besonders in unserem Metier. Wir hörten aus Wien, dass die Versorgungslage noch katastrophal wäre. Die Stadt sollte aber bald in vier Besatzungszonen geteilt werden und der Westen würde nicht russisch sein. Maria und ich beschlossen, schon mal nach Wien zu fahren. Vielleicht ergab sich da ja 'ne Chance zu arbeiten. Für alle Fälle hatte Maria ja die Möglichkeit, ihrem anderen Beruf im Friseurladen nachzugehen. Rainer sollte mit Mamma noch auf der Alm bleiben. Mamma war's recht.


Was auf den ersten Blick aussieht wie 'n Glücksfall, war letztlich der Genickbruch für unsre künstlerischen Laufbahnen. Maria im Friseurladen wartete den ganzen Tag auf die wenigen Kunden, die sich das leisten konnten. 'N anderer solcher 'Glücksfall' war meine 'vorläufige' Einstellung als Hilfsarbeiter in der kleinen Drahtfabrik im Hinterhof.  Arbeiten an meiner Musik konnte ich nur nachts und meine künstlerischen Kontakte beschränkten sich aufs Radio hören. Zur Anbahnung eines Engagements blieb wenig Zeit und noch weniger Kraft. Mit Karl Farkas hätte es fast geklappt. Den Job haben aber Sissy Kraner und Hugo Wiener bekommen. Und bei Radio Wien ist vor mir Gustav Zelibor zum Zug gekommen, nicht zuletzt, weil es da für Maria nichts gegeben hätte. 'N bisschen getingelt haben wir. Mit 'nem Möchtegerntheaterdirektor sind wir durch Niederösterreich gefahren und haben in Speisesälen von Fabriken musikalische Abende gegeben. Maria hat Couplets gesungen, die ich für sie komponiert habe. Wir sind damit richtig gut angekommen beim Publikum, obwohl man es nich' leicht hat in 'nem großen, nüchternen Speisesaal vor schon mal zwanzig Leuten.


Jetzt hab ich den Platz an der Scheuertrommel sein gelassen und kopiere Noten für Max Schönherr, also doch Radio Wien, in gewisser Weise. Ich ziehe Einzelstimmen aus Partituren und notiere sie für die einzelnen Musiker. Seit kurzem darf ich auch orchestrieren, also Rohskizzen oder Klavierauszüge für das Große Wiener Rundfunkorchester setzen. Schönherr mag, wie ich das mache. Ist wenigstens 'n kleinwenig schöpferisch. Ich mach das alles zuhause in der Zimmer-Küche-Wohnung der Schwiegereltern, während ich Rainer beaufsichtige. Er stellt jetzt andauernd Fragen, die ich dann nur knapp beantworten kann, obwohl es mich drängt viel ausführlicher zu sein. Die ganze Situation, die gleichaltrige Schwiegermutter, die junge Frau, das Kind, Arbeitslosigkeit, quasi Obdachlosigkeit, Nutzlosigkeit. Ausgehalten werden - ich hab schon 'nen nervösen Magen davon, versuche ihn mit Milchtrinken zu beruhigen, doch er meutert immer öfter. 'N wenig Abstand würde ich brauchen. So zwei Wochen Mauerbach etwa. Mamma, das geb' ich mir jetzt, brumm du nur.

***

Der Komfort im Fremdenzimmer des Gasthofs in Mauerbach lässt mich nichts Gewohntes vermissen, abgesehen vom Radio. Wasser aus dem Krug und Waschschüssel im Zimmer, Klo draußen auf dem Gang, anders kenne ich es nicht. Ein Kleiderkasten, ein grober Tisch, zwei schwere Holzstühle, den Stil hätte man im neunzehnten Jahrhundert als romantisch bezeichnet. Das hohe Bett, darüber das Bild wo Jesus sein blutendes Herz in Händen hält, zwei Nachtkästchen, in einem ein Nachtscherm. Das Fenster zur Straße gerichtet. Das klingt nach Unruhe und Lärm, aber da gibt es kaum irgendeinen Verkehr. Frequenz zwei Fahrzeuge die Stunde, eins davon pferdegezogen. Mit dem Vater frühstücke ich, nachdem Mama schon in aller Früh nach Wien gefahren ist mit dem gelben Postautobus. Zum Frühstück gibt es eine Scheibe Brot mit Marmelade. Tino schreibt dann Noten. Ich schaue aus dem Fenster und stelle Fragen. Zum Beispiel, wie Tino es schafft, ohne Musik aus dem Radio die Noten zu schreiben. Gegen Mittag essen wir auf der Terrasse vor dem Gasthof eine Einbrennsuppe. Dann spaziert Tino mit mir durch die Gegend. Alles riecht hier so anders als in Ottakring. Manches stinkt, aber es stinkt irgendwie angenehm. Es gibt einen Teich, da kann man mit den Enten drin baden, und es gibt die Mauern eines verfallenen Klosters, die einmal gelb gewesen sein dürften. Es gibt einen Kramer, da kauft Tino zehn Zigarillos und für mich zehn Karamellen. Wir spazieren die Fahrwege ums Dorf entlang. Tino würde nicht reden, würde ich nicht die ganze Zeit etwas zu fragen haben. Er antwortet knapp, doch manchmal regt eine Frage ihn an zu ausführlicheren Bemerkungen. Wieso Bambi mit dem fremden Hirsch um Feline kämpfen muss? Nach Tinos Version muss Bambi gar nicht kämpfen. Es kommt nur darauf an, welchen der beiden Hirsche Feline liebt. Liebt sie Bambi, wird der fremde Hirsch die beiden nicht stören können. Liebt sie aber den fremden Hirsch, so muss es Bambi wichtiger sein, Felines Liebe erfüllt zu sehen als sie selber zu erobern. Seltsam. Tino hat so unerwartete Ansichten, über Anständigkeit etwa. Er redet wenig und wenn er etwas sagt, sagt er es so anders. Anders als der Film von Bambi, anders als die Mama und die Mamma und anders als alle Leute um mich herum.


Du, Tino, kommt die Mama heute nicht? Wir sind beim Postautobus gewesen, aber die Mama ist nicht ausgestiegen. Sie wird wohl mit dem letzten kommen. Wird was dazwischengekommen sein. Ich spüre, was sonst bei Tino nie zu spüren ist. Unruhe. Seine Stimme ist aber wieder ganz fest, als er vorschlägt, gehen wir halt nochmal um den Weiher.


Es ist inzwischen dämmrig geworden, wir schlendern um das schwarze Wasser. Kröten quaken und platschen in den Teich, sobald wir näherkommen. In der Ferne heult elend ein Hund. Unheimliches liegt in der Luft. Ich fasse Tinos Hand, er hält sie fest. Nach der nächsten Weiherumrundung ist es schon fast dunkel. Den Hügel hinter dem Gasthof krönt eine Reihe von Weiden. Sie stehen da oben wie eine Kolonne schwarzer Gespenster. Stehen? Nein, die ziehen den Bergrücken entlang, einander an Händen haltend. Lebendige Ungeheuer, denn der Abendwind fährt durch die schwarzen Schattengestalten. Aufgeregt schwatzend schütteln sie ihre tausend Glieder. Mich schaudert. Ich stelle keine Fragen. Bin nur froh, Tinos Hand zu spüren. Gegen Wien hin im Osten erscheint ein milchiger Mond über den Klosterdächern. Im silbrigen Licht oszillieren die Baumungeheuer auf dem Hügel, sie scheinen sich ein wenig beruhigt zu haben. Ein später Häher ruft. Wir sind jetzt in einer magischen Silberkugel gefangen. Der letzte Rest von Licht, die letzten Töne dieser Welt gehören uns. Außerhalb ist alles tote Nacht.


Mama ist auch nicht im letzten Bus. Tino und ich schlendern von der Haltestelle zum Gasthof. Hand in Hand. Tinos Hand zuckt sachte. Wir sprechen nicht. Ein erstes Mal im Leben spüre ich, wie Unglück sich anfühlt. Ein Fahrzeug nähert sich, wir wenden uns um, ein Scheinwerferstrahl blendet mich. Neben uns hält ein Motorrad. Es hat einen Beiwagen. Auf dem Motorrad sitzt Mama. Dahinter ein fremder Mann. Mama ist ganz fröhlich, aufgekratzt. Ich verstehe nicht, was genau sie erklärt. Der Mann hinter ihr lächelt freundlich, sagt aber nichts. Er streckt seinen linken Arm aus, während Mama den Lenker dreht. Die Maschine brummt laut auf, zieht einen Halbkreis. Die roten Lichter verschwinden in der Kurve.

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