7 Auf der Thaliastraße

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Auf der Thaliastraße

worin  vorkommen: die unvermeidlichen Schmisse eines singenden Fahrrad-Rowdys 



Der Wechsel in die öffentliche Schule fällt mir schwer und ich muss das bei den Sängerknaben begonnene Jahr  wiederholen. In der ersten Zeit nennen mich die Mitschüler 'Russenkind'. Damit wollen sie nicht meine Mutter beleidigen. Sie machen sich nur lustig über meine Ohrenmütze, die mit synthetischem Fell gefüttert ist. Ein gelber Pullover über einer grauen Knickerbocker und darüber eine Lederjacke verleihen mir den Titel 'Halbstarker'. Wohl fühle ich mich nicht dabei. Die Anderen aber sind ein paar Gassen zu Fuß durch die Josefstadt zur Schule gekommen, mit der Straßenbahn, wenn's hoch kommt. Ich aber durch den Schnee mit dem Fahrrad.


Mein Hang zum Verrückten ist mir geblieben. Zum Beispiel renne ich in den Pausen mit der Fahrradpumpe durch die Gänge und blase den Mitschülern Luft ins Gesicht, bis es einem von ihnen (‚Eros‘) reicht. Er knallt mir eine. Das finde ich überzogen und ungerecht. Nach Schulschluss folge ich ihm zu seiner Wohnung und beschwere mich bei seinem Vater über die Ohrfeige. Eros‘ Vater hält nicht viel von meiner Beschwerde, ich aber mittlerweile auch nicht und ziehe beschämt ab.


Die Pumpe gehört zu meinem lieben Freund, dem Fahrrad. Es ist ein ganz gewöhnliches Tourenrad, schon ziemlich abgenutzt, doch mit Dreigangschaltung. Ich fahre täglich und bei jedem Wetter die Thaliastraße hinunter zur Schule in die Albertgasse und zurück durch die Hasnerstraße. Von den Verkehrsregeln habe ich noch wenig Ahnung. Beispielsweise bin ich davon überzeugt, dass Straßen mit Tramwayschienen Vorrang vor den Seitengassen haben. Das habe ich wohl vom allgemeinen Verhalten der Verkehrsteilnehmer abgeleitet. Wer wollte schon so unvernünftig sein, aus einer Seitengasse einzufahren in eine solche Verkehrsschlagader mit Straßenbahnen, ohne den dort fließenden Verkehr zu respektieren? Einmal hat ein PKW genau das gemacht. Es war ein Wintertag und die Fahrbahnen waren ziemlich angeschneit. Ich bin die Thaliastraße hinunter geradelt, da ist diese Kiste von rechts aus der Nebengasse gekommen und hat die Thaliastraße vor mir kreuzen wollen. Ich war schon viel zu nahe, um auf dem Schnee noch rechtzeitig anhalten zu können. Trottel! Ich habe etwas wie Genugtuung gespürt, als ich registrierte, wie meine Bremsen blockieren und bin gegen seine linke Tür gekracht. Mir ist nichts passiert, aber die Autotür hat eine tiefe Beule gehabt. Ist ihm Recht geschehen. Der Autofahrer, über die Vorrangregeln anscheinend nicht besser im Bilde als ich,  hat sich wohl schuldig gefühlt, weil er mich übersehen hat und ist wahrscheinlich froh gewesen, dass nichts weiter passiert ist. Wir haben nicht einmal die Daten ausgetauscht, bevor er rasch weitergefahren ist. Später habe ich bemerkt, dass meine vordere Gabel ziemlich gestaucht war. Aber jetzt war es zu spät. Ich habe den unbekannten Kerl nicht belangen können. Ich hätte mich auch ziemlich gewundert, dass ich noch seine kaputte Tür bezahlen hätte müssen, denn das mit dem Vorrang von Schienenstraßen stimmt nicht, es sei denn, in der Seitengasse stünde eine Nachrangtafel. Dort ist keine gestanden.

Ich bin froh, dass es dieses alte Rad erwischt hat und nicht etwa das schöne Select, das ich davor gehabt habe. Auf dem Weg nach Hause bin ich oft auf dem Lerchenfelder Gürtel am Fahrradgeschäft der Firma Gartner vorbeigekommen. Da bin ich nicht umhingekommen anzuhalten und die schönen Fahrräder in den Auslagen anzuschmachten und das tolle Zubehör. Ganz selten habe ich mir ein Herz genommen, bin in die heiligen Hallen eingetreten und habe mir so einen kleinen Filzring gekauft, den man auf die Achse hängen kann, um sie sauber zu halten. Es ist dann ein weiterer schönster Tag in meinem Leben gewesen, als ich genau so ein Rad geschenkt bekommen habe. Bronzefarben, mit der Aufschrift Select auf der Stange, fünf Gänge und funkelnagelneu. Nie zuvor hat es mir so leidgetan, durch den Dreck zu fahren. Natürlich habe ich es jeden zweiten Tag vollständig geputzt. Auch an dem Tag, bevor ich damit ins Praterstadion zu einem Ländermatch gefahren bin. Ich habe eine Eisenkette mit Vorhängeschloss gehabt zum Absperren. Das heißt, ich habe nur die Kette gehabt, das Schloss hatte ich nach dem Putzen daheim vergessen. Auf keinen Fall habe ich das Match verpassen wollen. Also habe ich mir eine Stelle gesucht, wo sehr viele Räder zusammen abgestellt gewesen sind und habe die Kette um Rahmen und Hinterrad gelegt. Ohne Schloss. Man bemerkt gar nicht, habe ich gedacht, dass da kein Schloss dran ist. Das Match hat Österreich verloren. Und selbstverständlich ich mein Select. Das schöne, neue, teure Select Rad war weg. Ich bin um das Stadion gewankt in der Hoffnung, mich in der Stelle geirrt zu haben, wo ich es abgestellt hatte. Natürlich nicht. All die vielen Fahrräder, die an mir vorbeigefahren sind, habe ich angeschaut, ob nicht mein bronzefarbenes Select dabei wäre. Nichts. Es ist auch nicht etwa einsam irgendwo gestanden, nachdem schon alle Besucher sich zerstreut hatten. Das Rad war weg. Ich habe mich zu Fuß auf den Heimweg gemacht, habe den Diebstahl unterwegs auf einer Polizeiwache gemeldet. Die Polizisten haben versucht, mich zu trösten. Hat aber nichts geholfen. Unter Tränen bin ich durch die ganze Stadt nach Ottakring gelaufen und habe überlegt, wie ich das dem Tino beibringen soll. Ich habe es gar nicht gleich erzählt. Tino und Mama haben geglaubt, ich hätte wegen der Niederlage im Fußball geweint. Am nächsten Tag bin ich mit der Straßenbahn zur Schule gefahren. Nach längerer Zeit erst habe ich wieder ein Fahrrad bekommen. So ein altes abgenutztes zwar mit drei Gängen. Ist aber trotzdem mein bester Freund geworden. Habe ich auch nicht so oft putzen müssen. 

Trotzdem, die Thaliastraße hinunter bin ich danach vorsichtiger gefahren, der geltenden Vorrangregeln bewusst. Ich habe sogar mehrmals mit meinen Klassenkameraden streiten müssen, die alle meiner inzwischen revidierten Ansicht gewesen sind, die Schienenstraßen hätten Vorrang. Auf der Thaliastraße hat Tino mich aufgeklärt. Ich hatte zuvor schon sehr darauf gedrängt. Zwar ist mir prinzipiell ohnedies alles klar gewesen. Ich habe es aber unbedingt von Tino hören wollen und habe nicht verstanden, weshalb er das Thema so gemieden hat. Da ist Tino mit mir auf der Thaliastraße spazieren gegangen. (Für alle hieß die Thaliastraße Thaliastraße, nur Tino nannte sie konstant Thaliastraße.) In der Thaliastraße hat er mir die Geschichte von Werther und Lotte erzählt und wie edel Menschen sich trotz stärkster Gefühlswallungen verhalten können und sollen. Das ist aber nicht genau das gewesen, was ich von ihm habe hören wollen. Also habe ich immer wieder nachgefragt. Ich bin überzeugt gewesen, wenn Tino mir den Vorgang so bestätigt, wie ich ihn mir vorgestellt habe, erst dann würde ich endlich erwachsen sein. Nach meiner x-ten Nachfrage "aber wie? – Aber wie?" ist es Tino zu blöd geworden und breiten Wiener Dialekt nachahmend hat er es mir so erklärt: "Also der Mann muss mit Seinem in die Frau einefohrn und des geht eh alles von ganz allein." Ich bin erschrocken. Weil, die Thaliastraße ist sehr belebt gewesen, nicht nur von Straßenbahnen, auch von Fußgängern und Tino, schon etwas ungeduldig, hatte zuletzt ziemlich laut gesprochen. Ich bin mir sicher gewesen, ein paar Leute haben das gut mitgehört und uns deshalb so eigenartig angeschaut.


Endlich erwachsen ist mir die Schule noch unsinniger vorgekommen als zuvor. Vielleicht ist es meinen Mitschülern ähnlich gegangen, denn in meiner Klasse hatte das Schulstagln sich zum Sport entwickelt. Die meisten Schulfaulen sind ins Kino gegangen. Ich habe die Natur vorgezogen. Mit meinem Fahrrad bin ich durch den Wienerwald gezogen, manchmal bis hinunter nach Tulln, wo ich am linken Donauufer abseits der Eisenbahnbrücke nackt schwimmen gegangen bin und onaniert habe. Seit einer regulären Rundfahrt an einem Wochenende ist mir die Stelle als FKK-Strand bekannt gewesen. Vormittag an einem Wochentag ist dort kein Mensch anzutreffen. Daher habe ich mich beim Nacktbaden weniger geschämt als unter den Blicken der Passanten, an denen ich vorbei geradelt bin. Ich bin überzeugt gewesen, dass denen völlig klar sein muss, dass ich ein Schulschwänzer bin.

***

Wenn ein Sängerknabe vom Stimmbruch ereilt wird, wechselt er gewöhnlich in den Mutantenchor, der mit Männerstimmen bei Gregorianischen Chorälen und in Messen zum Einsatz kommt. Die Mutanten wohnen in einem kleinen barocken Nebengebäude des Palais und können dort bis zur Matura bleiben. Da ich schon früher ausgetreten bin, ist mein Kindersopran noch ungetrübt vorhanden.


Unser Physikprofessor, Herr Kaindl, organisiert eine musikalische Aufführung der Weihnachtsgeschichte. Dank meinem Nimbus eines Opernstars war ich selbstverständlich im Cast. Meine Aufgabe, nach der Bibelstelle, wo die Engel versuchen, den Hirten die Angst zu nehmen, das Lied ‚In Dulci Jubilo‘ zu singen mit Gitarrebegleitung. An sich keine überwältigende Schwierigkeit.


Am Abend der Aufführung teilt man mir mit, dass einer der Engel einen Flugunfall gehabt habe und es daher mir zukäme, folgend auf den Text der verbliebenen Engel „Fürchtet euch nicht…“ vor meinem Lied die Worte zu sprechen, „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden!“ Darauf würde die Gitarre einsetzen und ich könnte mein Lied vortragen. Auch diese unerwartete Zusatzaufgabe erscheint mir machbar.


Mein Auftritt naht, die verbliebenen Engel sprechen „Fürchtet euch nicht, denn ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“


Ich warte auf die Gitarre, aber die rührt keinen Finger. Dafür meldet sich der Sprecher mit „Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen:“…


Immer noch keine Regung von der Gitarre. Die wartete wohl auf mein „Ehre sei Gott in der Höhe…“, aber das habe ich längst vergessen. Eine peinliche Pause entsteht und Kaindl am Fuß der Rampe beginnt, mir aufmunternde Zeichen zu geben. Also entschließe ich mich, auf diese blöde und offenbar unfähige Gitarre nicht mehr zu warten, sondern stimme mein Lied a cappella an: „In dulci jubilo-o-o…“. Kaindl unter meinen Augen fuchtelt verzweifelt und weit ausladend mit beiden Armen, die Gitarre traut sich nicht, die Begleitung aufzunehmen, wohl weil meine Intonation nicht ganz der vorgesehenen Tonart entspricht, aber das kann einen Profi wie mich nicht aus der Ruhe bringen und so singe ich mit kräftigem Knabensopran mein Lied solo zu Ende.

***

Meinem Sängerknabenhintergrund verdanke ich mein Mitwirken an der Aufführung eines Singspiels im Festsaal der Schule, das die Professoren für Musik und Deutsch miteinander arrangiert haben, auf der musikalischen Basis von Mozarts ‚Bastien und Bastienne‘. Mir wird die weibliche Hauptrolle zuteil. Musikalisch kriege ich das, glaube ich, ganz gut hin und die Proben (in Privatkleidung) sind ganz problemlos verlaufen. Zur Aufführung habe ich jedoch eine hohe Perücke und stattliche Rokokokleidung zu tragen. Schon das Anlegen ist ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen. Wer soll sich auch mit all den (Unter-)Röcken und Miedern auskennen? Das hier ist ein Bubengymnasium! Das Anziehen gelingt schließlich mit Hilfe einer Schülerin aus dem nahen Mädchengymnasium, die auch mitspielt. Sie muss aus der achten Klasse sein. Ihr Dekolleté ist atemberaubend. Der Ausschnitt ihres Kostüms will nicht und nicht enden, zuletzt aber doch allzu früh. Die prallen Rundungen darin erinnern mich an einen Babypopo. An einer Mädchenvorderseite hatte ich so etwas in Wirklichkeit und aus der Nähe noch nie gesehen. Das hier ist ein Bubengymnasium!


Ich sitze also auf einer Gartenbank und singe „Mein liebster Freund hat mich ve-er-lassen…“ und finde die Darbietung durchaus ergreifend. In der Pause erklärt mir der Deutschprofessor, dass ein Fräulein auf einer Bank nicht mit offenen Schenkeln säße, sondern diese dicht aneinander presst und die Unterschenkel parallel und etwas seitlich geneigt zu Boden führe. Woher soll ich sowas wissen? Das hier ist ein Bubengymnasium! Ich nehme mir vor, die Kritik im zweiten Teil zu beherzigen und begebe mich auf die Toilette. In meiner Aufmachung könnte ich vermutlich auch die Damentoilette betreten, aber das kommt mir nicht in den Sinn. Ins Bubenklo aber kann ich meine schöne Kollegin nicht mitnehmen, also kämpfe ich allein einige Zeit mit den Tücken der Rokokokleidung, gebe es aber auf, denn die Pausenglocke läutet. Aus Angst, meinen Auftritt zu versäumen, kehre ich unverrichteter Dinge auf die Bühne zurück. Während des zweiten Teils des Singspiels pressen sich meine Schenkel ganz von selbst aneinander, um das Schlimmste zu verhindern, vielleicht klingt auch meine Stimme etwas gepresst? Letztlich siegt die Natur und unter meinem Rokokokleid bildet sich auf dem Boden der Bühne eine kleine Lacke.

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