Wenn Akten schwimmen

Wenn Akten schwimmen

worin vorkommen: Wien, Camporosso, ein Fogolar, Klagenfurt, Coccau, der Wörthersee, die Ostsee, sowie ein Montone am Fogolar

Magister Schindlegger ist Leiter der Rechtsschutz-Schadenabteilung bei der Wiener Allianz in Wien. Ein Hotspot in unserer Auftraggeberlandschaft. Ein oder zwei Mal jährlich sehen wir uns, in Wien oder in Hohenthurn. Die Besprechungen sind immer angenehm. Schindlegger, ein Enddreißiger, ist eine umgängliche Führungskraft, kultiviert, ohne Allüren. Der Vorderste in einem jungen Team, dessen einzelne Mitarbeiter ihm durchwegs ähnlich sind. Probleme müssen wir nicht besprechen. Es gibt keine. Auch unsere Kosten sind nie Thema. Wir tauschen Neuigkeiten aus, Legislaturen in verschiedenen Ländern betreffend, neue Praktiken, oder Auswirkungen neuer EU-Richtlinien. Die EU arbeitet darauf hin, dem Geschädigten die Durchsetzung internationaler Ansprüche zu erleichtern. Das macht uns anfänglich Sorgen, weil es vielleicht an unserer Existenzberechtigung rüttelt, wenn plötzlich alles klaglos funktioniert. Die Baustellen, die die EU dazu einrichtet, sind aber so komplex, die Maßnahmen so rudimentär, dass sie uns zum Teil helfen, für mögliche Anwender neuer Wege aber letztlich ungangbar bleiben. Selbstverständlich ist bei jedem Besuch Schindleggers ein schönes Essen eingeplant. Diesmal haben wir uns für ein uriges Lokal auf der italienischen Seite entschieden. “Al Montone“ (Zum Widder) ist ein sehr alter Gasthof in einem mittelalterlichen Dorfhaus in Camporosso. Man bekommt alles, was italienische Speisekarten gewöhnlich bieten in ausgezeichneter Qualität. Die Hauptattraktion aber ist ein Fogolar, wie man sie im Friuli hin und wieder noch findet.


Ein Fogolar ist eine offene Feuerstelle im Hausinneren. Ursprünglich war es wohl die einzige Feuerstelle im Haus zum Wärmen und zum Kochen, vergleichbar einer Rauchkuchl. Der Rauch vom offenen Feuer wurde an der höchsten Stelle des Raums gesammelt und zog in der Regel direkt ins Freie ab. Die Fogolars sammeln den Rauch in einer Haube aus Kupfer, die mit einer breiten Stoffborte verziert ist. Fragen nach dem Wirkungsgrad einer solchen Anlage werden hier nicht beantwortet. Immerhin erlaubt es die Rauchhaube, in ihrem Innern Fleisch und Wurst zu räuchern. Da der Rauch in der Mitte des Raums abzieht oder nahe der Mitte, steht ein echter Fogolar mit keiner seiner Seiten an der Wand, ist also von allen Seiten zugänglich. Die Friauler identifizieren sich mit ihrem Fogolar so sehr, dass sie ihn zum Symbol ihrer internationalen Vereinigung aller Exilfriauler gemacht haben. Heute werden die Fogolars noch in der Hotellerie und Gastronomie eingesetzt, wo sie Behaglichkeit mit hervorragendem Gegrillten vereinen.


Der Fogolar im ‘Montone’ befindet sich im ehemaligen Innenhof des Gebäudes, der aber mit einfachen Mitteln überdacht wurde. Das Lokal besteht ansonsten aus sehr kleinen Räumen. Durch diese Adaption hat man einen relativ großen Speisesaal gewonnen, der mit dem Fogolar, den schlichten Holztischen auf der groben Pflasterung des Bodens und den originalen Rundbögen der mittelalterlichen Bauweise das Flair von bescheidener Behaglichkeit vermitteln. Bei unserem Eintreffen werden gerade neue Buchenscheiter ins zur Neige gehende Feuer gehievt. Die Feuerfläche des Fogolar ist ziemlich groß. Gusseiserne Barrieren werden so zurechtgerückt, dass das Feuer auf einer kleinen Fläche brennen kann. Ein nettes Mädchen nimmt unsere Bestellung auf. Bevor die Holzscheiter nicht durchgeglüht sind, kommt kein Fleisch auf den Fogolar. Bis dahin erfreuen wir uns an Brot und Wein. Der Fogolaio schiebt die satte Glut noch einmal zusammen und legt die schönen Fleischstücke auf daneben platzierte Rostteile. Nach kurzer Zeit sind sie fertig und werden serviert. Die Beilagen sind vielfältig, Polenta ist sehr gebräuchlich. Über den herrlich knackigen italienischen Salat, den man nach eigenen Präferenzen abschmecken kann, muss ich keine Worte verlieren.


Kurz und gut, das Essen war eine schöne Zeit. Es würde nach mehr Wein verlangen, aber alle müssen noch Autofahren und Schindlegger hat auch noch in Klagenfurt zu tun. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als Abschied zu nehmen. Dabei will offenbar noch jemand mitreden. In unsere Grüße mischt sich furchterregender Donner, den alle Hänge um den Talboden drohend multiplizieren. Während wir in die Autos flüchten, hat Petrus seine Waschmaschine schon eingeschaltet, Stufe max.


Unter Wolkenbruch kommen wir in Hohenthurn an und retten uns ins Haus. Das vermisste Glas Wein werden wir jetzt nachholen, denke ich und steige die Stiege zum Keller hinunter. Den Wein vergesse ich sofort, als ich die Bescherung sehe: Das ganze Untergeschoß steht unter Wasser. Das Wasser dringt von den Lichtschächten her ein, obwohl die Fenster geschlossen sind. Unter der Terrassentür hindurch läuft es zum Teil wieder ab, aber weniger als nachkommt. Ich rufe Soile und renne durch den Sturzregen zur Werkstatt neben dem Carport, um die Tauchpumpe zu holen. Der Lichtschacht ist schmal. Die Pumpe geht nur zum Teil hinein und nicht tief genug. So kann man den Wasserstand im Schacht nicht ausreichend absenken. Außerdem gibt es noch zwei weitere Schächte, in denen das Wasser steht. In Sturzbächen kommt es den Hang herunter und rinnt teilweise in die Schächte. Doch dringt das Wasser zum Teil auch direkt aus dem umgebenden Erdreich in die Schächte ein. Soile bringt zwei Kübel. Wir knien an zweien der Schächte und versuchen, das Wasser abzuschöpfen. Natürlich sind wir binnen Kurzem klitschnass von den Wassermassen, die der Himmel über uns auslädt. Da spielt das, was wir uns selber überschütten keine Rolle mehr. Bald sehen wir ein, mit unseren Schöpfversuchen kommen wir nicht weiter. Kaum ist ein Schacht halb leer und du lässt den Kübel erschöpft einen Moment pausieren, ist der Schacht schon wieder vollgelaufen.


Vor Kurzem hat man auf der Wiese neben dem Feuerwehrhaus ein Gebäude errichtet, ein Mehrzweckhaus für die Dorfgemeinschaft. Es beherbergt zwei Säle, einen kleineren und daran anschließend einen ziemlich großen. Der größere Saal hat eine riesige Schiebetür. Wenn es warm ist, steht sie immer offen. Dann können wir die Feste, die man dort feiert, aus hundertzwanzig Meter Luftlinie, die es bis zu uns herauf sind, frei Haus miterleben. Sie bauen Lautsprecheranlagen auf, die das Praterstadion versorgen könnten. Gespielt wird das übliche Wumm-wumm, wie die Jüngeren es heute verlangen. Veranstalter ist meistens die ‚Landjugend‘, die damit für Einnahmen sorgt. Beim Kirchtag, bei der Halloween-Party, oder beim Treffen der ‚Wild Cats‘, dem Motorradklub aus dem nahen Coccau. Das dauert zwei Tage. Die schweren Maschinen mit den lederbekleideten Aufsaßen brummen nach und nach am Nachmittag herbei und stellen die ganze Wiese um das Gemeinschaftshaus mit ihren Zelten voll. Die funkelnden Feuerstühle daneben. Sobald das Zelt steht, beginnen sie zu feiern. Meistens stellen sie neben der Schiebetür noch eine Schnapsbar auf mit zusätzlichen Lautsprechern, die aber die Hölle drinnen nicht unterstützen, sondern ihm Konkurrenz machen, weil sie andere Musik spielen. Gut, am Opernball wird in verschiedenen Sälen auch gleichzeitig Unterschiedliches gespielt. Das Inferno dauert bis zum frühen Morgen. Bei uns im Haus vibrieren die Bilder an den Wänden. Am Vormittag packen die Wildkatzen alles wieder ein und schnurren davon.


Friedliche Ruhe in der Abgeschiedenheit? Von wegen. Die Feste im Mehrzweckhaus sind nicht die einzige Lärmquelle in der Umgebung. Wir hätten nicht gedacht, dass ein so ländlicher Ort so laut sein kann. Die Bauern knattern mit ihren Traktoren durch die Gegend, dass die Anhänger nur so scheppern. Aber nicht nur die Bauern, denn außer uns hat hier jeder einen Traktor. Das Anlassen eines Traktors muss furchtbar schwierig sein und teuer, denn warum sonst lässt jeder seine Maschine laufen und knattern und Abgase blasen, selbst wenn das Gerät längere Zeit nichts zu tun hat? Auf den Dorfstraßen besteht die Geschwindigkeitsbegrenzung auf dreißig Km/h. Oder ist das etwa nur eine vage Wunschvorstellung der Behörde? Schräg über uns der Bauernhof im Oberort hat eine ansehnliche Anzahl Kühe, die in den kalten Jahreszeiten vorwiegend im Stall stehen. Ihre Gülle fängt der Bauer in einer großen Zisterne auf. Im Frühjahr führt er sie auf die Felder aus. Dazu läuft zwanzig Mal im Tag, aber auch in die Nacht hinein, eine Pumpe, die beim Befüllen des Tankanhängers einen nervtötenden Lärm macht. Dazu kommen gigantische Häckselmaschinen, die aus riesigsten Baumstämmen kleine Hackschnitzel zum Heizen machen. Und irgendwo läuft immer eine Kreissäge oder ein Rasenmäher, oft in den Abendstunden, wenn die Leute aus der Arbeit kommen. Auch wenn es sonntags ist, hält das niemanden ab. Seit einiger Zeit wird das Gemeinschaftshaus auch im Winter bespielt. Dazu hat man nachträglich eine Heizung eingebaut, oder besser angebaut, nämlich eine kleine Hütte mit einer großen Heizkanone darin. Die Wärme leiten sie durch Luftkanäle ins Gebäude und verteilen sie dort. Die Heizkanone macht einen Höllenlärm, wie eine der Trompeten von Jericho. Glücklicherweise haben wir im Winter die Fenster geschlossen, daher ist es einigermaßen erträglich. Fazit: Die Einwohner hier sind stolz auf ihre Traditionen, aber Sinn für Lärmvermeidung fehlt ihnen vollkommen.


Unser wassergetrübter Blick schweift hinunter zum Gemeinschaftshaus. Dort ist wieder ein Fest im Gange. Bunt blinkende Lichter zeigen es uns an. Laut ist es nicht, weil sie die Schiebetür wegen des Gewitters geschlossen haben. Es muss etwas mit der benachbarten Feuerwehr zu tun haben, denn wir sehen auch die blauen Drehlichter des Einsatzwagens. Ich schaue Soile an, Soile schaut mich an. Sie hatte sich für das Essen mit Schindlegger hübsch gemacht. Die Zerstörung des Kunstwerks könnte vollständiger nicht sein. Als wäre sie zwei Wochen im Meer getrieben. Ich wundere mich, dass Soile sich trotzdem anbietet, hinunter zu gehen zur Feuerwehr, um Hilfe zu bitten. Ich setze einstweilen das sinnentleerte Schöpfen fort. Soile kommt nach wenigen Minuten zurück. Sie kommen, sagt sie.


Wirklich nähert sich gleich danach der Feuerwehrwagen mit Blaulicht. Ein paar Männer sind dabei. Zwei von ihnen holen passende Pumpen aus dem Wagen und bringen sie zum Einsatz. Andere brechen mit Krampen die Erde am Fuß des Abhangs auf und formen einen kleinen Damm, sodass das Wasser nicht mehr direkt aufs Haus zu stürzen kann. Es dauert nicht lang und man kann feststellen, dass der Wasserzufluss in die Lichtschächte gestoppt ist. Einer der Männer spricht ins Walkie-Talkie. „Beim Richter schwimmen die Akten aus‘m Büro.“


 Der Wassereinbruch ist gestoppt. Jetzt ist Aufräumen angesagt. Zuerst kehren wir das stehende Wasser aus dem ganzen Untergeschoß. Glück im Unglück: Das eingedrungene Wasser ist relativ klar. Die Schlammanteile sind gering. Dann wischen wir das restliche Wasser auf. Eimer um Eimer tragen wir aus dem Haus. Ich mache mir Sorgen um den Parkettboden in den Büroräumen. Im Moment schaut er ja gut aus, so schön aufgewaschen. Morgen früh schon wird er wellig sein wie der Wörthersee bei leichter Brise, am Abend wie die Ostsee bei steifen Böen. Hilft ja nichts. Das Parkett muss raus. Am Abend nach Büroschluss mache ich mich mit Stemmeisen und Hammer an die Arbeit, gebe aber bald auf. Die Parkettfliesen kleben zu gut auf dem Estrich. Bei diesem Fortschritt werde ich zwei Wochen brauchen für den Job. Michaela kennt ein paar Bosnier. Die haben Pranken wie Bären. Trotzdem brauchen sie mehrere Tage, für die wir das Büro schließen. Auf der Terrasse vor dem Büro liegt ein drei Meter hoher Kegel aus Altholz. An einen neuen Bodenbelag ist noch nicht zu denken. Der Estrich muss zuerst austrocknen. Die nächsten Wochen arbeiten wir auf dem nackten feuchten Estrich. Trotz der Hitze tagsüber stellen wir alle Heizöfen auf, die wir auftreiben können und lassen sie auch nachts durcharbeiten. Das Schlimmste ist der Gestank. Die Reste des Klebers auf dem feuchten Estrich stinken wie die Pest. Wir wissen nicht, ob die Ausdünstungen nicht etwa gesundheitsgefährlich sind. Trotzdem arbeiten unsere Damen die ganze Zeit weiter ohne zu murren. Ich danke ihnen heute noch dafür. Bis der Mief sich verzieht, vergehen Wochen. Der Bodenleger kommt mit einem Feuchtigkeitsmesser. Noch nicht trocken genug. Nach weiteren leidvollen Wochen versöhnt das Schicksal uns durch Teppichfliesen als neuen Bodenbelag.

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