21 Töltötoll

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Töltötoll

worin vorkommen:  Budapest, Hegyeshalom, sowie  ein VW-Känguru mit abgebrannten Insassen

Den wahnsinnigsten Budapest-Trip erlebte ich mit meinem Freund Heinz Zaczek. Wir fuhren ohne nennenswerte Einlagen einen ungarischen Wagen nach Budapest und tauschten ihn ein gegen einen österreichischen VW Käfer. Den Abend wollten wir in Budapest unser letztes Geld ausgeben, was uns nicht besonders schwergefallen ist. Wir leisteten uns sogar ein Hotel zur Nächtigung. Es lag gleich beim Ostbahnhof, wo die Züge nach Wien abfahren (dafür kommen sie in Wien am Westbahnhof an). Wir schauten aus dem Hotelfenster. Über einem Geschäftslokal gegenüber sprang uns eine Aufschrift ins Auge: 'Töltötoll'. Tolles Wort, fanden wir. Heisst aber nur Füllfeder. Es sollte ein paar Jahre dauern, bis Töltötoll aus unserem Wortschatz wieder schwinden würde.


In der Früh holte ich den VW vom Parkplatz, während Heinz die Rechnung zahlte, und wir machten uns auf den Heimweg. Der Käfer war etwas angeschlagen, denn man konnte nicht dosiert Gas geben. Es gab nur Standgas oder Vollgas. Zwischen beiden Varianten ruckte der ganze Motor ein Stück vor oder zurück. In der Stadt war das nicht so heiter, aber dann, überland, da gab"s sowieso nur Vollgas.


Gegen Mittag kurz nach dem Grenzort Hegyeshalom sagte ich zu Heinz, er könnte schon die Pässe bereithalten. Heinz rührte keinen Finger, sagte nur "Töltötoll."


Die Grenze des Kalten Krieges. Soldaten spähen von Wachtürmen. Vor dem ersten Schranken die übliche Kolonne. Die bewaffneten Schrankenposten lassen immer nur ein paar Wagen durch zur ungarischen Grenzstation. Es dauert unterschiedlich lang, bis die abgefertigt sind, dann dürfen die nächsten heranfahren. Nach einer Stunde in der Sonnenhitze öffnet sich der Schlagbaum für uns. Die ungarischen Grenzbeamten machen sich bereit für einen Sprung, als unser VW mit Vollgas auf sie zurast. Einer von ihnen hat schon sein Gewehr im Anschlag, als der VW sich beruhigt und ohne Gas an der vorgesehenen Stelle anhält. Obwohl wir nicht die Ersten in der Reihe sind, stürzen sogleich mehrere Beamte auf uns zu. Ich sehe, was sie denken: Diese rotzigen Lausbuben! Denen werden wir's zeigen.


"Die Pässe", sage ich wieder. Und Heinz "Töltötoll." Ich verstehe nur Füllfeder.


"Ja", erklärt Heinz, "die Pässe sind vis a vis von Töltötoll. Na ja, im Hotel".


Ich brauche eine Weile, um das zu verdauen. Dem magyarischen Beamtengesicht, das mich durchs Wagenfenster anschaut, versuche ich daher zuerst zu erklären, weshalb dieser VW nur Vollgas fährt, das aber übersteigt seine Fremdsprachenkenntnisse bei Weitem. Also springe ich aus dem Wagen, wobei ich dem Sándor die Tür ans Knie schlage, was wieder den nahen Bewaffneten veranlasst, das Gewehr deutlich anzuheben. Ich springe zum Heck, öffne den Motordeckel, deute auf das Gasseil und mache laut "Brrrmmm! Brrrmmm!" Der Sándor überlegt wahrscheinlich inzwischen, ob ich ein Fall für die Psychiatrie sei. Bevor er sich dafür entscheidet, verlangt er zunächst einmal "Passport!"


"Töltötoll" sagt Heinz, der inzwischen auch ausgestiegen ist. Der Sándor ist verblüfft. Er versteht immer nur Füllfeder. Er will aber Utlévél.


"Utlévél im Hotel in Budapest, vis a vis Töltötoll", versuche ich zu erklären.


"Müssen fahren Budapest." sagt der Sándor. Sein Ton lässt keine Zweifel zu, dass er es auch meint.


"Wie sollen wir mit diesem Brrrmmm- Brrrmmm nach Budapest kommen, 180 Kilometer und dann auch wieder zurück, wo wir doch recht froh wären, wenn er es noch hinüber nach Österreich schafft!"


"Müssen fahren Budapest."


"Schauen Sie, wir haben auch kein Benzin mehr!" Ich zeige ihm die Tankuhr. Sie zeigt leer.


"Müssen fahren Budapest."


"Wir haben aber auch absolut kein Geld mehr. Wir können nicht nach Budapest fahren."


"Müssen fahren Budapest."


Wir zeigen die Hotelrechnung vor. Da steht mein Name drauf. "Das ich", versuche ich zu erklären. Vielleicht lässt er ja wenigstens mich durch? In dieser Lage hätte ich Heinz glatt verraten. Immerhin hat er das Schlamassel auf seinem Gewissen.


"Müssen fahren Budapest!" Langsam wird der Sándor ungeduldig. Mit ausladenden Gesten gibt er uns zu verstehen, dass wir wenden und die Grenzstation Richtung Ungarn verlassen sollen. Das machen wir auf keinen Fall, sage ich zu Heinz. Wenn wir einmal wieder da drüben sind, sind wir aufgeschmissen. Hier auf amtlichem Boden müssen sie ja früher oder später auf unsere Lage eingehen.


Die Schrankenposten haben keine weiteren Wagen durchgelassen. Die mit uns in die Grenzstation eingefahrenen Autos sind abgefertigt und weiter nach Österreich gefahren. Wir sind also das einzige Fahrzeug in der Grenzstation bei der Ausreise. Die Kolonne vor dem Schranken wird immer länger. Da kommt ein uniformierter Wicht aus dem Gebäude gerannt. Er pflanzt seine ganzen eineinhalb Meter vor uns auf, stemmt seine Arme in die Hüften und brüllt ungarisch auf ins ein. Seine Distinktionen lassen uns vermuten, dass er der Boss hier ist. Er brüllt und brüllt, bis seine Schläfenadern zu platzen drohen. Unsere Ausbildner beim Bundesheer waren sanfte Lämmer dagegen. Wahrscheinlich ärgert ihn, dass wir über diesen Auftritt auch noch lachen. Als er wirklich nicht mehr brüllen kann, dreht sich das ungarische Rumpelstilzchen auf dem Absatz um und verschwindet so rasch wie gekommen im Grenzgebäude.


Nach einer Weile hat man die Schrankenposten offenbar angewiesen, doch wieder eine Gruppe Fahrzeuge vorzulassen. Sie werden in eine andere Abfertigungsspur dirigiert. Um uns kümmert sich anscheinend keiner mehr. Wir überlegen, was wir tun sollen, sehen aber ein, dass wir nichts machen können außer warten.


Wir kommen mit einem Wiener ins Gespräch und schildern unsere Lage. Er verspricht, die österreichischen Beamten zu informieren und später auch unsere Zentrale in Wien.


Die Zeit vergeht sehr langsam. Wir sind schläfrig. Viel haben wir nicht geschlafen in dem Hotel. Und es ist heiß. Wir betreten das Gebäude. Hier stehen ein paar Pritschen für Gepäckkontrollen. Zuerst setzen wir uns hin, dann lümmeln wir darauf herum und, es kann nicht lange gedauert haben, so schlafen wir ein.


Ein Grenzbeamter weckt mich. Es ist nicht Sándor. Die ganze Mannschaft muss inzwischen abgelöst worden sein. Dieser Ferenc erklärt mir in relativ gutem Deutsch, dass man unsere Pässe vom Hotel zur österreichischen Botschaft in Budapest gebracht hat, wo wir sie abholen können. "Müssen Sie fahren nach Budapest, bittaschen."


Es vergehen weitere Stunden, ohne dass sich irgendetwas tut. Wir beginnen uns mit dem Gedanken an eine Rückkehr nach Budapest anzufreunden, doch wie soll das gehen ohne Benzin und ohne Geld? Da kommt eine ältere Dame auf uns zu. Sie ist Angestellte im Ibusz-Büro hier in der Grenzstation (das staatliche ungarische Reisebüro) und händigt uns gegen Quittung eine kleine Summe aus. Das müsste für vierzig Liter ungarischen Treibstoff reichen.


Wir erreichen Budapest in der Nacht. Unser Hotelzimmer ist diesmal ein VW Käfer. Auf der Botschaft werden wir am Morgen wie alte Bekannte erwartet. "Also ihr seid die, die ganz Hegyeshalom terrorisiert haben?" Wir erhalten neuerlich ein paar Kröten für die Reise, diesmal geborgt von der Republik Österreich, und - nicht vergessen! - die Reisepässe.


Bevor wir Budapest verlassen, kaufen wir beim Tölltötoll jeder einen Bic Kugelschreiber. Muss einfach sein.


Der Käfer ist weidwund, aber in seiner seltsamen Gangart hüpft et mit uns tapfer wieder an die Grenze. Gegen Mittag kurz nach dem Grenzort Hegyeshalom sage ich zu Heinz, er kann schon die Pässe bereithalten. Heinz nimmt die Dokumente und seinen Bic Kugelschreiber und schreibt auf eine leere Seite seines Passes "Töltötoll".


Vor dem ersten Schranken die übliche Kolonne. Die bewaffneten Schrankenposten lassen immer nur ein paar Wagen durch zur ungarischen Grenzstation. Es dauert unterschiedlich lang, bis die abgefertigt sind, dann dürfen die nächsten heranfahren. Nach einer Stunde in der Sonnenhitze öffnet sich der Schlagbaum für uns. Die ungarischen Grenzbeamten machen sich bereit für einen Sprung, als unser VW mit Vollgas auf sie zurast. Doch Sándor, wieder im Dienst, kennt uns schon.


"Utlévél!" Diesmal klappt's. Das Rumpelstilzchen steht in der Tür und grinst.


Wir konnten weiter hüpfen bis nach Wien. Der Käfer kam in die Werkstatt. Da wurde festgestellt, dass von den mehreren Schrauben, mit denen der Motor am Rahmen befestigt sein soll, nur noch eine vorhanden war. Daher hat sich der Motor bei jeder Zug/Schub-Änderung ein paar Zentimeter in seinem Sitz bewegt, wodurch wieder das Gasseil entsprechend kürzer oder länger wurde, daher nur Leerlauf oder Vollgas. Den Motor hätten wir jederzeit unterwegs von der Straße aufklauben können. Und damit sind wir aus Jux und Tollerei vierhundert Extrakilometer gefahren!


Auch der rätselhafte Kredit von Ibusz hat sich aufgeklärt. Der hilfsbereite Wiener hat tatsächlich unsere Zentrale verständigt. Unsere Firma arbeitete ohnedies ständig mit Ibusz in Wien zusammen und die haben ihre Kollegin in Hegyeshalom aktiviert. Sonst lägen wohl noch heute zwei Gerippe auf den Gepäckspritschen in der Grenzstation in Hegyeshalom. Und Heinz hätte es sich erspart, vor ein paar Jahren in Südafrika zu sterben.


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