←← Titelseite
← 21 - Töltötoll
→ 23 - We try harder
Marina
worin vorkommen: Paris, Montmartre, Sacre Coeur, Honfleur, die Étoile, Innsbruck, Pressbaum, Meidling, Hetzendorf, der Küniglberg, Saarbrücken, Stuttgart, Freiburg, Nancy, Colmar, München, Salzburg, die Strengberge, André Breton, 'L'Amour fou', Johann S. Bach, die d-Moll-Toccata, Georges Bizet, Igor Strawinsky, Anton Bruckner
und zwei Romanzen, eine französische und eine am Küniglberg
Es gab wieder einmal eine sogenannte 'schöne' Abholung, nämlich aus Paris. Ohne dass dafür eine besondere Notwendigkeit bestanden hätte, nahm ich meinen Sängerknaben- und Schulfreund Helmut mit. Helmut, der 'Bulle', redete über seine kurz bevorstehende Parisreise mit einem Freund aus der ehemaligen Parallelklasse. In unserer eigenen Klasse hatte es nicht einen einzigen Mitschüler gegeben, der die Bezeichnung 'Snob' verdient hätte. Ein herausragendes Privileg unserer Klasse, denn sonst gab es nicht wenige Snobs an unserer Schule. Der aus der Parallelklasse war so einer. Groß, gute Figur, Margaret Steveleigh hätte ihm den Ruderer sofort abgenommen, schön geschnittene Züge, erstklassige Markenmode, Schwarm aller Mädchen. Durch und durch Angeber. Ein Verdienst muss ich ihm aber lassen: Durch ihn lernte ich Marina Borgomastri kennen, das bezauberndste Geschöpf auf der damaligen Erde.
Der Angeber hatte gelegentlich ein Mädchen aus Paris kennengelernt und bat jetzt den Bullen, bei ihr vorbeizuschauen und sie von ihm zu grüßen. Natürlich kamen wir diesem Auftrag gerne nach. Die Chance, eine junge Pariserin kennenzulernen konnten wir nicht auslassen. Nicht einmal wenn ein Snob dahinter stand.
Die Fahrt mit dem französischen Peugeot 403 verlief problemlos bis kurz vor Paris. Da kam Spannung auf, denn mit dem Benzin wurde es knapp. Ich war der Ansicht, bis zum Hertz-Office müsste es noch reichen. Wir erreichten Paris am frühen Abend in der Hauptverkehrszeit. Ständiges Stop and Go. Der Zeiger für den Kraftstoff stand schon verdächtig lang auf null. Wir stotterten die Champs-Elysées entlang. Im Schneckentempo. Stau auf allen vier Spuren. Ich natürlich auf der vermeintlich schnellsten, äußerst links. Der Stau würde gleich noch ärger werden, denn der Motor starb ab und machte keinen Mux mehr. Die Franzosen hinter uns tobten. Sie dachten, wir verstünden ihre wilden Flüche, wies uns doch unser Kennzeichen als Pariser aus. Es dauerte nicht lang, da kamen zwei Flics zu Fuß. Auch sie glaubten, wir verstünden ihre Anweisungen. Wir taten so als ob, denn es war ohnehin klar, was zu geschehen hatte. Die Flics bliesen ein konzertreifes Konzert auf ihren Trillerpfeifen und hielten den Verkehr auf allen anderen Spuren an, während wir den Vierhundertdreier quer nach rechts in Richtung einer Seitenstraße schoben. Der Bulle schob am Heck (also, mein Bulle, Helmut, nicht der Flic), ich schob seitlich bei geöffneter Tür von außen lenkend. Zur Seitenstraße hin ging es ganz leicht bergab. Natürlich war kein regulärer Parkplatz frei. Ich steuerte also auf die Stelle zu, die eigentlich noch im Bereich der Kreuzung lag, knapp am Fußgängerübergang. Die Stelle war fast erreicht. Ich steckte das rechte Bein in den Peugeot und trat aufs Pedal. Da bremste aber nichts. Wieder einmal hatte ich statt auf die Bremse auf die Kupplung getreten. Wie ein Film schossen mir die Augenblicke mit dem Steyr Baby auf dem Albertinaplatz durch den Kopf. Der Peugeot rollte ohne Verzögerung gemächlich aber entschlossen gegen das Heck des dort abgestellten Alfa Spider. Der Anprall war nicht stark, ein schwacher Bums, trotzdem löste sich die Stoßstange des Alfa und fiel zu Boden. Auf dem Gehsteig befand sich der Schanigarten eines Bistros. Die Besucher beobachteten amüsiert die komischen Szenen, die wir ihnen boten. Einer von ihnen stellte sich vor als Eigentümer des Alfa. Die Flics waren inzwischen wieder weg. Sie hatten Besseres zu tun. Ich war mir sicher, der Alfafahrer würde jetzt auch beginnen zu toben und schimpfen, wie man es in Wien erwarten könnte. Da hatte ich mich gründlich getäuscht. Jetzt lernte ich die Nonchalance der Pariser kennen. Der gut gekleidete Mann mittleren Alters beäugte nur das Blech des Alfa, dem nichts passiert war. "Fait rien", sagte er kurz, setzte sich wieder an seinen Tisch und verschwand hinter seiner Zeitung. Seine Stoßstange blieb vor dem Alfa auf dem Boden liegen. Ich erkannte jetzt, wieso sie herabgefallen war. Das Ding war nur mit zwei Drahtstücken an die Karosserie angebunden gewesen.
Die Mademoiselle Rental Agent im City Office merkte, dass wir nervös waren beim Eintausch des Peugeots gegen einen roten österreichischen BMW 1600. Uns dauerte das alles viel zu lang. Umso umständlicher und langsamer ging sie vor. Wir waren ungeduldig, wollten wir doch so rasch als möglich Marina aufsuchen. Ich hoffte inständig, dass Marina unsere Einlage vom Champs-Elysées nicht beobachtet habe, denn die Adresse, die wir von ihr hatten, war genau dieser Prachtboulevard. Wenigstens war sie nicht schwer zu finden. Wir staunten nicht schlecht, als wir an der angegebenen Hausnummer einen stilvollen Lebensmittelladen vorfanden mit der dezenten Aufschrift *Borgomastri‘ über den Schaufenstern. Da musste Marina Borgomastri wohl zu finden sein. Es wurde nun klarer, weshalb unsere Adresse nur eine Hausnummer beinhaltete und keine Etage oder Türnummer. Wir betraten den Laden. Es sah aus wie in Wien beim Piccini am Naschmarkt, nur geräumiger. Eine Anzahl Franzosen war dabei, die Accessoires für ein italienisches Cena einzukaufen. Bedienstete in weißen Kochschürzen und –hauben reichten ihnen die Waren über den Tresen, in dem sich die feinsten Delikatessen stapelten. Junge Dame im Studentinnenalter war keine dabei. Artig warteten wir, bis wir an der Reihe waren. Als uns die Verkäuferin ansprach, fragten wir nach Marina Borgomastri. "Oh, Marina", sagte sie. Sie wandte sich an den älteren Herrn. "Ces Monsieurs demandent de Marina." Der Mann entschuldigte sich bei seiner Kundin und sagte etwas zu uns in freundlichem Ton. "Do you speak English?", fragten wir zurück. Nachdem wir ihm erklärt hatten, dass wir aus Wien kämen und Marina von ihrem Wiener Freund grüßen sollen, hieß er uns einen Moment warten. Er bediente seine Kundin zu Ende und kam danach auf unsere Seite der Vitrine. In nicht ganz lupenreinem Englisch mit starkem italienischem Akzent erklärte er uns, dass seine Tochter Marina in ihrer Wohnung sei. Ob wir schon etwas gegessen hätten? Haben wir verhungert ausgesehen? Kaum. Es war eine erste Bekanntschaft mit südländischer Gastfreundschaft in meinem Leben. Eine der Verkäuferinnen stellte auf Anweisung des Chefs einen italienischen Imbiss für uns zusammen und servierte ihn zusammen mit zwei Cola auf eins der Tischchen im Kundenbereich. Wir schmausten mit dem größten Appetit und mit den freundlichsten Gefühlen für Marinas Vater. Die Papierteller waren leer, aber unsere Mäuler noch nicht ganz, da reichte uns Monsieur Burgomastri einen Zettel mit der Adresse der Wohnung und erklärte uns in groben Zügen, wie wir dorthin gelangen können.
Der BMW war schlecht geparkt, wir mussten ihn ohnehin weg bewegen. Zwar blieben Strafzettel ohne Folgen für uns, weil Übertretungen damals nicht ins Ausland verfolgt wurden. Es hätte uns aber ein Flic auf frischer Tat erwischen können und wer weiß, was für Kosten und Zeitverluste daraus erwachsen wären. Nach einigem Suchen und Fragen fanden wir die Straße und das Haus. Beide lagen im weiteren Bereich der Innenstadt. Den BMW mussten wir mangels Parkmöglichkeit wieder regelwidrig abstellen. Wir betraten das alte, stilvolle Wohnhaus und stapften über die halbrunde Treppe hinauf in die vierte Etage. Oben erwartete uns eine junge Dame bereits vor der Wohnungstür. Ihr Vater hatte sie angerufen und unseren Besuch angekündigt. Rainer, stellte ich mich vor und der Bulle sagte, Helmut. "Je suis Marina", antwortete sie und bat uns in die Wohnung. Das Appartement war klein, dunkel und ziemlich altmodisch eingerichtet. Gehäkelte Deckchen lagen auf den Möbeln, die zwar alt, aber nicht von Stil waren, überall Vasen und Döschen, auf den dunkelrot senkrecht gestreiften Tapeten alte Schwarz-Weiß-Fotos und romantisierende Bilder, dazwischen ein Regal mit alten und neuen Büchern und Broschüren, abgenutzte Sessel und ein Schreibtisch mit Radio, alles im Stil der Dreißigerjahre, und an einer Wand ein Diwan. Von studentischer Unordnung keine Spur. Alles glänzte, als hätte gerade erst jemand geputzt.
Marina war eher klein, ein wenig rundlich, die Formen in dem schwarzen wollenen Trainingsanzug ausgeprägt, mais non trop. Zwischen der Trainingshose und dem Oberteil öffnete sich immer wieder eine Spalte, durch die, wenn sie eine gewisse Breite überschritt, sich der Ansatz eines roten Dessous zeigte. Das alles klingt nach Durchschnitt, doch habe ich noch nichts über das faszinierende Gesicht gesagt. Dunkelrot bemalten, herzförmig fein geschwungenen und leicht hervortretenden Oberlippen widersprach eine relativ kurze, aber breite Unterlippe. Es ist noch nicht lange her, da ist ein langes Leben später mir aufgefallen, dass die Maler des Rinascimento oft solche Lippen formten, während wir es heute gewohnt sind, Unterlippen zu sehen, die an Länge, oft auch an Breite die Oberlippen übertreffen. Mit solchen Spitzfindigkeiten befasste sich der sehr junge Mann, der ich damals war, noch nicht. Jedenfalls gab es Marina einen fein herben Ausdruck, wenn sie nicht lächelte oder lachte, was sie aber überwiegend tat. Über diesem Katzenmäulchen bog sich ein römisches Näschen. Übrigens das einzige Merkmal, das gegen ein Renaissancekunstwerk sprach. Da bevorzugte man bekanntlich griechische Proportionen. Aus dem ovalen, etwas blassen Angesicht, abgesehen von etwas Rouge unter den Schläfen, kollerten zwei Kulleraugen hervor, so groß wie ich Kulleraugen noch nie gesehen hatte. Im blendenden Weiß der Augäpfel badeten dunkelgrüne Iriden. Keinen Moment hielten diese Augen still. Hätte nicht die Einhegung durch lange, wohlgeformte schwarze Wimpern sie daran gehindert, sie hätten sich wohl selbständig gemacht und wären auf Entdeckungsreisen gegangen. Rückenlanges, tiefschwarzes Haar gab diesem Tiziano-Antlitz seinen Renaissance-Rahmen.
Wir bestellten die aufgetragenen Grüße vom Wiener Snob. Marinas leuchtende Augen rollten noch lebhafter. Sie wollte unbedingt alles über diesen Freund hören. Da wir nicht zugeben wollten, dass wir selbst nicht viel über ihn wussten, begannen wir, Details zu erfinden. Ich habe keine Ahnung, weshalb unsere Erfindungen nicht unbedingt im sympathischen Bereich angesiedelt waren. Marina nahm offenbar nur die positiven Aspekte zur Kenntnis. Unsere schäbigen Flunkereien filterte sie aus. Sie sprach gutes Englisch, charmant gefärbt mit französischem Accent. So erklärte sie uns, dass sie hier mit ihrer Großmutter wohnte, die sich aber gerade im Krankenhaus befände. Sie habe leider auch nur wenig Zeit für uns, weil sie ins Spital zur Großmutter müsse, um sie zu pflegen. "I must polish my grandmother", sagte sie. Wenn wir aber mochten, könnten wir sie dorthin begleiten, was uns Gelegenheit geben würde, weiter zu plaudern. Es gibt Angebote, die man nicht ablehnen kann.
Marina wusste, dass wir schon bei ihrem Vater gegessen hatten und bot uns daher nur ein Glas Wasser an. Während wir das gechlorte Wasser tranken, ging sie in die andere Ecke des Zimmers. Obwohl ich mit dem Rücken zu ihr saß, bekam ich mit, dass Marina sich völlig ungeniert umzog. Der Bulle rechts von mir hatte es etwas leichter. Wie ich es schaffte, meine Sitzposition beizubehalten, ohne meinen Kopf allzu sehr zu wenden, ist mir heute noch ein Rätsel. Ich war wohl zu gut erzogen und andererseits blöd, denn Marina hätte auch das bestimmt nicht gestört. Während Marina ihre Oberbekleidung wechselte, redete sie unbekümmert mit uns weiter. Sie hatte sich spontan für doch eine andere, blau-weiß gestreifte Bluse entschieden und bat einen von uns, ihr diese andere Bluse, die über der Lehne eines Stuhls in unserer Nähe hing, zu reichen. Wir sprangen beide auf und hätten unterwegs zu Marina die dünne Bluse fast zerrissen. Marina lachte sich zu Tode.
Wir folgten Marina hinunter auf die Straße. In ihrem engen dunkelgrauen Rock und der blau-weißen Seidenbluse sah sie elegant und züchtig aus. Sie trug eine kleine schwarze Handtasche und eine bunte Einkaufstasche aus Stoff. Auf der Straße erzeugten die hohen Absätze ihrer schwarzen Schuhe bei jedem Schritt ein mittleres Erdbeben. Wir folgten ihr bis zu ihrem blauen R8. Wir nahmen darin Platz. Behände manövrierte Marina den Wagen aus der engen Parklücke und segelte flott und sicher durch den Pariser Abendverkehr. Wir erreichten das Krankenhaus nach einer Viertelstunde. Es lag unauffällig eingebettet in eine Straßenzeile inmitten anderer Wohnhäuser. Ein solches Wohnhaus mag die Klinik früher auch gewesen sein. Es schien innen nur so weit wie unbedingt notwendig für den Zweck der Behandlung kranker Menschen adaptiert. Wir fanden Marinas Großmutter bettlägerig in einem geräumigen Dreibettzimmer in der zweiten Etage. Wir boten an, draußen zu warten, aber Marina bestand darauf, dass wir mitkommen. No, no, no, die Großmutter würde sich bestimmt freuen über Besuch aus Wien. So war es auch. Die Dame in einem türkisenen Nachthemd war Anfang sechzig, klein und sehr mager. Sie schien etwas verwirrt. Dennoch hielt sie eine tadellose Haltung ein, wie sie da aufrecht in ihrem Bett saß. Sie sprach französisch, also war sie wohl Marinas Großmutter mütterlicherseits. Sofort war sie besorgt um ihr Haar, das absolut nicht unordentlich war, doch für sie eben nicht frisch genug gekämmt. Marina entnahm ihrer Einkaufstasche eine Bürste und frisierte die Großmutter. "I must polish my grandmother", sagte sie. Aus der bunten Tasche kamen auch noch eine Konfektion mit Schokoladebonbons zum Vorschein und ein größeres Päckchen mit italienischen Snacks. Die dicke Bettnachbarin mischte sich ein und sagte "Oui, c'est si bon". Das verstand ich wegen des gleichlautenden bekannten Schlagers. Marina zauberte noch ein Taschenbuch aus der Tasche. Ich schielte auf den Titel, er lautete 'L'Amour fou', von André Breton. Und dann noch eine Flasche Pinot blanc. Mir fiel auf, dass die Flasche bereits angebrochen war. Auch eine Dose Hautcreme hatte Marina mitgebracht. Die Großmutter hätte den Wein wohl aufbewahrt, doch der Besuch aus Wien musste gefeiert werden. Eine Schwester brachte schmunzelnd drei weitere Gläser und so stießen wir alle an auf Madames Gesundheit. Bringt mehr als die dummen Medikamente, übersetzte Marina für uns die Feststellung der Großmutter. Ich nippte an dem Glas. Es war das normale, chlorhältige Pariser Wasser. Die zugestöpselte Flasche verschwand im Nachtkästchen. Während wir ab und zu an den Gläsern nippten, nahm Marina die Dose und cremte die Großmutter ein. Gesicht, Hals, Arme, Hände. Als sie sich anschickte, das Nachthemd hinaufzuschieben, traten der Bulle und ich ans Fenster und schauten hinaus. Ein Innenhof. Unten parkten ein Krankenwagen und zwei große Citroën, eine neue DS und ein CV-11, mit der schmalen Schnauze und den weit geschwungenen Kotflügeln. "Wasser", sagte der Bulle und machte einen kleinen Schluck, als wartete er auf ein Wunder. – "Gänsewein", antwortete ich. "Ich glaube, das hier ist eine Klapsmühle." Als wir uns wieder umwandten, war Marina mit den Füßen der Großmutter beschäftigt. – "Die Schwestern machen das nicht. I must polish my grandmother", sagte sie verschmitzt. - "Pierre, quand il viendra?", fragte die Großmutter Marina. – "Mais, mémé, Pierre est mort!" Die Großmutter hielt zweifelnd ihren Kopf schief. Eine schrille Glocke rasselte durchs Haus. "Wir müssen gehen", sagte Marina. Wir leerten den Rest des Wassers aus den Gläsern in einen der Blumentöpfe, wünschten der Dame rasche Genesung und verlangten von ihr uns zu versprechen, dass sie uns in Wien besuchen werde. "Je ne sais pas trop", sagte sie. Marina übersetzte, "Vielleicht."
Unterwegs zum R8 erklärte uns Marina, die Großmutter habe jetzt nach vielen Monaten immer noch nicht akzeptiert, dass Pierre, ihr Mann, gestorben sei. Deshalb sei sie zur Behandlung in der Klinik. Marina fuhr uns durch die Stadt zum Montmartre. Zu Fuß stiegen wir den Hügel hinauf zur Kirche Sacre Coeur und bewunderten den nun schon nächtlichen Blick über Paris in der weichen Atlantikluft. Wir spazierten durch die alten Gassen. Künstler oder Studenten boten ihre Bilder feil oder auch das Anfertigen von Porträts. Es tut mir heute noch leid, dass ich kein Bild von Marina machen ließ. Ich habe auch kein einziges Foto von ihr. Die entzückende junge Frau lebt in mir nur in der Erinnerung. Wir kehrten ein in ein Studentenlokal. Es war völlig überfüllt von jungen Leuten und Zigarettenqualm. Marina schlug sich selbstbewusst durch bis zur Theke, hie und da einen Gast lässig grüßend. Ich sah, wie alle, ihre Bekannten so wie die Unbekannten, sie bewundernd anschauten. Sie bestellte drei Fées und erklärte uns, das sei die 'Grüne Fee', nämlich Absinth. Wir erhielten Gläser mit einer grünlich transparenten Flüssigkeit und eine kleine Karaffe mit Wasser zum Verdünnen. Marina erklärte, dass man seinen Absinth eigentlich mit einem kleinen, mit einem Stückchen Zucker belegten Löffel präpariert, über den kaltes Wasser in den Absinth gegossen wird. In dem überfüllten einfachen Lokal wäre das wenig praktikabel, also begnügt man sich ohne Zucker mit etwas Wasser aus der Karaffe. Der Bulle und ich kosteten das Getränk zuerst unverdünnt. Es war so teuflisch stark, dass wir uns beide verschluckten. Marina lachte sich tot. Absinth hat je nach Marke von 45% Alkohol aufwärts. Dieser hier musste über die 60% gehen. Also verdünnten auch wir unsere Spirituose, worauf die Flüssigkeit milchig wurde. Der Geschmack war leicht bitter, hatte etwas Weiches vom Wermut und Scharfes vom Anis, ein strenges Aroma. Einen zweiten konnten wir uns offenbar nicht erlauben, gingen wir doch davon aus, bald die Rückreise beginnen zu müssen. Wir hatten ohnehin schon viel Zeit verschwendet. Man erwartete von uns Rückholern, sofort und auf dem raschesten Weg zurückzufahren. Eine Rückholung war keine Urlaubsreise. Noch aber plauderten wir über Wien und Marinas Wien-Aufenthalt, wo sie den Snob kennengelernt hatte. Marina empfand ihn ganz offenkundig nicht als solchen, im Gegenteil, sie hatte die beste Meinung von ihm. Es ärgerte mich. Ich kann nicht sagen, weshalb es mich ärgerte, aber es ärgerte mich sehr. Sie schien verliebt in den Schnösel.
Unsere Rückreise haben wir dann noch weiter aufgeschoben, denn Marina lud uns ein in einen Nachtclub unten am Fuße des Montmartre. Hol's der Kuckuck, das konnten wir uns doch nicht entgehen lassen! Würden wir nachher eben schneller fahren. Wobei mir klar war, dass das nicht ging, noch schneller. Wir nahmen Platz an einem Tisch im Cercle. Ein Kellner eilte herbei und bot uns Champagner an. Mann, wie sollte das funktionieren? Champagner in einem Nachtlokal in Paris überstieg unsere Verhältnisse weit. Dabei hatte Marina schon den Absinth bezahlt. Jetzt waren eindeutig wir dran. Marina sagte dem Kellner etwas, das wir nicht verstanden und er entfernte sich. Das Programm war um diese Zeit schon weit fortgeschritten. Eine Diseuse säuselte ein Chanson. Die Musik kam vom Lautsprecher. Der Kellner brachte eine kleine Menge Wein in einer Karaffe und Wasser in einer größeren zweiten. Gibt's nur für lokale Gäste, sagte Marina. Der Bulle goss ein. Auf die Sängerin folgte eine Tanzeinlage. Zwei Tänzer wirbelten eine Ballerina über die kleine Bühne. Ein dritter Tänzer trat auf und übernahm die Vorherrschaft über die Tänzerin. Die beiden anderen versuchten das zu verhindern, blieben aber mangels Unterstützung seitens der Tänzerin erfolglos. Das hier sei nicht das Folies Bergère, meinte Marina. Aber es gäbe eben auch leistbare Lokale. Und sie wisse genau, dass wir in Wien erzählen würden, wir wären im Moulin Rouge gewesen. Sie lachte sich tot. Unsere Anwesenheit hier würde die Schwere unserer Lüge etwas vermindern. Marina erklärte uns, dass die Künstler von einem Nachtlokal zum anderen zogen und in jedem ihre Nummer abzogen. Das gelte auch für die Stripperinnen, von denen wir eine schon versäumt hatten.
In der Pause, die ziemlich lang war, bot Marina uns an, am nächsten Tag einen Ausflug mit ihr zu machen. Nach Honfleur, wenn es uns recht wäre. Sie müsse dorthin, um für ihren Vater eine Lieferung Fisch zu übernehmen. Wir hatten keine Ahnung, wo Honfleur sei, aber es war uns auch völlig egal. Mit Marina wären wir auch ins Enfer gefahren. Es gab nur ein Problem. Wir wurden in Wien erwartet. Helmut und ich waren Hertz ja zweifellos egal, aber der Wagen wurde gewiss dringend erwartet. Nicht egal waren wir beide hingegen Black and White, die brauchten uns für das sonntägige Match. Der Bulle schaute mich traurig an. Ich schaute den Bullen traurig an. Marina schaute uns beide traurig an. Wir beide schauten Marina traurig an. Das war etwas, was wir überhaupt nicht vertragen konnten, Marina traurig zu sehen. "Hol's der Teufel", sagte ich. "D'accord. Wir kommen mit." Und wenn es mich den Job kostete und eine Runde Bier an die Fußballer. Also zwei Runden für zwei Matchschwänzer. Blieb nur die Frage, wo wir nächtigen konnten. Marina wüsste sicher ein preiswertes Hotel? Marina schaute uns verdutzt an. Hotel? Was heißt Hotel? Es war doch wohl klar, dass die Freunde ihres Amis bei ihr schlafen. Etwas anderes wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Sie schien fast echauffiert bei dem Gedanken an ein Hotel für uns beide.
Wir sind perplex. Die Verdunkelung bei Beginn der nächsten Nummer im Programm rettet uns davor, sofort antworten zu müssen. Und unsere roten Ohren zu zeigen. Es wäre ein Gestammel der besonderen Art geworden. Aus den Lautsprechern erklingt Orgelmusik. Die einleitende dreimalige Fanfare schreckt auf. Die d-Moll-Toccata von Bach. Nach und nach gewöhnt das Auge sich an die Dunkelheit auf der Bühne. Ein Schatten nimmt allmählich Gestalt an. Die Gestalt liegt reglos auf dem Boden. Die kribbelnde, nervöse Fortsetzung der Toccata nach der Generalpause. Ein Scheinwerfer tastet die Bühne ab, bleibt hängen am Porträt Johann Sebastian Bachs mit weißer Rokokoperücke. Im Halbdunkel daneben erkennt man weitere Bilder. Bizet, Strawinsky, Bruckner, den Fünften kann ich nicht deuten. Jetzt kommt langsam Leben in die Gestalt. Die Arme zucken wie im Traum, zuerst unmerklich, aber zunehmend pointierter. Jetzt ziehen sie langsam Kreise auf dem Boden. Den Armen folgt kreisend der Oberkörper, der sich halb aufgerichtet hat. Man erkennt, dass es sich um eine Frau in barocker Kleidung mit weißblonder Turmfrisur handelt. Hochgeschlossenes Oberteil, grün und silbern, spitz nach unten zulaufend zur schmalen Taille über der exzessiv breiten Hüfte. Vom weiß geschminkten Gesicht heben sich die breiten Konturen dunkelroter Lippen ab. Die Bewegungen haben ihre Bedächtigkeit aufgegeben, orientieren sich jetzt am fiebrigen Rhythmus der Musik. Arme und der Körper oberhalb der Wespentaille vollführen schlangenartige Schwingungen in Richtung der Komponistenporträts. Jetzt erhebt sich das weite und lange, silberfarbene Rokokokleid vom Boden, ohne dass die Figur ihre weiter schwingenden Arme zur Unterstützung gebraucht hätte. Die Beine bleiben unter dem Rock versteckt. Man hat den Eindruck, hier werde ein Ballon aufgeblasen. Im Rhythmus der Orgelmusik tänzelt die Barockdame zum Bildnis Bachs, nimmt es von der Wand, drückt es an die Brust, küsst es und stellt es mitten auf der Bühne auf den Boden. Tanzend steigt sie darüber hinweg. Bach verschwindet unter ihrem Rock. Ihre Bewegungen werden schmachtend, zittrig, fiebernd. Was, um Himmels Willen, macht der Johann Sebastian mit ihr unter dem Rock? Man spürt, ihr wird heiß, immer heißer. Sie nimmt die Perücke ab, wirft sie in eine Ecke. Ihren Kopf bedeckt jetzt ein hautfarbenes Perückennetz, sodass er kahl aussieht. In wollüstiger Hitze knöpft sie ihr Oberteil auf und streift es ab. In einem weißen, eng geschnürten Mieder, welches die vollen Brüste puscht, aber knapp oberhalb der Stellen des extremsten Interesses endet, setzt sie ihren Tanz auf glühenden Kohlen fort. Immer auf der Stelle, wo Bach unter ihr verschwunden ist. Plötzlich fällt der Rock ihrer Liebeswut zum Opfer. Das Bach-Porträt bleibt verschwunden. Alles aber bleibt durchdrungen von seiner Musik. Übrig bleibt ein weißer Reifrock, der dem ausladenden Überrock seine Form verliehen hatte. Ungeduldig nestelt sie an dem Mieder, die Schnürung war nur zum Schein, denn es fällt willig von ihr ab und fliegt ins Publikum. Ihre anregende Nacktheit scheint zeigen zu wollen, dass auch Bachs marmorne Mollakkorde Freude ausdrücken können. Wobei, die Nacktheit ist garniert. Jede Brust ist drapiert von einem Notenzeichen. Es sind halbe Noten, also mit leerem Kopf. Die leeren Köpfe sind exakt rund um die Nippel positioniert. Das weiße Glitzern der Noten kontrastiert mit dem Braun der Vorhöfe und dem Rosarot der Nippel. Die halben Noten sind offenbar hohe Töne, denn sie sind nach unten gestrichen. Die Hälse bestehen aus weiß glitzernden Bändern, die bei jeder Bewegung die Brüste umspielen. Eine Maskierung der Nacktheit, die die Nacktheit noch unterstreicht.
Die Orgel wird zunehmend schwerer und bleiern. Man spürt, das Ende naht. Und wirklich, auch der Reifrock muss dran glauben. Alles was barock an dieser Dame war, ist verschwunden. Es besteht nicht mehr der geringste Unterschied zu gegenwärtiger Weiblichkeit, die zeitlos ist. Wie die Brüste ziert eine Note auch die Scham. Die Note hier ist eine Achtel, hellgrün und dunkelgrün glitzernd, ein Punkt inmitten des Bermudadreiecks. Eine tiefe Note, deren Hals sich aus dem schwarzen Dreieck hinaus aufwärts zum Nabel schlängelt. Für einen Augenblick zweifle ich, ob es der Notenhals sei oder nicht vielleicht doch des Apfelbaums züngelnde Schlange. Das Fähnchen der Achtelnote ist wiederum ein baumelndes Bändchen, silbern und grün glitzernd. Mit einem Ruck zieht sich diese Eva das Haarnetz vom Kopf. Eine Welle dunkelroten Haars fließt ihre Schultern hinab und umspielt die halben Noten an den weißen Brüsten. So steht das Weib einen Augenblick lang aufrecht mit erhobenen Armen vor uns, mit einem Mal ist Bachs Bildnis wieder vorhanden. Ein unerklärlicher Zaubertrick. Sie hält das Bild in einer der nach oben gestreckten Hände, den sinnlichen Blick darauf gerichtet. Die letzten Akkorde der Fuge bleiben im Raum stehen wie Marmorblöcke, während ihre Arme langsam sinken. Schließlich drückt sie den Bach an ihre Brust. Ihr Körper sinkt langsam zu Boden. Mit den letzten Tönen der Fuge krümmt sie sich inbrünstig um Bachs Portrait.
Der Saal bleibt still, als er wieder ganz im Dunkel liegt. Erst nach einer kurzen Weile brandet verhaltener Applaus auf. Die Stripperin hat ihr Mieder wieder an, etwas tiefer kann man nach wie vor Noten lesen, als sie sich eilig verbeugt. An unserem Tisch bricht Marina zuerst unser Schweigen. Sie versucht wortreich zu umschreiben, wofür ihr die englischen Vokabel fehlen. Der Bulle versteht schließlich. Sie meint: kitschig. Er hat Marina zuerst verstanden, wohl weil er derselben Ansicht ist, vielleicht um Marina zu gefallen. Mich hat's fasziniert. Auf meinem Hals sitz eine halbe Note. Blutleer. Das Blut hat sich in andere Regionen vertschüsst. Vielleicht auch, weil ich bis dahin noch nie einen Striptease live erlebt hatte aus acht Meter Entfernung. Und wenn ich mich recht entsinne, ist es live auch der einzige geblieben. Bach und eine nackte Zauberin, also eine Hexe. Eingedenk meiner indirekten Stripteaseerfahrungen eines langen Lebens würde ich zwar zustimmen zu kitschig. Trotzdem hat sich da jemand bemüht, dem profanen Fakt der Nacktheit die profane Nacktheit zu nehmen, hat ihn damit aufgewertet: zu Erotik. Bachs Musik und Erotik, irrwitzige Kombination. Aber: Gibt es nicht auch Rezepte, irrwitzige Rezepte, die unser Geschmack trotzdem akzeptiert? Geselchtes auf Kuchen mit viel Kren darüber, zum Beispiel. Oder Absinth! Die d-Moll-Toccata war wohl wirklich nicht die passendste Musik zu dieser Darbietung. Das Doppel-Violinkonzert wäre besser geeignet gewesen. Ob die Stripperin die Nummer auch mit den anderen abgebildeten Komponisten im Programm habe, frage ich Marina. Sie kann es nicht sagen. Bizet und Strawinsky jedenfalls würden sich anbieten.
Marina nahm es für gegeben, dass wir ihrer Einladung zum Nachtquartier Folge leisten würden. Da wir darüber auch nicht mehr redeten, war die Sache entschieden. Nach kurzer, flotter Fahrt über die fast leere Stadtautobahn am Seineufer entlang waren wir da. Marina arrangierte noch ein kleines Souper für uns. Artischocken aus der Dose, Salzgebäck und eine Flasche Pinot. Lange sollten wir nicht mehr aufbleiben, sagte sie, denn es wäre besser, in der Früh nicht zu lange zu schlafen. Sie müsse nämlich am späten Nachmittag wieder in Paris sein, um noch einmal die Großmutter zu polishen. Noch einmal, das klang so merkwürdig endgültig. Die Dame war in Spitalsbehandlung, schien aber alles andere als in ernster Gefahr. Nein, erklärte Marina, es ist nur, dass ich danach verreisen werde. Wohin? Marina setzte ein verzücktes Lächeln auf. "Zu meinem - eurem Freund. – Vienne", sagte sie. Für zwei Wochen. - I must polish mon ami." Sie lachte. Jetzt war es an uns, entrüstet zu sein. Wir fahren doch nach Wien! Gleich morgen Abend, sobald wir aus Honfleur zurück sein würden. Warum komme sie nicht mit uns? "Offen gesagt", gestand Marina, "ich habe auch daran gedacht, wollte aber nicht aufdringlich sein." – Marina, aufdringlich! – "Eh bien", sagte ich. "Wir schlafen hier und du fährst mit uns nach Wien. D'accord?" Und der Bulle urteilte mit seinem ganzen Ernst, das sei nur gerecht. Sie würde morgen mit ihrem Vater reden und mit ihrem Freund telefonieren, meinte Marina, dann würden wir sehen.
Während sie dies sagte, erhob sie sich und nahm aus einem Schrank ein dunkelblaues Negligee. An derselben Stelle, wo sie sich schon früher für den Krankenhausbesuch umgezogen hatte, entkleidete sie sich. Nur, dass wir diesmal ihr direkt gegenüber saßen. Sie zeigte keinerlei Scham, weniger jedenfalls als wir, denn wir mimten, ich fürchte, schlecht, dass wir anderswohin schauten. Also doch noch ein Strip an diesem Abend. Ich hatte mich nicht getäuscht. Sie trug eine rote Dessousgarnitur. "Wer wird hier schlafen?" Die ziemlich entblößte Marina wies auf den Diwan. "Ich würde ja, aber ehrlich, dieses Sofa verursacht mir immer solche Rückenschmerzen. Es wäre also nett, wenn einer von euch… Ich glaube, es wird euch nichts ausmachen. Meine Gäste haben sich noch nie beschwert." Keiner meldete sich. "Was ist die Alternative?", fragte ich zurück. – "Es gibt das Bett der Großeltern", sagte Marina. Es hat noch nie jemand anderer darin geschlafen als Papè und Mémé. Für Mémè lebt Papè Pierre noch. Wir müssen das akzeptieren. Mein Einzelbett hat Überbreite. Das ist kein Problem." – Ich schluckte. Der Bulle schluckte. "Wir knobeln", sagte er. – "Werdet ihr jetzt um mich knobeln?" fragte Marina mit gespielter Empörung. – "Nein, gab ich zurück. Um den Diwan." – Es ging sehr schnell. Der Bulle zeigte die Schere, ich den Stein. Der Diwan gehörte dem Bullen.
Marina war inzwischen im Bad verschwunden. Der Bulle und ich saßen schweigend beim Rest des Weins. Die Erlebnisse dieses tollen Tages schwirrten in unseren Halbtonköpfen. Wir traten an den französischen Balkon und öffneten die Tür. Ganz leicht hatte ein sommerlicher Sprühregen eingesetzt. Der Asphalt schimmerte unter den Straßenlaternen. Schweigend rauchten wir eine Zigarette und bliesen den Rauch hinaus in die kühle Nachtluft. Nur noch vereinzelte Spätheimkehrer zogen ihre Runden auf der Suche nach einem Parkplatz.
In ihrem tiefblauen Nachthemd trat Marina aus dem Bad. Sie angelte eine Decke aus einem oberen Fach des Schranks, wobei die Kürze ihres Baby Doll-Hemdchens gefährlich nach oben rutschte. Ich sah, dass sie darunter einen ebenfalls blauen Spitzenslip trug. Sie legte die Decke auf die Couch neben den Polster, der die ganze Zeit dort gelegen war. "Ihr könnt jetzt ins Bad", sagte sie. "Das rosa Handtuch ist meines. Ihr könnt die anderen verwenden." - Der Bulle ging. Marina goss Wein in unsere Gläser und stieß mit mir an. "Santé." Sie lächelte mich an. Voll warmen Charmes sprach sie weiter. "Rainer, Ihr habt wohl mitgekriegt, dass ich euren Wiener Freund liebe. Du bist doch sicher meiner Meinung, dass wir diese Nacht brav nebeneinander schlafen und uns für einen anstrengenden Tag morgen ausruhen werden?" Ich versicherte es ihr. "Trotzdem", sagte sie schnippisch, "da du kein Pyjama mithast, wirst du deine Unterwäsche anbehalten. Und keinesfalls ausziehen! Tout clair?" – "Forcément." Ich versprach es. "Und deine Hände bleiben schön auf deiner Seite, d'accord? Und du selbst auch!" – Ich schluckte. Sie hatte alles aufgezählt, was ich zu tun gedacht hatte. Und jetzt versprach ich, das alles nicht zu tun. Vielleicht sollte ich doch noch tauschen mit dem Bullen? Nein, lieber still und brav diesem himmlischen Geschöpf ganz nah, als solche Gnade dem Freund überlassen.
Der Bulle kam aus dem Bad, als Marina im Begriff war, ins Schlafzimmer zu verschwinden. Good night, wünschten sie einander und der Bulle fügte hinzu, "Sleep well!" Dabei sah er mich unverschämt grinsend an. "Sei froh mit deinem Diwan", sagte ich. Da wird nichts. Sie liebt den Snob." Damit ging auch ich in das kleine Bad. In Ermangelung einer Bürste reinigte ich meine Zähne behelfsmäßig mit den Fingern. Obwohl nicht allzu sensibel dafür, merkte ich doch, dass die weite Fahrt nach Paris und der lange Abend ein gewisses Odeur von mir ausgehen ließen und verwendete die winzige Dusche hinter dem Kunststoffvorhang und Marinas Shampoo. Eingedenk Marinas Verhaltensregeln fand ich es angezeigt, mich kalt abzuspülen. Es half leider überhaupt nichts. Ich zog meine Unterwäsche wieder an. Der Bulle hatte das Licht im Wohnzimmer schon ausgemacht. Im Finstern legte ich meine Jeans und das Hemd auf einen Sessel und schlich ins Schlafzimmer. Auch dort war es dunkel. Nur ein klein wenig Licht kam von der Straße durch das Balkonfenster. Ich erkannte nicht gleich, auf welcher Seite Marina lag und ging prompt zur falschen. Natürlich schlief sie noch nicht. Sie drehte sich zu mir und sagte leise, "No, no, no. Dein Platz ist dort drüben. Du hast wohl nichts vergessen von unserer Convention?" – "Ich kann die ganze Zeit an nichts anderes denken", versicherte ich wahrheitsgemäß. "Ich bin fast vollständig bekleidet." Marina überging den leichten Sarkasmus in meiner Stimme und schwieg. Ich schlüpfte ins Bett. Es gab nur eine Decke für uns beide. Strafverschärfung, dachte ich. Marina hatte die Decke so um sich gewickelt, dass sie uns voneinander trennte. Das Bett war nur wenig breiter als ein Einzelbett. Wenn wir nebeneinander liegen wollten, mussten wir uns beide bewusst schmal machen. Wir versuchten es, trotzdem hingen wir auf beiden Seiten in der Luft. Einige Zentimeter waren gewonnen, als Marina die Decke zwischen uns wegnahm. Trotzdem war es nicht zu vermeiden, dass wir einander seitlich berührten. Marina schien mir keine böse Absicht zu unterstellen, denn sie ließ es geschehen. Nach kurzer Zeit beugte sie sich plötzlich über mich und küsste mich flüchtig auf die Wange. "Dors bien", flüsterte sie und drehte sich von mir weg. Das ging sich schon gar nicht aus. Ich war gezwungen, mich meinerseits zu derselben Seite zu drehen, sodass unsere Körperformen sich einander anpassten. Die Berührung unserer nackten Beine empfand ich äußerst angenehm, nein, himmlisch. Sie verfehlte ihre Wirkung nicht. Marina spürte wohl durch ihr Baby Doll und meinen Slip hindurch, dass mich das alles nicht kalt ließ. Also bewegte sie sich nach allzu kurzer Zeit in die andere Richtung. Wir wären jetzt face à face gelegen, was mich sehr gefreut hätte, aber Marina boxte mich sanft und gab mir damit zu verstehen, dass auch ich mich umdrehen sollte. Da ich es versprochen hatte, war ich folgsam und tat es. Jetzt hatten wir die wahrscheinlich unverfänglichste Position gefunden, die in Anbetracht des Platzmangels möglich war. Marina war's zufrieden und schlief bald ein. Das kann ich von mir nicht behaupten. Wie sollte ich unter solchen Umständen schlafen?! In dieser Nacht habe ich, wenn überhaupt, nur sehr wenig geschlafen. Die meiste Zeit bedauerte ich, von Frauen keine Ahnung zu haben, denn ich zweifelte, ob Marina wirklich gemeint hatte, was wir vereinbart hatten, und ob sie böse auf mich wäre, würde ich mein Versprechen brechen. Letztlich war mir das Risiko zu groß. Einen Skandal oder die Verachtung Marinas wollte ich auf keinen Fall heraufbeschwören. Da wir nicht die ganze Zeit auf dieser einen Seite liegen konnten, wendeten wir uns im Laufe der Nacht noch viele Male gleichzeitig. Dann störte Marina sich nicht mehr an meinen harten Stellen. Und andersrum erfreute ich mich an ihren weichen. Im Gegensatz zu mir genoss sie einen tiefen Schlummer.
* * *
Es ist wahr, man kann den Charakter eines Menschen an seiner Fahrweise erkennen. Wenn du einem Menschen tief in sein Inneres schauen willst, dann beobachte ihn am Lenkrad. Jeder geht anders damit um, dass er über ein Vehikel und seine Mitfahrer Macht erlangt hat. Der eine wird unsicher, schaut fahrig in alle Richtungen, geht zögerlich um mit den Hebeln und Pedalen, dreht das Lenkrad hin, nein doch wieder her und wieder hin. Es ruckelt und zuckelt. Er sieht in den Verkehrsteilnehmern um ihn lauter bedrohliche Wildtiere, die es darauf angelegt haben, ihn zu fressen, und die Polizei als gemeine Wegelagerer.
Der andere wird am Steuer zu dem verwegenen Helden, der er im sonstigen Leben nie sein darf. Er muss immer der vorderste in einer Kolonne sein und wird nicht ruhen, bis er nach vielen waghalsigen Überholmanövern diese Pole Position erreicht hat. Überschreitet die Chance, dass es sich ausgehen wird, ein gewisses Mindestmaß auf niedrigem Niveau, wird überholt. Selbst überholt zu werden empfindet er als persönliche Beleidigung. Er weiß sie abzuwenden, indem er tüchtig Gas gibt, den linken Blinker setzt und dicht auf den Vordermann aufrückt. Dem Verzweifelten neben ihm, der keinen Ausweg sieht aus dieser Nummer, dieser Null zeigt er den Stinkefinger. Vollgas und Vollbremsung sind seine gewöhnlichen Aggregatzustände. Die anderen sind alle Arschlöcher und als solche bezeichnet er sie auch bei jeder Gelegenheit. Die Hupe ist sein bevorzugtes Organ und er lässt sie blöken bei jedem Fehlverhalten eines Mitbewerbers.
Es gibt aber auch die ganz Ruhigen. Die stehen in jeder Lage über den Dingen. So einer steuert den Wagen durch alle Verkehrslagen. Er fährt zügig, vielleicht ein wenig zu schnell aber nicht nennenswert, gerade so viel, dass die Polizei ihm nicht am Lack kratzen wird. Er sieht jede Entwicklung der Situation voraus. Der Ruhige ist zufrieden, wenn er den Fehler eines anderen frühzeitig vorhergesehen und ohne krasse Bremsung kompensieren konnte. Sachte gleitet er über seine Route, ohne dass seine Mitfahrer viel davon merken.
Man darf mit Fug und Recht annehmen, dass ich in meinem Leben mehrere Phasen mit verschiedenen Charakteren durchlaufen habe. Die erste Phase ist in der auszugsweisen Zusammenfassung von vorhin gar nicht vorgekommen. Da war ich der Rowdy. Also einer, der hoch über all den verwegenen Helden steht. Denen hat er noch einiges voraus, vor allem potenzierte Aggressivität und bodenlose Verantwortungslosigkeit. War eine Landstraße mit zwei Fahrstreifen breit genug für drei PKW nebeneinander, hinderte mich kein Gegenverkehr am Überholen. Sollten die anderen halt ausreichend rechts fahren. Ziemlich oft sah ich Entgegenkommende mir den Vogel zeigen. Für mich lauter Weicheier. In Wien waren eben die neuen Großraumstraßenbahngarnituren eingeführt worden mit automatischen Türen, die von den Fahrgästen innen und außen mit Druckknöpfen zu betätigen waren. Die Bim hielt an Haltestellen in der Regel in Straßenmitte. Die Autos mussten hinter der Tramway anhalten, um den Einsteigern, die vom rechten Straßenrand her kamen, den Zutritt zu ermöglichen. Vor der Straßenbahn lag oft eine ampelgeregelte Kreuzung. Wenn alle eingestiegen und die Türen geschlossen waren, begannen die Autos an der Bim vorbei bis zur Kreuzung vor zu fahren. Die Ampel schaltete auf Grün und die Bahn fuhr los, gleichzeitig mit den Autos rechts daneben. Wegen der rascheren Beschleunigung der PKW konnte der vorderste von ihnen sich vor der Straßenbahn positionieren. Das musste er, denn nach dem Haltestellenbereich war der rechte Fahrstreifen von parkenden Autos blockiert. Der erste PKW hatte Glück, denn er hatte die langsame Bim hinter sich gelassen und konnte zügig fortsetzen. Für die anderen Autos dahinter ging sich das nicht aus. Da hatte die Straßenbahn schon die parkenden PKW erreicht und das Loch zum Vorbeifahren war zu. Nicht so bei einem Rowdy. Die Straßenbahntüren mussten bis knapp vor der Weiterfahrt für die Fahrgäste steuerbar bleiben, seit man sich darüber beschwert hatte, dass Fahrgäste wegen versperrter Türen nicht mitfahren konnten, obwohl der Zug noch eine Weile in der Haltestelle stehen musste. Der Rowdy fuhr also an die Straßenbahn heran, öffnete das Fahrerfenster und drückte den Knopf zum Öffnen der Tür. Die Tür ging auf und der Zug konnte nicht wegfahren. Der Platz war frei für die Autos, um seelenruhig an der blockierten Bim vorbei über die Kreuzung zu fahren. Manchmal war dann für die Straßenbahn schon wieder Rot, als sie endlich bereit war zum Losfahren. Pech, Pech, dachte der Rowdy. Der hatte inzwischen die nächste Bim eingeholt und wiederholte mit ihr sein böses Spiel. Oder, Leute erschrecken auf den Zebrastreifen, vor allem alte oder Mütter mit Kinderwagen. Auf sie losfahren und mit quietschenden Bremsen vor ihnen anhalten, nachdem sie sich schon unter dem Auto gesehen hatten. Wie ich an anderer Stelle schon sagte, ich würde mir heute noch den Führerschein entziehen für solche Schandtaten.
Das Driften auf Schneefahrbahnen, eine Lust! Die Kreuzung Linke Wienzeile – Lastenstraße, wo der Naschmarkt beginnt, war ampelgeregelt, aber noch nicht wie heute von einem ausgeklügelten, computergesteuerten Grüne-Welle-Netz, sondern von einem Wachmann, der mit einem grünen Mantel in einer kleinen, teils verglasten Hütte an der Ecke saß. Von seinem subjektiven Befinden hing es ab, mit welchem Knopfdruck er welcher Richtung freie Fahrt gab. Auf diese Kreuzung fuhr ich zu, von der Operngasse kommend, zwischen Secession und Verkehrsbüro durch, bei einigen Zentimetern Neuschnee. Die Ampel zeigte für mich Grün, also rechnete ich mit zügiger Weiterfahrt die Wienzeile entlang. Nur, als ich noch dreißig Meter zur Kreuzung hatte, schaltete mir der Gschölte auf Gelb und fast gleichzeitig auf Rot. Es war ihm offenbar wurscht, wie ich da noch rechtzeitig anhalten sollte. Ich bremste so dosiert wie möglich und brachte mein Fahrzeug auch vorschriftsmäßig vor der Kreuzung zum Stillstand. Nur in der falschen Fahrtrichtung. Beim Bremsen hatte der Wagen sich um hundertachtzig Grad gedreht. Durch die Heckscheibe sah ich, dass der Gschölte längere Zeit ungläubig zu mir herschaute, bevor er mit dem Zeigefinger zu winken begann. Ich interpretierte das als Aufforderung, mich zu ihm zur Hütte zu begeben. Da ich schon wusste, was kommen würde und um mir einen unnötigen Weg durch die Kälte zu ersparen, nahm ich gleich alle Papiere mit. Der Gschölte studierte sie interessiert, dann sagte er, "Tanzen kannst am Opernball. Auf der Straßn wird gradaus gfahrn." Er ließ Gnade vor Recht ergehen, vielleicht auch weil der zutreffende Paragraf für die Übertretung gar nicht so leicht auszumachen war. Ich eilte zurück zu meinem Vehikel, gab tüchtig Gas und mithilfe der Handbremse führte ich eine Rotation an Ort und Stelle aus, bevor ich an dem Gschölten vorbeistob.
Oder unsere Überstellung von fünf nagelneuen Käfern von Wien nach Innsbruck. Nachdem wir in Pressbaum auf die Autobahn gefahren waren, wo sie damals begann, drückten wir die Gaspedale bis zum Anschlag durch und ließen sie nicht mehr los bis Innsbruck. Das entsprach nicht ganz den Einfahrvorschriften von VW. Es sollte später interessant sein, wie verschieden die Motoren auf diese Misshandlung reagierten. Wir erkannten unsere Spielzeuge im Lauf der Zeit ja immer wieder. Einige waren erwartungsgemäß lahme Enten geworden, andere geradezu Raketen. Woran mag das gelegen sein? Unterwegs hatten wir keinen Unterschied zwischen den Units bemerkt. Sie brachten alle die ziemlich gleiche Spitzengeschwindigkeit. In Tirol hatte es zu schneien begonnen. Es war Nacht. Innsbruck wies Schneelagen von wenigen Zentimetern auf. Es war gegen halb zwei Uhr früh, als wir aus lauter Übermut unsere fünf Käfer hintereinander durch einen Kreisverkehr driften ließen, fünfmal, zehnmal, sehr oft jedenfalls. Hätte uns jemand zugeschaut, er hätte an sich und der Welt gezweifelt.
Mit der Zeit und der Menge der zurückgelegten Kilometer stieß ich mir die Hörner ab. Allmählich ging ich über zu einer zivilisierteren Fahrweise. Die Heldenphase übersprang ich ganz, wurde dann bald zu einem der Ruhigen. Ich glaube, meine Fahrten in Frankreich haben stark dazu beigetragen. Die Fahrweise der Franzosen liebe ich. Ihre Nonchalance! Ein kurzer Fluch oder ein Schimpfwort mag schon sein, aber nur oberflächlich. Sonst herrscht der Grundsatz vor, leben und leben lassen. Wenn es für alle ungemütlich wird, haben alle Geduld. Zwängt einer sich hinein, nehmen sie es stoisch hin. Es gibt kein Justament auf bestehende Rechte. Es gibt in der italienischen Judikatur eine spezielle Rechtslage, la precedenza di fatto, den De-facto-Vorrang. Demnach kann ein Fahrzeug, welches an und für sich benachrangt wäre, durch die realen Umstände der Verkehrssituation zum vorrangberechtigten werden. Die Franzosen haben dieses Prinzip ohne komplizierte Regeln zur Meisterschaft entwickelt. Ein paar Runden um den vielspurigen Kreisverkehr um die Étoile erklären, was gemeint ist. Der große Kreisverkehr von der Tangente hinunter vor der Einfahrt nach Venedig zeigt das genaue Gegenteil. Hier muss man höllisch aufpassen. Die Italiener fahren da durch wie über den Circuit von Monza. Ein etwas bescheideneres Tempo würde jedem Einzelnen das Leben erleichtern, jedenfalls das schadlose Abbiegen in die gewünschte Ausfahrt. Sie aber schneiden nach Lust und Laune die Fahrstreifen, regen sich aber über alle auf, die die Fahrstreifen schneiden. Anders an der Étoile . Jeder ahnt, was der andere vorhat und versucht es ihm zu ermöglichen. Es ist ein Wohlverhalten auf Gegenseitigkeit. Man muss das System schon begriffen haben und selber entsprechend mitspielen. Dann allerdings kann Stadtverkehr, sofern er noch fließt, zum Vergnügen werden. Ich bin oft stundenlang durch Paris gefahren, um mich diesem Vergnügen auszusetzen. In einem solchen allgemein öffentlichen Autodrom geht es nicht immer völlig kontaktfrei ab. Deshalb habe ich in Paris kaum ein Auto gesehen, das nicht wenigstens eine größere oder kleinere Beule hatte. Die Mehrzahl hatte mehrere. Die meisten Pariser Autofahrer regte das genau gar nicht auf. Ein kleiner Kratzer, ein zerbrochenes Scheinwerferglas, nicht der Rede wert, oft nicht einmal des Anhaltens. So war das vor vielen Jahren. Ich hoffe inständig, dass sich daran nichts geändert hat.
Das Fahren auf den französischen Landstraßen war auch so ein spezielles Thema. Autobahnen gab es noch nicht. Man versuchte, den Verkehr zu beschleunigen, indem man dreispurige Schnellstraßen baute. Das führte zu mörderischen Situationen, wenn die Überholer aus beiden Richtungen auf einander zufuhren und sich oft erst im allerletzten Moment in die überholte Kolonne nach rechts hineinquetschten. Tatsächlich verloren wir damals die meisten Units in Frankreich. Die waren dann auch nicht mehr reparabel und verblieben als Wrack an Ort und Stelle, so wie mancher Mieter. Später malten sie Bodenmarkierungen auf die dreispurigen Fahrbahnen. Der mittlere Fahrstreifen wurde jeweils zum Überholen in einer Fahrtrichtung bestimmt. Für die Gegenrichtung herrschte Überholverbot. Nach einer längeren Strecke wurde die mittlere Fahrspur für die Gegenrichtung zum Überholen freigegeben. Das senkte die Unfallzahlen ein wenig, aber nicht so sehr, wie man es sich theoretisch erhofft hatte. Man hätte mit den Rowdys rechnen sollen, mit den Helden sowieso. Die seinerzeit noch schwächere Motorisierung der Fahrzeuge machte die Überholwege lang und das Ende der eigenen Überholmöglichkeit kam oft früher als gedacht.
Mit all dem hatte Marina keine Probleme. Sie steuerte ihren brustschwachen R8 flott, flüssig und absolut sicher durch die Gegend. Ich bin kein guter Mitfahrer. Zwar nörgle ich niemals. Lieber leide ich im Stillen. Nicht mit Marina. Es hatte bis dahin niemand gegeben, keine Frau und keinen Mann, bei dem ich mich als Mitfahrer so sicher gefühlt habe wie mit Marina am Lenkrad. Wir hatten dieselben Auffassungen über die jeweilige Situation und Marina reagierte darauf genauso, wie auch ich reagiert hätte. Ein blindes, unbedingtes Vertrauen war die Folge. Als Mitfahrer zu schlafen gelang mir nur bei äußerster Übermüdung. Bei Marina hätte ich sogar das können, wäre ich nicht zu beschäftigt gewesen, dieser entzückenden jungen Frau bei allem zuzusehen, was sie tat.
Wir erreichten Honfleur gegen Mittag. Es ist eine kleine Hafenstadt in der Normandie. Gewöhnlich schauen Hafenstädte mit niedrigen Gebäuden aufs Meer hinaus. Hier aber drängen sich die Häuser an der Mole dicht zusammen. Aus irgendeinem Grund mussten es viele sein, die dort auf engem Raum stehen sollten. Daher haben sie keinen Platz und müssen sich schmal machen. Das treibt sie in die Höhe. Diese schmalbrüstigen, hochgeschossenen Turmhäuschen geben Honfleur seine eigenartige Skyline.
Wir begleiteten Marina zu einer Fischerei im Hafen. Sie übernahm dort ein paar Kisten mit Fischen, Muscheln und Garnelen, die wir im Kofferraum und auf einem Fondsitz verstauten. Die Ware musste frisch bleiben. Daher machten wir uns gleich wieder an die Rückfahrt, nachdem wir in einem der Bistros am Wasser eilig einen Kaffee und ein Stück Baguette eingenommen hatten. Die Eile lag überdies auch daran, dass wir alle drei wegen der bevorstehenden Abfahrt nach Wien ungeduldig waren. Ungeduldig war auch ich, allerdings stritt diese Ungeduld in mir mit dem Wunsch, diese wunderbar leichten Stunden mit Marina ins Unendliche auszudehnen.
Wir brachten den Fisch ins Geschäft zu Marinas Vater. Die beiden sprachen italienisch miteinander. Ich glaubte zu begreifen, dass Marina ihren Vater nicht fragte wegen der Fahrt mit uns nach Wien, sondern es ihm mitteilte. Er hatte offenkundig nichts dagegen. Marina packte in der Wohnung der Großmutter einige wenige Sachen in eine Reisetasche. Dann gingen wir zu unserem BMW. Der Bulle stieg hinten ein, wollte schlafen. Marina setzte sich also auf den Beifahrersitz und gab mir Anweisungen, um rasch aus Paris hinaus zu finden. Die übliche Route über Saarbrücken und Stuttgart kannte ich schon. Diesmal wollte ich die südlichere Strecke über Freiburg ausprobieren, die mir Kollegen empfohlen hatten. Dazu erinnere ich nochmals daran, dass die heutigen Autobahnen noch nicht bestanden. Wir fuhren daher Richtung Nancy, dann Colmar. Im Innenspiegel sah ich, dass der Bulle hinten schlief. Aber auch Marina fielen die Augen immer wieder zu. Das Radio funktionierte schlecht, krachte nur in einem fort. Also schaltete ich es ganz ab. Ich hatte befürchtet, meinerseits schläfrig zu werden. Zuerst 1200 Kilometer nach Paris, der aufregende Tag dort, die noch aufregendere Nacht mit Marina, dann der heutige Tag mit Honfleur. Ich war ja einiges gewohnt, aber das ging doch an die Grenzen. Es wunderte mich daher, wie frisch ich mich fühlte mit Marina an meiner Seite. Als wir nach Colmar den Stau wegen der Grenzkontrollen hinter uns hatten (tja, Schengen lag noch in weiter Zukunft), war es fast dunkel. Die deutschen Landstraßen hatten etwas Vertrautes mit ihren herkömmlichen zwei Spuren. Es ging flott voran, weil wenig Verkehr war. Marina hatte offenbar auch zu meiner Fahrweise Vertrauen gefunden. Müde neigte sie sich immer mehr nach links zu mir herüber. Schließlich gab sie jede Abwehr auf gegen den Schlaf und legte ihren Kopf auf meinen Schoß. (Die Autos hatten damals noch keine Sicherheitsgurte.) Von nun ab versuchte ich nicht nur, den Wagen noch geschmeidiger durch die vielen Kurven zu fahren, sondern auch hier drinnen jede abrupte Bewegung zu vermeiden. Nur nicht schalten, nicht kuppeln, nicht bremsen, die Beine so still halten wie möglich! Nur Marina nicht wecken! Wie wäre es schade gewesen, hätte sie ihre Schlafposition wieder aufgegeben! Ihr Haupt ruhte auf einem Polster aus ihrem Haar auf meinen Schoß. Ihr wohliger Duft stieg in meine Nase. Ich spürte ihren Atem auf meinen Gliedmaßen, kühl, wenn sie ihn einsog, eine warme Welle beim Ausatmen. Testosteron schoss durch mein Gehirn, wo das Blut ihm ausreichend Platz gemacht hatte. All das hielt mich wach in dieser Nacht im Auto. Ich glaube nicht, dass ich es sonst ohne längere Schlafpause geschafft hätte. So erreichten wir München, wo wir wieder auf die übliche Route stießen. Ich war verzweifelt, als ein Tankstopp sich nicht weiter hinauszögern ließ. Er beendete den schönsten Teil dieser Nachtfahrt. Die Tanks wurden aufgefüllt mit Kraftstoff und Kaffee. Eine Zigarette. Ich rauchte nie viel unterwegs und immer nur in einer Pause. Marina freute sich, dass Wien schon nicht mehr so ferne war. Marina war jetzt ausgeschlafen. Sie saß wieder aufrecht im Wagen. Leider. Der Bulle auch. Wir genossen einen Französischkurs mit Marina als Enseignante. Salzburg. Die letzten, schon sattsam bekannten Kilometer. Immer wenn die Bodenmarkierungen gelb wurden, wusste ich, ich bin wieder zuhause.
Es tagte. Strengberg. Noch einmal etliche Kilometer Bundesstraße. Dann wieder Autobahn. Ich fragte Marina, ob ihr Snob von unserer gemeinsamen Nächtigung wissen durfte. Sie verstand die Frage nicht. Was wäre schon dabei gewesen? Es wäre doch nicht das Geringste passiert! Mit Freunden spontan in einem See schwimmen gehen und danach am Ufer an der Sonne trocknen, ein wenig Körperkontakt dabei, was sollte daran bedenklich sein? Wir hätten doch nicht gesündigt, Gott bewahre! Sie bekreuzigte sich. Das Ehebett von Papè und Mémé entweihen, das wäre verwerflich gewesen. Marina hatte völlig Recht. Ich bereute meine Frage. Die Frage eines Spießers. Ich stellte mir vor, wie der Snob reagieren würde, erführe er, wie Marina die letzten dreißig Stunden mit mir verbracht hat. Marina kannte ihn so wenig. Liebe macht blind. Sie war zu bedauern, so oder so.
Pressbaum. Das Ende der Autobahn. Es war zu früh, um den Wagen abzuliefern. Ich kannte eine Bude auf dem Naschmarkt, die um diese Zeit offen hatte. Dorthin gingen wir frühstücken. Unterwegs rief Marina aus einer Telefonzelle den Snob an. Er war nicht begeistert über den frühen Anruf. Er würde wenigstens eineinhalb Stunden brauchen, um Marina abzuholen. Klar, ohne sich zuvor zu polishen, ging das gar nicht. Ich wäre im Pyjama gekommen und hätte dafür zehn Minuten gebraucht, dachte ich. Wir frühstückten zusammen mit Nachtschwärmern, Frühaufstehern, Marktweibern, Busfahrern und Huren. Marina war begeistert, aber meine Knie schlotterten. Ich musste dringend an einer Matratze horchen. Dementsprechend trocken fiel mein Abschied von Marina aus. Erst am nächsten Tag fiel mir ein, was alles ich ihr nicht gesagt hatte. Dass ich sie unbedingt wiedersehen musste, dass ich niemals eine Frau lieben würde, die anders wäre als sie, dass sie den Vater von mir grüßen solle und die Großmutter und Pierre. Eine rasche, wortlose Umarmung, ein Küsschen auf die Wange, das war alles. Ich fuhr den Wagen in die Garage, dann mit der Straßenbahn nach Hause. Der Bulle wartete mit Marina auf den Snob. Den Bullen sah ich am Sonntagvormittag beim Fußball. Marina Borgomaschi blieb ein Traum. Einer von denen, die man kein zweites Mal träumt. Ich sollte sie nie wieder sehen.
˄
←← Titelseite
→ 23 - We try harder