23 Avis

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We try harder

worin vorkommen: Salzburg, Oberndorf, Peggy March, 'Memories of Heidelberg', Peter Kraus, Heidi Brühl, Rocco Granata, Lolita, Cliff Richards, Tom Jones, Freddy Quinn, Roy Black, Elvis Presley, Peter Alexander, Nana Mouskouri, Édith Piaf, Simon and Garfunkel, 'Sounds of Silence', die Beatles, die Rolling Stones, 'Satisfaction', Frank Sinatra, Hugo von Hofmannsthal, Ludwig van Beethoven, Gerhard Bronner, Peter Wehle, Lore Krainer,  'Der Guglhupf,' Heinz Fischer-Karwin,  'Aus Burg und Oper', Franz und Eberhard Waechter, Wolfgang A. Mozart, 'g-Moll-Symphonie', Gustav Mahler, Bruno Walter, das 'Lied von der Erde',  Humbert Fink, 'Quodlibet', 'Ein Engel fliegt über den Kontinent', Jesus Lopez de Cobos, Karl Löbl. 'Lieben Sie Klassik', 'Dirigenten im Vergleich mit Leonard Bernstein anhand Beethovens Neunter', ' Falstaff', Giuseppe Verdi, Georg Solti, Guillermo Sarabia, Pilar Lorengar, Sona Ghazarian, Anton Bruckner, 'Kulturquerschnitte', 'Ausblicke', 'Musik und Theater in Innsbruck', Gießhübl, Peter Weber, Nürnberg, Glyndebourne, Hannover, Buenos Aires, Erik Werba, Black and White, Rapid-Wien, Austria Wien, Wiener Sport-Club, Rudolf Szanwald, Leopold Barschandt, Alois Jarosch, Erich Hasenkopf, Rudolf Oslansky, Heinrich Büllwatsch, Karl Skerlan, Adi Knoll, Walter Horak, Erich Hof, Josef Hamerl, Juventus Turin, Heribert Meisel, Edvard Munch, Marcel Prawy, Karl Wolf, Ampfelwang, Peter Podsedensek, Rudolf Höss, Helmut Hauer, Wiener Singverein, Matthias Sindelar, Adolf Schärf, Johannesburg, Baden, Triest, San Bonifacio, Verona, Vicenza, Bozen,  Josef Klaus, Silvius Magnago, Aldo Moro,  Giuseppe und Alfredo di Stefano, Gina Lollobrigida, Sofia Loren, Marcello Mastroianni, 'West Side Story', Tony, Maria, 'Romeo und Julia, 'Aida', Michael Scharang, Michelangelo Buonarotti, 'Adam und Eva',  sowie  ein Tag mit Ö1, die Geburt eines Promi-Fußballklubs und wie mitten im Winter ein Blitz einschlug.

Jetzt lerne ich die Scham kennen, von der erstmals arbeitslos Gewordene häufig ergriffen werden. Sie gehen in der Früh aus dem Haus wie jeden Tag. Niemand soll ahnen, dass sie den Job verloren haben. Ich irre in der Stadt umher, stehe vor einem Haus mit dem Schild eines mir völlig unbekannten Rechtsanwalts, überwinde mich, gehe in die Kanzlei. Der Mann ist sicher an die achtzig, hört sich meine Geschichte mit offenkundiger Skepsis an. Er bringt eine Klage beim Arbeitsgericht ein. Wie so oft kommt es zu einem gerichtlichen Vergleich, die Entlassung wird zurückgenommen, während ich auf einen Teil der Kündigungszahlungen verzichte.


Es ist gerade Schulschluss. Die Sommerferien beginnen. Manche Gymnasiasten haben eine negative Note und werden am Ende der Ferien eine Nachprüfung machen müssen. Solche Nöte sind mir nicht ganz unbekannt. Die Zeitungen sind voll mit Inseraten, in denen Nachhilfeunterricht angeboten wird. Kurz entschlossen schalte auch ich eine Kleinanzeige. Die werden doch nicht alle – wie ich – die Schule einfach abbrechen? Meine Englischkenntnisse halte ich für ziemlich gut und auch an die Grammatik erinnere ich mich ausreichend. Das wird schon klappen. Weshalb aber sollten fremde Eltern gerade mich auswählen, frage ich mich. Zu billig möchte ich nicht sein. Hoch sind nur die Stundensätze von professionellen Lehrern. Wer sich die nicht leisten kann, nimmt eben einen billigeren Studenten. Wenn man die noch unterbietet, kann das nur Zweifel an der Qualität wecken. Ein besonderer Werbegag muss her. Mein Einfall ist wie alle meine solchen genial. Ich biete meine Dienste gegen Erfolgshonorar an. Endet die Nachprüfung positiv, gibt’s Geld. Ansonsten – nichts. Das Honorar ist nicht pro Stunde, sondern 1000 Schilling fix. Wenn ich sehe, dass der Schützling noch weit vom Ziel entfernt ist, liegt es in meinem eigenen Interesse, den Unterricht zu intensivieren. Mit diesen Argumenten hätte ich auch hundert Schüler bekommen. Ich halte es aber für vernünftig,  mich mit dreien zu begnügen. Zwei Mädchen und ein Bub, allesamt unbegabt und faul. Da sie nicht verstehen, sind sie gezwungen, stur zu büffeln. Ich sehe meine Felle schon dahinschwimmen und hoffe nur noch auf milde gestimmte Lehrer bei den Prüfungen. Vielleicht sollte ja die Nachprüfung nur ein Warnschuss sein, um die Schüler zu mehr Fleiß zu bewegen. Zuletzt arbeite ich mit den Kandidaten ein paar Stunden täglich, natürlich einzeln. Ein Knochenjob. Womöglich ganz umsonst. Am Tag der Prüfungen bin ich ein Nervenbündel. Den Schmetterlingen in meinem Bauch ist speiübel. Den Schülern muss es blendend gehen im Vergleich zu mir. Zwei Tage später bin ich um dreitausend Schilling reicher.


Wenn iich gerade nicht damit beschäftigt bin, die Hoffnungen meiner Schüler und meine eigenen möglichst günstig zu beeinflussen, fahre ich an die Alte Donau, in Ermangelung der gewohnten Hertz-Schlitten mit der Bim, wie die Schaffner halt. Mein Freund Helmut ist hier in einen Tennisclub eingeschrieben. Ein paarmal treffen wir uns dort. Den Tennisschläger, den ich in Bristol erstmals in der Hand hatte, kann ich nicht vergessen. Zwar ist Fußball mein bestimmendes Hobby. Doch ist die Lust enorm, dem kleineren, damals noch weißen Ball nachzujagen und mithilfe der gekreuzten Saiten dorthin zu dirigieren, wo er hingehört. Laufen bin ich gewohnt, aber das Treffen ist für einen blutigen Anfänger wie mich ungemein schwierig. Helmut hat nicht so viel Zeit wie ich, er ist Jurist im Arbeitsamt. Daher finde ich mich öfters allein auf der Tennisanlage ein. Jemand wird schon da sein und ein paar Schläge mit mir wechseln, hoffe ich. Es zeigt sich aber, dass außerhalb der üblichen Freizeit kaum Spieler anwesend sind. Dazu sind die wenigen Ausnahmen eingebildete Affen, älter als ich, die meisten viel älter. Sie tragen ihre Spielklasse vor sich her wie den Lorbeer auf einem Polster. Nie und nimmer würden sie sich mit so einem unfertigen Schnösel wie mir abgeben. Außerdem, wer zu so unüblichen Tageszeiten auf den Platz kommt, der hat schon einen Termin mit einem Partner. Die blasierten Typen vermiesen mir nicht nur die auf der Tennisanlage vergeudete Zeit, sondern letztlich den ganzen Sport. Ich hänge den Schläger an den Nagel und widme mich weiterhin meiner Fußballmannschaft.


Marias Bruder Oskar hat einen Job bei der Ersten Allgemeinen Versicherung. Er verkauft kleine Versicherungsverträge. Jetzt behindert ein blöder Zwischenfall seine Tätigkeit. Nachdem er einmal mit zu wenig Blut im Alkohol erwischt wurde, ist sein Führerschein für sechs Monate eingefroren. Da trifft es sich gut, dass ich jetzt Zeit habe, ihn mit seinem Auto zu den diversen Kunden zu chauffieren. Eine perfekte Win-Win-Situation. Natürlich kann er mich für diesen Job nicht bezahlen, aber ich werde einfach als Versicherungsvertreter bei der Ersten Allgemeinen eingestellt und beziehe von dort ein kleines Grundgehalt. Um es ein wenig aufzubessern, versuche ich mich auch selber im Verkauf von Polizzen. Damit höre ich aber bald wieder auf. Meine Freunde will ich mit so einem Schmarren nicht belästigen. Dafür nehme ich mir die Kundenkartei vor und besuche bestehende Kunden, um Verträge zu verlängern oder aufzustocken. So gelange ich zu einer fünfundfünfzigjährigen Invaliditätspensionistin. Sie ist ungepflegt, wohl weil ihre Gebrechlichkeit es ihr erschwert, sich zu pflegen. Vermutlich aus demselben Grund ist die ärmliche Wohnung ziemlich verwahrlost. Zuerst wundere ich mich, dass sie mich überhaupt einlässt, später merke ich, dass sie froh ist, mit jemandem reden zu können und sei es nur über eine Krankenversicherung. Wir reden dann über dieses und jenes. So komme ich zwar zu keinem Abschluss, aber zu einer Serie weiterer Termine für psychologische Betreuung. Ich mache hier nicht die Arbeit eines Versicherungsvertreters, sondern die eines Zivildieners. Schade, dass es etwas wie Zivildiener damals noch nicht gab. Einmal, als ich an zwei Frauen vorbeigehe, die im Hausflur tratschen, höre ich ganz deutlich, wie die eine mit gedämpfter Stimme sagt: "Was macht die Alte die ganze Zeit mit dem Burscherl?" Plötzlich fällt mir auf, dass meine Kundin neuerdings sauber gekleidet und frisiert ist und die Wohnung halbwegs aufgeräumt. Eines Tages will sie den Antrag unterschreiben. Will sie mir einen Gefallen tun? Sie bedenkt nicht, dass damit die Therapie endet. Da ich im Herzen weder ein Vertreter noch ein Zivildiener bin, ist die Sache für mich erledigt und ich kehre nicht mehr zu der Kundin zurück. Nie zuvor und nie danach habe ich mich für einen erfolgreichen Abschluss so geschämt und damit endet auch diese Episode in einem traurigen Schmiss.


Maria, Alice, Franz und ich fahren nach Salzburg. Zweck der Reise: Ich soll mich bei einer Salzburger Mietautofirma um einen Job bewerben. Den Job habe ich nicht bekommen, aber eine wunderschöne Nacht mit Maria in Oberndorf nahe Salzburg. Noch viel später, als Peggy March 1991 sang "Memories of Heidelberg sind memories of you und von dieser schönen Zeit da träum ich immerzu", ertappe ich mich dabei, Heidelberg durch Oberndorf zu ersetzen.


Allzu oft habe ich den Song ja nicht gehört, denn zu dieser Zeit war ich längst reumütig von meinem Ausflug in die Popmusik zur Klassik zurückgekehrt. Von den Sängerknaben war ich selbstverständlich als Klassikliebhaber herausgekommen. Abgesehen von den wenigen anderen Sängerknabenabsolventen schwärmten alle meine Mitschüler von Peter Kraus, Heidi Brühl, Rocco Granata, Lolita, Cliff Richards, Tom Jones, Freddy Quinn, Roy Black, und so weiter. Für die alle hatte ich nicht mehr übrig als Verachtung. Mit meiner Überzeugungsarbeit, dass die alle nichts können und am wenigsten der Peter Kraus, bin ich leider nicht durchgedrungen. Mit Elvis Presley und Peter Alexander (selbst ehemaliger Sängerknabe) tat ich mir schwer, das waren eher Hasslieben. Ich hörte dann aber auch Nana Mouskouri und Edith Piaf und musste gestehen, die hatten was. Dass ich Tinos altes Röhrenradio, so sperrig es auch war, mit mir ins Bett nahm, das war Simon and Garfunkel geschuldet (Sound of Silence!) und den Beatles, die einzigen, die musikalischen Tiefgang hatten, aber auch den Rolling Stones (Satisfaction). Vor allem aber dem absoluten Meister, Frank Sinatra. Sein dunkler, einschmeichelnder Bariton, die Gesangskultur, der Ausdruck, die Sprachdeutlichkeit, der Rhythmus, dazu die symphonischen Arrangements mit Spitzenorchestern, seit eh und je unübertroffen und für immer unübertrefflich. Ihn habe ich immer geliebt, auch in den Phasen, in denen ich fast ausschließlich der Klassik frönte.


Dieses alte Monstrum von Radio neben meinem Polster am Ohr hörte ich vor dem Einschlafen, und das konnte lange dauern, Radio Luxembourg über Kurzwelle. Der Empfang war durch ständiges Fading beeinträchtigt, es rauschte und rasselte und winselte, doch gab es auch ungestörte Momente und da war es, als hätte jemand das Radio neu erfunden.


Im Auto konnte man Luxembourg nicht empfangen, auf längeren Fahrten hatte ich mein klobiges Kofferradio mit, denn die Leihwagen waren noch nicht alle mit eingebauten Radios ausgestattet. Es war eher eine Plage als ein Genuss, denn der Empfang änderte sich andauernd oder verschwand ganz, dann rauschte und rasselte es gewaltig, man musste ständig nachjustieren oder neu suchen. Als dann das Autoradio häufiger wurde und auch an technischer Qualität gewann, kam ich dahinter, dass die Berieselung mit inhaltsleerem Lärm eher nervte als unterhielt. Irgendwann drehte ich suchend am Frequenzknopf und kam zufällig auf Ö1. Aus dem faden Blasmusik- und Schulfunkradio war inzwischen ein Qualitätsprogramm geworden, das mit seinen abwechselnden Sprach- und Musiksendungen höchste Ansprüche erfüllte. Erleichtert und neugierig ließ ich die Frequenz eingeschaltet und ließ mich abwechselnd belehren und erbauen. Das hat sich bis heute nicht geändert. Ich hörte und höre Ö1 in jeder Lebenslage. Im Bad, beim Frühstück, ja, auch am Klo. Ist es auch nur für ein paar Minuten, Musik erbaut, Textvortrag bereichert. Für die Zeit, die ich mit Gartenarbeit oder Heimwerken zubrachte, kaufte ich mir Kopfhörer mit Empfangsteil. War der Empfang auch schlecht, das Hören ist immer spannend gewesen. Ich bin davon überzeugt, dass ich in meinem langen Leben mit Ö1 mehr gelernt habe als in all den Jahren in der Schule. Und ich bin dankbar dafür, dass man mir Ö1 noch nicht weggenommen hat, etwa wegen unzureichender Quote. Denn wie fast überall im Leben bin ich auch auf diesem Sektor in der Minderheit.


Tagebuch 24.2.1980


"Am Sonntag müsste man von früh bis spät Ö1 hören. Heute hab ich es gemacht. 8 Uhr, 'Du holde Kunst', Hofmannsthal, Beethoven. 9 Uhr, 'Der Guglhupf', Bronner, Wehle, Krainer. Später am Vormittag Fischer-Karwin mit seinen köstlichen Interviews, 'Aus Burg und Oper' heute mit Franz Waechter, des großen Eberhards Sohn. Anschließend 'Matinee', Mozarts g-Moll-Symphonie und Mahlers 'Lied von der Erde' Bruno Walter. 'Quodlibet', Vergleiche über Schubert, Lied –Variationen und Bearbeitungen. Humbert Fink, 'Ein Engel fliegt über den Kontinent' heute über Mariazell. 'Kulturquerschnitte', Rezensionen, Jesus Lopez de Cobos, und Ausblicke, Musik und Theater in Innsbruck. Karl Löbl, 'Lieben Sie Klassik', Dirigenten im Vergleich mit Bernstein anhand der 9. Beethoven. 'Wissenschaftsmagazin'. Am Abend direkt aus der Staatsoper, Verdi, 'Fallstaff', Georg Solti, Sarabia, Lorengar, Ghazarian. Bei solchem Radiostress kann man nur im Gugelhupf enden. Ein schöner Sonntag. (Bei aller Dankbarkeit über das Fortbestehen von Ö1 bis heute – ein so dichtes Programm mit so vielen Highlights, das ist Nostalgie.)

 ***

Die Autovermietungsbranche ist klein. Gerne hätte ich mich bei einem Konkurrenzunternehmen beworben, dachte aber, dass das wegen der gerade ausgestandenen Affäre nicht sehr erfolgversprechend wäre und streckte also meine Fühler anderswohin aus. Eine Weile disponierte ich bei Shell die Anlieferung von Treibstoffen durch Tankwagen zu Tankstellen im östlichen Österreich. Mein Arbeitsplatz lag am anderen äußeren Ende von Wien in einem Industriegelände. Die Firma nannte ich nicht Shell, sondern die S-Hell. Um in die Hölle zu kommen, kaufte ich einen alten Opel Rekord, der an die elf Liter Aral oder BP brauchte (Shell kam für mich nur in den dringendsten Notlagen infrage) und Unmengen Öl. Nach einiger Zeit wurde ich, keine Ahnung weshalb, in die Zentrale am Schwarzenbergplatz berufen. Dort befassten sich zwei Experten mit Zukunftsmodellen der Treibstoffbranche. Ich fragte mich, was ich zu so wissenschaftlichen Themen beitragen konnte. Es wird, fürchte ich, nicht viel oder eher gar nichts gewesen sein. Und diese Vermutung befriedigte mich schon gar nicht.


Also wechselte ich zu einer Wiener Spedition, wo ich mich im Inlandverkehr langweilte. Mein Arbeitsplatz war im Textilviertel in der Innenstadt. Wir hielten unter anderem das Lager einer bekannten Schmelzkäsemarke auf dem Nordbahnhof. Die Bestellungen der Detailhändler gingen bei mir ein und ich regelte die Auslieferung vom Lager weg. Als ich einmal das Lager betrat, traute ich meinen Augen nicht, die Käseschachteln schienen mir entgegenzukommen, getragen von Myriaden Würmern, die sie bewegten. Dieser Käsemarke verweigerte ich mich für den Rest meines Lebens.


Schließlich rechnete ich für General Motors (bereits elektromechanisch) die Zollbolletten nach, auch so ein zermürbender Job, der heute ganz überflüssig geworden ist. Das Büro war im obersten Stock, etwa dem achten, eines modernen Gebäudes am Nordufer des Donaukanals, gegenüber dem Ringturm. Dort erreichte ich eine gewisse Virtuosität im blinden Zahlenspiel an der Rechenmaschine. Bald kam ich dahinter, dass es nicht nötig war, die Bolletten in allen einzelnen Details nachzurechnen. Vielmehr erstellte ich Formeln für die diversen Geschäftsfälle. Ich, der stabile Mathematikvierer, Formeln! Wenn das mein Professor Kaindl geahnt hätte! Diese Formeln wandte ich auf die Ausgangsziffern an. Das ersparte sehr viel leere Arbeit. Ich hatte dann sogar Zeit, Papierflieger zu falten und von der Terrasse hinunter schweben zu lassen. Wegen des Winds, der in Wien immer geht, und der großen Starthöhe waren die Flugobjekte oft ziemlich lang unterwegs. Eins davon erreichte sogar das Südufer am Franz-Josefs-Kai. Trotz meines ausgefallenen Hobbys war General Motors die erste und letzte Firma, deren Chef meinen Abgang ehrlich bedauerte.


Die normalen Arbeitszeiten, die ich in dieser Phase hatte, ließen mir ungewohnt viel Freiraum zum Fußballspielen. Der Fußballverein 'Black and White' wurde gegründet, und das kam so:


Meine Erinnerungen an Black and White

Im Internat bei den Wiener Sängerknaben gab es nach meiner Erinnerung keinen geregelten Turnunterricht. Dafür wurde in der schönen Jahreszeit eifrig gekickt. Die meisten Buben waren Experten, in der Theorie der Nationalliga wie in der Praxis. Ich selbst stand meistens allein in einiger Entfernung und schaute zu oder ließ von der Terrasse im Obergeschoß Papierflieger hinab gleiten. Natürlich hätte ich gern mitgespielt, aber das passierte nur, wenn äußerste Not am Mann war. 'Gewählt' wurde ich immer als Letzter. Und dann passierte mir mit Sicherheit irgendein Lapsus, den die anderen als saublöd einstuften.

 

Später in der öffentlichen Schule hatten wir reguläre Turnstunden und dazu manchmal auch Sport auf dem schönen Rasenplatz neben der Prosektur (sic). Da wurde auch meistens Fußball gespielt, unter Aufsicht unseres Deutsch- und Turnlehrers Hans Fuchs. Und genau da hatte ich ein Schlüsselerlebnis: Ich schickte aus dem Mittelfeld einen Steilpass an meinen Flügelstürmer und genau in diesem Moment schrie Fuchs begeistert „Jaaaaa!!!"

 

Es war, als ob der langgezogene Ruf dieses einen einsamen Worts einen Schalter in mir umgelegt hätte, denn von da an hatte ich immer Spaß und Freude am Fußballspielen und begann mich auch besser darin zurechtzufinden. Ein Fan von Vorbildklubs bin ich nie geworden, sondern habe es immer vorgezogen, selber zu spielen. Auch das Verhalten der Fans irritierte mich, denn deren blinden Fanatismus fand ich abstoßend. Schon früh – und noch nicht in England gewesen – bildete sich mir der Fairnessgedanke aus.

 

Ich versuchte auch, im nahe gelegenen Wiener-Liga-Klub, damals ‚Olympia‘, als Jugendspieler Fuß zu fassen, aber das wieder ging ganz mächtig daneben. Die Atmosphäre war so unzivilisiert, roh und proletarisch, dass ich gar nicht auf die Idee kam auszuprobieren, ob da auch positive Erfahrungen möglich wären. Solche Erfahrungen machte ich erst viel später und hatte dann auch kein Problem mehr mit proletarischem Verhalten, sofern es nur nicht gemein war. Bei Olympia unterschrieb ich gleich anfangs eine Beitrittserklärung, ging aber schon sehr bald nicht mehr zu den Trainings.

 

Stattdessen ging ich oft mit Heinz und Ladi, in einen Beserlpark, wo wir zu zweit oder zu dritt in einem ‚Käfig‘ unentwegt auf kleine Tore spielten. Hein Zaczek und Ladislav Novacek waren wie ich Ex-Sängerknaben. Die Beserlparks waren in den Schulfreizeitstunden immer stark frequentiert, aber Ladi kannte einen in seiner Wohngegend, wo nie jemand auftauchte. Am Gaudenzdorfer Gürtel befand sich ein ‚Käfig‘ auf dem Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen einer der damals am stärksten frequentierten – ja fast – Stadtautobahnen Wiens und auch ein paar Straßenbahnlinien führten vorbei. Und dort, inmitten von Lärm und Abgasen konnte man ungestört stundenlang auf Rauasphalt dribbeln. Dort wurden mir zwei Grundsteine gelegt: zur Ausdauer und auch zu einer speziellen Härte, die ich mir kompromisslos aber niemals unfair wünschte, und ich überwand meine anfängliche Wehleidigkeit in unzähligen Zerrungen, Prellungen und Abschürfungen. Ladis aufbrausende slawische Seele war dazu ein idealer Sparringpartner. Erst sobald wir nicht mehr konnten, begaben wir uns in eine unserer Wohnungen, legten uns auf den Boden und hörten auf der Stereoanlage Bruckner und Mahler. Manchmal spielten wir daneben Schach auf einer Blechdose, die jeden Zug durch ein lautes 'Klapp' kennzeichnete. Wenn Heinz den Zug setzte, pflegte er, ein spöttisches „Yep“ dazu zum Besten zu geben. Es ging also Klapp – Yep, Klapp, Klapp - Yep. Folgte dem Yep ein Matt, nahm ich das ruhig hin, ich war es ja gewohnt, aber betraf es Ladi, flog die Blechdose samt verbliebenen Figuren durch den Raum. Eine solche Situation lag eines Tages kurz nach Weihnachten vor. Wir befanden uns bei Heinz im Wohnzimmer. In der Tür zum Nebenraum stand ein Weihnachtsbaum, der bis zur Decke reichte. Es machte klapp, da wurde die Tür vom Nebenraum her aufgerissen und während der Weihnachtsbaum der Länge nach umstürzte, stürmte Heinz‘ Vater hinweg über dessen Zweige und Christbaumschmuck und zur anderen Tür wieder hinaus. Alle waren perplex, niemand sagte ein Wort. Nur von Heinz hörte man „Yep“ und wir spielten unbekümmert weiter.

 

In meiner Schulklasse fand ich mich unter vielen fußballbegeisterten Mitschülern und es ergab sich wie von selbst, dass wir nach dem Unterricht von der Albertgasse zum nahen Hamerlingplatz zogen, eine häuserblockgroße Grünfläche mit Blumenbeeten und Parkbänken. Dort gab es zwar keinen ‚Käfig‘ und den Rasen durfte man natürlich nicht betreten, aber am nördlichen Rand des Parks verlief eine schmale Asphaltstraße, eine Art Nebenfahrbahn, die für den Verkehr gesperrt war. Sie hatte auf jeder Seite einen Gehsteig und wurde von uns zum Fußballfeld umfunktioniert. Die Gehsteigkanten konnten uns nicht stören, im Gegenteil sie boten die willkommene Möglichkeit, den Gegenspieler mithilfe der ‚Bande‘ auszuspielen. Als Tore dienten ein paar Schultaschen oder Kleidungsstücke, manchmal auch der Stowasser. Gespielt wurde mit Plastikbällen. Ein Lederfußball war für uns ein Traumobjekt, an das nur wirkliche Fußballer herankamen. Am westlichen Ende unseres ‚Fußballfelds‘ verlief quer dazu die Skodagasse, eine Parkstraße mit schwachem Autoverkehr. Überquerte man von unserer Nebenfahrbahn her die Skodagasse, lief man genau in die Arme eines Polizisten, denn der musste dort vor dem Hauseingang Wache stehen, wo der Bundespräsident Adolf Schärf wohnte. Es geschah nicht selten, dass der Ball nach einem Schuss aufs Tor diesen Weg nahm und vor den Beinen des Wachmanns liegen blieb. Auf diese Weise lernten wir die verschiedensten Charaktere von Wiener Polizisten kennen. Ab und zu gab es ein 'Klassenmatch', also ein Spiel gegen eine andere Schulklasse, und es gab nichts, was an diesem Tag und in den Tagen davor wichtiger gewesen wäre. Manche von unseren Gegnerklassen spielten gewöhnlich im Schönbornpark, wo es einen großen 'Käfig' gab, und da waren die Spielplatzverhältnisse einem Fußballspiel schon ähnlicher. Ich glaube, im Schönbornkäfig haben wir meistens verloren, da wir an die eigenartigen Umstände am Hamerlingplatz gewöhnt waren und nicht an die besser geordneten im Schönbornpark, dafür aber waren wir auf unserem Straßenkampfplatz einigermaßen unschlagbar.

 

Die Nebenfahrbahn am Hamerlingplatz war uns Heimstätte für einige Zeit, aber unsere Sehnsucht, auf einem Fußballplatz Rasen unter unseren Füßen zu spüren und auf richtige Tore zu schießen, wuchs beständig. Richard Rüdegger erzählte uns, dass es ganz draußen zwischen den Hügeln von Gießhübl einen solchen Platz gab, etwas uneben zwar und mit etwas Schieflage, aber eingezäunt nur vom umgebenden Wald und kein Mensch kümmerte sich darum, wenn wir dort spielten. Gemäht wurde dort natürlich auch recht selten und so streiften unsere Füße oft bei jedem Schritt durchs mittelhohe Gras. Kann ich jedem Konditionstrainer wärmstens empfehlen. Der Kondition zuträglich war sicherlich auch die Anreise. Von Ottakring mit dem Fahrrad immer den Hügeln des Wienerwalds entlang etwa zwanzig Kilometer und danach wieder zurück. Ob es heiß war oder geregnet hat, war uns unwichtig und ich erinnere mich an einen Apriltag, als wir schemenhafte Gestalten durch dichtes Schneegestöber tobten, sodass man von einem Tor nicht zum andern sehen konnte. Die Schneekristalle schnitten ins Gesicht und die Verteidiger konnten nur durch Zurufe auf einen gegnerischen Angriff aufmerksam gemacht werden.

 

Nachdem ich aus der Schule ausgetreten war und den Militärdienst hinter mir hatte, erfuhr ich, dass meine Klassenkameraden an einem Nachmittag in der Woche den Turnsaal benutzten und dort Fußball spielten. Da machte ich natürlich auch gern mit. Ich hatte zu arbeiten begonnen bei Shell Austria und in dieser Firma bildeten einige Mitarbeiter eine Fußballmannschaft, die gelegentlich gegen Teams anderer Firmen antrat. Klar, dass ich gerne mitspielte. Da machte ich meine ersten Erfahrungen mit Fußball auf einem richtigen Fußballplatz. Ein erfüllter Traum für mich, aber ein unerfüllter für meine Ex-Klassenkameraden, und so reifte unter uns langsam, doch mit wachsender Intensität, die Idee heran, so etwas auch für uns auf die Beine zu stellen.

 

Unser Hauptproblem waren natürlich die für uns jungen Leute extrem hohen Kosten eines solchen Projekts. Einen Fußballplatz für ein Match zu mieten, kostete wenigstens dreihundert Schilling, dazu kamen die Kosten für die Mannschaftskleidung und für einen echten Fußball. Irgendwann hörte ich, dass die im Fußballverband zur Meisterschaft angemeldeten Vereine für ihren Betrieb vom Verband eine Subvention erhielten. Für eine neue Mannschaft, die in der untersten Spielklasse beginnen musste, waren das damals, glaube ich, zwölfhundert Schilling. Damit könnten wir bei Weitem nicht alle Kosten abdecken, aber wenn wir selber einen Beitrag leisteten, erschien das Vorhaben nicht mehr ganz undurchführbar.

 

Wir überlegten und stellten fest, wer von uns bereit wäre, mitzumachen und standen damit gleich vor einer grundsätzlichen Frage, die uns über alle Jahre unseres Vereinslebens eine treue Begleiterin bleiben sollte: War es der sportliche Erfolg, der im Vordergrund stehen sollte oder der Gemeinschaftssinn? Wir neigten sehr zur zweiten Variante, schon weil unter dem eineinhalb Dutzend an Interessenten mehrere solche waren, die weniger durch athletisches Talent, aber umso mehr durch Begeisterung an der Sache und als liebenswerte Persönlichkeiten ganz zentral in unserer Gemeinschaft standen. Dennoch blieben wir vom nagenden Ehrgeiz nicht immer verschont und die Spielerauswahl vor manchem Match sollte zu einer Gratwanderung an Kompromisssuche zwischen den beiden Polen geraten.

 

Auf der Suche nach einem Namen spielte die Sympathie mehrerer Kollegen zum 'Wiener Sport-Club' eine Rolle. Rapid und Austria, den beiden Klubs mit dem massenhaften Anhang waren wir weniger zugetan, aber mit dem 'Sport-Club', klein aber fein, konnten wir uns alle identifizieren. (Einige Zeit zuvor, 1958, hatte der 'Sport-Club' mit einer legendären Mannschaft (Szanwald, Barschandt, Jaros, Hasenkopf, Oslansky, Büllwatsch, Skerlan, Knoll, Horak, Hof, Hamerl) Juventus Turin aus dem Praterstadion mit 7:0 heim in den Piemont geschossen zum Weiterüben. Ich erinnere mich an die Radioübertragung. Der Reporter, ich glaube, das war noch Heribert Meisel, wie er in einem ununterbrochenen Redeschwall mit aufgeregter Stimme die Vorgänge schilderte, sodass jedes Foul eines Italieners zu einer grausigen Brutalität wurde und man vor Spannung fast einen Herzinfarkt bekam. Das war Dramatik wie sie später kein Fernsehbild mehr erzeugen konnte. Die Klubfarben des 'Sport-Clubs' waren traditionell Schwarz-Weiß und so wollten auch wir diese Farben tragen. Warum also nicht auch unser Team 'Black and White' nennen? Die Namensgleichheit mit der bekannten Whiskymarke gab allen, die mit uns zu tun hatten, Gelegenheit für mehr oder weniger abgeschmackte Witze, für uns war sie nicht mehr als ein netter Zufall. Schwerer wiegen sollte der Name in seiner Bedeutung als 'Miteinander von Schwarz und Weiß' oder, noch weiter gefasst, unser Protest gegen jede Diskriminierung, also ganz der alte Sportklub-Geist. Tatsächlich hatten wir die Absicht, einen schwarzen Studenten, mit dem einer von uns Kontakt hatte, bei uns mitspielen zu lassen. Was heute in jeder Fußballmannschaft gang und gäbe ist, Spieler in allen Farben der Menschheit, war 1967 noch eine Sensation. Leider konnten wir mit dieser Sensation nie aufwarten, denn der betreffende Student hat sich bei uns nie blicken lassen.

 

Ich bin mir heute nicht mehr ganz sicher, aber ich glaube, wir haben uns als Verein 1968 bei der Behörde angemeldet und die gewünschten Statuten eingereicht. Unser wahres Statut trugen wir, jedenfalls der harte Kern unserer Kollegenschaft, unverrückbar in unseren Herzen.

 

Es wurde festgelegt, dass nach jedem Spiel jeder zum Einsatz gekommene Spieler zwanzig Schilling in die Kassa zahlen sollte, um unsere Finanzen in Ordnung zu halten, und kauften einen (!) Fußball sowie zehn (!) kurze schwarze Cloth Hosen und zehn (!) gleiche weiße Unterleiberl. (Unsere Torleute hatten sich selber zu versorgen.) Meine Oma schnitt ein schmales blau-weiß-rotes Stoffband in zehn kurze Stücke, faltete diese zu einem kleinen 'V', nähte die Vaus auf die Leiberl und unser Outfit war perfekt.

 

Wir hatten uns beim Wiener Fußballverband zur Meisterschaft angemeldet und wurden einer der vier Vierten Klassen zugeteilt. Der Termin des ersten Meisterschaftsspiels rückte näher und mit jedem Tag stieg unsere Nervosität. Die Vernunft hätte uns sagen können, wie die Sache enden würde, wir Greenhorns, einige von uns zum ersten Mal auf einem echten Fußballplatz, gegen meist zwar ältere Semester in ihrer zweiten oder gar letzten Blüte, die aber doch ihr Handwerk gründlich gelernt und nie verlernt hatten. Wir hätten also die Sache ganz ruhig angehen können und doch stach uns gewaltig der Hafer.

 

Als Heimplatz hatten wir, glaube ich, zu Anfang den Platz meiner misslungenen Jugendkarriere, den Olympia-Platz, damals vermutlich schon 'Slovan-Olympia', wahrscheinlich einfach auch, weil er am Josef-Weinheber-Platz lag, fast gegenüber meinem Elternhaus. Das Spielfeld bestand aus festgetretenem Sand, in den Eckbereichen standen armselig und verlassen einzelne Grasbüschel, die dem Spiel eher hinderlich waren. Das wusste ich wohl, weil man von unserem Balkon hinüber zum Platz schauen konnte.

 

Als ich unsere Spielerliste im Verband einreichte, stellte sich heraus, dass ich noch bei 'Olympia' gemeldet war (aus Jugendtagen). Bevor ich bei 'Black and White' spielen konnte, musste ich erst von Slovan-Olympia die Freigabe erlangen. Und das war keine Formsache, sondern mit der Selbstverständlichkeit von Vereinsprofis verlangten die tatsächlich 500 Schilling für meine Freigabe. Was blieb mir übrig? Ich nahm also einen halben Monatsverdienst, kaufte mich selbst frei und stellte damit den ersten Spielereinkauf dar und ich glaube auch den letzten, den 'Black and White' tätigte. Trotzdem blieben wir bei unserer Abmachung mit Slovan-Olympia, unsere Heimspiele der Saison 1967/68 dort auszutragen, auch weil es generell schwierig war, einen Platz als Untermieter zu bekommen. Auch hier bei 'Slovan' mussten wir mit den Terminen vorliebnehmen, die nach der Einteilung der diversen Mannschaften von Slovan und deren Untermieter für uns übrig blieben, doch wir waren froh, wenn das der Fall war.

 

An einem festgelegten Wochentag vor dem Spiel musste ich im Verbandshaus in der Mariahilferstraße den Spieltermin für das Wochenende mit dem Delegierten der Gegnermannschaft vereinbaren. Schon das Stiegenhaus war von einem ungeheuren Krawall erfüllt. Diesem folgend gelangte ich in einen Saal, in dem hunderte Männer zusammengedrängt standen und palaverten und in kurzen Intervallen etwas in den Saal schrien, was bei dem Getöse völlig unverständlich blieb. Von den etwas weiter weg stehenden Männern sah man nur noch die Mimik der Schreie, aber man hörte sie nicht mehr (frei nach Munch), untergegangen im allgemeinen Lärm. Ich drängte mich zwischen die schreienden Männer und mir wurde klar, dass sie den Namen des gesuchten Gegnervereins riefen, um dessen Delegierten zu finden und mit ihm die nötigen Vereinbarungen treffen zu können. Das System schien mir so unerwartet primitiv, dass ich es zuerst gar nicht glauben wollte, aber schließlich blieb mir nichts anderes übrig, als es in gleicher Weise zu versuchen. Ich brüllte so laut ich konnte den Namen des Gegnervereins, hörte mich aber selber kaum. Ich bemerkte, dass es noch einen ähnlich großen Nebenraum gab, wo genau dieselben Umstände herrschten, also versuchte ich es auch dort. Schließlich gab sich der Mann, der genau neben mir stand, als mein gesuchter Konterpart zu erkennen. Auf meine Frage, wieso er nicht "Black and White" gerufen habe, entgegnete er, er habe schon "Black and White" gerufen (er sprach es aus mit 'a' und 'ite'), aber sein Nachbar habe ihm darauf empfohlen, lieber ein Bier zu bestellen, wenn er durstig sei. Schließlich konnten die notwendigen Vereinbarungen getroffen werden.

 

So würde das in den nächsten Jahren jede Woche vor den Spielen gehen. Das System war schrecklich, aber es hatte wenigstens diesen Vorteil: So ruhig und leise wie nach dem Verlassen des Verbandshauses ist mir die Mariahilferstraße, damals noch verkehrsdurchtost, sonst nie vorgekommen.

 

Gelegentlich war ein Spiel gegen 'die Schotten’ zu vereinbaren (Absolventen des Schottengymnasiums). Für die kam ein junger Mann, der "Black and White" korrekt englisch aussprach. Also musste er das Zeug zum Bundeskanzler haben. Ich weiß nicht, ob er auch gegen uns gespielt hat, auf dem Platz trug von den 'Schotten' keiner ein Mascherl.

 

Wie unser erster Gegner geheißen hat, ist mir nicht in Erinnerung, auch nicht, wo das Match stattfand. In Erinnerung ist mir aber die fette Schlagzeile, mit der eine der kleinformatigen Zeitungen, die alle Sportergebnisse brachte, auch vom Fußballunterhaus, am Montag ihren Sportteil aufmachte: 'Rekordergebnis im Unterhaus: 17:0 ! Und da spricht man in Österreich von einer Stürmerkrise'.

 

Ja, es gibt nichts zu beschönigen, die Künstler, die diesen Rekord zustande brachten, das waren wir, 'Black and White'. Es begann schon vor dem Match, als der vom Verband entsandte Schiedsrichter die üblichen Kontrollen vornahm. Unser neuer Ball war ja in Ordnung. Und wo sind die Reservebälle, fragte der Schiri. Re-Re--Reservebälle? Wir waren ja froh, einen aufgetrieben zu haben! Wir hatten ja auch keine Reservemannschaft! Der Schiri überprüfte dann das Outfit der Spieler. Alle mussten die Sohlen zeigen, ob die Schuhstollen regelkonform wären. Damit hatte die Hälfte von uns kein Problem, denn die trugen keine Fußballschuhe, sondern billige Turnpatschen mit kaum Profil. "Auf Rasen könnte ich euch mit diesen Patschen nicht antreten lassen", meinte der Schiedsrichter. "Aber da auf der dürren Gstättn geht das vielleicht. - Und wo sind die Rückennummern?" Waren bei uns nicht vorgesehen. Und wenn schon, er hatte ja auch keine. Der Schiri überlegte sichtlich, ob er das Spiel anpfeifen oder absagen sollte. Alle waren für Anpfeifen. Also gab er nach und das Match konnte beginnen.

 

Am Anfang legten wir uns tüchtig ins Zeug und wehrten uns nach besten Kräften gegen die rollende Übermacht. Es stand zur Pause auch erst 5:0 für die Gegner, nicht zuletzt, weil die viele Chancen verpatzten. Dann ließen unsere Kräfte aber nach, das Glück verließ uns und dazu kam noch manches Pech, und so hatten die Gegner ihren Spaß mit uns. Resultat wie von der Zeitung gemeldet. Der Schiedsrichter sagte am Ende zu uns: "Buam, ihr sads ja liab, aber kickn könnts ös net." Wir blieben in der Kabine sitzen, sangen und kühlten unser Mütchen mit Bier.

 

Um einem neuen Skandal wegen fehlender Rückennummern beim nächsten Spiel aus dem Weg zu gehen, schnitt ich aus Stoff die Nummern aus, aber der Stoff war weiß, genau wie unsere Unterleiberl, daher nähte meine Oma die Ziffern nicht auf die weißen Trikots, sondern seitlich an die schwarzen Cloth Hosen. Junges Team, junges Design.

 

Mit den nummerierten Hosen ging die Post erst so richtig ab. Zu unserer eigenen Überraschung gewannen wir unser zweites Spiel 3:2. Die Ursache war vermutlich, dass diese Gegner ebenso wie wir ihre allererste Meisterschaftssaison spielten. Nach unserem Einstieg ans Tabellenende fanden wir uns nach diesem Sieg unerwartet im Mittelfeld wieder und zwar mit dem unglaublichen Torverhältnis von 3:19. Die Freude über den guten Tabellenplatz währte nur eine Woche, denn danach hatte uns die Realität wieder und unsere nächsten Resultate bewegten sich zuerst um die zwölf kassierten Tore, dann um die acht, Tendenz fallend. Langsam passten wir uns den Verhältnissen an und in der Frühjahrssaison gab es zwar ein paar Spiele, wo wir noch je vier Tore einstecken mussten, aber doch auch schon knappere Ergebnisse hatten und ich glaube, sogar den einen oder anderen Sieg. Jedenfalls gewannen wir, und das war mir sehr viel wert, den Pokal für die fairste Mannschaft in unserer Gruppe. Ein Titel ohne Mittel.

 

Eine berechtigte Frage mag sich aufdrängen: Wie schafft es ein Tormann, bei einer Mannschaft zu spielen, die so inferiore Abwehrleistungen bietet? Na ja, an den ersten Tormann erinnere ich mich schlecht, ich glaube, das war der Bruder eines meiner Arbeitskollegen (Anm. für Meine-Schmisse-Leser: Stefan Raths Bruder). Der bewegte sich wie ein richtiger Torwart, warf sich in die Ecken ohne Rücksicht auf die harten Landungen und hinauf in die Kreuzecken. Doch begann, als er die Lage bei 'Black and White' erkannte, bald seine Begeisterung fürs Tennis zu überwiegen, und er war dann kaum noch für Einsätze in unserem Tor zu haben.

 

Aber gottseidank hatten wir ja auch noch unseren Muffi. Er wurde so genannt, weil er die Gewohnheit hatte, überall so einen Schlumpf hinzuzeichnen. Er hatte in unserer Klasse maturiert und studierte nun Maschinenbau. Sein Interesse galt zwar der klassischen Musik und sein Berufswunsch ging auch in diese Richtung, aber sein gestrenger Herr Papa bestand darauf, sein Sohn müsse etwas 'Vernünftiges' lernen. So beschränkte sich Muffis Musikleidenschaft auf häufige Besuche der Staatsoper auf den Stehplätzen. Dort findet man in Wien das fachkundigste, aber auch kritischste Publikum des Musiktheaters und nicht wenige später berühmte Künstler blicken auf jene Anfangsstation ihres Berufsweges hinter der letzten Sitzreihe im Parkett oder oben auf der Galerie zurück, siehe beispielsweise Marcel Prawy. Aus unserer Klasse gehörten neben Muffi noch weitere Mitschüler der verschworenen Gemeinde der Stehplatzoperanten an, nicht zuletzt der Lupo, selbstverständlich ebenfalls Spieler von Black and White. Das Zuhören im Saal war den Beiden bald nicht mehr ausreichend und sie bewarben sich erfolgreich fürs Statieren, wo sie selbst Teil des Geschehens auf der Bühne und in nächster Nähe der Stars sein konnten.

 

Dieser Muffi also, knappe zwei Meter hoch und mit seinem Oberkörper, der unser Tor schon beträchtlich verkleinerte, stellte sich trotz bekannter Ergebnisserie in den Kasten und ertrug mit Tapferkeit die Plagen dieses Daseins. Ertragen hat er es, weil auch er sich mit dem ungeschriebenen Statut unserer gemeinsamen Sache identifizieren konnte. Natürlich meldeten sich auch seine Emotionen, wenn es ganz blöd herging. Als damaliger rechter Verteidiger und später Libero, also oft unmittelbar verantwortlich für die Misere, habe ich heute noch seinen Ruf in den Ohren, "du Troooottlll !" Auch in der Dusche nach dem Match probierte Muffi seine Stimme aus. Manche singen ja gern in der Badewanne, denn besonders im Badezimmer ist die Akustik oft stimmlichen Äußerungen sehr förderlich. Aber in der Duschanlage eines Fußballplatzes, bei drei offenen Brausen und zehn oder so nackten Männern kann man nicht wirklich von guter Akustik sprechen. Trotzdem waren was der Muffi da aus seinem Brustkorb entließ schon erstaunliche Klänge. So kam es, dass Muffi sich entschlossen hat, neben seinem Technikstudium eine Gesangsausbildung zu absolvieren und, Schritt für Schritt, ist aus dem Black and White-Stimmathleten Muffi, der weithin bekannte Bariton Peter Weber geworden, packend in dramatischen Rollen ebenso wie einfühlsam in den lyrischen und immer bereit für das Neuland der modernen Literatur. Nürnberg, Glyndebourne, Hannover, sogar Buenos Aires waren, nach meiner lückenhaften Erinnerung und vielleicht in anderer Reihenfolge, wichtige Stationen auf seinem Werdegang zum Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper. Nicht zu vergessen seine Begabung als Erik-Werba-geschulter Liedinterpret.

 

Lupo habe ich vorhin erwähnt, den damaligen Studenten der Bodenkultur. Lupo (Karl Wolf) stammte aus Apfelwang in Oberösterreich. Lupos Begeisterungsfähigkeit war immer bedächtig, natürlich auch auf dem Fußballfeld. Man stelle sich einen Beamten vor, etwa den Leiter des Patentamts (der er später werden sollte) - so hat Lupo Fußball gespielt. Trotzdem war er eines der liebenswertesten Mitglieder unseres Kreises. Immer für uns da, auch wenn er nicht aufgestellt war, sah man ihn durchaus auch einmal als Schiedsrichterassistent an der Seitenlinie und ich habe ihn in Erinnerung, wie er dabei einmal anstatt einer Fahne eine Doppelliterflasche schwang.

 

Noch ein Ereignis sehe ich vor mir: Lupo und Pods, der Architekturstudent Peter Podsedensek, bewachen einen Gegner. Der Ball kommt hoch auf diesen Gegner zu, der deutet einen Sprung an, aber angesichts zweier entschlossener Black-and-White-Schergen überlegt er es sich wieder und bleibt sicherheitshalber unten. Hoch hingegen springen Lupo und Pods und an der höchsten Stelle krachen ihre beiden Schädel gegen einander, worauf beide ohne merkbare Abwehrreaktion zu Boden stürzen. Lupos Ampfelwanger ist hart, aber auch im Nehmen. Er ist nur einen Augenblick benommen und kommt gleich wieder zu sich. Pods hingegen müssen wir hinaustragen und dort versuchen wir, ihn wieder zu Bewusstsein zu bringen. Wie das Spiel inzwischen läuft mit zwei, drei Mann weniger, ist uns doch wirklich egal. Wir bringen ihn in die Kabine und besprengen ihn mit Wasser. Endlich erwacht Pods allmählich aus seiner Bewusstlosigkeit. "Was ist denn, warum arbeiten wir denn nicht?" wundert er sich. Klarer Fall, retrograde Amnesie, kein Erbrechen, also keine Gehirnerschütterung, aber eine starke Kopfprellung. Weiter spielen nicht empfehlenswert, aus gesundheitlichen Gründen. Wir haben einen Ersatzspieler mit, besitzen aber immer noch nur zehn Dressen. Pods muss sich in seinem Dämmerzustand noch mehr gewundert haben, als ihm der Ersatzspieler, ich glaube es war Rudi, leise, aber eindringlich zuflüstert: "Pods, ziag de Wesch aus!"

 

Einmal machten wir eine Ausfahrt in die Steiermark. Ich hatte in Judenburg Bekannte nach meinem Aufenthalt als Präsenzdiener im benachbarten Zeltweg (Anm. für Meine-Schmisse-Leser: Familie Brehm) und so wurde ein Match gegen eine Judenburger Juniorenmannschaft organisiert. Die waren zwar nicht die alten Füchse, die wir mittlerweile gewohnt waren, dafür physisch so austrainiert, dass da keiner von uns herankam. Sie zogen uns also gehörig vom Leder. Lustig war nur, dass die vorher auf Plakaten angekündigt hatten, die Whyskymannschaft aus Wien könne beäugt werden. Es waren also eine ganze Menge Zuschauer da. Eine ganz neue Atmosphäre für uns. Die Zuschauer hatten viel Spaß an unserer für sie - sagen wir - unkonventionellen Spielweise und ganz besonders ins Herz geschlossen haben sie Lupo, so sehr, dass in Judenburg, so berichteten mir meine Bekannten, noch lange Zeit nach unserer Partie ins Spielfeld gerufen wurde, wenn die Zuschauer einen Spieler humorvoll kritisieren wollten: "Du spüist ja wia da Lupo!"

 

Lupo war vielleicht von uns allen am engsten befreundet mit Rudi, unserem Problemfreund. Rudi Höss war ein kleiner, schmächtiger Bursche, aber schnell und gefinkelt, unser bester Dribbler. Schon zu Schulzeiten hatten wir Spaß daran, Alkohol zu trinken, verrückte, ja auch dumme Streiche zu machen und verbotene Lieder zu singen, die Rudi uns vorgesungen hatte. Rudis Vater dürfte eine Nazivergangenheit gehabt haben. Er war aber nicht jener berüchtigte Rudolf Höss von Auschwitz, sondern hieß Otto). Als 'Sport--Club'-Spieler hat er auch mehrmals in der Nationalmannschaft mitgewirkt.

 

Was wir anstellten, waren für uns harmlose Scherze, bei denen wir nichts Ernsteres empfanden als schon erstes Erwachen von kritischem Hinterfragen. So war es anfangs auch für Rudi. Aber Rudi geriet trotz seines Verankert Seins in unserer Runde immer tiefer in die Bredouille. Bald hatte er ein Alkoholproblem, zuerst ohne es zu merken, denn getrunken haben wir ja alle mehr oder weniger, wir wohl aus Übermut, doch im klaren Bewusstsein von Grenzen, er aber zweifellos immer mehr und ohne Selbstkritik für seine sich stets steigernde Abhängigkeit. Er nahm diverse unterqualifizierte Jobs an, aber nicht um nebenbei zu studieren. Die ließ er bald wieder sausen oder er verlor sie. Er geriet in die Gesellschaft von Menschen, die dasselbe Problem hatten und einer Frau, der es ebenso ging. Und eines Tages kam der Blitzschlag: Rudi hatte schwer alkoholisiert und in einem Anfall von Eifersucht diese Frau erstochen.

 

Für uns unerfahrene junge Männer kam das wirklich ganz unerwartet. Es war uns das eine bittere Lehre und wir machten uns Vorwürfe, dass wir es in unserem Umgang mit Rudi nicht erfasst hatten, wie gefährlich sich die Lage zuspitzte und dass wir versäumt hatten, helfend einzugreifen. Ein Totalschmiss also. Wir organisierten einen Anwalt für Rudis Verteidigung und besuchten ihn nach seiner Verurteilung gelegentlich im Gefängnis. Zu spät versuchten wir, unser Versagen wettzumachen. Nachdem Rudi aus der Haftanstalt entlassen und in Bewährungshilfe war, nahmen wir, meine erste Frau und ich, ihn bei uns auf. Wir wussten, dass es selbst oder gerade nach den Jahren im Gefängnis sehr schwierig sein würde, ihn von der Alkoholkrankheit zu befreien. Meine Frau und ich haben alles Mögliche versucht, haben selber überhaupt keinen Alkohol mehr getrunken und alles aus dem Weg geräumt, was ihn dazu verleiten hätte können. Ich habe versucht, mit Rudi gemeinsam das Erlebte zu verarbeiten. Wir sind miteinander auf der Bettkante gesessen und haben gedichtet.

  

Vier Schritte auf, vier Schritte ab.

Nicht größer ist des Teufels Grab.

Meter um Meter wird vermessen.

Sitzen, saß gesessen.


Doch wenn wir aus der Wohnung gehen mussten, sahen wir schon, wie Rudis Blick vom Fenster hinunter glitt zum Gasthaus und wenn wir heimkamen, war Rudi wieder alkoholisiert. Und eines Tages kehrte Rudi gar nicht mehr in unsere Wohnung zurück. Er nahm diverse Jobs an wie Nachtportier oder Totengräber. Da machte es ihm auch nichts aus, die verschossenen Bälle zwischen den Gräbern des Hetzendorfer Friedhofs zurückzuholen. Das war notwendig, als wir, zwei Saisonen glaube ich, einen Fußballplatz in Hetzendorf als Heimplatz hatten. Der grenzte unmittelbar an den Friedhof und es gab kein oder nur ein unzureichendes Fangnetz, sodass der Ball mehrmals in einem Match zwischen den Gräbern verschwand. Was lernen wir daraus? Ein Fangnetz kann nie hoch und breit genug sein, wenn es sich in der Nähe von Black & White-Spielern befindet. Rudi ist nur vierzig Jahre alt geworden. Er ist 1986 gestorben.


 

 Die Samariter

 

Zu speisen und zu kleiden

den schwer verletzten Mann,

das sahen sie mit Freuden

als Christenpflichten an.


Doch wer nennt ihr Erstaunen,

als jener plötzlich schrie:

Lasst ab von euren Launen!

Solch Hilfe hilft mir nie.


Der Mantel wird zur Fessel,

zu Gift mir euer Fraß.

Mich brennt der Wohltat Nessel.

Mein Elend macht mir Spaß!

 

Vom Schlimmen lasst mich singen,

wenn auch es mich zerstört.

Euch volle Krüge klingen

Hat niemand je gehört.

 

Dies drängt die guten Leute

In die Gewissensnot,

wie man den Tropf befreite.

Da schlugen sie ihn tot.

  


In den Passagen über die Beserlpark-Ära habe ich Heinz erwähnt. Heinz war auch bei den Sängerknaben, aber in einem anderen Chor als ich. Mit seinem Chor war er viel besser dran, denn die hatten eine Japan-USA-Tournee. Meine weiteste Reise ging 'nur' nach England. Heinz, wie ich Sopran, war Solist, ich nur äußerst selten. Gleichzeitig mit Heinz habe ich mich mit Ladi angefreundet, aber meine Freundschaft mit Heinz war dann doch die engere geworden. Er spielte bei uns im offensiven Mittelfeld oder im Sturm. Seine Spezialität waren 'Fersler'. Die waren bei den Gegnern besonders beliebt, weil für sie oft ideale Vorlagen für sie geworden sind. Sein Vater war Großvertreter, ich glaube für landwirtschaftliche Maschinen, aber nebenbei war er auch Nationalligaschiedsrichter. Daher kannte Heinz die Gepflogenheiten bei einem Match im Praterstadion ganz genau und er lud mich des Öfteren ein, ihn dahin zu begleiten. Karten hatte er keine, aber er befahl mir nur, knapp hinter ihm zu gehen und niemanden anzuschauen. Das tat ich, als wir beim Tor zur Ehrentribüne hinein marschierten und zielsicher auf den besten Plätzen im Stadion Platz nahmen. Aufgehalten hat uns niemand jemals, aber hin und wieder wurde vor uns salutiert. In einem unserer frühen Black & White-Jahre überredete Heinz seinen Vater, unsere Mannschaft zu coachen. Etwas verzweifelt sah er sich an, wie wir spielten, aber dann hatte er offenbar einen Schlachtplan gefasst. Es war ihm klar, dass es keinen Sinn hatte, sich mit unserer Technik zu befassen, daher konzentrierte er sich auf unsere Psyche. Unbedingtes Wollen war es, was wir in jeder Lage hervorkehren müssten, unbedingtes, also wirklich unbedingtes Wollen. Er stellte uns so eindringlich darauf ein, dass es uns in den zwei, drei Spielen, in denen er uns betreute, tatsächlich besser ging als sonst. Seine Trainerlaufbahn bei Black & White dauerte nicht lang und leider auch nicht die Laufbahn von Heinz, denn Heinz heiratete bald eine ganz süße Steirerin, um gleich danach mit ihr nach Südafrika auszuwandern. Dort ging es ihnen gut, wie ich später bei einem Besuch feststellen konnte. Ulli hatte eine Stelle als Sekretärin in einem großen deutschen Konzern und Heinz sein Hobby zum Beruf gemacht, er handelte mit Stereoanlagen, die er aus Europa und den USA nach Südafrika importierte, nur die allerteuersten, versteht sich. Sie lebten bei Johannesburg in einem riesigen Bungalow mit Pool und Tennisplatz, mit einer Haushälterin und schönen Hunden. Gern besuchten sie immer wieder die Wildreservate im ganzen südlichen Afrika.

  

Die Wiener Sängerknaben wurden in ihrer Internatsschule im Augarten unterrichtet und mussten jedes Jahr eine externe Prüfung über den Lehrstoff ablegen, das fand eben im BRG VIII Albertgasse statt. Nach dem Stimmbruch verließen sie das Konvikt und die meisten setzten ihre Schulbildung in ebendiesem Gymnasium fort. Daher fand ich dort etliche Ex-Kollegen vor und einige davon wurden auch Black & White-Spieler. Heinz habe ich schon erwähnt, Ladi war nicht zu uns gestoßen, er bemühte sich um eine musikalische Karriere. Ich hörte später, dass er beim Stadttheater in Baden zuerst Korrepetitor, dann musikalischer Leiter gewesen wäre, doch war das Engagement kurz, wohl wegen seines slawischen Temperaments. Das wäre ihm sicherlich auch bei Black & White in die Quere gekommen. Ich fürchte, er hätte die Gegner, den Schiedsrichter und letztlich uns alle zerfetzt.

  

Ein weiterer Ex-Sängerknabe war der 'Bulle', ein kompakter, strammer Bursche namens Helmut Reitmeier aus Liesing. Von ihm erhielt die Mannschaft, was ihre Verteidigung an Standfestigkeit benötigte. Auch der 'Punkt' (Nadler) war so einer, noch robuster als der Bulle, ein Stürmer mit Zug aufs gegnerische Tor, aber leider nur wenige Male bei uns im Einsatz. Der Bulle wurde ein Banker, aber kein Finanzhai, sondern grundsolider Controller. Seine Leidenschaft, das Singen setzte er als Mitglied des Wiener Singvereins bis heute fort, einem der profiliertesten und meist engagierten Vokalensembles Wiens.

  

Sängerknabenvergangenheit hatte auch Erich Sillipp, die 'Mumie' (weil er immer schon alle Extremitäten, die dafür in Frage kamen, dick bandagiert hatte, teils vorsorglich, teils wegen Wehwehchen). Erich war unser Sindelar, so papieren wäre er ohne Bandagen gewesen. Aber man soll sich nicht täuschen, seine Durchsetzungskraft war nicht gering und als Verteidiger hatte man gegen ihn kein leichtes Leben. Außerdem war Erich ein wandelndes Sportlexikon. Es war verblüffend, wie er aus der größeren Sportwelt Einzelheiten wie Resultate, Aufstellungen, Zeiten, etc. aus dem Gedächtnis abrufen konnte.

  

Ein anderer Erich wurde von uns 'Eros' gerufen. Das ging wohl auf die Maturareise meiner Klassenkameraden nach Griechenland zurück und außerdem hatte Eros für uns junge Männer in den späten Sechzigern noch etwas Sensationelles. Eine Ohrfeige hat mich auf ihn aufmerksam gemacht. In den Pausen zwischen den Unterrichtsstunden rannte ich mit meiner Fahrradpumpe durch den Korridor und blies den Mitschülern Luft ins Gesicht (sinnvolle Pausenbeschäftigung!?), da haute mir der Eros eine runter. Ich war beleidigt und ging nach Schulschluss zur Wohnung seiner Eltern, ein paar Schritte die Albertgasse hinunter, wo ich mich bei Eros' Vater über die Watschn beschwerte. Zu meiner Entrüstung war er nicht besonders beeindruckt. Das Schamgefühl für diese wenig ehrenhafte Aktion hat mich lange Zeit begleitet, wie man sieht, bis heute, und ich habe daraus gelernt. Später wurde Eros mein Zahnarzt, den ich während meiner langzeitigen örtlichen Abwesenheit aus Wien bitter vermisste.

  

Die aktive Zeit von Black & White dauerte zehn Jahre, bis 1978. Viele Teilnehmer waren wir von Anfang an nicht und, wie das Leben es so will, haben Ehefrauen, Migration oder andere Umstände uns den einen oder anderen teilweise oder ganz geraubt (Pods, Muffi, Heinz, Rudi und andere). Zwar konnten wir die Abgänge stets ersetzen, immer durch sehr nette Burschen, aber Black & White wurde immer mehr zu einem gewöhnlichen Fußballverein und das ganz besondere Flair der Jugendkameradschaft schwand zusehends.

  

Auch begann ich davon genug zu haben, an verregneten Sonntagvormittagen wie ein Wildschwein im Morast zu wühlen, während meine Frau sich eine Matinee im Musikverein gab, oder wenn ich danach den Koffer mit der stinkenden Fußballwäsche in den vierten Stock (ohne Lift) schleppen musste (niemand macht sich einen Begriff, welches Gewicht so ein Ding nach neunzig Minuten Fußball und zwei Bier annimmt!), mit der Frau wegen der Wäsche zu argumentieren und fortan eine öffentliche Wäscherei zu verwenden; es verantworten zu müssen, wenn am Sonntagvormittag elf Leute auf einem Fußballplatz feststellten, dass sie ohne Fußballbekleidung sind, weil niemand den Koffer aus der Wäscherei geholt hat; bestückt mit einem Gipsverband an der Hand ein Match schiedsrichtern zu müssen, wobei am Ende die Spieler mir zur gebrochenen Hand noch einen Gips am Kopf versprachen; mit einer ganzen fremden Hobbymannschaft um die Platzbenützung streiten zu müssen, weil der Platzwart irrtümlich überbuchen hat lassen, sodass man am nächsten Tag in der Zeitung lesen konnte: 'Hobbyfußballer verjagten Vollprofis'; und so weiter und so fort. Und so sah ich mich eines Tages an einem Gasthaustisch mitten unter vielen anderen Gästen, die ihre Ohren spitzten, meinen Freunden eine Grabesrede vorlesen, die Beerdigung von Black & White. Da kam in etwa all das vor, was ich heute, fünfunddreißig Jahre später, hier aufgeschrieben habe.

  

Einer mag jetzt, am Ende der Story, ein enttäuschtes Gesicht machen. Einer, der hier nicht vorgekommen ist und der doch an erster Stelle gemeint ist, immer wenn ich in diesem Bericht 'wir' sagte. Einer, der schon dabei war, als der Professor Fuchs sein langgezogenes "Jaaaa!" ausstieß. Einer, der wie eine Klammer ein ganzes Heft zusammenhält, unauffällig an der Rückseite, und ohne den das Heft im Wind zerfledderte, was sich nicht nur auf Black & White bezieht, sondern auf die Gemeinschaft unserer Schulklasse im Allgemeinen, deren mehrere Kreise in ihm den ruhenden Pol finden und die, Zentrifugalkräften folgend, sich längst verflüchtigt hätte, würde seine unmerklich aber stetig wirkende Gravitation dem nicht Einhalt gebieten. So möchte ich diese meine Erinnerungen diesem Einen widmen, der sie auch initiiert hat im Zuge eines viel weiterreichenden Erinnerungswerks. Helmut Hauer, unser Mittelstürmer Hömmerl, ihm danke ich für seine viel geprüfte und dennoch nie in Frage gestellte Freundschaft durch ein ganzes Leben und wünsche ihm viel Erfolg und uns Freude mit seinem Lebensbuch, 'LebensKarriere an der J-Wagen-Linie' , dem eigentlichen Anstoß für mich, diese Erinnerungen aufzuschreiben.


* * *

Das intensive Ausleben des sportlichen Hobbys konnte letztlich die relative Leere meiner Erwerbstätigkeiten nicht ausgleichen. Meine Nostalgie nach dem Car Rental wurde immer stärker. Nachdem über das unrühmliche Ende meiner Karriere bei Hertz genügend Gras gewachsen war, heuerte ich bei einem lokalen Autovermieter an. Care Autovermietung gehörte einem deutschen Unternehmer namens Horst Raule und war ein Ableger der gleichnamigen deutschen Firma. In Österreich war Wien der einzige Standpunkt. Das Lokal lag in der Einsiedlergasse in Margareten. Wieder war die Infrastruktur katastrophal. Das Publikum war nicht jenes internationale von Hertz. Hierher kamen Kunden, die rasch einmal ein günstiges Fahrzeug brauchten oder bei einem diskreten Vorhaben unerkannt bleiben wollten. Auch zweifelhafte Gestalten waren darunter, die bei Hertz klar abgewiesen worden wären. Hier aber war jeder willkommen, der seine Miete mit einiger Wahrscheinlichkeit bezahlen würde. Trotzdem waren die Ausfälle an pünktlicher Rückgabe und Zahlung ziemlich hoch. Das Personal war gleichfalls von anderem Zuschnitt. Die Dame, die zu den üblichen Bürozeiten Dienst machte, hatte die Ausdrucksweise und den Humor einer Urwienerin. Sie hätte die Sopherl vom Naschmarkt oder auch Mundls Tochter sein können. Es gab keinen klaren Filialleiter. Herr Raule war oft persönlich da und kümmerte sich ansonsten vom fernen Schwaben her um sein Geschäft. Sein Quasi-Vertreter war ein winziges, dünnes Bürschlein. In seinen korrekten Anzügen sah er aus wie ein Mafioso in fünfzig Meter Entfernung. Er war jedoch ein anständiger Kerl, der vernünftige Entscheidungen traf und einen guten Job machte. Mit ihm zusammen habe ich manchen Wagen unter Einsatz des Reserveschlüssels und Bedrohung unserer körperlichen Unversehrtheit den Klauen von Typen entrissen, die das Mietobjekt sehr rasch als ihr persönliches Eigentum ansahen. Mit nur solcher Klientel hätte Herr Raule eher bald wieder zusperren müssen. Er fand aber ein sichereres Standbein. Der Verkehr nahm überall ständig stark zu und mit ihm auch die Unfälle. Raule sprach die Halter von Unfallfahrzeugen an, denen ein Ersatzwagen auf Kosten des Verursachers zustand. Den Kunden versprach er, den ganzen Papierkram mit der Versicherung zu erledigen. Das zog. Raule wurde zu einem der ersten 'Unfallhelfer'. In Deutschland hatte das System sich bereits durchgesetzt. Warum sollte es nicht auch in Wien funktionieren? Wir arbeiteten mit vielen Wiener Karosseriewerkstätten zusammen. Die freuten sich über die rasche Bezahlung ihrer Rechnungen, weil wir sie über eine Bank vorfinanzieren ließen. Sie machten die Kunden daher gern auf unseren Service aufmerksam. Dafür bekamen sie eine Provision. Am Monatsende tourten wir durch Wien mit den Provisionsgeldern in Kuverts. Es ging nicht immer glatt mit den Versicherungen. Anfänglich bestritten sie den Anspruch auf solche Nebenleistungen grundsätzlich. Aber die Gerichte gaben uns ebenso grundsätzlich Recht. Also argumentierten sie auf Teufel komm raus über das Verschulden und andere Einzelheiten. Unser Service trieb ihre Schadenkosten in die Höhe. Ihr Widerstand war erbittert. Mir tat sich damit plötzlich eine Materie auf, die mich immer schon interessiert hatte. Ich vertiefte mich in die rechtlichen Aspekte der Streitigkeiten, seien sie versicherungs- oder verkehrs- oder schadenersatzrechtlicher oder vertraglicher Natur, las viele Prozessakten, studierte die einschlägige Rechtslage und die Rechtssprechung. Ich lernte viele Wiener Anwälte kennen, Verkehrsrechtler, mit denen ich die anhängigen Fälle besprach.


Dieses ungewöhnliche Jus-Studium fesselte mich ganz und gar und ich betrieb es mit allem Eifer. Allerdings vermisste ich mit der Zeit das Flair des Internationalen und die Auslandsfahrten. Ich bemerkte, dass mein Englisch begann, sich zu verabschieden. Als ich in der Zeitung die Anzeige las, dass Avis Schalterkräfte suchte, zögerte ich nicht mit meiner Bewerbung. Mit meinen Erfahrungen auf dem Sektor konnte ich sofort anfangen. Fortan trug ich statt der gelben Jacke mit dem etwas präpotenten Anstecker 'Nr. 1' jenen mit der motivierenderen Behauptung 'We Try Harder' auf dem roten Jacket des weltweit zweitgrößten Autovermieters. Im Betrieb unterschieden sich die beiden Unternehmen kaum, abgesehen von der Zusammensetzung der Flotten. Hatte Hertz stark mit General Motors kooperiert, setzte Avis als Kontrast dazu auf Ford, wobei im Laufe der Zeit diese Präferenzen sich hin und wieder umkehrten. Das Stadtbüro befand sich im Opernringhof und verfügte dort über einige Stellplätze in der Tiefgarage. Die Tätigkeit unterschied sich kaum von jener bei Hertz. Die Autos waren inzwischen etwas moderner und mein jugendlicher Übermut etwas abgeschliffen. Meine Unfallhelfererfahrungen leisteten mir wertvolle Dienste, denn Avis griff das Konzept für sich auf. Die hektische Überlastung beschränkte sich ja auf die touristischen Hochsaisonen. Die Saure-Gurken-Zeit sollte mit dem lokalen Versicherungsgeschäft nun nicht ganz so sauer sein. Mit meinen Kenntnissen des Metiers blieb ich nicht lange Rental Agent und leitete bald das Stadtbüro in der Operngasse und später die Airport Station. Als Station Manager hatte man nicht nur den Betrieb der Geschäftsstelle zu organisieren, sondern versah auch ganz regelmäßig Schalterdienst. Überhaupt packte man überall an, wo es notwendig war, wie ich es schon von Kreitner gelernt hatte. Damals hatte der Begriff Manager noch Wohlklang in meinen Ohren und war weit entfernt von der Geringschätzigkeit, die ich heute für Träger dieser Berufsbezeichnung empfinde, wegen ihrer in Selbstüberschätzung vor sich hergetragenen Überheblichkeit und ihrem Streben nach dem eigenen Vorteil ohne Rücksichtnahme auf irgendetwas, schon gar nicht auf das Unternehmen.


In den ruhigen Abendstunden in der Ankunftshalle, wenn ich auf späte Kunden zu warten hatte, habe ich ganz gewiss dafür gesorgt, dass alle Ankommenden dem Flughafen Wien ein besonderes Flair zugeschrieben haben, denn sie wurden mit Musik von Mahler oder Bruckner empfangen, die nicht gerade leise aus meinem Kofferradio tönte. Die Musik hatte ich für den Eigenbedarf eingestellt, doch hoffe ich, dass wenigstens in einigen wenigen Reisetagebüchern vermerkt sei, wie sich das Eintreten in die Vorhalle Wiens angefühlt hat unter den Klängen Bruckners.

* * *

Victor Cantonati ist Car Jockey, nicht mehr ganz jung an Jahren, die Schläfen schon grau, aber jung geblieben im Herzen. Er dürfte italienische Wurzeln haben, sein Name deutet darauf hin, ebenso sehr aber sein sonniges Gemüt, Herzlichkeit im Umgang mit Kunden und Kollegen und jederzeit für einen Spaß gut. Eines Tages Ende Februar kommt Victor mit der Nachricht, dass es da eine Party gebe, wo noch Männer erwünscht seien. Klar, dass man den Damen, wer immer sie sein mögen, ihren Wunsch erfüllen muss. Ich rufe meinen Freund Bernd Kozlik an. Auch er ist gern dabei und wir drei verabreden uns für den Abend, um in einer Wohnung in der Lerchenfelder Straße den feierlaunigen Frauen Gesellschaft zu leisten.


Ernst nehmen wir das Vorhaben nicht. Eher rechnen wir damit, ohnedies nicht lange zu bleiben und uns anschließend zu dritt in einem Lokal über die Grazien lustig zu machen. In der Wohnung treffen wir auf vier oder fünf Damen, alle Mitte zwanzig, nur eine ein paar Jahre älter, alle elegant gekleidet, und zwei oder drei Herren, alle um die dreißig, in Anzügen, von denen sie die Sakkos schon abgelegt haben. Die Krawatten sind noch dran. Wir drei hingegen sind casual geblieben. Wer kleidet sich heute noch festlich für eine Party ohne besonderen Anlass? Doch, Italiener schon, damals.


Italiener sind mir sowieso suspekt, wenn ich an deren Verlässlichkeit und Arbeitsmoral denke, wie ich sie bei Hertz Italien angetroffen habe. Und daran, was Uschi Brehms Vater von ihnen gehalten hat. Wenigstens waren es keine alten Schachteln, wie die eigenartige Werbung um männliche Partygäste vermuten hat lassen. Wir erfahren, dass es sich bei der Gesellschaft um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Italienischen Außenhandelsinstituts handelt, kurz ICE. Die übliche Partystimmung. Schlagermusik, Zigaretten, Snacks und Drinks.


Von da an beginnt meine Erinnerung allmählich zu verblassen. Ein Fading setzt ein wie in manchem Kinofilm. Etwas ruft in mir die bezaubernde Szene aus West Side Story ab, als Tony bei dem öffentlichen Tanzabend zum ersten Mal Maria erblickt - und diese Tony. Als würde jemand sehr bedächtig ein paar Schieberegler betätigen, wird zuerst die Tanzmusik leiser, noch etwas langsamer die Umgebungsgeräusche. Dass sie länger bestehen bleiben als die ausgelassene Tanzmusik, gibt der Szene etwas Unwirkliches. Gleichzeitig verliert die Kamera an Schärfe. Und an Farbe. Immer weniger Schemen huschen schwarzweiß durchs Bild. Nur Maria steht still da in aller Klarheit in ihrem einfachen weißen Kleid mit roter Schärpe um die Taille. Staunend blickt sie nach Tony, auch er in aller Schärfe und Technicolor. Noch steht er in einiger Entfernung am anderen Ende des Turnsaals, der an diesem Abend das Tanzevent beherbergt. Maria und Tony blicken einander an und es gibt für sie beide keinen Zweifel, dass nur sie beide füreinander bestimmt sind. Neuerlich verschwimmt die Einstellung, aber die Schärfe kehrt zurück. Marias Kleid ist jetzt dunkelblau. Alles andere bleibt unscharf. Partygeräusche schwanken in ihrer Lautstärke, kommen herüber wie aus weiter Ferne. Maria möchte mir offenbar ein Glas Prosecco reichen. Ihre Hand mit dem dünnen silbernen Armbändchen bewegt sich kurz mir entgegen und hält in dieser Stellung inne, als habe sie die Kraft verlassen. In Zeitlupe strecke ich meinen Arm aus. Maria steht jetzt in meiner Nähe, aber nicht nah genug. Ich erreiche das Glas nicht. Nichts hindert uns, einen Schritt auf einander zuzumachen, aber wir tun es nicht. Wir blicken einander in die Augen, staunend, ohne zu lächeln. So friert diese Einstellung ein.


Ich kann nicht sagen, wie lange das Standbild so dagestanden ist. Victor muss an uns herangetreten sein, wohl um uns einander vorzustellen. Maria, ich weiß. Nein, Anna Maria. Die Erstarrung löst sich. Die Partygeräusche kehren zurück. Statt der Hand reicht sie mir jetzt das Sektglas. Ihre ganze Spannung ist gesammelt in ihren dunkelbraunen Augen, die in meinen Blick versenkt sind. Da bleibt ihr keine Kraft für die schlaffe Hand, aus der ich das Glas im letzten Moment rette, bevor es zu Boden fallen kann. Ein wenig Prosecco rinnt kalt über unsere warmen Hände. 


Anna Maria muss sich um andere Gäste kümmern. Im Wegbewegen bleibt ihr Blick in meinen Augen, bis sie ihn abwenden muss, um keinen Unfall zu erleiden. Sie ist jetzt weit weg von mir. Zwei Meter. Viel zu weit. Meine Augen verfolgen sie. Jetzt erst erfasse ich Einzelheiten. Ihr ausdrucksstarkes Gesicht scheint blass mit dem farblosen Lippenstift als einziges Makeup. Ihr dunkelblondes Haar ist glatt geföhnt, etwas über nackenlang.  Das dunkelblaue Kleid ist ärmellos. Es fällt auf, dass es bis unter die Knie reicht und das ist für die Mode Ende der Sechzigerjahre ungewohnt lang. Ich bin kein Modekenner, aber das einfache Kleid scheint mir selbst genäht. Ein extrem breiter Gürtel aus weißem Kunststoff umfasst sehr locker ihre Hüften. Eine zu große, infantile weiße Schmetterlingsmasche steckt daran. Sie scheint mir kleiner als ich. Vielleicht liegt es daran, dass sie über den Nylons keine Schuhe trägt. In Partystimmung scheint sie nicht zu sein.


Anna Maria raucht und trinkt. Die Witze der italienischen Herren verstehe ich nicht, aber die Italienerinnen lachen laut auf. Cantonati macht Witze auch auf Deutsch. Alle lachen, aber Anna Maria zeigt nur ein müdes Lächeln und mein Lachen bleibt mir im Hals stecken.


Es gibt kalten Reissalat mit Oliven, Mais und Erbsen. Die Italiener unterhalten sich untereinander auf Italienisch, sprechen aber mehr oder weniger gut Deutsch, um sich auch mit uns Wienern zu unterhalten. Einer der Männer ist Tiroler. Wir verstehen ihn trotzdem recht gut. Er ist der Gastgeber, Mieter der kleinen Wohnung. Da ist auch Francesca, die überaus hübsche und lebhafte Kärntnerin, auch beim ICE beschäftigt und natürlich perfekt in Italienisch. Darma Prezzi, die nicht mehr ganz so junge Dame, auch ICE-Angestellte, stammt aus Triest, ihre Muttersprache ist Deutsch, aber Italienisch gleichermaßen. Bernd, Ingenieur in der Kunststoffproduktion tätig, ist in seinem Element. Er redet und schildert unaufhörlich und immer eindrücklich und überzeugend. Mir ist das durchaus recht, ich stehe lieber still in der Gegend, rauche und trinke und beobachte, vor allem Anna Maria.


Ich beobachte, wie Anna Marias Stimmung sich auch nicht aufhellt, als einige, nachdem man Möbel weggerückt hat, zu tanzen beginnen. Sie geht lieber in die Küche, Geschirr und Gläser zu waschen. Weder bin ich ein Samariter noch besonders küchenaffin. Und doch folge ich Anna Maria dorthin. Schweigend machen wir miteinander den Abwasch. Ich trockne ab. Danach sitzen wir auf zwei Holzstühlen am Küchentisch und rauchen. Ich erzähle, was ich so mache, und da kommt auch Anna Maria ins Reden. Zuerst zögerlich. Sie stammt aus San Bonifacio, einer Gemeinde an der Grenze zwischen Verona und Vicenza. Ihre Eltern leben jetzt in Bozen. Ihr Deutsch ist ausgezeichnet. Muss es sein beim ICE in Wien.


Bernd schaut zur Tür herein. Er verzieht grinsend das Gesicht unterhalb seiner Brille und geht wieder. Victor bringt etwas zu trinken. Und geht wieder.


Ich kann nicht sagen, was Anna Maria veranlasst, nach der anfänglichen Blockade in einen Redefluss zu fallen, der so viel mitschwemmt, was man sonst nicht gleich jedem anvertraut, wenn man ihn gerade vor eineinhalb Stunden kennengelernt hat. Ich sitze da wie in einer veristischen Oper und höre Anna Marias Stimme, die mit ihrer rauchigen Dunkelheit und Wärme elektrisiert. Es ist aber was sie erzählt, das mir den Atem raubt.


"Wundern Sie sich nicht, wieso ich Bacher heiße?" fragt Anna Maria. Ich habe mich nicht gewundert, denn ihren Familiennamen hatte ich bei der Vorstellung nicht verstanden. "Ja, Bacher." In einer Sekunde spielt mein Kopf alle Möglichkeiten durch, die ihm einfallen, wieso diese junge italienische Frau 'Bacher' heißen könnte. Ist sie Südtirolerin? Hatte sie in Südtirol geheiratet?


"Ich heiße eigentlich Marola", erklärt Anna Maria. "In Bolzano hatte ich allerlei blöde Jobs und dann hatte ich die Chance, nach Wien zu gehen zum ICE. Ich war einundzwanzig und noch nie allein im Ausland. Meine Mutter wollte mich zwar nicht gehen lassen, andererseits war sie aber auch stolz, dass ich eine Arbeit haben konnte, durch die sie selbst plötzlich an Geltung weit über allen anderen Müttern in ihrer Umgebung stehen würde. Ich wollte es unbedingt machen und auf einmal war ich in Wien.


"Von Anfang an machte mir ein Mann den Hof. Er war einige Jahre älter als ich und hatte sehr gute, althergebrachte Manieren. Er führte mich aus, in die Theater, in die Oper, in die Konzertsäle, in teure Restaurants. Geld spielte keine Rolle. Er verwöhnte mich mit Geschenken. Ich habe geglaubt, ich bin in ein Märchen geraten. Er stellte mich seiner Familie vor. Erstaunlicherweise schienen sie mich zu akzeptieren. Wenn es nicht so war, habe ich es jedenfalls nicht bemerkt. Ich sage erstaunlicherweise, denn ich kam zwar aus Bolzano, war aber keine Sudtirolese, sondern gehörte dort zu den verhassten Okkupanten."


Zuhörend gehen mir Romeo und Julia durch den Kopf und Aida. Ich denke an die Südtirolkrise, deren Lösung nach zehn Jahren erbitterten, teils auch blutigen Streits gerade auf der Kippe steht. Vor einiger Zeit haben Kanzler Josef Klaus und Südtirols Silvius Magnago dem Südtirolpaket zugestimmt. Jetzt wartet man schon einige Zeit, ob auch Italiens Aldo Moro dem Pakt beitreten wird. Viel Sympathie für Italiener ist im damaligen Wien nicht zu finden. Es sei denn für Di Stefano. Giuseppe, der Tenor. Auch Alfredo Di Stefano liegt in der Gunst der österreichischen Öffentlichkeit, ist aber kein Italiener, sondern Spanier mit argentinischen Wurzeln. Wenn von Di Stefano die Rede ist, weiß man nie, welcher gemeint ist, es sei denn man kennt seinen Gesprächspartner als Musik- oder Fußballfan. Bei uns vom Black&White ist immer beides möglich. Auch Gina Lollobrigida ist geliebt oder Sophia Loren. Marcello Mastroiannis Sympathiewerte dagegen finden schon im Negativen die Mehrheit. Ich äußere diese Gedanken nicht, sondern höre weiterhin schweigend zu.


"Wirklich herzlich waren die Eltern nicht. Sie begegneten mir wie ihr Sohn vornehm und reich. Sein Onkel war ein hoher österreichischer Politiker. Der hat mir zwar ganz und gar nicht gefallen, und ich ihm wohl noch viel weniger, aber, was weißt du schon, sagte ich mir, bist ja eben erst angekommen in dem fremden Land. Wir reisten nach Bolzano. Er hielt um meine Hand an. Mama hatte wieder Vorbehalte, wegen des Alters meines Bräutigams und weil er kein Italiano wäre. Aber dann dachte sie an die Bräutigame der Kinder ihrer Verwandten und Bekannten, keiner von ihnen war so exquisit wie dieser, und sie stimmte zu. Papa tat sowieso immer, wie ich wollte.


Die Hochzeit sollte in Wien stattfinden. Ich tauschte mit meinen Eltern Briefe aus, in denen wir Einzelheiten ihrer Reise nach Wien und ihres Aufenthalts hier regeln wollten. Meinen Fidanzato bat ich, mir dabei zu helfen. Ich wurde zu einem Gespräch mit meinem zukünftigen Schwiegervater in sein Arbeitszimmer gerufen.


Herr Regierungsrat Bacher saß hinter seinem riesigen Empire-Schreibtisch, ich stand in respektvollem Abstand davor. 'Schau', sagte er, 'wir sind doch alle protestantisch. In der Kirche könnt ihr also nicht heiraten. Das verstehst du ja, gelt?'


Er duzte mich von allem Anfang an, ohne mir jemals das Du Wort angeboten zu haben. Also war ich mit ihm immer noch per Sie. Er nahm das mit der größten Selbstverständlichkeit hin.


'Aber wir richten für euch eine Traumhochzeit aus', fuhr er fort. 'Da werden viele Gäste von Rang und Namen sein. Mein Sohn hat mir berichtet, dass deine Eltern aus sehr einfachen Verhältnissen kommen. Da könnte es zu Situationen kommen, die beiden Teilen recht peinlich sein würden. Außerdem nehme ich an, dass deine Eltern einer bloß standesamtlichen Heirat nicht zustimmen würden.'


Da hatte er völlig Recht. Dennoch wollte ich protestieren. Aber er schnitt mir das Wort ab.


'Wenn sie nicht da sind, brauchen sie das also auch nicht wissen. Später wird es ihnen nicht so viel ausmachen. Sie werden das schon verstehen, gelt? Natürlich werden unsere Gäste fragen, wo die Brauteltern sind. Wir werden sie entschuldigen. Wird uns schon was einfallen. Wir sagen dir dann, was du auf Fragen antworten kannst.


Ah, eines noch, da brauchen wir von dir noch eine Unterschrift. Ist doch klar, dass wir uns bei so unterschiedlichen Standesverhältnissen absichern müssen. Das verstehst du ja, gelt? Ist eine reine Formsache. Unsere Zustimmung habt ihr ja. Unterschiedliche Standesverhältnisse, das spielt bei uns keine Rolle. Schließlich sind wir aufgeschlossene Menschen, nicht wahr?'


Meine Knie waren wackelig geworden. Mir schwindelte. Ich wankte zum Schreibtisch, um mich abzustützen, sonst wäre ich auf den Teppich gestürzt. In dieser Minute bin ich aus meinem Märchen gefallen. Alle meine geheimen Befürchtungen hatten sich bestätigt, meine Hoffnungen in Ekel verwandelt. Mir war schlecht. Und es tat so weh.


Als ich mich am Schreibtisch festhielt, hielt Bacher mir einen Stift hin. 'Nicht so stürmisch, Fräulein. Hier unten musst du unterschreiben.' Er dachte wirklich, ich sei aus Ungeduld nähergetreten, um zu unterschreiben. Die Demütigung und der Schmerz waren so groß, dass der Wutausbruch, dem ich sehr nahe war, mir im Hals stecken geblieben ist. Das alles war so unerwartet gekommen. Und ich fühlte mich so unendlich allein und machtlos in dieser Situation. Ich unterschrieb, ohne hinzusehen. Lesen hätte ich ohnehin nicht können durch meine Tränen hindurch.


Die folgenden Wochen waren schwer. Mein Bräutigam tröstete mich und bat mich für seinen Vater um Verzeihung. Ich glaubte ihm, weil ich ihm glauben wollte. Er tat aber nichts, um die Sache in Ordnung zu bringen. Es wurde alles so ausgeführt, wie Regierungsrat Bacher es vorgesehen hatte. Die Hochzeit fand statt ohne Mama und Papa. Meine Schwester Bianca ist aus Bolzano gekommen. Als Angestellte in der Stadtgemeinde hat sie vor den Bachers gerade noch Gnade gefunden. Auch weil sie sich nicht abhalten hätte lassen, Einladung hin oder her.  Die Hochzeitsgäste waren elegant. Wunderschöne Kleider, große Hüte und teurer Schmuck. Eine glückliche Braut bin ich nicht gewesen. Am liebsten hätte ich Nein gesagt. Gesagt aber habe ich Ja."


Was in der Hochzeitsnacht und am Tag danach geschehen ist, hat Anna Maria mir nicht erzählt, auch später nie. Ich habe nicht gefragt. Wenn sie darüber reden hätte wollen, hätte sie es getan. Fest steht, am dritten Tag ihrer Ehe mit Herrn Bacher junior ist Anna Maria allein zum Gericht gegangen, um die Scheidung einzureichen.


Victor und Bernd kommen wieder in die Küche. Sie verabschieden sich. Werden wohl jetzt ohne mich irgendwo weiter trinken gehen. Zu lachen haben sie jetzt bestimmt genug. Nicht zuletzt über den Freund, der in der Küche Wurzeln geschlagen hat. Kurz darauf verabschieden sich auch Francesca und Darma. Die Party ist damit so gut wie zu Ende. Anna Maria schlägt dem Tiroler und mir vor, bei ihr daheim noch einen Caffè zu trinken. Sie wohnt gleich um die Ecke in der Strozzigasse. Es hat durch den ganzen Tag und Abend heftig geschneit. Zu dritt stapfen wir über ungeräumte Gehsteige und holen uns nasse Füße. Wir alle ziehen unsere Schuhe aus und hängen die Socken auf zum Trocknen. Als der Tiroler und ich unsere hohen Schuhe im Vorzimmer abstellen, bemerke ich, dass dort bereits ein anderes Paar niedere Herrenschuhe steht. Aha, denke ich.


Anna Maria kocht den Caffè in der typischen italienischen Espressomaschine, so ein zusammengeschraubtes Alukännchen. Wenn es aufhört zu gurgeln, ist der Kaffee fertig. Ist nicht ganz, was aus einer professionellen Barmaschine rinnt, kommt dem aber noch am nächsten. Der Tiroler wartet offenbar darauf, dass ich gehe. Tue ich aber nicht, obwohl keine kontinuierliche Unterhaltung aufkommt. Da bringt Anna Maria die Schuhe des Unbekannten und reicht sie dem Tiroler. "Die kannst du dann auch gleich mitnehmen." Der Tiroler schaut etwas belämmert, kommt aber letztlich der Aufforderung Anna Marias nach, zieht die noch feuchten Socken wieder an und seine hohen Schuhe. Die niederen Schuhe in der Hand zieht er ab.


Kaum ist der Tiroler weg, läuft das Gespräch wieder zwischen uns. Anna Maria erklärt mir, der Tiroler sei ihr ein lieber Freund geworden in der schweren Zeit nach der Scheidung. Da sie auf jedwede Forderung verzichtet und die noch vorhandenen Geschenke zurückgegeben hat, ist ihr Leben abgesehen von der seelischen Beschädigung auch rein ökonomisch nicht leicht. Wenn auch das ICE staatlich ist, sie ist dort eine kleine Schreibkraft. Das Geld reicht gerade so aus, um über die Runden zu kommen. Die regelmäßigen Bahnreisen nach Bozen sind auch nicht billig. Unmittelbar nach der Scheidung ist sie fast jedes Wochenende gefahren. Ohne den Zuspruch vom Papa und von Bianca wäre sie kaum darüber hinweggekommen. Selbst dieser Trost war nicht ungetrübt, denn die Mutter hat Anna Maria selbst die Schuld an allem gegeben und sie als blöd und Nichtsnutz beschimpft. Die größte Stütze war ihr die etwas ältere Kollegin Darma. Die Beiden haben sich ja täglich gesehen. Darma hat Anna Marias Gründe verstanden und ihre Konsequenz geschätzt. Dazu ist Darma hilfreich zur Verteidigung geschritten, wenn einer der Herren Funktionäre Lust gezeigt hat auf vermeintlich leichte Beute, auf die junge, weidwunde Neue. Die Scheidung nach drei Tagen hatte anscheinend etwas Verruchtes.


Das klingt jetzt alles so, als hätte Anna Maria mich an jenem Abend, in jener Nacht durch nichts Anderes als Mitgefühl gefesselt. Das hat sie wohl, aber mehr als das verwirrt mich, wie nahe diese junge Frau mir gekommen ist, wie nahe ich ihr gekommen bin. Ich kann ihre Gefühle sehen, wenn die Lippen zucken, die Mundwinkel sich verziehen, die Stirn sich faltet, die Finger an der Zigarette zu vibrieren beginnen, dass die Asche auf den Tisch fällt. Diese Offenheit ist entwaffnend. Sie redet mit diesem Fremden, mit mir, ja nicht über einen kürzlich gesehenen Film, sondern über die bisher wohl einschneidendsten Tage in ihrem Leben. Woher nimmt sie das Vertrauen, dieser Fremde werde sie nicht neuerlich verletzen durch Vorurteile, durch falsche Kameraderie einem Mann gegenüber, einem Landsmann, durch Unverständnis? Es muss wohl so sein, nein kann gar nicht anders sein: Ich bin dieser Frau nicht fremd. Und sie nicht mir.


Schnee gibt es genug im Winter 1969/70. Schon Anfang Dezember liegen in Wien 45 Zentimeter. Im Osten Österreichs fegen dazu Stürme durchs Land und im Westen häufen sich Lawinenkatastrophen. Maria hätte ab Mitte Jänner ohnedies keine Sterne mehr durch mein Dachfenster sehen können, denn sie lässt sich hier nicht mehr blicken. Sie verweigert jede Aussprache, ja jeden Kontakt. Über die Gründe habe ich meine Vermutungen. Erst viele Jahre später, es werden wohl nicht ganz vierzig gewesen sein, habe ich einen ganz anderen Grund erfahren. Oskar hat mich – nach dreißig Jahren Funkstille! - aufgesucht, weil er beruflich mit mir zusammenarbeiten wollte. Ich erkundigte mich nach Maria. Es hat Oskar überrascht, dass ich völlig ahnungslos war, dass Maria in jenem Jahr eine Fehlgeburt gehabt hatte.

 


Ein einziges Mal steigt Gott auf die Erde herab, er steht Eva gegenüber, macht sie, die nur Körper war, zum beseelten Menschen und erlegt ihr ein Gebot auf, das ein Verbot ist: nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen. Erkenntnis mündet in Zweifel, also auch in Zweifel an Gott. Der weiß, dass er den Menschen schafft, damit dieser ihn abschafft. Auf Eva, so malt es Michelangelo, lastet die Menschheitsgeschichte. Nur einmal ist sie froh und schön: wenn sie gegen das Gebot verstößt.

  

Wie jeder Revolutionär erzählt auch Michelangelo die Geschichte neu. Der Gott, der Adam erschafft, ist wieder der im All schwebende Mann, der einem attraktiven jungen Mann Leben einhaucht. Dieses wunderbarste aller Fresken der Welt stellt Adam dar als Inbegriff der Schönheit und Ahnungslosigkeit. Er weiß nichts vom Baum der Erkenntnis, nichts vom Verbot. Und als sie aus dem Paradies vertrieben werden, ist Eva, die weiß, was geschah, verzweifelt, Adam, der nichts weiß, ist bloß schockiert. Die wissende Frau hadert mit dem Unheil, der ahnungslose Mann wird es anrichten.

 

Michael Scharang

Auszug aus seinem Aufsatz über die Fresken in der Sixtinischen Kapelle

 In 'Die Presse', 22.10.2016

  

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