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Annamaria
worin vorkommen:
Wien, Salzburg, Rosenheim, Innsbruck, Bozen, Inn, Kufstein, Rattenberg, Berg Isel, Mantua, Sill, Schönberg, Stubai, Patsch, Brenner, Donau, Brennersee, Gries, Eisack, Siegmundskron, Etsch, Salurn, Locara, Lonigo, San Bonifacio, Vicenza, Sizilien, Bergamo, Serbien, Trentino, Adria, Dalmatien, Ostmark, Kohlern (Colle), Mendelpass, Ritten, Rosengarten, Johann Strauß, Ludwig van Beethoven, Andreas Hofer, Kaiser Franz I, Napoleon Bonaparte, die Kuenringer, Don Camillo, Peppone, Adolf Hitler, Benito Mussolini, Vittorio Emanuele, Ettore Tolomei, 'Wohl ist die Welt so groß und weit', 'L'Alto Adige', 'Dolomiten', 'Gazzetta del Sud', 'La Nazione', 'L'Unitá', 'Il Sole 24 Ore', 'Corriere della Sera', 'Il Giornale', 'Il Messaggiero', 'La Stampa', 'La Repubblica', 'La Gazzetta dello Sport',
sowie eine Reise nach Südtirol auf Freiersfüßen
An diesem unglaublichen Abend habe ich zwei Männer rausgeschmissen. Hinaus in die Winternacht. Hinaus in die Schneewechten. Hinaus in die Jännerkälte. Zwei Männer, meinen Tiroler Freund und den jungen Wiener. Wiener? So typisch wienerisch ist der gar nicht. Kann zuhören. Macht keine unpassenden Bemerkungen dazu. Lenkt nicht ab. Leitet nicht über zu eigenen Themen. Scheint zu verstehen. Scheint mitzufühlen. Wiener oder nicht. Er ist der seltsamste Mensch, der mir je begegnet ist. Ist auch widerspruchslos gegangen, als ich andeutete, es wäre Zeit. Hat keine Versuche gemacht, sich an mich ranzumachen und zu bleiben.
Nach zwei Tagen, als ich vom Büro kam, hing ein Zettel an meiner Wohnungstür. Für Anna Maria. Er wisse nicht, ob es mir recht wäre, wenn er mich im Büro anriefe. Er habe daheim kein Telefon und sei in der Arbeit schwer erreichbar. Ob es mir möglich sei, dass wir uns an einem der nächsten Tage am Abend im Kursalon träfen. Er wolle so lange dorthin gehen, bis er mich wiedersehen würde. Rainer.
Ich ging noch am selben Abend in den Stadtpark zum Hübner. Rainer saß an einem der Tischchen im Obergeschoß bei einem Glas Cognac. Ich glaube, er hat sich über unser Wiedersehen genauso gefreut wie ich. Er nahm mir den Mantel ab, rückte mir den zweiten Stuhl zurecht, brachte den Mantel zur Garderobe. Das alles hätte der Kommerzialratjunior ebenso gemacht. Mein Tiroler nicht. Rainer wollte auch für mich einen Cognac bestellen, doch ich bevorzugte Gin-Tonic. Er fragte, ob ich schon zu Abend gegessen hätte. Ja, log ich. "Übrigens, ich schreibe mich Annamaria, zusammengeschrieben", erklärte ich, indem ich auf seinen Türzettel deutete. Wir sahen den Leuten beim Tanzen zu. Rainer gefiel es, wie die Paare Boogy-Woogy tanzten. Er werde mich aber nicht auffordern dazu, er könne das nämlich nicht. Hätte ich auch nicht können. Diesmal redeten wir nicht über mich. Rainer erzählte alles, was ihm über sich einfiel, in wildem Durcheinander. Ich versuchte, zeitliche Ordnung da hinein zu bringen. Er erzählte humorvoll. Wir lachten beide viel über seine Episoden. Oder über seine Erklärungen, wenn er Ottakringer Ausdrücke einwarf, die ich nicht verstand. Zwischendurch, wenn die Musik langsam war, tanzten wir doch. Er tanzte zart und unaufdringlich. Ich fühlte mich so wohl mit Rainer. Als es Zeit war, schlug ich vor, Strozzigasse, Caffè?
Diesmal schickte ich niemanden in die Winternacht.
* * *
Von da an waren wir ein Paar. Annamaria kam in meine Mansardenwohnung. Wir hörten Schallplatten. Klassische Musik. Oder Radio. Wir hatten beide keinen Fernseher. Ich kaufte beschichtete Spanplatten und baute ein Küchenmöbel in die eine Ecke, es sollte das Loch in der Wand abdecken, hinter dem sich ein kleiner Stauraum befand. Damals begann man, Material für Selbstbaumöbel anzupreisen. Überall poppten solche Läden auf. Mein handwerkliches Geschick hielt sich in Grenzen. Ich dachte zurück an den Schrebergarten, als ich Tino beim Anbau der Veranda half. Die kleinen Verletzungen dabei hatten so wehgetan. Jetzt war ich überrascht. Der Schmerz nach mancher Ungeschicklichkeit war gar nicht so groß. Ich montierte das Eckkästchen auf Rollen, damit der Stauraum leicht zugänglich blieb. Annamaria italianisierte die kleine Küche nach und nach. Sie kochte hervorragend. Ich genoss Risotto oder Ossobuco oder Saltimbocca oder Lasagne oder Spaghetti. Die Tomaten für den Sugo schälte sie selbst. Wir gingen im Wienerwald spazieren und manchmal zu einem Konzert. Klassische Musik. Zu ihrem Geburtstag Anfang Februar war sie nicht in Wien. Sie hatte sich schon lang für diesen Tag zu Hause angekündigt. Überdies heiratete in derselben Woche ihre jüngere Schwester Bianca.
* * *
Als ich das hörte, ging zwischen mir und Annamarias Familie ein Vorhang herunter. Es machte mir nichts aus. Familienmitglieder waren mir egal. Ich war überzeugt davon, dass wir Annamarias Verwandte nicht brauchen, um miteinander glücklich zu sein. Der Vorhang, anfangs aus schwerem Leinen sollte sich mit der Zeit in leichten Tüll verwandeln, ganz gehoben hat er sich aber nie.
Ich nahm Annamaria mit zu unseren Fußballspielen. Bernd verzog spöttisch den Mund, als er sah, dass wir ernsthaft zusammen waren. Für ihn war sie der Aufriss eines Partyabends. Dasselbe passierte mit Victor. Bedeutete das 'Ich weiß mehr'? Es war mir völlig gleichgültig. Was immer sie zu wissen glaubten, mein Herz wusste mehr.
* * *
Schon sehr bald stellte Rainer mich seinen Eltern vor. Der Vater war im Schlafrock. Er sah leidend aus hinter seiner zu großen Brille vor dem hageren Gesicht. Auf dem Kopf trug er ein gestricktes Käppchen, so etwas wie eine Kippa, welche die Halbglatze zwischen beidseitigem Haarwuchs bedeckte. Ein Musikerkopf. Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit meinem doch um einiges jüngeren Vater. Die sichtbar jüngere Mutter in einem grauen Wollkostüm mit einem etwas zu aufdringlichen violetten Streifen quer über die Brust, volles braun gefärbtes Haar, das einmal schwarz gewesen sein mochte. Ein Boxer lag auf dem Diwan und keuchte. Aus seinem Maul hing die Zunge inmitten triefenden Speichels. Es roch streng in dem kleinen Wohnraum vom Hund und dem kranken Mann mit seinen Zigarillos. Meine Muratti und Rainers Johnny verbesserten die Luft auch nicht. Wir saßen bei Kaffee und belegten Majonäsebrötchen. Die Mutter spielte die Rolle der Mutter. Der Vater versuchte so nebenbei 'unauffällig', meinen Bildungsstand auszuloten. Es war wie bei einer Quizveranstaltung. Wie man die verschiedenen Komponisten namens Strauß schrieb. Oder wie viele Symphonien Beethoven geschrieben hat. Ich glaube, ich hielt mich gut. Als es mir sichtlich zu peinlich wurde, stoppte Rainer die Befragung.
* * *
Annamaria war schon etwas verstört nach diesem Test. Es war auch ein Test für die Belastbarkeit unserer Gefühle. Tino und Mama hatten einen guten Eindruck von Annamaria. Tino fragte mich einmal verwundert, "Ich hab geglaubt, du magst Britinnen. Und jetzt, eine Südländerin?" Seine Frage beruhte wirklich nur auf Erstaunen. Nationale Gefühle spielten bei Tino nie eine Rolle. Ich war inzwischen zur Überzeugung gelangt, dass Herkunft keine Rolle spiele. Nur die Zuneigung wäre wichtig.
Wir kennen uns erst wenige Monate. Und doch sind wir beide überzeugt, für einander bestimmt zu sein. Wir sind bereit, das auch offiziell zu besiegeln. Fehlt nur noch der Sanktus von Annamarias Familie. An einem Wochenende fahren wir mit einem Auto nach Bozen.
Infolge meiner Rent-a-car-Fahrten kenne ich die Strecke Wien – Salzburg – Rosenheim – Innsbruck – Bozen recht gut. 1970 sind alle Teilabschnitte der Westautobahn von Pressbaum bis Salzburg grundsätzlich fertig gebaut. Über den Strengberg muss man noch ein langes Umleitungsstück in Kauf nehmen, weil der Erstausbau buchstäblich im Korruptionssumpf versunken ist. Hinter Salzburg hinein nach Deutschland bis Rosenheim, dann südlich den Inn entlang dem Alpenbogen entgegen. Allmählich löst sich ein Kegel auffällig aus der Kette, auf ihn fährt man direkt zu. Wo er aufragt, kehrt man nach Österreich zurück. Kufstein. Stau auch hier durch die Grenzkontrolle. Im Inntal muss man noch lange durch Rattenberg. Endlose Kolonnen quälen sich durch die engen Gassen. Wenn man heute die Fotos von Rattenberg ansieht, kann man sich nicht vorstellen, wie die vielen Fahrzeuge da aneinander vorbeigekommen sind, vor allem die schweren. Es ist eine Qual für die Menschen in den Autos und für die Menschen im Ort. Wenn der Stau auch nervt, ich freue mich doch immer wieder am Anblick der schönen mittelalterlichen Häuser. Der Stau ist für mich bald wieder vorbei, für die Menschen im Dorf bleibt er den ganzen Tag. Und den nächsten. Und unzählige danach.
An Innsbruck vorbei und dem Berg Isel. Das gibt Gesprächsstoff. Ich erinnere mich an Tinos Schilderungen der Kämpfe Andreas Hofers gegen die Franzosen, wie er mit seinen Tirolern Felsbrocken auf die Invasoren stürzen ließ, um das heilige Land und seinen Kaiser Franz zu verteidigen, was Letzterer, wenigstens dem Liedtext zufolge, seinen Tirolern schlecht dankte. Es hat auch keinem genützt. Trotz dreier Siege in Scharmützeln am Berg Isel hat Napoleon letztlich sowohl Innsbruck eingenommen als auch zum zweiten Mal in vier Jahren Wien und Hofer starb in Mantua, den schlechten Schießkünsten des Exekutionskommandos zum Trotz.
Nun am östlichen Hang des Silltals hinan. Die Autobahnplaner hatten vorgehabt, auf dieser Talseite hinauf bis zur Wasserscheide zu bauen. Auf der westlichen Seite verlief bereits die Bundesstraße. Ja was isch denn jetzt dös?! Die Schönberger blickten hinüber zur östlichen Talseite. Neben der Eisenbahntrasse, die sie zu sehen gewohnt waren, knabberte sich eine breite Baustelle durch die Almen Richtung Süden. Die neue Autobahn! Was isch denn jetzt dös? Die fahrn dort drübn ja weit von ins vorbei! Wenn dös fertig isch, kimmt koana mehr zu ins ins Stubai! Dös kann nit sein! Mander, s'isch Zeit! Geharnischte Proteste wurden nach Innsbruck geschickt, dann auch nach Wien, ebenso geharnischte Abordnungen. Man versuchte, den Schönbergern klar zu machen, dass schon sehr viel Geld in die Planung und den Bau auf der Patscher Seite geflossen sei, das ließe sich nun leider nicht mehr ändern. Das regte die wehrhaften Stubaier auf. Ihre Augen begannen zu rollen und ihre Muskel zu zucken. Furchteinflößend kann ein Tiroler sein, geschweige denn mehrere, das wusste Napoleon so gut wie Kaiser Franz. Dazu kam das schlechte Gewissen der Wiener, das noch aus jenen guten alten Zeiten herrührte. Und siehe da, aus ‚Da kann ma nix mochn‘ wurde flugs ‚Da muaß was gschegn‘. Jemand schlug vor, über den Sill, dieses Gebirgsbachl, a Bruckerl z'schlagn, damit die Autobahn auf der drübern Seite an Schönberg vorbeigeführt werden könnte. Das Bruckerl wurde gebaut. 190 Meter hoch über dem Sill und 850 Meter lang. Da in den Kassen des Bundes auch damals kein Geld war, gründete man eine Aktiengesellschaft und gestand ihr zu, von den Benutzern Mautgebühren einzuheben. Die Schönberger waren dagegen. Der Verkehr könnte auf andere Alpenpässe ausweichen. Keine Maut, das würde den Baubeginn mindestens ein Jahrzehnt verschieben. Also stimmten auch die Schönberger der Maut zu. Man versprach ihnen und der Öffentlichkeit die Begrenzung der Maut auf zehn Jahre. Das war vor fast sechzig Jahren. Bekanntlich brennen wir heute noch am Brenner. Die Schönberger hatten sich die Segnungen der Autobahn auch anders vorgestellt. Ähnlich der Kette, welche die Kuenringer einst durch die Donau gelegt hatten, bekamen die Schönberger nicht nur eine hundert Meter breite Sperre quer über die Straße, wo das Geld eingetrieben wird, sondern auch eine Schlinge um den Hals. Kurz vor der Mautstelle umschließt eine riesige Kehre den ganzen Ort im Norden, Westen und Süden. Der Verkehr ist auch nicht auf andere Passstraßen ausgewichen. Im Gegenteil, er hat sich vervielfacht. Doch kein Jota davon gilt Schönberg. Alle wollen nur möglichst rasch vorbei, in den Süden oder nach Norden. Wer ins Stubai will, nimmt jetzt wohl die Autobahn, aber keiner kommt wegen der Autobahn nach Schönberg. Es kommen nur die, die auch sonst ins Stubai gekommen wären. Schönberg ist umzingelt von einer Hydra. Deren Köpfe, Lärm, Abgas, Stau und Gestank, recken sich züngelnd über die Schutzwände auf der Suche nach Fressbarem, Schönbergern, die noch nicht das Weite gesucht haben. Die Zurückgebliebenen wünschen sich heute die Autobahn auf die andere Talseite wie die Katholiken den Teufel.
Nochmals gibt es Stau auf der Brennerautobahn, weil man auf dem Scheitelpunkt des Passes bei Brennersee auf die Bundesstraße wechseln muss. Die sehr genaue Grenzkontrolle tut das Übrige. Obwohl dem Österreicher der Piefke nicht ganz grün ist, den Spaghetti muss man noch viel genauer unter die Lupe nehmen. Bei Gries ist der Stillstand vollständig und fortdauernd. Ich hole mein Rasierzeug aus der Reisetasche, entnehme der Scheibenwaschanlage etwas Wasser und fülle damit die Pinselschale. Schon bin ich eingeseift und lasse die Klinge über die Wangen gleiten. Ein wenig Kabarett für Annamaria und die umstehenden Reisenden.
Endlich hinein nach Südtirol. Die italienischen Uniformen an der Grenze irritieren mich, obwohl ich weiß, dass es jetzt nach Italien hinein geht. Die Brennergrenze war von uns Österreichern nur widerwillig zur Kenntnis genommen. Das hier war nicht Italien. Es war Tirol. Dass hier Italiener lebten, war Unrecht. Auch das hatten wir beim Exerzieren brüllen müssen: ‚Wohl ist die Welt so groß und weit und voller Sonnenschein. Das allerschönste Stück davon ist wohl die Heimat mein. Dort, wo aus schmaler Felsenkluft der Eisack springt heraus. Von Sigmundskron der Etsch entlang bis zur Salurner Klaus‘. Dass das jetzt zu Italien gehörte, wodurch Tirol in zwei Fetzen zerrissen war, es war der Durchtriebenheit Italiens zuzuschreiben. So jedenfalls hatte ich das seit je gehört. Unzuverlässigkeit, Treulosigkeit, Verrat, das waren die Attribute, die meine Umwelt für die Italiener übrig hatte. Wenn auch vielleicht weniger für den einzelnen Italiener, so doch jedenfalls für das Volk. Vater Brehms Abneigung gegen 'a Mäuil voi Kaffee' dürfte mehr mit seinen Vorurteilen gegen Italiener zu tun gehabt haben als mit den kleinen Espressotassen. Selbst der aufgeschlossene Tino war diesbezüglich nicht ganz unvoreingenommen. Beim Barras war die Meinung seiner Kameraden nachhaltig gewesen. Die Italiener wären feige Verräter. Sie hauten ab, wenn es in der Ferne donnerte (nicht viel anders als der Kommandant der Transportkolonne Bauer?). Sie betrieben Sabotage oder schlössen sich gar den Partisanen an. Wenn ich solches von Tino hörte, musste schon etwas dran sein. Meine eigenen Erfahrungen mit den italienischen Carrental-Kollegen schienen wenigstens auf Unzuverlässigkeit hinzudeuten. Oder wartete ich etwa nur auf Ereignisse, welche die Vorurteile bestätigten? Andererseits, da waren Opas Erzählungen vom ersten Krieg. Von den Härten der winterlichen Kämpfe in den Bergen erzählte er und wie unsere Gebirgsjäger trotz äußerster Tapferkeit den Feind nicht aus seinen Positionen vertreiben konnten. Und wie sie die Woche danach die eben blutig verlorenen Stellungen wieder zurückeroberten. Das konnte doch nur bedeuten, dass die italienischen Feinde auf den gegenüber gelegenen Bergen nicht weniger tapfer waren unter diesen unvorstellbar furchtbaren Bedingungen? Opa kannte auch Feiglinge. Das waren wieder andere, nämlich die Krowotn, die sich nicht vom Bergl runter trauten, weil sie die Hosen voll hatten. Ich war noch klein, als er mir immer wieder dieses Lied vorsang. Es war mir so geläufig, dass ich es fast bei der Aufnahmsprüfung zu den Sängerknaben gesungen hätte, unschlüssig, was ich vortragen sollte. Ich dachte, wenn ich Opa es singen hörte, an meine eigenen Hosen, die so oft auch voll waren. Das konnte doch kein Zeichen für Feigheit sein? Feigheit hin, Feigheit her, haben wir nicht alle manchmal die Hosen voll? Was für einen Sinn hat es dann, einer gewissen Gruppe Menschen das ganz besonders vorzuwerfen? Ich denke an die Filme von Don Camillo und Peppone, die mir nicht nur größtes Vergnügen bereitet hatten, sondern auch außerordentliche Bewunderung für die tiefe Menschlichkeit dieser Charaktere. Deren feste gegensätzliche Haltung, beruhend auf ideologischen Widerlagern, ist nicht ohne Tapferkeit. Nicht die Tapferkeit der Gewalt, nein eine andere Tapferkeit. Die Tapferkeit des Herzens im Kampf ums menschliche Miteinander allen vollen Hosen zum Trotz.
So ungefähr sieht mein mentaler Hintergrund aus, während ich mit meiner italienischen Braut über den Brenner in ihre Heimat sause, um die Eltern für unsere Pläne zu gewinnen. Zeit haben wir genug während der Fahrt und beim Stillstand in den Staus. Es kann daher gar nicht ausbleiben, dass das Thema angesprochen wird. Wie so oft hört Annamaria mir eine Weile zu, ohne etwas zu sagen. Ich rede vom Verlust Südtirols, als hätte ich persönlich es verloren. Rede vom Ultimatum der Option. Auslöschung der Identität und Vertreibung vom heimatlichen Boden. Schöne Option, das.
"Der Faschismus ist eine der beschämendsten Blödheiten der Politik" sagte Annamaria. "Sowas kommt heraus, wenn man dummen Leuten erlaubt, in großem Stil zu machen, was sie wollen. Damals hat man sogar darüber nachgedacht, die Tiroler nach Sizilien umzusiedeln. Oder gar nach Abessinien. Das hatten wir kurz zuvor erobert. Tiroler Bauern in Äthiopien, kannst du dir das vorstellen? Das ist fast so absurd wie Sizilianer in Tirol. Aber die faschistische Diktatur hat sowas gemacht. Einfach so. Eurem Hitler war es ja recht. Der hat selber auch einige umgesiedelt. Sogar in den Tod."
"Eurem Hitler. Meinem bestimmt nicht" erwidere ich bitter. Aber gleichzeitig erkenne ich, hier geht es nicht um Nationen, Italien und Deutschland oder Österreich, sondern um Weltanschauungen. Grenzüberschreitende und Nationalitäten hinter sich lassende Haltungen.
"Es sind schlechte Zeiten gewesen. Überall. Bei euch hat die Wirtschaftskrise gute Zeiten beendet. Bei uns hat sie nur Zeiten abgelöst, die vorher schon schlecht waren. Zehntausende sind ausgewandert, auch ohne Druck von Diktatoren. Sizilianer nach Norditalien, Italiener in die Schweiz und nach Deutschland, und von überall nach Amerika. Ich stamme aus Locara. Locara bei Lonigo. Lonigo bei San Bonifacio. San Bonifacio bei Vicenza. Locara, da ist nichts gewesen außer ein verfallendes Bauernhäuschen an einem ziemlich kleinen Feld. Kaum ausreichend für eine Familie. Mein Vater hat zwei Brüder gehabt. Onkel Alfonso ist nach Bergamo emigriert, mein Vater nach Bozen. Der älteste Bruder ist in Locara geblieben. Keiner von ihnen hat irgendetwas mit Mussolini am Hut gehabt."
Annamaria sprach ruhig und unaufgeregt, ich hingegen leicht echauffiert: "Und all die anderen Umfaller Italiens? Euer König hatte mit Deutschland und Österreich-Ungarn den 'Dreibund' geschlossen. Für den Kriegseintritt gegen Serbien verlangt Italien aber plötzlich das Trentino. Einen Räuberhandel hat das der Kaiser genannt. Das Angebot der Entente-Mächte an Italien ist das bessere gewesen. Südtirol bis zum Brenner, die obere Adria und Teile der dalmatinischen Küste. Italien erklärt Österreich-Ungarn den Krieg und wird danach entsprechend belohnt. Es bleibt nicht dabei. Mussolini übernimmt die Macht als Diktator, der König bleibt als Feigenblatt. Der Duce unterstützt zuerst die ständische Regierung in Österreich gegen Hitlers Gelüste, es zur Ostmark zu machen. Dann fällt er aber um, als es 1938 ernst wird. Der Umfaller erlangt erst später Bedeutung, als es um Rechtfertigungen für Österreichs Verhalten in dieser Zeit geht. Momentan nimmt niemand dem Duce den Schwenk übel." Langsam rede ich mich in Rage. Ich spule alles ab, was ich so über das Thema gehört habe. "Der König hat sich dem Kriegseintritt Italiens bis 1940 widersetzt. Da schien der Krieg Hitlers gegen Frankreich gewonnen. Mussolini hat versucht, sich am fertigen Braten gütlich zu tun und seinerseits Frankreich den Krieg erklärt. Die Dinge laufen aber anders. 1943 landen die Amerikaner in Sizilien. Vittorio Emanuele lässt Mussolini fallen und vereinbart mit den Alliierten einen Waffenstillstand. Der nächste Umfaller."
Annamaria fällt mir ins Wort, aber wiederum ganz ruhig. "Der Kuhhandel mit Territorien stammt aus gestrigen Zeiten. Das war so normal wie das Plündern durch die Sieger. An den gestrigen Zeiten war man damals noch viel näher dran als heute. Glaubst du, Rainer, dass immer alle Italiener gewollt haben, was passiert ist? Habt ihr Österreicher alles gewollt? Ich will es nicht hoffen! Die Politik hat es gewollt. Oder besser, die Politiker, die gerade an der Macht waren. An der Macht waren sie ohnehin nur knapp und durch Gewalt oder schmutzige Tricks. Hunderttausende haben anders gedacht und Zehntausende aktiv dagegen gekämpft. Sie haben den Krieg verabscheut. Sie haben jede Chance ergriffen, die gewaltwütigen Machthaber loszuwerden, und sich auf die Seite des Friedens gestellt. Sie Sind dafür verfolgt und getötet worden. Die Sozialisten hat man mit den Kommunisten in einen Topf geworfen und als Volksverräter entehrt. Trotzdem haben sie sich am Ende durchgesetzt. Das teuflische Konzept der Räuber und Mörder konnte nicht siegen. Von daher die Schwenks. Glaub mir, Rainer, vieles wäre anders gekommen, hätten sich die Friedfertigen früher durchsetzen können. Nicht dass euch das Ergebnis besser gefallen hätte. Die alten Bünde und Pakte wären gleichfalls zerronnen. Es wäre hilfreich gewesen, wenn auch bei euch die Friedfertigen aufgestanden wären und gesagt hätten, da machen wir nicht mit. Wieviel Elend und Leid wäre der Welt erspart geblieben! Einige haben das getan, aber die meisten sind festgesteckt in falsch verstandener Vaterlandsliebe und Treue."
Ich bemerke plötzlich, das was Annamaria da sagt, entspricht viel mehr meinen (und Tinos!) tiefer liegenden Gedanken als der Müll, den andere an meiner Oberfläche zurückgelassen haben. Bisher hatte ich mich für Politik nicht eingehend interessiert. Ich glaube, dass dies der Moment gewesen ist, in dem sich das geändert hat.
Wir wechseln das Thema. Annamaria versucht mich darauf vorzubereiten, was mich in Bozen erwartet. Der gütige Vater, die strenge Mutter. Sie waren jung gewesen, als sie aus Locara nach Bozen zogen. Man hatte begonnen, riesige Industriebetriebe ins Etschtal zu zwängen. Zwar stagnierte die Industrialisierung, als die große Wirtschaftskrise ausgebrochen war, aber die Italienisierung wurde dennoch vorangetrieben. Die verbliebenen Tiroler Bauern waren von der Krise nicht so sehr betroffen. Die Neuankömmlinge in den Städten aber litten bittere Armut. Streit war vorprogrammiert. Der Vater arbeitete in einem Stahlwerk, die Mutter schneiderte zuhause. Die Welt der zugewanderten Italiener endete in 500 Meter Seehöhe. So ging es auch nach dem Krieg weiter. Heute ist der Vater pensioniert, die Mutter schneidert immer noch. Annamarias Schwester Bianca arbeitet als Bürokraft im Stadtamt. Ihr frisch vermählter Mann ist Bankangestellter.
Wir beziehen ein Zimmer in einem Altstadthotel. Dann fahren wir in den italienischen Teil Bozens hinüber über die Talfer nach Don Bosco zur Familie Marola. Sie wohnen in einem Palazzo im Erdgeschoss. Palazzo klingt pompös, bedeutet aber nichts anderes als ein Gebäude mit vielen Mietwohnungen, man könnte auch Zinskaserne sagen. Die Stimmung ist eisig. Ich kann kein Wort italienisch. Was da vorgeht, kann ich nur raten. Viele Menschen geraten in Zorn, wenn sie einer Konversation nicht folgen können, weil sie die Sprache nicht verstehen. Sie erliegen sofort dem Verdacht, hier werde etwas Negatives über sie gesagt. Diese Unart habe ich schon in England abgelegt. Wenigstens dieser unangenehme Aspekt bleibt mir erspart. Der Vater, mager, Halbglatze, grauer Anzug ohne Krawatte, scheint nicht ganz unfreundlich. Aber die Mutter, füllig, klein, schwarzes Kostüm, das die Blässe ihres Gesichts unterstreicht, ohne jedes Makeup, sieht und zischt mich an wie eine Schlange den Hasen. Ihre Blicke stechen voll Hass und Mordlust. Ich verstehe sie auch ohne Italienischkenntnisse. Unter Tränen erklärt Annamaria, dass wir das Leben miteinander teilen wollen. Ich kann zu dem Gespräch nichts beitragen, außer dass ich Annamarias Worte mit treuherzigen Blicken zu bestätigen versuche. Der Vater scheint mir weich zu werden. Ab und zu macht er zu seiner Frau Bemerkungen, deren Tonfall mir nicht ungünstig vorkommt. Jetzt weint auch die Mutter. Erst vor wenigen Tagen hat sie die jüngere Tochter an einen Mann verloren und jetzt soll sie die ältere zum zweiten Mal verlieren. Schon wieder an einen Barbaren! Man kommt auf keinen grünen Zweig. Wir wollen zurück ins Hotel. Die Mutter verlangt, Annamaria solle in der Wohnung bleiben. Annamaria schluchzt, als wir gehen. Rein zufällig schaut die Nachbarin aus ihrer Wohnungstür und grüßt uns sehr freundlich.
Im Hotel beruhige ich Annamaria mit der Versicherung, dass sie meine Braut sei und meine Frau sein werde, was immer die Welt dazu sagen wolle. Die Betrübnis durch das fehlende Einverständnis der Eltern lassen sich durch Worte natürlich nicht verscheuchen. Da wir nicht im Hotelzimmer Trübsal blasen wollen, führt Annamaria mich mit der Seilbahn auf den Aussichtsberg Bozens, von den Italienern 'Colle' genannt, also Hügel. Der alte deutsche Name 'Kohlern' hat mit Hügel gar nichts zu tun. Schon eher mit dem Köhler. Der Colle bekam seinen Namen nur durch die Lautähnlichkeit mit Kohlern und weil er dazu auch noch ein Hügel ist. Wahrscheinlich steckt auch hier der faschistische Geologe Ettore Tolomei dahinter, der nach diesem einfältigen Prinzip die Tiroler Topographie italianisiert hat. Das weiß ich von Tino und ich erzähle es Annamaria, die darüber ganz erstaunt ist. Sie wieder erzählt mir, dass die Kohlern-Seilbahn die älteste der Welt sei, gottseidank erst als wir oben sind auf 1100 Meter Seehöhe, also 850 Meter über der Stadt. Wir essen im Gasthof Pasta und bewundern die atemberaubende Aussicht über die Stadt, hinüber zum Mendelpass, zum Ritten, hinunter ins Etschtal und das Eisacktal hinauf zum Rosengarten.
Der Dämmerung folgt die Nacht. Die Lichter von der Stadt herauf habe ich erwartet. Aber die Menge der Lichtsternchen von den vielen Bergbauernhöfen auf den Höhen rundum, manche davon höher als wir selbst, sie mischen sich mit den hell leuchtenden Sternen am Himmel. Die Silhouetten der Berge sind verschwunden. Man kann nicht mehr unterscheiden, was Erde, was Himmel ist. Man ist mitten drin in dem Sternehaufen. Ein Zauber, den ich nie vergessen werde. Das unfassbare Bild verstärkt noch meine junge, bedrohte Liebe zu Annamaria.
* * *
Sonntag Vormittag. Ich konnte Bozen nicht verlassen, ohne Mama und Papa noch einmal gesehen zu haben. Die Situation war für jeden von uns sehr schwierig. Für Mama und Papa um nichts weniger. Mir war klar, dass sie es gut mit mir meinten und mich vor einem nächsten Unglück bewahren wollten. Unser Abgang gestern war so brüsk gewesen, ich musste ihnen noch sagen, dass ich sie verstehen könne und sie um Verzeihung bitte. Meinen feststehenden Entschluss könne ich aber trotzdem nicht ändern. Rainer wollte zuerst nicht noch einmal zu meinem Elternhaus. Andererseits konnte er mir die Bitte aber auch nicht abschlagen.
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