worin vorkommen: eine Hochzeitsreise, Schwarzau, Höllental, Helenental, Hotel Sacher, Ruinen Rauenstein und Rauheneck, der Schwechatbach, 'Ich hört' ein Bächlein rauschen', Bozen, Verona, Trento, Gardasee, Graz, Trani, Limone, Locara, Bergamo, Verona, Rom, Neapel, Ischia, Capri, Barano, Epomeo, Marontistrand, Sant'Angelo, Gaetano Donizetti, Pietro Locatelli, Nikolaus Harnoncourt, Friederike Mayröcker, sowie eine kurze Freundschaft auf dem Marontitrand.
Die neue ernste Beziehung gewann an Gewicht in meinem Leben. In gleichem Maß büßte der Vagabundenberuf an Glanz ein. Soweit das möglich war, bevorzugte ich jetzt Dolce far niente mit Annamaria in meiner Dachwohnung mit ihren köstlichen kalten Platten und meinen klassischen Schallplatten oder Spaziergänge im Helenental oder Wochenenden in Schwarzau. An einem Freitagabend holte ich sie in der Strozzigasse ab. Es war schon dämmrig, als wir Richtung Süden fuhren. Am östlichen Himmel stand ein gelber Vollmond und gegen Südwesten der unglaublich helle Abendstern, noch ganz allein ohne seine Kollegen. Ich verriet nicht, wohin die Fahrt gehen sollte und behauptete, nicht anhalten zu wollen, bevor wir nicht direkt unter diesem Stern angekommen wären. Dieses Versprechen konnte ich leider nicht einhalten. Je zielstrebiger ich ihr nachfuhr, Venus rückte stets ein kleines Stück voraus. Im engen Höllental verschwand sie ganz hinter den felsigen Steilhängen. Es muss ein ausflugsstarkes Wochenende gewesen sein, denn ich fand in keinem einzigen Gasthof ein freies Zimmer für uns. Eine der Wirtinnen erbarmte sich meiner Verzweiflung und bot uns eine 'kleine Kammer' an. Es war wirklich nicht mehr als eine Besenkammer, fensterlos, eine Pritsche für eine kleine und schmale Person, doch immerhin mit Bettwäsche bestückt. Es sollte eine herrliche Nacht werden, ohne viel Schlaf freilich. Die schönen Wanderungen im Helenental endeten immer am Hotel Sacher. Nein, natürlich nicht das berühmte Hotel in Wien hinter der Oper. Den Eingang zum Helenental bewachen eindrucksvoll die Ruinen Rauhenstein und Rauheneck. Ihnen benachbart direkt am Ufer des Schwechatbachs steht eine Villa im Semmeringstil, die wohl eine Familie Sacher als Hotel eingerichtet hat. Dieses romantische Haus haben wir für unser Hochzeitsfest gewählt.
Acht Monate nach der verhängnisvollen Partynacht in Lerchenfeld haben wir in kleinstem Kreis geheiratet. Mama, Oma, Tino mein Trauzeuge, Darma Annamarias Beistand. Die Nacht vor der Hochzeit konnte meine Braut nicht schlafen. Sie hatte versprochen, Omas Kleid zu nähen. Vielleicht wollte sie beweisen, dass sie das kann. Ihre Mutter war ja Schneiderin. Annamaria hatte ihr wohl mehrmals geholfen und über die Schulter geschaut. Da hatte das alles noch ziemlich leicht ausgeschaut. Mehr als einen Tag würde sie dafür sicher nicht brauchen. In typisch italienisch sorgloser Weise hatte sie die Arbeit immer wieder aufgeschoben bis zum Tag vor der Hochzeit. Ihre Nähkünste hat sie sicherlich überschätzt, denn das Kleid wurde gerade einmal eine Stunde vor dem Termin fertig, oder sagen wir besser weitgehend fertig. An Oma sah es aus, als wäre sie in einen Wirbelsturm geraten oder unter einen Autobus. Sie trug es aber tapfer und voll Würde. Während Annamaria Oma das Kleid anzog, ging ich eine passende Krawatte kaufen. Krawatten waren meine Leidenschaft nicht. Nach der Trauung im Standesamt auf dem Richard-Wagner-Platz begab sich das kleine Grüppchen nach Baden ins Hotel Sacher zu einem gediegenen, keineswegs außerordentlichen Mittagessen. Selbst das kleinere Extrazimmer schien etwas groß für die wenigen Personen. Nach der Torte setzte Tino sich ans Klavier und spielte, was sein Repertoire an Hochzeitsliteratur hergab. Darma sang eine oder zwei Arien. Dann waren wir allein. Für die Nacht hatten wir ein Zimmer im Sacher reserviert. Annamaria hatte eine Menge Schlaf nachzuholen und auch ich viel ungewohnte Anspannung abzulegen. Unter dem unergründlichen Rauschen des Flüsschens vor dem Fenster schliefen wir ein und dasselbe Rauschen war das Erste, was wir am Morgen hörten. Ich hört' ein Bächlein rauschen… Eine neue Wanderung hatte begonnen. Auf der handgeschriebenen Rechnung, die ich bei der Abreise erhielt, stand etwas ganz Unerwartetes: Ehepaar Richter.
Für die Hochzeitsreise miete ich bei mir selbst einen Ford Escort. Es geht selbstverständlich in den Süden. Zuerst die Familie in Bozen. Ich lerne Annamarias Schwester Bianca kennen. Eine hübsche junge Frau, etwas größer als Annamaria. In ihrem großen Gesicht die lebhaften Augen verraten in jedem Augenblick viel über ihre Gefühle und Gedanken. Das tut auch ihre Stimme, die je nach Emotionspegel glissando durch eine oder auch mehrere Oktaven schleift. Ihre Sätze, wenn sie die Antwort auf eine der vielen verschmitzten Ansagen ihres Mannes sind, zeichnen sich durch Kürze aus. "Scemo!", diesfalls scharf marcato und je nach Empörungsgrad zuweilen begleitet von einem Hieb mit der Faust oder dem Ellenbogen. Meine Schwägerin, Büroangestellte im Bozener Rathaus, ist wie wir frisch verheiratet, sogar schon ein paar Monate länger, heißt aber immer noch Marola. In Italien behält die Ehefrau ihren Mädchennamen. Man kann daher bei einem Paar nie sofort wissen, ob es verheiratet ist oder nicht. Sonst würde Bianca Marola jetzt Baracca heißen, wie ihr Mann Silvano. Sie wäre also so etwas wie eine weiße Baracke. Baracca, der ikonische Name, deutet auf süditalienische Abstammung hin, ebenso wie Silvanos kleiner, schmächtiger Wuchs, das schwarze Haar und der rabenschwarze Henriquatre-Bart. Silvano, also der vom Walde, ebenso wie Rainer, ist Bankangestellter. Mit ihm kann ich Englisch reden. Für einen Italiener beherrscht er es recht gut. Man verzeihe mir das Vorurteil. In manchen steckt aber auch ein Körnchen Wahrheit.
In Anbetracht unseres Reisevorhabens ist unser Aufenthalt kurz. Die Fahrt geht weiter die Autobahn hinunter Richtung Verona. In Trento zweigen wir ab Richtung Gardasee. Meine charmante private Italienischlehrerin bringt mir meinen ersten welschen Zungenbrecher bei: 'Trentatré Trentini trottarono giù da Trento, tutti trentatré trottando.' Ich konnte mir nicht verkneifen, mit einigen spontanen Eingebungen zu antworten: 'Tre grasse Cremonesi creparono a Graz, in crisi dal grave Grammelgröstl.' Meine Maestra lacht sich tot, fünf Killometer lang. Dann noch einmal fünf Killometer für 'Drei Trinker nach Trunke von dringendem Drange gedrängt, sie traten zu dritt in Trani beim Austritt auf Dromedars triefenden Dreck'. Die weiteren Killometer vergehen mit meinen Erklärungen, was ein Grammelgröstl ist und wieso Mozart sehr gern mit uns gereist wäre. Nach kurzer Stille schaut Annamaria mich ernst von der Seite her an und stellt fest, "In Trani gibt es kein einziges Dromedar."
Der Gardasee im Abendlicht stimuliert unsere übermütig heitere Grundstimmung. Wir halten in Limone vor dem erstbesten Hotel, dem Sole, mieten uns ein und beteiligen uns am abendlichen Corso auf der Uferpromenade. Ich kaufe meinem Pazzerl einen ausladenden weißen Sonnenhut. Pazzerl kommt natürlich von pazzo, also verrückt, hat aber durchaus auch etwas mit einer kleinen Menge eines undefinierbaren Etwas zu tun. Es kann aber auch eine etwas größere Menge an Undefinierbarem sein, denn auch ich werde von Annamaria Pazzerl genannt. Die Nacht wird unruhig. Bis drei Uhr früh ziehen Autokolonnen im stockenden Verkehr an unserem Fenster vorbei. Es muss offen bleiben, wir hoffen auf etwas Nachtkühle. Obgleich schon Ende September, ist es doch noch sommerlich heiß. Nachtschwärmer diskutieren laut, ich weiß nicht, worüber, es klingt bisweilen bedrohlich. Frauen lachen. Lange beobachte ich das leichte Wehen des dünnen Vorhangs im Wind, verzaubert vom Schein der Straßenbeleuchtung, und hoffe, mein Pazzerl möge etwas mehr Schlaf abbekommen.
Am nächsten Tag in Locara. Cousins und Cousinen. Die eine Familie ist gerade dabei, das alte Bauernhaus zu restaurieren, wahrscheinlich das Familienhaupterbe. Ein schmales rurales Gebäude mit einem Obergeschoß. Aus den ursprünglich wenigen, altmodischen aber größeren Räumen sollten jetzt mehrere kleinere werden, bestückt mit zeitgemäßem Inhalt und modernen Fliesen. Der Aufschwung fasst Fuß auch hier. Unten Küche, Esszimmer, Salotto und Nebenräume, oben eine Anzahl Schlafräume. Das Gebäude steht auf einem schmalen Streifen Erde, eingepfercht zwischen dem Bahndamm und dem parallel dazu laufenden Damm einer verschlafenen Allee. Die trifft wenige Meter weiter auf den kleinen Bahnhof, wodurch der schmale Streifen Land zwischen den Dämmen sich bis auf Breite Null zuspitzt. Auf diesem Spitz ist Mangold angebaut, auf der kurzen Strecke auf der anderen Seite des Hauses Erdäpfel und ein paar Weinstöcke. Die Cousine sieht bäuerlich aus, abgearbeitet und wohl älter als sie eigentlich ist. Ihr Mann ist außer Haus, arbeiten. Sein Vater sitzt in der Küche. Er kann sich kaum bewegen und auch nicht artikulieren. Folgen eines Schlaganfalls. Da treffen einander zwei Behinderte. Der eine kann sprechen, aber nicht die erforderliche Sprache, der andere kann die Sprache, aber nicht reden. Ääh, sagte der eine. Ääh, der andere. Wir verstehen uns ganz gut. Die zweite Familie hat nicht weit von hier eine nur wenig größere Landwirtschaft, aber ein relativ neues Haus. Zwei Söhne, zwei Monate und zwei Jahre, Pietro e Paolo.
Ich habe eine Riesenbitte an Sie. Bitte, bitte, sagen Sie nicht Pa-olo. Fast alle deutschen Zungen glauben Pa-olo sagen zu müssen. Man hört es überall, im Fernsehen sowieso, im Radio und sogar im Kulturradio. Dabei ist es doch ganz einfach und natürlich, sagen Sie einfach "Paulo", mit einem etwas dunkleren U. Ich muss das einfach anbringen. Es gibt ein paar Sachen, die mich zum Wahnsinn treiben können. Nikolaus Harnoncourt, zum Beispiel, mit gehauchtem H. Der Mann hieß "Arnonkuur"! Mit Harn hatte er nicht mehr zu tun als wir alle. Oder Ouvertüre. Hier sagen fast alle immer O-Uvertüre. Eine "Uuvertüre" ist aber das Eröffnungsstück eines musikalischen Werks, wird also am Anfang gespielt und nicht wenn es schon over ist. Und Ofentüre ist eine Ouvertüre auch keine. Oder Friederike Mayröcker. Ich habe bisher immer nur May-röcker gehört. Ihr Name bezieht sich aber nicht auf die Röcke, die sie im Mai trägt, auch nicht auf eine Horde von Rockern. Die Vorfahren der allbekannten Meier oder Maier, auch Mayer oder Mayr, mögen Gutsverwalter gewesen sein, denn das war seinerzeit ihre Berufsbezeichnung. Und die Öcker meinen klar nichts anderes als Äcker. Daher sage man nicht May-röcker, sondern "Mayr-öcker"! Ich könnte die Liste noch stundenlang fortsetzen. Ist halt so ein Hobby von mir.
Aber zurück nach Italien. Wir machen einen Spaziergang über das ebene Land. Tiefe grün bewachsene Gräben trennen die schmalen Straßen von den Feldern. Es ist nur wenig Wasser ganz unten vorhanden. Annamaria sagt, sie können auch ganz voll sein und sogar übergehen. Sie erinnert sich, wie einmal auf dem Schulweg ihre ganz neue Schultasche ins Wasser gefallen ist. Und an die Schläge, die sie dafür bekommen hat. Wir gelangen zum Friedhof. Er liegt außerhalb jeder Ansiedlung ganz allein inmitten der Felder. Eine verwitterte Mauer umschließt ein Geviert, umgeben von hohen schlanken Zypressen. Nicht überall, wo in Italien Zypressen ragen, ist ein Friedhof. Aber an jedem Friedhof ragen Zypressen. Ein sicherer Anhaltspunkt auf der Suche. Durch ein schmiedeeisernes Tor gelangt man ins Innere. Neben dem Tor steht eine kleine Kapelle für die Aufbahrungen. Auf der anderen Seite, etwas abgeschirmt, der Friedhof für Unkraut und verwelkte Blumen und verwitterte Kranzschleifen. Ein Brunnen mit Handpumpe und Wasserkannen. Den Innenseiten der Mauer entlang verlaufen Arkaden. Ihre Rückseite ist aber nicht identisch mit der Friedhofsmauer. Dazwischen ist noch Raum für Särge in sogenannten Schiebegräbern in mehreren Reihen übereinander. Italien ist ein weites Land, aber die Bevölkerung ist zahlreich. Da hat man bald ein Platzproblem. Auch unter den Toten. Selbst bei ausgeklügeltem Platzsparen wird es zu eng auf dem Campo Santo. Neben der Friedhofsmauer an der Außenseite ist schon eine neue Parzelle angelegt. Geduld, Geduld, es dauert nicht mehr lang. Unter den Arkaden sind auch die Urnengräber untergebracht. Die Rückwände der Arkaden nimmt der Besucher nur als eine Aneinanderreihung von Marmortafeln war, auf denen Angaben über die Beigesetzten meist in Form von aufgeklebten Messingbuchstaben zu lesen sind. Ein Bildnis aus Lebzeiten unter einer elliptischen, konvexen Glasabdeckung ist an jeder Tafel angebracht, eine Halterung für Kerzen und eine kleine Messingvase für Blumen. In dem Hof zwischen den Arkaden befinden sich Erdgräber. Das Totenfeld wird von zwei Hauptwegen aus weißem Kies längs und quer in vier gleiche Teile getrennt, im Zentrum steht ein eisernes Kruzifix. Grabsteine sind bei uns oft schwer, bombastisch und dunkel. Hier sind sie aus nur fingerdickem Marmor, meistens weiß, also leicht und hell. Viele Grabmale sind nur kleinere Marmortafeln, die von Messingständern gestützt werden. Auch hier neben der Inschrift das obligate Bildnis des Bewohners, Messingvase und Kerzenleuchter. In den Vasen stecken vorwiegend bunte Kunststoffblumen, man sieht aber auch hie und da echte frische, häufig weiße Chrysanthemen. Auffällig ist, wie viele Kerzen brennen. Schummeln mit Batterielämpchen, das wird noch eine Zeit dauern. Die vielen Lichter zeugen von häufigen Besuchen von den Lebenden. In den dunkleren Stunden des Tages ist es, als neige der Sternenhimmel sich sachte herab und verschmölze mit den Flämmchen an den Betten der Toten.
Onkel und Tante in Bergamo. Von Verona her verläuft die stark befahrene Autobahn in der Poebene und führt fast ständig durch dichtes Industriegebiet. Gelegentlich stehen sogar Wohnblocks oder Eigenheimanlagen dicht an dieser Verkehrshölle oder werden gerade dorthin gebaut. Dem Italiener ist der Lärm nicht gar so fremd, also findet er sich auch eher damit ab. An einer Stelle am Ende des doppelten Asphaltbands, genau dort wo es den Horizont berührt, taucht ein seltsames Etwas auf. Man kommt näher. Es ist wie der Holzschnitt einer Pinie. Noch näher. Einzelheiten werden erkennbar. Die Formen gewinnen an Dramatik, als hätten sie etwas Unerhörtes zu erzählen und bleiben doch harmonisch, als wäre am Ende alles gut. Dann zischt man vorbei. Die Pinie ist weg. Ist sie je dagewesen? Noch oft werde ich mich in den kommenden Jahren dieser Pinie auf dem Mittelstreifen der Autobahn nähern. Bei ihrem Anblick werde ich wissen, ich bin in Italien.
Die Hänge des Alpenrands hinan ziehen Weinkulturen. Von einem dieser Vorberge herab grüßt schon von weitem die Altstadt von Bergamo. Zio Alfonso, längst pensioniert, war früher Fabrikarbeiter gewesen. Er war kein kleiner Italiener, sondern ein Hüne mit riesigen kräftigen behaarten Pranken. Annamarias Vater war auch großgewachsen. Beide Marola eben. Jener war schmal, Alfonso dagegen ein Kraftpaket. Nachfahren der Normannen? Alfonso lebte am Rande der Unterstadt mit seiner Frau Maria, klein, pummelig, ganz italienische Nonna, in einem der alten Reihenhäuser, die durchaus Ähnlichkeit hatten mit dem schmalen, ruralen Bauernhaus in Locara. Sie hatten eine kleine Wohnung im Obergeschoß. Unten wohnten Nachbarn. Neben den Häusern befand sich eine Reihe von sehr kleinen Obst-und Gemüsegärten. Wenn ich sehr klein sage, meine ich winzig. Der Garten von Zio Alfonso war sicher nicht größer als drei Meter im Quadrat und doch enthielt er alles, was in einer italienischen Küche nicht fehlen darf. Paradeiser, Salbei, Origano, Sellerie, Zwiebeln, Radicchio, Rucola, Zucchini, Artischocken, Auberginen, Bohnen, Broccoli, Knoblauch, auch Erdbeeren. Zwischen Ständern hingen Obstkistchen, mit Erde gefüllt, zur Flächenvergrößerung. Zukaufen musste man da nur noch, was viel Platz erfordert, wie Erdäpfel, Zwiebel, Erbsen, Oliven und Paprika. Alle Pflanzen standen in voller Pracht. Kein schlaffes Blatt, nicht das geringste Unkräutchen. Neben all dem Gemüse fand auch noch eine Miniwerkstatt Platz auf dieser Monsterfarm. Eine kleine Werkbank mit Schraubstock unter einem Kunststoffdach, welches herabgelassen den Werkzeugen etwas Wetterschutz bot. Die wichtigsten Handwerkzeuge, keines davon elektrisch. Es gab auch keinen Strom hier unten. Gartengeräte, Spaten, Harke, Rechen, Gießkanne, Regentonne. Alfonso war ein geschickter Handwerker. Wie seine riesigen Hände mit der Feile über das dünne Sperrholz streiften, aus dem er für mich eine Käsereibe fabrizierte, es war pure Ästhetik. Währenddessen bereiteten Maria und Annamaria ein Essen zu. Uccellini scappati. Entkommene Vögelchen. Manche Rezepte beschreiben das als Spießchen. Maria aber machte aus dem Kalbfleisch und der Fülle aus Lauch, Zwiebel, Sellerie, Leber und kleingehackten Knochen von Kalb, Huhn und Schwein kleine Rouladen in Sauce mit Polenta. Dazu Salat, den Alfonso sorgfältig vom Gartenboden rasierte. Die letztlich doch gefangenen 'Vögelchen' taten mir leid, obwohl sie nur so hießen. Trotzdem schmeckten sie köstlich. Zio Alfonso hatte aus dem Keller einen Krug Weißwein geholt, den er mit einem Schlauch aus einer der beiden 25-Liter-Damigiane abfüllte. In der anderen war Rotwein. Den Wein bezog er von Bekannten in der Nähe. Es war ein sehr naturbelassener einfacher Tischwein, vermutlich ein Pinot. Wir tranken nicht viel davon, weil wir unsere Fahrt noch am selben Tag fortsetzen würden. Alfonso, den das nicht betraf, leerte den Krug. Wenn er das Glas nahm, fürchtete ich, es müsse in seinen Pranken zerbrechen. Mangels Italienischkenntnis war ich meistens stiller Zuhörer, wenn Annamaria mit Onkel und Tante plauderte. Meine von Annamaria übersetzten Versuche, Donizetti und Locatelli ins Spiel zu bringen, beide Bergamaschi, wurden nicht recht verstanden, wiewohl ich später feststellen würde: Die bekanntesten italienischen Opernarien, Maria kannte sie alle. Sie sang sie sogar mit ihrem tiefen Alt. Dabei spielte keine Rolle, wenn sie für Tenor gedacht waren. Alfonso sang nicht. Er hatte eine belegte Fistelstimme, die gar nicht zu seiner imposanten Erscheinung passte. Er machte andauernd irgendwelche Witze, die ich nicht verstand. Ich lachte mit wegen seiner guten Laune. Zur Feier des Tages gab es auch noch ein Dessert, das Maria in der Oberstadt eigens für uns gekauft hatte. Eine kleine gelbe Torte mit einem Vögelchen, schon wieder, aus Marzipan obenauf. Polenta e Osei. Polenta und Vögel. Die kuppelförmige Torte sieht nur aus wie Polenta. Es ist aber gelber Fondant aus grobem Zucker. Darunter ein Biskuitkörper mit Haselnussfüllung und etwas Marillenmarmelade. Dieses Kunstwerk der Patisserie erklärte ich sofort zu meinem Lieblingsdessert. Ich bewies es mit der Anzahl der von mir verspeisten Stücke. Alfonso bestand darauf, dass unser Caffè corretto sein müsse, also versehen mit einem Schuss Grappa. Anfangs gewöhnungsbedürftig, doch bald unverzichtbar als Abschluss eines schönen Essens. Nach dem Essen und dem Abwasch fahren wir miteinander in die Altstadt hinauf. Bei einem kurzen Rundgang erhielt ich einen ersten Eindruck von der Vielfalt der historischen und architektonischen Sehenswürdigkeiten. Und in jeder Pasticceria Polenta e Osei. Maria konnte nicht lange gehen. Wir setzten uns an ein Tischchen vor einem Caffè. Ich beobachtete das lebhafte Treiben auf dem Platz, während Annamaria mit den Verwandten anscheinend Ernstes besprach. Wir brachten Alfonso und Maria nach Hause und machten uns selbst auf die Weiterreise. Annamarias Abschied von Onkel und Tante war sehr emotional. Und, ja, auch ich hoffte von Herzen, die beiden gesund wiederzusehen.
Von nun an waren wir allein auf unserer Reise. Die Verwandtenbesuche waren letzten vorgelagerten Inseln gleich gewesen vor unserem Hinaustreten auf die offene See. Endlich zu zweit allein und frei.
Auf der Fahrt in den Süden erzählte Annamaria mir mehr über Maria und Alfonso. Er habe zuerst Marias Schwester Angela geheiratet. Sie sei jungfräulich in diese Ehe gegangen. In der Hochzeitsnacht sei irgendetwas schief gelaufen. Vermutlich sei Alfonso zu grob gewesen. Jedenfalls habe Angela tags darauf ins Krankenhaus gebracht werden müssen, wo sie noch am selben Tag verstorben sei. Alfonso habe jahrelang getrauert, bevor Maria mit der neuen Verbindung Trost in sein Leben gebracht habe.
In Rom durften wir in einem Hospiz nur nächtigen, nachdem wir unsere Ehepartnereigenschaft durch Vorlage der Heiratsurkunde nachgewiesen hatten. Unsere auf denselben Familiennamen lautenden Pässe hätten nicht genügt. Annamaria hatte damit gerechnet und das Dokument mitgenommen. Dann Neapel, vorbei an den Gold- und Uhrenhändlern im Hafenbereich auf die Fähre. Kurze Überfahrt nach Ischia. Dort noch eine kurze Wegstrecke über die gewundene Bergstraße, die um die ganze Insel herum führt und herrliche Blicke über das Meer nach Neapel und Capri bietet, bis zum Hotel Internazionale in Barano. Die vierzehn Tage verbrachten wir wie es sich für ein altes Touristenehepaar geziemt mit Essen, Trinken, Schlafen, Ausflügen in die Stadt und auf den Epomeo und Braten am Strand. Das Hotel war ein modernes Haus, ein wenig lokal gestylt, untere Mittelklasse, doch luxuriös für unsere Verhältnisse, sauber und unauffällig freundlich. Es hatte sogar einen Pool. Den benutzten wir aber nicht. Lieber fuhren wir ein paar Kilometer hinunter zum Marontistrand. Grauer, etwas grober Sand in der ganzen weitläufigen Bucht. Am westlichen Ende in Gehweite Sant'Angelo mit dem charakteristischen Felsen vor der Halbinsel. Eines Nachmittags lag ich auf dem Sand, den Kopf auf Annamarias Bauch gelagert, den Blick zwischen den aufgestellten Beinen hindurch auf Sant'Angelo gerichtet, als ich weit entfernt einen kleinen Punkt bemerkte, der auf uns zu zu kommen schien. Es ging rasend schnell, der Punkt rannte genau auf mich zu. Er war ein kleiner Hund, er näherte sich rasend schnell. Und er hielt Richtung genau auf meine Beine zu. Schnurstracks. Ich schaute in die andere Richtung, aber da war nichts, was den Hund hätte interessieren können. Er war jetzt schon ziemlich groß, ein Mischling, vielleicht von einem Airedale. Es war bereits zu spät, um irgendeine Maßnahme zu ergreifen, denn der Terrier war schon da. Er legte vor uns eine Bremsung hin, dass der Sand auf uns spritzte, bellte und stürzte sich auf mich. Ich dachte, mich knutscht ein Elch, Annamaria schrie und ich hörte neue Schimpfwörter. Davon ließ sich das Tier aber nicht aus der Ruhe bringen. Er stieß mich an und um, knabberte an meiner Hand und verbellte mich. Da er mich nicht biss, wurde mir bald klar, dass er mit mir spielen wollte. Aber wieso mit mir? Der Strand war nicht stark bevölkert, es gab aber doch etliche Badende rundum. Dieser Hund aber hatte in einer Entfernung von mehreren Hundert Metern entschieden, mit mir zu spielen und mit niemandem sonst. Also spielte ich mit, trotz Annamarias wiederholten Einwänden. Der Hund hatte mich lieb und ich bald den Hund. Ich hätte ihn gegen Annamarias Proteste mitgenommen, wenn nicht nach einer Viertelstunde der dicke Besitzer mit dem Buschhemd über der Badehose gekommen wäre und nach einem knappen norddeutschen "Verzeihung, der Köter ist unberechenbar" diesen an der Leine abgeführt hätte. Ich konnte mich nur schwer damit abfinden, einen so lieben Freund so schnell nach dem Kennenlernen wieder verloren zu haben.
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