26 Das Konzert

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Das Konzert

worin vorkommen: der Albert Sever-Saal in Ottakring, die Zehnermarie, Bruno Kreisky, Bruno Marek, Charly Gaudriot, Max Schönherr, Die Spitzbuben, Wolf Biermann, Ernst Hans Richter, 'Begrüßungsfanfare', 'Das Hexerl von Hernals', ''Der Kurier des Zaren', 'Fanny Elssler', 'Lipizzaner Galopp', 'Musicalouverture', 'Austrian Airlines Marsch', Maria 'Mitzi' Milham-Richter, 'Das Protektionschanson', 'Der Vogel', 'Der Felix', Darma Prezzi, 'Schwäne auf der Alten Donau', Josef Weinheber, 'Altottakring'', 'Der Werkelmann', 'Das moderne Wien', Peter Weber, 'Variationen über ein Thema von Mozart', Richard Plöschberger, 'In manches Glaserl Wein', Erich Kästner,''Die Entstehung der Menschheit', Brigitte Hafner, 'der Busserl-Landler', 'Ein keckes Liederl', Wolfgang A. Mozart, Jules Verne, Adolf Wohlbrück, Maria Andergast, Theo Lingen, Franz Schubert, Giuseppe Verdi, Richard Wagner, Johann Strauß, Giacomo Puccini, Ferdinand Preis, 'O du mein Österreich', sowie die MA34



Telefonprotokoll aus einer Zeit, in der noch nicht alles abgehört werden musste. Der Wortlaut ist somit nicht exakt, dennoch durch und durch wahr. Die Gesprächspartner konnten ihren Standort nicht ändern. Sie mussten während des gesamten Gesprächs an einer Stelle ausharren, wo der Apparat an einem Kabel hing, das aus der Wand kam. Im vorliegenden Fall ist das ein schwarzer Kasten mit Wählscheibe. Er hängt an einer Wand, von der teilweise der Putz abgebröckelt ist. Die schadhaften Stellen sind notdürftig bedeckt mit Wahlplakaten der SPÖ. Das andere Gerät ist ein Tischapparat auf einem ziemlich kleinen Schreibtisch in einem ziemlich kleinen Büro. Seine hellbeige Farbe verrät, dass er ganz modern ist. Trotzdem muss auch sein Benutzer zum Wählen (der Nummer, nicht der Partei) noch an der Scheibe drehen.


An dem Wandapparat hängt Hans. Er ist sehr mager. Ein grauer Arbeitsmantel schlottert an ihm herab. Die Asche an seiner Zigarette ist länger als ihr Rest. An dem ziemlich kleinen Schreibtisch in dem ziemlich kleinen Büro, geziert mit einem anderen SPÖ-Wahlplakat und mit der eingerahmten Fotografie des Bürgermeisters Bruno Marek, sitzt Pepi ziemlich beengt, denn er ist füllig. Er trägt einen unscheinbaren Anzug, der ihm offenbar zu klein ist. Der Hemdkragen steht offen, keine Krawatte. Abgesehen von einer abgestoßenen Lederaktentasche mit offener Lasche und dem hellbeigen Telefon ist der Schreibtisch leer und andererseits schon wieder voll. Pepi, den Ellbogen auf den Tisch gestützt, hält den Hörer ans Ohr, zwischen die Finger derselben Hand eine Zigarette geklemmt, deren Asche länger ist als ihr Rest.


Hans:     Servas Pepi. Na, was sagst, mir haben’s gschafft! Mir san in der Regierung! Der Bruno hat sie alle eingwickelt. Die Schwarzen san weg vom Fenster.


Pepi:     Hab i dir ja gsagt, oder was.


Hans:     Hätt ja umgekehrt a ausgehn können. Die Schwarzn hätten gern mit die Blauen, wär sich leicht ausgangen. Hätten nur nein sagen müssen zur roten Minderheitsregierung. Da hätt ma aber gschaut! Hat er guat gmacht, der Bruno. Die Schwarzen werden sich giften!


Pepi:     Ja, unsere Bruno! Unser Marek Bruno ist a gut drauf. Ehrenbürger der Stadt Wien. A Kunst, als Burgermaster. Hätt mir eigentlich i verdient, oder was?


Hans:     Du Pepi, ist das wahr, die U-Bahn kommt unter die Favoritenstraßn?


Pepi:     Na klar. Und oben wird’s a Fußgängerzone, oder was. Die Gschäftsleut sind angfressen. Die jahrelangen Umsatzeinbußn durch die Baustell, oder was, und dazu noch die U-Bahn-Steuer. Muss man jetzt machen, bei dem Wahlergebnis vom vorigen Jahr und jetzt im Bund. Ist alles wieder vergessen in vier Jahr, oder was. Hoffentlich wird er sich net dreckig machen oder was beim Tunnelgrabn, unser Bruno, der bestangezogenste Mann von Wien.


Hans:     Du, Pepi, was andres, mir haben da ein Problem. Bei mir war grad a Frau Richter. Die will den Saal mieten.


Pepi:     An Turnsaal?


Hans:     Na, kan Turnsaal. Tät i di anrufn wegn an Turnsaal? Na, den Sever-Saal!


Pepi:     Was will die mit dem Sever-Saal? – Du, will die vielleicht a Partei gründn, oder was?


Hans:     Glaub i net. Sie war a Friseurin auf der Ottakringer Straßn. Ihr Alter ist a Kapellmaster gwesn. Jetzt wolln sie noch amal a Konzert geben.


Pepi:     A Friseurin und a Kapellmaster? A Konzert? Im Sever Saal? 600 Leut? Haben de an Vogl, oder was? 600, die haben ja netamal der Wondra und Zwickl zambracht, oder was! Hast ihr gsagt, was der Sever Saal kost? Und erst, was die Feuerwehr kost für sechs Stunden, plus An- und Abfahrt! Und die Rettung! Dass sie das alls vorher erlegen muss?


Hans:     Du, Pepi, i hab’s net übers Herz bracht. Wie Geld schaut die Frau net aus. I glaub, das ist für die so a Art Lebensabend-Happening. Hab gsagt, sie soll sich das mit dir ausmachen.


Pepi:     Schaut dir wieder ähnlich. I soll mi mit der Friseurin abstrudeln, oder was. Hättst du s‘ abgwimmelt! I hab ja was andres a noch z’tun, oder was.


Hans:     Schau, Pepi, Du kannst ja viel besser umgehn mit die Leut als Rathausbeamter. Mir steht das ja eigentlich gar net zu. Bin ja nur der Hausmaster da.


Pepi:     Ja, Hausmaster. Und das wirst a ewig bleibn mit der Einstellung. – Na, gut, schick s‘ halt eine, oder was. – Freundschaft, oder was!

***


Das ziemlich kleine Büro, der ziemlich kleine Schreibtisch, die abgestoßene, offene Aktentasche darauf. Eine brennende Zigarette steckt am Aschenbecher. Daneben eine Thermosflasche. Pepi kaut an einer Leberkässemmel. Es klopft.


Pepi:    (mit vollem Mund, laut): Moment!

               (Er isst ruhig weiter. – Pause. - Es klopft neuerlich.)

Pepi:    (mit vollem Mund, laut): Moment!

                (Er isst ruhig weiter. – Pause. – Es klopft wieder.)

Pepi:    (mit vollem Mund, etwas Leberkäs spuckend und zornig): Moment, hab i gsagt! - I hab a Ferngespräch! Setzen’S ihna halt a weng

 nieder derweil und probiern’S es wieder in zehn Minuten, oder was!

(Pepi zelebriert genüsslich den Rest der Semmel und nimmt einige große Schlucke aus der Thermosflasche. Er versucht an der inzwischen ausgegangenen Zigarette zu ziehen, zerdrückt sie angewidert im Aschenbecher.) (Laut:) So kommen’S halt eine, in Gott‘s Nam‘!


Es klopft wieder, fast gleichzeitig wird die Tür geöffnet. Mizzi streckt vorsichtig ihren Kopf herein.

Mizzi:  Sind‘S schon fertig mit dem Telefoniern? Es tut mir leid, Herr Amtsrat Blaha, ich hab Sie auf keinen Fall stören wollen.


Pepi:    (zündet sich eine neue Zigarette an) Ist schon recht. Kommen’S nur eine. Wer san Se?


Mitzi:   (eine Einkaufstasche aus Papier mit der Aufschrift „Konsum“ in der Hand, dunkles Haar, buntes Dirndlkleid mit großem Ausschnitt, das ihre gute Figur betont, streckt Pepi die Hand entgegen) Maria Milham-Richter, Herr Amtsrat. Sie warn so freundlich und habn mir einen Termin für zehn Uhr gebn.


Pepi:    (ignoriert das „zehn Uhr“ und die ausgestreckte Hand) Se san die Friseurin, die was a Konzert machen will, oder was?


Mitzi:   Genau, Herr Amtsrat. Friseurmeisterin war ich auch. Aber eigentlich bin ich Operettensoubrette. War im Krieg an mehreren

deutschen Theatern engagiert und anschließend in Österreich auf diversen Tourneen. Immer mit meinem Mann, dem Musikdirektor. Werden Sie sicher schon gehört haben, Ernst Hans Richter, ist viel gespielt wordn im Rundfunk, der Charly Gaudriot und der Max Schönherr habn seine ganze Musik aufgnommen. Und Preise hat er kriegt, jede Menge.


Pepi:    (nachdenklich) Richter, Richter, ja hab i schon ghört. (Er denkt wahrscheinlich an Karl Richter, den Bach-Spezialisten, oder an Hans Richter, den Wagner-Dirigenten, mehr als der Name Richter ist ihm von keinem bekannt. Aber immerhin ist da jetzt die Frau vom Richter und löchert ihn. Leidend:) So nehmen’S halt Platz, Frau Richter.


Mitzi  (setzt sich mit elegantem Schwung auf den Holzsessel, der in dem engen Loch zwischen dem kleinen Schreibtisch und der Wand steht) Schaun’S, Herr Amtsrat, (ehrfürchtig) ich hab Ihnen ein paar Fotos mitgebracht von uns und Theaterkritiken. (Sie nimmt Fotos und Dokumente aus der Einkaufstasche und legt sie, sich hinbeugend, behutsam vor Pepi auf den Tisch.)


Pepi:    (stiert auf Mitzis Ausschnitt) Interessant!


Mitzi:   Wissen’S, Herr Amtsrat, mein Mann ist schon ein bisserl älter als ich. Es wär halt ein großer Wunsch von ihm, einmal noch vor

Publikum auftretn, sozusagn als Abschied halt. Eine große Bühne können wir uns net leistn. Der Sever-Saal ist halt nicht so renommiert - (zu sich) ui, das hätt i jetzt net sagn solln -, aber er ist groß genug für ein kleins Orchester und ein Sängerensemble.


Pepi:    Sie wissen aber scho, dass da 600 Leut einegehn? Wir bemühn uns immer, den Saal halbwegs voll zu kriegn mit ziemlich zugkräftige Programme, oder was, aber mehr als die Hälfte habn ma selten gschafft. Ja, wenn ma ausschenken könntn und a Heurignjausn dazua, da tät’s schon gehn. Aber so, nur ruhig sitzn und zuaschaun, da gehn die Leut liaba zu die Spitzbuabn, oder was.


Mitzi:   Herr Amtsrat, wenn da 600 eine gehn, dann gehn da auch 600 eine, darauf können Sie sich verlassen.


Pepi:    Wann S‘ manan… Is eh Ihna Problem, oder was. Was soll denn des für a Konzert werdn?


Mitzi:   Also, alles Musik von meinem Mann. Gehobene Unterhaltungsmusik. Kleins Orchester und ein paar Sänger und Sängerinnen. Orchestersuiten, Wienerlieder, Chancons. Ich hätt da eine Liste. (reicht Pepi ein Blatt Papier.)


Pepi:    Nur nix Politisches, oder was. (Er überfliegt die Liste, stutzt.) 'Schwäne auf der Alten Donau', wia poetisch! – Halt! 'Altottakring – Worte Josef Weinheber', der alte Nazi! Des wird net gehn!


Mitzi:   Aber Herr Amtsrat, mein Friseurgschäft war ja in Altottakring und wir wohnen doch am Josef-Weinheber-Platz. Im Gemeindebau!


Pepi:    Na, und des da! Was is denn des: 'Protektions-Chanson'. Is des a Protest-Song? Könn ma bei uns gar net brauchn. A Biermann is gnua.


Mitzi:   Herr Amtsrat, da geht’s um ganz allgemeineLebenserfahrungen. Mein Mann und ich, wir haben noch nie irgend a Protektion ghabt!


Pepi:    (halblaut für sich) Kommt ma verdächtig vor. (Zu Mitzi)  Schaun S‘, Frau Richter, da is so a Antrag zum Ausfülln. Die wichtigsten Punkte muss i Ihna persönlich erklärn. – San S‘ bei der Partei, oder was?


Mitzi:   Bei welcher?


Pepi:    (ungeduldig) Na, bei welcher, bei unserer natürlich, (deutet ohne hinzusehen mit der Hand auf das Plakat hinter ihm.)


Mitzi:   Leider nicht.


Pepi:    Bei der Gewerkschaft?


Mitzi:   Auch nicht.


Pepi:    Aber der Herr Gatte?


Mitzi:   Meiner?


Pepi:    Se, Wolln S‘ mi pflanzn?


Mitzi:   Mein Mann war von je her sozialdemokratisch eingestellt. Er pickt jedes Monat seine Marken in das Büchl. Hier, bitte (legt Pepi das Parteibuch auf den Tisch).


Pepi:    Na also. Warum sagn S‘ des net glei? – Da fehln ja die letztn drei Monat!


Mitzi:   Bei uns kommt immer der Herr Smolka vorbei. Der ist aber verhindert. Es hat gheißn, auf Urlaub. Aber wer hat schon so lang Urlaub?


Pepi:    Ah, der Smolka. (Für sich:) Urlaub is guat. Der sitzt. (Laut:) Der kommt wieder in zwa Wochn. – Da schaun S‘ her, des steht da in dem Antrag: (Bemüht um Schriftsprache) Veranstalter der Veranstaltung ist der Mieter. Die MA 34 ist Eigentümervertreterin und stellt lediglich das Mietobjekt zur Verfügung. Für den Inhalt der Veranstaltung, auch für von Mitwirkenden vermittelte Inhalte, ist der Veranstalter verantwortlich. – Des san Se! - Insbesondere dürfen keine gesetzwidrigen, herabwürdigenden oder aufwiegelnden Inhalte dargeboten werden. – Also bitte ja ka Politik, oder was, im Programm. – Die Miete ist unabhängig von der Auslastung und zur Gänze ohne Abzug spätestens acht Wochen vor dem Miettermin mittels Erlagschein an die MA 34 einzuzahlen. – Sunst bleibn die Türln zua, capito? - Desgleichen die zusätzlichen Kosten für den Ordnerdienst sowie die Beaufsichtigung der Garderobe und der Toiletten. Wenn für diese Zwecke eigenes Personal beigestellt wird, sind mindestens 30 befähigte Personen abzustellen. Es sind ausschließlich volljährige, unbescholtene und mündige österreichische Staatsbürger zulässig. Mindestens zwei hiervon müssen Frauen sein, zuständig für die Damentoilette. Putzmittel und Hygieneartikel - also a Klopapier, oder was - sind vom Veranstalter beizustellen. – Des san Se! - Vom Mieter beigestelltes Personal hat den Anweisungen der Saalaufsicht nachzukommen und muss spätestens eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung unter Mitnahme eines gültigen Identitätsnachweises vollzählig zur Abnahme anwesend sein. Misslingt die Abnahme, kann die Veranstaltung nicht durchgeführt werden. – Sie bringen eh ka eigenes Personal, net wahr? Das bringt nur Wickl, des kann i Ihna sagn! – Der Mieter haftet für sämtliche Beschädigungen am Gebäude und den Einrichtungen ungeachtet der Verschuldensfrage. – Wenn was hin wird, müssen S‘ brennan, wurscht wer’s war. Klar? – Für allfällige Beschädigungen ist eine Kaution zu erlegen, die spätestens acht Wochen vor dem Miettermin mittels Erlagschein an die MA 34 einzuzahlen ist. – Frau Richter, des könnan ma streichn, weil ihr Gatte is ja Parteimitglied. Was sagn S‘ jetzt, samma net kulant? – Aber da kann i Ihna net helfn: - Die MA 34 ordert eine Mannschaft der Wiener Berufsfeuerwehr sowie zwei Sanitäter zur Bereitschaft während der Veranstaltung. Die Kosten dafür trägt der Mieter - des san Se - und sind spätestens acht Wochen vor dem Miettermin mittels Erlagschein an die MA 34 einzuzahlen. – Mei Tipp: Wann’s brennt, zahlt die Versicherung und wann ana ins Spital muss, die Krankenkassa. – Der Mieter garantiert der MA 34 den freien Zutritt zur Veranstaltung für 30 von ihr zu bestimmende Personen (Freikarten der ersten Kategorie). – Da können S‘ dann Leut von hinten umplatziern, weil von uns kommen sicher kane zehne. No was: Vergessen S‘ net die AKM. Wissen S‘ eh, die Tantiemenkassierer. Sie müssn für alles, was S‘ da aufführn die tarifmäßigen Tantiemen abführn, Kategorie 500 bis 1000 Teilnehmer.


Mizzi:   Moment, wieso? Das ganze Programm ist doch von meinem Mann!


Pepi:    Wurscht! Sie zahln und ihr Mann kriegt die vorgesehenen Tantiemen von der AKM retour, minus Agio, klarerweis. Und außerdem, der Weinheber is noch kane 50 Jahr tot und der Kästner lebt no, soviel i waß. Zahln S‘ halt, oder was. - Alles klar? Dann bitte da untn unterschreibn.

***


Das Konzert sollte im November stattfinden. In diesem Jahr war alles dem großen Ereignis unterworfen. Ich machte mir gewaltige Sorgen um Tino. Er war mit den Jahren immer kränklicher geworden, ich meine, wegen seines unerfüllten Lebens. Schon früher hat ihn künstlerische Arbeit immer sehr aufgeregt. Wenn ich damals auch noch recht klein war, so erinnere ich mich doch sehr deutlich, wie er bei einer Orchesterprobe außer sich geriet war, weil nichts nach seinen Vorstellungen klappte. Wie er die Musiker beschimpfte, die knapp davor waren, ihre Mitarbeit einzustellen. Wie Tinos Atem schwer und schwerer wurde und ich förmlich sehen konnte, wie sein Puls raste. Und dann kam auch noch Mama angerannt und machte ihm vor dem ganzen Ensemble eine Eifersuchtsszene. Das alles lag jetzt schon fast zwanzig Jahre zurück. Jahre, in denen Tino sich an Ruhe gewöhnt, seiner Kunst sich nach und nach entwöhnt hatte. Jetzt sollte die vielfältige Erregung plötzlich wieder auftreten. Schon am Schreibtisch das Auffrischen der alten Musiknummern bedeutete eine aufreizende Begegnung mit früheren Zeiten. Der in der Tiefe schwelende, doch immer zu Eruptionen bereite Schmerz über die Erfolglosigkeit brach mit aller Wucht wieder auf. Das Programm musste konzipiert werden. Die fürs Ottakringer Publikum passenden Nummern mussten ausgewählt werden. Dieser letzte Abend musste ein Erfolg werden, aber nicht nur beim Publikum, sondern auch für Tino selbst. Das Programm musste also mitreißend sein und doch nicht zu seicht. Und keinesfalls zu lang. Das Kürzen erforderte die schwersten Entscheidungen. Die Aufführung musste gelingen mit nur einer Orchesterprobe. Eine musste wohl sein. Eine zweite wäre unfinanzierbar gewesen. Das Orchester aufzutreiben und die Sänger und Sängerinnen war Mamas Aufgabe. Sie selbst würde mit drei Chansons auftreten, von denen zwei immer schon sichere Lachnummern und Stimmungsgaranten waren. Annamarias Freundin Darma Prezzi erklärte sich bereit, die Sopranparts zu geben, mein Freund Muffi, Peter Weber, den Bariton. Er hatte gerade mit dem Studium an der Musikhochschule begonnen. Ich genierte mich ein wenig, als ich ihn um diesen Abstecher in die leichte Muse bat, aber er war ganz Feuer und Flamme. Er hätte jede Bühnenerfahrung liebend gerne angenommen. Die weiteren Beteiligten, ein Buffopaar und die Orchestermusiker kamen über Empfehlung der Musikergewerkschaft. Ich bin sicher, Darma und Muffi hätten umsonst gesungen, aber die anderen Mitwirkenden mussten jedenfalls bezahlt werden. Tino wollte da keinen Unterschied machen und bezahlte jedem Aktiven eine wenn auch bescheidene Gage. Den schwierigsten Teil aller Vorbereitungen hatte Mama zu bewältigen: die sechshundert Karten an den Mann, die Frau zu bringen. In Zeiten des Fernsehens und gegen die Überfülle an attraktiven Konkurrenzveranstaltungen der verschiedensten Genres sechshundert Bekannte gratis in einen wenig renommierten Vorstadtversammlungssaal zu einem Musikalischen Abend zu bekommen, dargeboten von völlig unbekannten Künstlern, schien mir völlig ausgeschlossen; dasselbe zustande zu bringen gegen Bezahlung von Eintrittskarten eine unerfüllbare Vision. Es musste aber sein. Selbst sechshundert verkaufte Karten würden die Kosten natürlich nicht decken können, aber ohne den Erlös aus den Tickets würde der musikalische Abschied zur Verabschiedung in den Schuldenturm werden. Mama verkaufte Karten wann und wo immer sie konnte. Der Friseurladen war mittlerweile aufgegeben, aber sie besuchte zusammen mit Mamma alle früheren Kunden, von denen sie die Adressen kannte, erfuhr dort die Adressen von weiteren, sie verkaufte Karten an ihrem Arbeitsplatz, an die Kollegen, die Chefs, die Lehrlinge, an die Kunden des Arbeitgebers und an die Lieferanten. Sie verkaufte Karten an die Hausbewohner, beim Einkaufen im Lebensmittelgeschäft, dem Gaskassier, abends in den Ottakringer Heurigenlokalen, im Personallokal der Straßenbahner, in den Polizeiwachstuben und im Kommissariat und auf den Postämtern und nicht zuletzt verkaufte sie Karten nachts in ihren Träumen. Bei der Zehnermarie sah man es nicht gern, wenn sie zu den Gästen an den Tischen mit den Karten hausieren ging, aber sie überredete die Serviererinnen als Subhändlerinnen zu fungieren. Für je zehn verkaufte Karten erhielten sie selbst eine Freikarte oder den Gegenwert in Schilling. Auf dieselbe Weise wurden Karten in der Apotheke am Stillfriedplatz verkauft und bei den Fleischhauern im Bezirk. Arztassistentinnen gaben Patienten Empfehlungen für eine spezielle humoristische Musiktherapie. Ganz Ottakring brummte. Zwei Wochen vor dem Konzert gab es nur noch Restkarten. Es war gut, dass es sie noch gab, denn es meldeten sich ständig durch Mundpropaganda angestachelte Interessenten. Die letzten von ihnen musste Mama abweisen. Leider – ausverkauft. Wieder einmal hatte sie das Unmögliche geschafft.


Die Orchesterprobe wurde die erwartete Qual für Tino. Für mich auch. Die Gewerkschaft schickte zwei Violinen, eine Viola, ein Cello, je eine Flöte, Klarinette, Oboe, Fagott, Trompete, Posaune und ein Saxophon, einen Schlagzeuger, einen Pianisten und ein Akkordeon. Die Musiker spielten recht gut vom Blatt, das Zögerliche dabei war dem noch Unbekannten geschuldet. Das Ganze klang aber in meinen Ohren elendiglich verstimmt. Katzenmusik. Zu meiner Überraschung störte das Tino weniger und tatsächlich, beim zweiten Durchspielen klang alles schon ein bisschen professioneller. Waren also doch nicht so schlecht, die Damen und Herren. Zu meiner weiteren Überraschung hörte ich Kommentare der Musiker wie „Des hat was“ und von da an war ihnen eine gewisse Verve anzumerken. Nur der junge Pianist fiel aus der Reihe. Es gab eine Stelle, die schaffte er einfach nicht. Tino ließ ihn die Passage solo üben, dann sagte er barsch, „Lassen Sie’s einfach ganz weg.“


Am Tag vor dem Konzert die Generalprobe wurde durchgespielt, ohne dass eine Unterbrechung notwendig geworden wäre. Alles klappte wie am Schnürchen, das Orchester klang jetzt klein, aber oho, die Sänger hielten sich ihren unterschiedlichen Kapazitäten entsprechend gut im Konzept. Darma hatte ihren stimmlichen Zenit deutlich überschritten, kämpfte sich aber brav durch ihre ausdrucksstarken Nummern. Richard Plöschbergers Tenorbariton strömte sympathisch durch seinen Part, zum Teil im Duett mit Brigitte Hafner, einer blutjungen Soubrette, kleines Mädchen mit vollem Sopran. Ausgerechnet Mama hatte in einem ihrer zwei Chansons einen Texthänger, völlig unbegreiflich, diese Lieder hatte sie zuvor in vielen Jahren unzählige Male vorgetragen. Tino warf giftige Blicke zu Mama auf die Bühne. Natürlich gelang es ihr, den Fauxpas professionell zu kaschieren und die Blitze in Tinos Augen verwandelten sich in ein amüsiertes Grinsen und seine brutal kantigen Dirigierbewegungen zurück in angemessen wiegendes Schwingen. Nach der Pause kam auch Peter Weber, Muffi, zu seinen beiden Auftritten. Zweifellos war er der Star des Programms, vor allem in seiner Opernparodie, in der Mozarts 'La ci darem la mano' in die Musiksprache wichtiger Komponisten übertragen wurde. Seine Stimme war stark und variabel, sein komödiantisches Talent umwerfend. Mit dem Spaß, den er an der Nummer hatte, steckte er alle an. Finkes nahm das ganze Programm auf Tonband auf und suchte bei der Generalprobe die richtige Aussteuerung. Annamaria übernahm die Conference. Mit ihrem leichten italienischen Akzent wirkte sie ganz reizend, wenngleich ich mir etwas mehr Lockerheit gewünscht hätte. Ich riet ihr, bei der Ansage des 'Busserl-Landlers' vor dem Titel zwei geräuschvolle Busserln Richtung Publikum zu schicken. Damit wäre meine eigene Aufgabe als Regisseur übererfüllt gewesen, hätte man mir nicht eingeschärft, morgen bei der Aufführung während des Schlussapplauses die zu erwartenden Blumengaben auf die Bühne zu befördern und sie um Tinos Füße zu arrangieren.


Der Abend ist da. Tinos Abschiedskonzert findet vor vollem Haus statt. Ich kann beim besten Willen keinen freien Platz entdecken. Sogar die Plätze, die für Ehrengäste freigehalten wurden, sind von Beginn an belegt, ich weiß nicht von wem. Es macht nichts, die geladenen Ehrengäste haben alle „mit aufrichtigem Bedauern“ abgesagt. Tino lässt das Orchester die lauten Klänge am Anfang der 'Begrüßungsfanfare' unvermittelt in das noch brummelnde Publikum werfen und gewinnt damit dessen Aufmerksamkeit. Abgesehen von seinen Operetten ‚Das Hexerl von Hernals‘ und ‚Der Kurier des Zaren‘, die er selbst auch literarisch anspruchsvoll getextet hat, schrieb er vor allem Programmmusik in Form von Suiten. Sein Stil wurde oft als ‚eigenwillig‘ bezeichnet. Unterhaltungsmusik würde ihm nicht gerecht werden, dafür ist er zu kunstvoll, man kann ihn aber auch nicht der ernsten Musik zuordnen, dafür ist er zu populär. Seine musikalischen Wurzeln lagen wohl im Theatermilieu Berlins der Zwanzigerjahre. Im Lauf der Zeit sogen sie einiges aus der Neuen Welt auf. In Radiosendungen und bei Ehrungen hörte ich Tinos Musikstil bezeichnet als ‚gehobene Unterhaltungsmusik‘, ‚gehoben‘ wohl als Unterscheidung zum Schlagergenre, zur Popszene. Ihm selbst hat das Wort ‚gehoben‘ bestimmt nicht gefallen, aber die Hoffnung auf mehr Aufmerksamkeit verbot es ihm wohl, dagegen aufzutreten. Wie viele Komponisten verwendete er manches seiner alten Lieblingsthemen immer wieder in neuer Form. So tauchte in mancher Suite plötzlich ein Thema aus dem Kurier des Zaren auf. Nur dadurch konnte ich einen Eindruck gewinnen von Tinos großer Operette. Es war mir nie vergönnt, sie ganz zu hören. Die Handlung basiert auf Jules Vernes gleichnamigem Roman, ein vorzüglicher Operettenstoff. Vielleicht war Tino von dem Film mit Adolf Wohlbrück, Maria Andergast und Theo Lingen 1936 inspiriert. Tinos Libretto zur Operette nur zu lesen, macht richtig Spaß. Die Zeit des Kalten Krieges hätte genug Konnexe geboten, die Operette zu einem zeitbezüglichen und unterhaltsamen Musical umzuarbeiten. Hätte, hätte, Fahrradkette.


Das Programm läuft ab wie am Schnürchen. Der Orchesterklang erscheint mir jetzt noch kultivierter als bei der Probe. Das Publikum wirkt überrascht. Die Friseurkundinnen, Heurigengäste, Arztpatienten, jeder hat vielleicht etwas Anderes erwartet, nur nicht etwas wie diese bald elegische, bald funkensprühende Tanzphantasie ‚Fanny Elssler‘. Schon dieser frühe Programmtitel endet in langanhaltendem, starkem Applaus. Das habe ich nicht erwartet. Es haut mich um. Ich sehe Tino an. Ein verschmitztes Lächeln umspielt seine Mundwinkel. Kein Zweifel, er hat diese Publikumsreaktion erwartet. Vieles ist geschehen zwischen 1935 und 1970. Damals hätte Tino viel dafür gegeben, eine Vorstellung vor Wiener Publikum leiten zu dürfen. Alle Kollegen, die schon Wienerfahrung hatten, berichteten, wie anders die Auftritte dort verliefen. Wie die Energie, die hinüberfloss, aufgenommen und reflektiert wurde. Hier die Sachsen, Leute aus den Bergen, verhärtet und diszipliniert. Dort auch Leute aus den Bergen, aber auch aus den Wäldern, aus der Ebene, aus der Steppe, vom Meer, alle haben sie sich in der Stadt am Strom niedergelassen. Jeder hat von jedem etwas angenommen, anderes abgelehnt. Sie haben sich vermischt zu einem Konglomerat von undisziplinierten Phäaken. Undisziplinierten? Nein, nicht disziplinierten. Und jetzt, fünfunddreißig Jahre später erfüllt sich Tinos Traum vom Auftritt vor Wiener Publikum, noch dazu mit eigenen Werken. Die lachende Maske über dem Theatron. Es wird der erste und der letzte sein. Die weinende Maske. Vieles ist geschehen in diesen fünfunddreißig Jahren. Nichts davon hat das Publikum verändert. Noch nicht. Die Effekte des schrecklichen Krieges werden verzögert in der nächsten Generation zum Ausbruch kommen.


Darma tritt an mit einem besinnlichen Lied. ‚Der Werkelmann‘, der nach einem unbelohnten Auftritt unter den Fenstern einer Mietkaserne sein Werkel auf Rädern ein Stück weiterschiebt. Der Applaus ist wieder stark, aber verhaltener, mitfühlend wohl. Jeder im Publikum hat sein Werkel schon einmal unbedankt weiterschieben müssen. Nicht zuletzt Tino. Man hört es in der Musik.


Plöschberger kehrt zurück mit dem schmalzigen Wienerlied ‚In manches Glaserl Wein…‘ (…steck ich mein Naserl ´nein…). Tino kann zwar bis heute das Wort ‚Zwirnknäulerl‘ nur so aussprechen wie alle Piefke, trotzdem konnte er ein Wienerlied schreiben, dessen Urheberschaft durch einen waschechten Weaner kein Mensch bezweifeln würde. Jetzt kommen die Heurigenbesucher auf ihre Rechnung und bringen das auch lautstark zum Ausdruck.


Nun kommt etwas Modernität ins Programm. Die Unterhaltungsmusik hat gerade die elektronischen Instrumente für sich entdeckt. Es hat also etwas Revolutionäres, wenn jetzt Tinos Phantasie ‚Schwäne auf der Alten Donau‘ solo auf einer Philicorda erklingt. Tino hat währenddessen Gelegenheit, sich etwas auszurasten vor dem nachfolgenden Lied ‚Altottakring‘, gesungen von Darma. Tino hatte die melancholischen Worte von Josef Weinheber einfühlsam vertont, ‚… und am Abend wird längst Vergang‘nes nah, spielt ein Bursch gerührt Ziehharmonika.‘


‚Der Busserl-Landler‘ soll dem besinnlichen Programmteil ein Ende setzen. Annamaria in ihrem zuckerlrosa Kaftan aus Kattun, den ich gegen ihren Widerstand auf einem italienischen Markt an einem indischen Stand für sie erstanden hatte, tritt wie schon gewohnt zur Ansage auf die Bühne und erhält einen herzlichen Lacher, als sie meinem Regievorschlag brav folgend zwei Busserln ins Publikum schnalzen lässt.


Die Stimmung im Publikum ist schon prächtig, als Mama mit ihren komischen Chansons dem Fass den Boden ausschlägt. Sie tritt auf in einem bunten Dirndl, das etwas zu klein ist, unter dem etwas zu kurzen Rock bauschen sich überdimensionale Unterröcke, sie trägt eine blonde Perücke mit Mittelscheitel und zwei langen geflochtenen Zöpfen, in der Hand einen weiß gestrichenen Vogelkäfig mit einem bunten Stoffpapagei. In diesem Aufzug schildert sie in ‚Ich hab einen Vogel‘, wie sie als Backfisch (Ausdruck, der den Heutigen erklärt werden muss: heiratswillige Jungfrau) einen Herrn Schackel kennenlernt, der einen Dackel besitzt, der ihr so gut gefällt, dass sie den Schackel heiratet. Dritte Strophe: „Mein Mann ist jetzt Herr Schackel mit Glatze und mit Bauch. Er folgt mir wie ein Dackel und - an Vogel hat er auch…“ Die Friseurkundinnen, Heurigengäste, Arztpatienten brüllen vor Vergnügen, Tino muss ein paar Überbrückungstakte einschieben, bis Mama im Text fortfahren kann, und doch geht das baldige Ende in einem Orkan von Lachen und Begeisterung unter. Die Leute stehen in den Sitzreihen und toben minutenlang. Tino lässt das Orchester die Musik zum nächsten Chanson beginnen, um der Lage Herr zu werden. Im ‚Felix‘ beschreibt Mama, wie sie denselben mit allen möglichen Tricks verführen will, letztlich aber erfolglos bleibt. „Jedoch der Felix, der tut nix - nix, nix, nix. Er redt nix, er deut’t nix - nix, nix, nix! Ja wieso denn, er ist doch ein Mann, doch er traut sich nicht ran, es ist zum Verzweifeln, I hab halt a Rutschn auf den Felix… Das Bravsein ist fad und nutzt ja eh nix, nutzt eh nix, den Felix aber krieg ich nicht herum!“ Wieder sind die Friseurkundinnen, Heurigengäste und Arztpatienten aus ihren Holzstühlen gerissen und brüllen bravo. Einige wenige, die nicht so gut auf den Beinen sind, bleiben sitzen und trampeln. Der erste Teil des Konzerts (Motto: 'Aus dem alten Wien') hätte damit enden können, aber ich weiß nicht, was dann passieren würde. In weiser Voraussicht hat Tino noch ein Orchesterstück ans Ende gesetzt, den schnellen ‚Lippizzaner-Galopp‘, um das Auditorium wieder ein wenig herunterzuholen. Trotzdem geht es in der Pause hoch her, überall stehen die Friseurkundinnen, Heurigengäste und Arztpatienten in Gruppen beisammen, erkennen in der Mitzi, im Herrn Schackel und im Felix gemeinsame Bekannte und einander wieder und lachen ausgelassen. Niemand vermisst das fehlende Heurigenbuffet.


Den zweiten Teil ('Wien heute') eröffnet eine ‚Musical-Ouverture‘. Danach hat Darma einen weiteren Auftritt mit einem teils nachdenklichen Walzerlied ‚Modernes Wien‘. (Zweiertakt, Adagio:) „Zuerst geht’s a bisserl pomali, pomali, pomali, (Fermate) – (dann Dreiertakt, Accelerando:) doch dann kommt es endlich in Schwung, in Schwung, fühlt kraftvoll sich und jung…“, „Glaub nicht an die sogenannte gute alte Zeit, nicht an Opas Illusionen. Auch damals war viel Kummer, viel verborg‘nes Leid und wie heut kam das Glück nur in winz‘gen Portionen…“


Es folgt Richard Plöschberger mit dem Lied ‚Die Entstehung der Menschheit‘ nach dem bekannten Gedicht von Erich Kästner. Hier lässt Tino sein Instrumentierungsgeschick glänzen, etwa an der Stelle „Was ihre Verdauung übriglässt, das verarbeiten sie zu Watte“.


Danach hat die junge Soubrette Brigitte Hafner ihr Solo mit ‚Ein keckes Liederl‘, bevor mein Black and White-Tormann Muffi, alias Peter Weber, die Friseurkundinnen, Heurigengäste und Arztpatienten wieder in jenen Begeisterungstaumel versetzt, der schon kurz vor der Pause getobt hat. ‚Variationen über ein Thema von Mozart‘ klingt ziemlich klassisch, ist aber eine Opernparodie. Nach der Vorstellung des Themas, ‚Reich mir die Hand, mein Leben‘ aus ‚Don Giovanni‘ hat Tino die Szene Giovanni - Zerlina auf bekannte Stellen aus Musiken berühmter Komponisten gelegt wie Schubert ('Forellenquintett'), Verdi ('Rigoletto') – das Publikum lächelt teils wissend, teils ahnend. Bei Wagner ('Tannhäuser') rastet es aus, als Muffi die verzierenden Violinengirlanden imitiert, „Diu, diu, diu diu, diu diu“. Die Variation muss wiederholt werden. Johann Strauß ('Zigeunerbaron'), Puccini ('La Boheme'), Mozart verjazzt, sowjetisch („… komm mit mir auf die Kolchose…“), das kennt das Publikum gut und freut sich des Wiedererkennens, dann Ernst Hans Richter (‚In manches Glaserl Wein‘), und zuletzt im Mantel des Militärmarsches von Ferdinand Preis (‚O du mein Österreich‘). Schließlich, ex tempore, noch einmal Wagner, „Diu, diu, diu diu, diu diu“ und das Inferno im Saal ist perfekt.


Alles Weitere steht im Programm, wird aber nur noch als Zugaben gewertet. Zum Humor kommt Nationalstolz, der ‚Austrian Airlines-Marsch‘, Mama, jetzt in Straßenkleidung, mit dem ‚Protektions-Chanson‘. Es beklagt die so verbreitete kleine, alltägliche Korruption. Dann Hafner und Muffi mit einem Buffoduett aus ‚Das Hexerl von Hernals‘. Zu guter Letzt ist das gesamte Ensemble auf der Bühne mit einer ‚Folksong-Parodie‘. Das bestens gelaunte Publikum singt mit. Niemand hat es aufgefordert, wie das oft geschieht, um die Stimmung anzuheizen, um dann ein verhaltenes und vereinzeltes Mitsummen zu erreichen. Hier muss nichts angeheizt werden. Ganz spontan und aus vollem Hals singt der Chor aus Friseurkundinnen, Heurigengästen und Arztpatienten, bis die allgemeine Fröhlichkeit übergangslos in einem frenetischen Applaus endet. Ich bin mir ganz sicher, so gefallen hat diesen Leuten schon lange kein Abend. Mir selbst hat die Aufführung mein Bild von Tinos Kunst gründlich verändert. Im Augenblick staune ich nur fassungslos. Die Veränderung meines Vaterbildes wird über lange Zeit nach und nach voranschreiten, aber es wird in diesem heutigen unglaublichen Ereignis seinen Ausgang genommen haben. Tino, der alte, gebrechliche Mann, der nie Geld hat, dessen Geschenke ein Kinderbuch, ein Bauernfeld-Gedicht auf einem Blatt Papier, ein persönlicher Brief, das altersschwache Klavier der Schwiegermutter sind, Tino, mit dem man so schwer reden kann, der viel lieber schweigt als redet, der erfolgreich war irgendwann in längst versunkenen Urzeiten, er verwandelt sich in einen gewieften Könner, der selbst nach langen Jahren der Abwesenheit vom Geschäft Menschen begeistern kann, die ihn nicht kennen, der eine Notenschrift hat, die von einem Druck kaum zu unterscheiden ist, dem Harmonielehre und Instrumentation selbstverständliche Fertigkeiten sind, dessen höchstes Gut die Anständigkeit ist, dessen Geschenke mir plötzlich teuer werden, ob ich sie noch habe oder nicht, der sein Unglück gleichmütig annimmt und dabei Zufriedenheit empfinden kann, dessen rätselhafte Liebe für seine jüngere Frau sich mir auf einmal erschließt, der alte, gebrechliche Mann, der die ganze Zeit mein Vater war, der er mir jetzt erst nach und nach wird.


Solche Gedanken beginnen mir durch den Kopf, durchs Herz zu schwirren, als ich von der Seite der Bühne her Tino vorne an der Rampe stehen sehe, sich verneigend vor einem jubelnden Parkett, vor den Orchestermusikern, die anerkennend gegen ihre Pulte klappern, applaudierenden Sängern. Jemand brüllt mich an, ich soll doch die Blumen hinaustragen zu Tino. Ach ja, mein großer Auftritt! Hinter der Bühne lagert ein Meer von Blumen, ich kann mir gar nicht vorstellen, wer die alle mitgebracht haben soll. Ich erwische einen kleinen Strauß roter Rosen, eile damit hinaus zu Tino. Wir umarmen uns kurz, ich überreiche ihm die Blumen und gehe ab. Ich bemerke, wie Tino abwartend in meine Richtung schaut, all die anderen Blumen erwartend, das sichtbare Zeichen der öffentlichen Zustimmung. Verloren blicke ich auf das Blumenmeer, kann mich nicht entscheiden, welche ich zuerst ergreifen soll, damit keiner der Spender beleidigt sei. Tino steht bis zum Ende der Beifallsstürme an der Rampe mit dem Sträußchen roter Rosen. Der große Blütendank bleibt vom Publikum unbemerkt hinter der Szene.


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