27 Alsergrund

Am Alsergrund

worin vorkommen: Hegyeshalom, Bozen, Brenner, Sarajewo, Schwarzau im Gebirge, St. Christophen, Neulengbach, Nest, Steyr, Enns, Brunnenmarkt, Weitra, Eisenstadt, Erich Kettner, Gustav Klimt, 'Der Kuss'. 'Judith und Holofernes', 'Salome', 'Johanaan', 'Hygieia',

Nakamuro Teruo, Stefan Zweig, Rainer M. Rilke, Johann W. Goethe, Franz Grillparzer, Giovanni Pierluigi Palestrina, Arnold Schönberg, Gustav Mahler, George Gershwin. Ludwig van Beethoven, `Mondscheinsonate', 'Stefan Zweig, Hermann Hesse, 'Die Welt von gestern', Peter Bichsel, Gustav Thömi, Herbert Plank, Karl Schranz, Heinrich Messner, Alfred Matt, Annemarie Moser-Pröll, Helenio Herrera, Bruno Kreisky, George Orwell, 1984', sowie ein Mercedes 180d Bj. 1957

Es wird Zeit sesshaft zu werden. Wir beabsichtigen, unsere beiden Junggesellenbuden aufzugeben und eine etwas größere gemeinsame Wohnung zu mieten. Ein Angebot erscheint uns passend. Innenstadtnähe, gute Verkehrsanbindung und Infrastruktur. Altbau, 4. Stock ohne Lift, Küche und drei große, hohe Zimmer, Fischgrätparkett, alte Flügeltüren mit Kassettenfüllungen, ein Stück des Vorzimmers ist abgetrennt und zu einem kleinen Bad mit Wanne umgebaut. Zwei Zimmer mit je zwei Fenstern sind südlich zur verkehrsreichen Alserstraße gerichtet, das dritte Zimmer nördlich zu einem Innenhof und anderen ähnlichen Gebäuden, ebenso das Bad. Keine Heizung ist eingebaut. Die Räume wurden anscheinend bisher mit Kohle- oder Koksöfen beheizt. Es gibt tatsächlich immer noch einige Kohlenhändler in der Umgebung, die auf Wunsch und gegen teures Geld das Heizmaterial in die Wohnung zustellen würden. Zustand abgewohnt, renovierungsbedürftig. Man sieht schon, einige große Plus-, aber noch viel mehr große Minuspunkte. Ohne Letztere wäre die Miete für uns unerschwinglich und die Nachteile erscheinen für junge Leute nicht so gravierend. Ich bekomme einen Termin beim Hausverwalter. Er lauert hinter einem protzigen schwarzen Schreibtisch in einem schwarzen Büroraum, der wie ein Salon eingerichtet ist, neunzehntes Jahrhundert. Dunkler schwarzer Anzug und schwarze Krawatte. An jedem Finger ein dicker Goldring. "Die Ablöse ist Ihnen bekannt?" fragt er. Etwas anderes interessiert ihn nicht. Noch bevor ich antworten kann, setzt er fort. "Dann ist ja alles bestens. – Ah ja, und meine persönliche Bemühung ist dann tausend Schilling. Gö?" 



Ablöse? Wofür? Die Wohnung ist leer wie meine Zigarettenschachtel am Abend. In der Küche nichts als ein Bleirohr, das aus der Wand ragt und auf ein Gasgerät wartet. Das Bad? Wird wohl in der Miete berücksichtigt sein? Alle Türen und Fenster müssen gestrichen, die Wände gemalt oder tapeziert, die Böden geschliffen und lackiert werden. Einer der Böden hängt durch, ein Träger darunter muss kaputt sein. Und überhaupt, persönliche Bemühung? Diskutieren hätte nicht geholfen. Es ist eben so üblich. Die Mietwohnungen werden gegen eine Ablösezahlung vergeben, in bar, ohne Quittung, also quasi verkauft. Schwarz, versteht sich, so wie alles hier. Das Geld ist pfutsch. Du siehst es nie wieder. Es ist ganz einfach. Du zahlst und kriegst den Mietvertrag. Oder du zahlst nicht und kriegst keinen. Wenigstens gibt es keinen Vormieter, dem unter Umständen eine echte Ablöse zusteht. Wir legen alles zusammen, unsere Einkommen gehen auf ein gemeinsames Konto, ein gemeinsamer Kredit, um die Wohnung herzurichten. Unsere Gehälter sind nicht üppig, lassen uns aber mit problemloser Rückzahlung rechnen. Annamaria bringt zusätzliche Arbeit mit nach Hause. Deutsch-Italienisch-Deutsch-Übersetzungen für eigene Rechnung. Und sie bekommt immer wieder Dolmetscherjobs. Zusätzlich schickt der Himmel uns Erich Kettner. Wer immer ihn uns empfohlen hat, dem gebührt dafür als zweiter Preis die bedingungslose Aufnahme ins Paradies samt zweiundsiebzig Jungfrauen. Der erste Preis geht an Kettner selbst. Das ist das Paradies ohne Jungfrauen, dafür mit zweiundsiebzig verkommenen Wohnungen. Kettner ist nur wenig älter als wir. Von Beruf Zuckerbäcker arbeitet er bei der Stadlauer Malzfabrik als Lebensmitteltechniker. Nebenbei hilft er privat Leuten, die wie wir eine Wohnung zu restaurieren haben. Das heißt, er pfuscht. Das heißt, er pfuscht nicht. Er ist hoch qualifizierter Profi auf allen einschlägigen Gebieten. Er schleift und lackiert die Böden, der durchhängende Boden bekommt eine Spanplattenauflage und einen Teppich, er streicht Türen und Fenster, tapeziert die Wände, macht alles, was bei uns zu machen ist, zu vertretbaren Kosten. Außerdem weiß er immer – lange vor der Internetära! - wo wann welches Material am günstigsten zu bekommen ist und darauf erhält er als ständiger Großabnehmer noch schöne Rabatte, von denen wir profitieren, denn wir kaufen das Zeug zu seinen Konditionen. Ihm genügt es, für seine Arbeit, die ihm Freude macht, mit Augenmaß bezahlt zu werden. Ein Geschäftsmodell, das schon damals selten genug ist, inzwischen aber mit Sicherheit ausgestorben. Damit sind die Vorzüge Kettners aber noch nicht erschöpft. Zufällig im Gespräch kommen wir dahinter, dass er auch Hobbymaler ist. Eines Tages zeigt er uns ein paar seiner sauberen, einfachen und ungekünstelten Aquarelle. Mehr noch, er sagt, dass er auf Wunsch Werke berühmter Meister reproduziert. Nun hat sich unsere Begeisterung für den Jugendstil in eine besondere Vorliebe für Gustav Klimt niedergeschlagen. Heute ist alles überschwemmt von Klimt-Reproduktionen. Fast schon kitschig ist das. Damals aber sind die Klimt-Bilder noch nicht so verbreitet. Ich erinnere mich an eine Briefmarke mit dem 'Kuss', die mein Interesse geweckt hat. Ich schlage Kettner also vor sich zu überlegen, ob er nicht eine Kopie davon anfertigen wolle. Er sagt nicht sofort zu, beschafft sich zuerst ein paar Kunstdrucke. In dieser Art der ornamentalen Malerei hat er sich noch nie versucht. Nach ein paar Übungen ist er endlich bereit, den Frevel zu wagen. Seine Kopie in Öl ist etwa halb so groß wie das Original im Belvedere, sonst hätte sie wohl an keine unserer Wände gepasst. Ich hätte nie gedacht, dass seine Arbeit so detailgetreu ausfallen würde. Ich kann keinen Schnörkel, keine Farbe entdecken, die nicht exakt der Vorlage auf den Kunstdrucken entsprechen. Das ist fast schon kriminell. Kettners Talente muss man ausgiebiger nützen, denke ich, und so entstehen nach dem 'Kuss' noch zwei weitere Klimt-Kopien. 'Judith I mit Holofernes' Haupt in der Hand und ihrem Ausdruck, der unweigerlich an Salome und Johanaan erinnert. Dieses Bild hat annähernd Originalgröße. Kettner hat dazu noch den Holzrahmen dem Original nachgebildet mit den goldenen Metallbeschlägen mit der Titelaufschrift. Schließlich noch die 'Hygieia', für mich die Verschmelzung von Jugend, Gesundheit, Alter, Krankheit und Tod. Kettners Werke kommen bei uns in der Alserstraße in ihrer Jugendstilumgebung besonders gut zur Geltung. Sie werden mich durch viele andere Umgebungen mein Leben lang begleiten.

Eine Elektrofirma baut in unsere Wohnung eine Nachtstromheizung ein. Das ist einer der größten Brocken im Budget. Die einzige Alternative zu Kohle oder Heizöl schleppen. Das heißt, Kohle werde ich trotzdem ab und zu schleppen. Nebenan wohnt ganz allein eine über achtzig Jahre alte Frau, deren Orientierung schon zu wünschen übrig lässt. Heute würde man wohl Alzheimer diagnostizieren. Sie ist der festen Überzeugung, der Krieg dauere immer noch an. Sie ist wohl die Vorletzte, die in dieser Annahme lebt. Der Allerletzte, Nakamuro Teruo, wird bis 1974 im indonesischen Dschungel seine einsame Stellung halten, bevor er 'überwältigt' wird. Die alte Dame kann ich vom Kriegsende nicht überzeugen. Für sie hole ich die Kohle aus der Kohlenhandlung. 

Nach einigen Wochen sind die gröbsten Arbeiten erledigt. Wir ziehen ein mit wenig Habe. Die Wohnung strahlt in neuem Glanz, ist aber noch ziemlich leer. Die Vorhänge hat Annamarias Mutter genäht. Beim Import der Ware nach Österreich ist es zu meinem dritten schweren Grenzzwischenfall gekommen. Dem dritten? Ja. An den ersten wird man sich noch erinnern. Ich sage nur, Hegyeshalom, Tölltötoll. Der zweite hat sich ereignet, als wir einmal mit Annamarias Vater von Wien nach Bozen unterwegs gewesen sind. Man konnte am Brenner nur über die Bundesstraße nach Italien einreisen. Heute fährt man in der Regel unkontrolliert durch. Das allein würde schon die Existenz der Europäischen Union rechtfertigen. Die Kontrollen waren einigermaßen entwürdigend. Schon bei der Annäherung an den Posten im Stau war das Gefühl mulmig, ob man nun etwas zu verbergen hatte oder nicht. Dann das Wiehern des Amtsschimmels mit der unglaublich dummen Frage "Führen Sie etwas mit, das Sie bei der Ausreise nicht mit hatten?" – "Ein halbes Kilo mehr, hätte man antworten wollen. Oder, ein paar Millionen. Neue Körperzellen. Genaugenommen bin ich gar nicht mehr derselbe." Man verkniff es sich aber, wenn man nicht eine halbe Stunde oder länger durch eine Intensivkontrolle verlieren wollte. Bei der Einreise nach Italien warf der Grenzpolizist einen Blick in die Pässe und einen weiteren auf die Mitfahrer, dann konnte man in der Regel weiterfahren. Diesmal ist alles anders gewesen. Der italienische Ausweis meines Schwiegervaters hat die Lage radikal geändert. Die Frage nach einzuführenden Sachen auf Italienisch. Die Verneinung durch meinen Schwiegervater aus dem Fond des Wagens. Das Aufblitzen in den Augen des Polizisten. Seine Aufforderung zur Seite zu fahren. Zwei andere Beamte, Zöllner, haben die Kontrolle übernommen. Ich habe den Kofferraum öffnen müssen. Während der Fahrt waren wir in heiterer Stimmung gewesen. Die Heiterkeit hat durch die Kontrolle keinen Schaden genommen, doch hat sich, jedenfalls bei mir, eine gereizte Ausgelassenheit eingestellt. Der Zöllner hat wohl gemerkt, dass meine deutschen Kommentare respektlos gewesen sind. Er hat verlangt, den Koffer zu öffnen. Ich habe gesagt, der gehöre nicht mir. Wem er gehöre, hat er wissen wollen. Meiner Frau. Annamaria ist ausgestiegen und hat den Koffer geöffnet. Zuoberst sind zwei Stangen Zigaretten gelegen. Erlaubt war eine pro Reisendem. Triumphierend hat der Zöllner die Zigaretten genommen. "Nicht angemeldet", hat er gesagt. – "Eine Stange ist erlaubt pro Reisendem", habe ich entgegnet. – "Ja, und hier sind zwei", hat er gesagt und indem er die einzelnen Stangen in die Höhe gehalten hat, „uno e due“. - "Die zweite gehört mir", habe ich behauptet. – "Sie haben gesagt, der Koffer gehört Ihrer Frau." – "Stimmt, aber diese Stange Zigaretten im Koffer meiner Frau gehört mir." – "Egal, zollfrei ist nur, was freiwillig erklärt wird. Sie haben nichts erklärt." Annamaria hat es mir übersetzt. Der Zöllner hat die Debatte um die Zigaretten dann unterbrochen. Er hat sehen wollen, was sonst noch in dem Koffer ist. Dazu hat er hineingegriffen unter die zusammengefalteten Kleidungsstücke. Ohne allfällige Folgen zu bedenken habe ich ihm zwei, dreimal auf die Finger geklopft. Das ist nicht ungefährlich gewesen. Es hätte mir als Angriff auf die Staatsgewalt ausgelegt werden können. Der zweite, jüngere Zöllner ist daneben gestanden, hat alles beobachtet und ist offenbar neugierig gewesen, wie sein Kollege jetzt reagieren werde. Der hat die Finger aus dem Koffer genommen und ist mit unseren Pässen und den Zigaretten im Zollhaus verschwunden. Annamaria hat gemeint, da habe ich aber weit übers Ziel geschossen. Ihr Vater war die ganze Zeit schweigend dabei gestanden. Ein Italiener und hat kein Wort gesagt. Er hat mich nur missbilligend angeschaut. Wir haben erwartet, jetzt werden sich gleich ein paar Polizisten aus dem Haus auf uns stürzen und uns festnehmen. Doch nichts ist geschehen. Wir sind nur neben dem offenen Kofferraum mit dem offenen Koffer gestanden und haben gewartet. Langsam ist der Verkehr mit den braven Reisenden an uns vorbeigerollt. Die Zeit vergeht langsam, wenn man so steht und wartet und nichts passiert. Nach zwanzig Minuten ist Annamaria ins Haus gegangen. Nach kurzem ist sie herausgekommen. "Nichts", hat sie gesagt. „Er blättert irgendwelche Akte durch. Solche mit Bildern dabei." Wir haben weiter gewartet. Nichts ist geschehen. Nach einer Stunde ist mein Schwiegervater ins Zollgebäude gegangen. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis er zurückgekommen ist. Mit den Pässen. Annamaria hat übersetzt, er habe sich bei dem Beamten entschuldigt. Auf der Fahrt nach Bozen hat sich die Heiterkeit nicht so recht wieder einstellen wollen.


Zurück zu den Vorhängen in der Alserstraße. Annamaria hatte den Stoff in Bozen gekauft. Ihre Mutter hatte sie dabei beraten. Sie kannte sich aus damit, ob Stoffe etwas taugten. Sie hatte dann auch die Näharbeit gemacht. Auf dieser Reise ist meine Oma mitgewesen. Auf der Heimreise haben wir ein paar Flaschen Wein mitgehabt, den Onkel Alfonso uns geschenkt hatte. Es dürfte nur wenig mehr gewesen sein als was drei Personen zollfrei mitnehmen durften. Die Flaschen sind hinter dem ganzen Gepäck recht gut verstaut gewesen. Wir haben Mamma beschworen, an der Grenze ganz still zu sein, wir würden das schon machen. Trotzdem, als wir der Grenzkontrolle schon ganz nahe gewesen sind, hat Mamma ihr Fenster geöffnet und laut hinaus gerufen, "Gun Taaag!" Die Aufmerksamkeit des Beamten ist uns gewiss gewesen. Der übliche Dialog mit der blöden Frage. Die Verneinung. Die Aufforderung, zur Seite zu fahren. Mammas entrüstete Frage aus dem Fenster, "Ja, warum denn, wir haben ja nix!" Das Öffnen des Koffers. Die Entdeckung der Vorhänge. An die Vorhänge hatten wir gar nicht gedacht. Uns ist nur wegen des Weins mulmig gewesen. Wir haben mit den Vorhängen ins Zollgebäude müssen. Mamma hat sich die ganze Zeit furchtbar aufgeregt. Sie hat geschrien und geheult wie eine süditalienische Witwe am Totenbett ihres Mannes. "Das sind ja junge Leut, die haben ja grad erst gheiratet! Da müssen S' doch Mitleid habn!" Es hat alles nichts geholfen. Wir haben die Vorhänge verzollen müssen. Dabei ist mir eine Feinheit der Zollbestimmungen bekannt worden. Hätte es sich um den bloßen Stoff gehandelt, wäre der Tarif viel niedriger gewesen. Wir aber haben fertig genähte Vorhänge gehabt. Das kostet wenigstens dreimal mehr. Durch den höheren Sachwert und den anderen Tarif. Ein Zuschlag ist auch noch dazu gekommen, weil wir die Ware nicht deklariert hatten. Mit Mühe haben wir unsere letzten Kreuzer zusammengekratzt, um die Gebühr zu bezahlen. Der Zeitverlust ist auch ins Gewicht gefallen. Die Prozedur hat gute zwei Stunden gedauert. Als wir endlich weiterfahren haben dürfen, rief Mamma beim offenen Fenster hinaus, "Na, so a Herzlosigkeit! Nie wieder dürfen Sie a Glück habn im Lebn!" Das war der dritte Grenzzwischenfall. Kleiner Trost: Onkel Alfonsos Wein ist unverzollt geblieben. Umso besser hat er geschmeckt.

Annamaria und ich haben ein Faible für Jugendstil. Damals sind noch, oder wieder, viele Möbel aus dieser Epoche auf dem Markt. In der Josefstadt gibt es einige Läden, die sich auf solche Möbel spezialisiert haben. Es sind nicht Antiquitätenläden, die vorwiegend aufwendig restaurierte Einzelstücke teuer verkaufen. Diese hier bieten ganze Ensembles an, etwa aus Verlassenschaften, in dem Zustand wie sie hereingekommen sind, manche besser, manche reparaturbedürftig. Diese Läden durchstreifen wir immer wieder und bekommen so im Lauf der Zeit eine schöne Jugendstileinrichtung für die ganze Wohnung zusammen. Das Speisezimmer ist sehr dunkel, fast schwarz, altdeutsch. Die Sessel sind gepolstert, die Lehnen ledergedeckt, die Sitzflächen leider nur aus Kunstleder. Ohne Abstriche geht es eben nicht. Nach und nach kaufen wir einzelne Stücke eines Speiseservices, Hutschenreuther Zwiebel für festliche Essen oder Gäste. Für das Wohnzimmer finden wir eine barockisierende Stepppolstergarnitur. Sie stammt aus der DDR und ist günstig. Ins Schlafzimmer kommt ein vollständiges Ensemble aus Betten mit schönen Kopf- und Fußteilen aus hellem Kirsch mit typischen Secession-Ornamentstreifen aus Messing, ebensolchen Schränken und Nachtkästchen. Der überdimensionierte Rosenkranz über den Kopfenden ist kein Ausdruck von Frommheit, sondern ausschließlich Dekor. Die Luster aus getriebenem Messingblech sind Jahrhundertwende. Jener im Schlafzimmer ist original von Oma und Opa Milham mit seinen trotz bewegter Geschichte heute noch unzerbrochenen Kugeln aus warm leuchtendem gelbem Milchglas.

Als Tino während meiner Pubertät feststellte, dass ich einen Autowahn entwickelte, versuchte er mich zu beruhigen. "Du wirst in deinem Leben noch so viel Auto fahren, am Ende wird dein rechtes Bein um 3 Zentimeter länger sein." Es hatte den gleichen Effekt wie seine andere Warnung, „Wer onaniert, kriegt Gehirnerweichung.“ Nichts davon nahm ich ernst. Das alles lag in einer unendlich weit entfernten Zukunft. War doch unbezahlbar teuer so ein Vehikel. Und jetzt, in noch so jungen Jahren, hat es sich schon bewahrheitet. Was immer noch ansteht an Autofahren, das, was bisher war, ist schon genug. Die gelegentlichen Fahrten nach Bozen werden zuerst kürzer, weil die Strecke immer bekannter wird, danach aber allmählich länger, weil bereits zur Genüge bekannt, zu lang schließlich. Das Vagabundenleben in der Autovermietung passt nicht mehr zu meinem neuen Leben mit schöner Wohnung und junger Ehefrau. Ich befasse mich mit dem Gedanken, wieder mehr Stabilität in meine Tage zu bringen. Meine Erfahrungen und angelernten Fähigkeiten sollen dabei eine Rolle spielen. Zu meinem Erstaunen wird schon meine erste Anfrage zustimmend beantwortet. Plötzlich bin ich Sachbearbeiter in einer Schadenabteilung der Wiener Allianz Versicherung. Ich erinnere mich an die Zeit mit Oskar und der Invaliditätspensionistin. Das hier ist aber doch etwas anderes. Hier soll ich Kunden, die im Kraftfahrzeugbereich versicherte Schäden erlitten haben, dem abgeschlossenen Vertrag entsprechend entschädigen oder eben auch nicht. Ein Büro als Basis, aber viele Außenkontakte innerhalb und außerhalb. Recht und Verkehr sind die wesentlichen Grundlagen. Dazu sollten aber noch viele andere Fachgebiete kommen, genau genommen die meisten. Meine Dienststelle ist in der Lerchenfelderstraße Ecke Brunnenmarkt. Von der Alserstraße ein Katzensprung. Die Allianz hat in einem fünfstöckigen Wohnhaus aus den Fünfzigerjahren den ganzen ersten und zweiten Stock gemietet. Gut möglich, dass das Haus ihr auch gehört. Es ist die Landesdirektion für das östliche Niederösterreich. Die Struktur der Büroräume ist eher verwinkelt und eng. Sie blicken hinab teils in die Lerchenfelderstraße, teils auf das quirlige Treiben zwischen den Obst- und Gemüseständen des Brunnenmarkts. Die Räume, ursprünglich als Wohnungen geplant, sind nur sanft für Bürozwecke umgebaut worden. Die Einrichtung zeitgemäß, Fünfzigerjahre, braune Holzmöbel. Herr Csipes, der zur Einrichtung passende Büroleiter, der mit mir auch das Vorstellungsgespräch geführt hat, macht mich mit meinem unmittelbar Vorgesetzten bekannt. Herbert Vogt ist der Sachbearbeiter mit der größten Erfahrung im Haftpflichtbereich. Unsere Schreibtische stehen einander gegenüber. Mein Tisch muss anfangs meistens ohne mich auskommen, denn zur Einarbeitung gehören ein paar Monate im Kundenbüro. Das ist gleich nebenan der größte Raum im Bürobereich. Kunden, die persönlich in die Dienststelle kommen, das sind in jenen Tagen noch recht viele, melden sich hier an bei einer der beiden Damen, welche die Schadenkartei und die Aktenablage auf dem Laufenden halten. Oder neuerdings bei mir. So lerne ich die wichtige Kartei und die Aktenorganisation kennen. Moderne Zeiten brechen an. Der Beginn der Digitalisierung macht sich bemerkbar. Das Neueste vom Neuen sind Holleriths Lochkarten. Die elend langen Listen und Tabellen müssen nicht mehr mit der Schreibmaschine getippt werden. Wie von Geisterhand spuckt der Drucker in atemberaubendem Tempo und mit Höllenlärm Seite um Seite aus, während die Lochkarten durch den Leser laufen. Abgesehen von den Kontakten mit den Leuten, die entweder schüchtern oder aber auch schon sehr erzürnt hier auftauchen, ist das ein fader Job. Er erfordert aber Genauigkeit. Eine falsch eingereihte Karteikarte, eine falsch abgelegte Akte kann mehrere Leute zu stundenlangem Suchen verurteilen. Das Sortieren ist mir nicht neu. Mein endloses Zettelschlichten in der Car Control bei Hertz befähigt mich dazu. Ich muss anerkennen, dass die Kenntnis des Systems wichtig ist. Vogt überreicht mir eine in roten Kunststoff gebundene Mappe. Feierlich erklärt er, das sei die Bibel des Sachbearbeiters. Auf vielleicht hundertfünfzig Seiten sind wichtige Grundlagen für den Job kurz zusammengefasst. Es beginnt mit einem Überblick über die historische Entwicklung der Wiener Allianz, des Zivilrechts seit Maria Theresia, das in großen Teilen immer noch in Kraft ist, streift auch das Strafrecht, geht über allgemeines Vertragsrecht, Versicherungsvertragsrecht, Sozialversicherungsrecht, die diversen Haftpflichtgesetze und Prozessordnungen, bis zu Fragen der Unternehmenspolitik. Hungrig verschlinge ich die ‚Rote Bibel‘. Alles Themen, die ich während meiner Autovermietungsjahre schon autodidaktisch studiert habe. Selbstverständlich können auf diesen etwa sechzig Seiten nur die allerwichtigsten Grundsätze kurz angerissen sein. Dennoch werde ich diese Fibel für mein ganzes weiteres Berufsleben in Ehren halten und immer wieder als Wegweiser zur Hand nehmen, selbst als ich schon längst selbständig sein werde. Anhand der ‚Roten Bibel‘ werde ich meine Mitarbeiterinnen einschulen.

Ich studiere die Materie zuhause, wenn nicht gerade Fußball angesagt ist, abwechselnd mit Stefan Zweigs 'Die Welt von gestern'. Tino hat mir das Taschenbuch geschenkt und nahegelegt, es genau zu studieren. Es gäbe keine bessere und vollständigere Darstellung der europäischen Welt in jener Zeit. Ich lese das Buch rasch bis zu seinem erschütternden Ende. Danach beginne ich es wirklich zu studieren. Ich nehme ein Heft und notiere alles, was ich später tiefer ergründen will. Heute mit Internet ist das leicht, damals allerdings vergleichsweise aufwändig. Ich gehe auf alles ein, was vertieft werden kann, lese nach über Ereignisse und Menschen und gewinne bald einen ganz neuen Blick auf die gegenwärtige Welt. Der Geschichtsunterricht, der für mich beim Wiener Kongress endete, hat mich nicht sonderlich interessiert. Den Lehrer respektierte ich, aber er mochte mich nicht. Schlechte Noten waren die regelmäßige Folge. Aus Gesprächen weiß ich, dass meine Mitschüler in den zwei Jahren, die mir fehlen, auch nur bis Sarajewo gelangt sind. Ich meine das Attentat auf den Thronfolger, nicht den Zerfall Jugoslawiens. Als hätte Zweig an meiner optischen Linse gedreht, sehe ich auf einmal schärfer Entwicklungen und Zusammenhänge. Es beantworten sich mir Fragen, die ich mir gar nicht gestellt habe. Jede Antwort wirft neue Fragen auf. Natürlich lese und studiere ich auch Zweigs andere wichtige Bücher. Da alles mich fesselt, merke ich gar nicht, dass ich hier Autodidaktik betreibe.

Meine Schreibleidenschaft kommt in dieser Zeit zur Blüte. Angeregt von Rilke, dessen beide Vornamen ich trage, vor allem von seinen unsagbar schönen Gedichten. Ich bilde mir ein, mit dem Dämon zu kämpfen, es sind aber nicht mehr als hübsche Glasperlen vor geschlossenen Pantherlidern. Mein neuer Job weckt in mir die Erinnerung an Goethe und Grillparzer, die wie viele andere einem Brotberuf nachgingen und doch wunderbare Werke schufen. Eine meiner Kurzgeschichten schicke ich an diverse Zeitungen. Die Salzburger Nachrichten drucken sie spontan und schicken mir ein kleines Honorar. Am meisten aber freut mich die Anerkennung von meinem streng kritischen Vater für ausgerechnet jenes Gedicht, für das er mir sozusagen Modell gestanden ist. Von Tino zu lesen, das sei ein Meisterwerk, das hat schon was.

Wein


Die Stöcke stehn in Reih und Glied,

doch Lücken sind und Blößen;

gefärbt das Weinlaub, bunt die Ried.

Der Wein ist längst gelesen.


Ich bin mit einem alten Herrn

Im Weingarten gewesen.

Sein Rücken krumm, der Blick schon fern.

Der Wein ist längst gelesen.


Ein Blatt nahm seine welke Hand.

Er suchte es zu lesen.

Ich sah ihm an, was er empfand.

Der Wein ist längst gelesen.


Die Adern rot, kaum Grünes blieb,

manch gräulich Blau vom Bösen.

Und trocknes Braun verblühter Lieb.

Der Wein ist längst gelesen.


Dann sah ich seinen trüben Blick

In frohern Sinn sich lösen.

Freude ist auch vergangnes Glück.

Der Wein ist gut gewesen.  


Gute Musik spielt weiterhin eine wichtige Rolle in meinem Leben. Mit der Zeit habe ich einige schöne Schallplatten gesammelt, von Palestrina bis Schönberg, Mahler und Gershwin. Dazu ist Ö1 ständig an. Annamaria mag diese Musik, ohne viel davon zu kennen. Sie eignet sich aber rasch vieles an, denn wir gehen häufig in Konzerte.


Hallo! Ich bin auch dabei! Tino braucht mich nicht mehr. Obwohl ich eigentlich immer noch Mamma gehöre, schenkt Tino mich Rainer. Als Symbol für die Hofübergabe, schreibt er. In der Alserstraße ist endlich wieder Platz für mich. Die hohen Räume ohne Enge, ein angemessenes Ambiente. Andererseits, es ist auch wieder vorbei mit meinen Aktivitäten. Zwar klimpert Rainer manchmal auf mir, doch die Ergebnisse sind haarsträubend. Er hat sich die Noten der Mondscheinsonate beschafft und versucht, den ersten Satz einzustudieren. Er ist unglaublich langsam. Ich will sagen, Rainer kommt unglaublich langsam voran. Cis-Moll. Seine Geige hängt auch an der Wand, den Bogen dekorativ über sie gekreuzt. Wir sind Museumsstücke.

Unser Musikkonsum ist rein passiv. Heinz ist jetzt Techniker bei Elin. Ein Werbespruch ist in Umlauf: ‚Schau, trau Elin‘. Ich glaube, Heinz mag seinen Job eher nicht. Er hat den Spruch abgewandelt in 'Schaurig, traurig, elindiglich'. Aber er hat schon begonnen, sich intensiv mit seinem Hobby zu befassen, das nach und nach zu seinem Lebensinhalt werden soll, Stereoanlagen. Er wohnt noch bei den Eltern in der Werdertorgasse. Sein Zimmer hat er vollständig ausgeräumt. Dann hat er seine Stereoanlage so hineingestellt, dass sie die größtmögliche Wirkung entfalten kann. Die Lautsprecherboxen sind das Um und Auf. Er hat sie selber gebaut. Die Lautsprecher sind in Stein eingebettet, rundherum eine Kiste aus Spanplatten, die Lautsprecher ausgenommen, die schauen nackt in die Gegend. Für eine ansehnlichere Gestaltung hat die Geduld nicht gereicht. Es sind Riesendinger, so hundert mal achtzig mal dreißig Zentimeter und unglaublich schwer. Diese Boxen also sind zuerst in das Zimmer gekommen, dann der Plattenspieler, Lenco, versteht sich, der Röhrenverstärker und der Tuner von Technics, das Tonbandgerät von Revox. Erst danach durften gewisse Gegenstände ins Zimmer, die das Musikhören etwas bequemer machen. Bald war Heinz mit seinen Eigenbauboxen nicht mehr zufrieden. Ich habe sie ihm abgekauft. Jetzt stehen sie in unserem Wohnzimmer neben der einfachen Philips-Anlage, die Annamaria mir geschenkt hat, und geben einen wunderschönen Klang. 

Mit der diesmal ganz offiziell geduldeten privaten Benutzung nicht gebrauchter Mietwagen ist es aus. Da beide unsere Arbeitsplätze in Gehweite liegen, würde man sich heutzutage dreimal überlegen, ob ein Auto angeschafft wird. Damals gehört, wenn es sich irgendwie ausgeht, ein Auto einfach dazu. Und ich bin noch nicht ganz entwöhnt. So komme ich eines Tages nach Hause und so nebenbei erwähne ich, "Du, ich hab gerade ein Auto gekauft. Es steht dort drüben in der Kochgasse."


"Du hast – was?" Annamaria glaubt, ich sei jetzt übergeschnappt.


"Ja. – Ein Auto."


"Was für ein Auto, um Gottes Willen?"


"Mercedes."


"Du machst Witze. Hast du im Lotto gewonnen?"


"War gerade günstig."


Annamaria tobt. "Ich trau mich nicht den Teppich fürs Bad kaufen und du kaufst einen Mercedes? Ich dachte, du bist vernünftig, aber jetzt seh' ich, in Wirklichkeit bist du ein irresponsabile Imbecille!"


Es gelingt mir, sie zu besänftigen und zu überreden, sich den Mercedes einmal anzuschauen. "Wenn er dir nicht gefällt, verkauf' ich ihn wieder. Was ich bezahlt hab', krieg ich jederzeit wieder."


In der Kochgasse, nicht weit von Zweigs Wohnhaus, steht geparkt zwischen einem verbeulten VW Käfer und einer rostigen Citroën Ente unser Mercedes. Zwischen den beiden verkommenen Kraxen nimmt er sich relativ feudal aus. Der blaue Lack ist in gutem Zustand, die verchromten Stoßstangen hängen schief, glänzen aber noch zwischen dem Rost. Zwischen zwei verschlafen schielenden Scheinwerferaugen die schmale Kühlermaske ist makellos, darauf prangt der Mercedesstern.


"Was hat das gekostet?" will Annamaria wissen. Das sagt sie, nicht der.


"Siebentausend Schilling", sage ich wahrheitsgemäß. Sie nimmt es schweigend und mit neutraler Miene hin. "Diesel. 1957. Du warst schon elf." Ich muss die Tür öffnen. Vorne ist eine Sitzbank. Das Leder ist abgewetzt.


Annamaria setzt sich auf die Beifahrerseite. Sie hat keinen Führerschein. "Schafft er es bis Bolzano?" 


Ich glühe vor, lasse dann den Motor an. Im Rückspiegel sehe ich die schwarze Wolke entweichen. Die Maschine klackert gleichmäßig und unbekümmert. Vertrauenerweckend. 


"Aber sicher." Ich gebe mich zuversichtlich. "Aber ob auch zurück, weiß ich nicht so genau." Mein Scherz soll die Stimmung aufhellen.


"Na ja, siebentausend für einmal nach Bolzano… Mit der Bahn kämen wir bestimmt zehnmal hin und zurück?"


Ich verspreche Annamaria, dass der Wagen mindestens elf Reisen schaffen wird.


"Aber ich nicht. Auf diesem Sessel bekomme ich in Pressbaum eine Ernia." Sie hat sich gemerkt, wo die Westautobahn beginnt.


Ich verspreche ihr Decken und weiche Polster. "Es wird so bequem wie im Kaiserwaggon."


"Fahr eine Runde", verlangt sie.


"Dann ist der Parkplatz weg" gebe ich zu bedenken.


"Siehst du, das Vehikel bringt nur Probleme."


Ich parke aus der engen Lücke aus, muss zweimal reversieren. Kupplung und Lenkradschaltung sind etwas ausgeleiert, machen aber ihren Job. Die Kochgasse hinunter, die Skodagasse hinauf, die Josefstädterstraße stadteinwärts, links in die Piaristengasse, ein Schlenker in die Kochgasse. Wir sind zurück am Ausgangspunkt. In der Parklücke freut sich jetzt ein Lieferwagen. Wir fahren noch ein paar Runden, auch größere, bis wir einen Platz finden, wo man korrekt parken darf.


"Wenn wir zu Fuß nach Hause gekommen wären, stünde jetzt schon das Essen auf dem Tisch." 


Annamaria hat Recht. Aber die zukünftigen Fahrten nach Bozen und nach Schwarzau werden die Nachteile überwiegen. Letztlich akzeptiert Annamaria unsere alte blaue Dame. Die spürt das und macht trotz ihres Alters keine Mätzchen. Schnell ist sie nicht. Um die Hundert ist Schluss. Wie viele Reisen es geworden sind nach Bozen, kann ich nicht mehr sagen. Ihre letzte Fahrt geht die Alserstraße hinunter über Kopfsteinpflaster. An der Kreuzung Albertgasse ein Riesenkrach, der Wagen schlingert und schüttelt. Ich kann ihn abfangen und anhalten. Eine Kollision war es nicht. Ich steige aus. Die Blaue liegt ganz schief da. Hinten rechts liegt der Querlenker auf der Straße. Wo er am Rahmen fixiert sein sollte, ist ein rostiges Loch. Ich freue mich. Weil das nicht bei hundert passiert ist.

Das wäre leicht möglich gewesen. In letzter Zeit sind wir ziemlich oft nach und von Neulengbach unterwegs gewesen. Tino und Mama hatten die Osterfeiertage auf einem ländlichen Anwesen bei St. Christophen zugebracht. Der Eigentümer besaß außerdem eine alte Keusche in einem der engen Gräben, die dort die Gegend durchziehen. Sie lag ganz unten am Bach, wo es am feuchtesten und finstersten war. Dicke Mauern, in denen sich das Grundwasser staute, und winzige, vermorschte Fenster. Von unten blickte man über den Hang hinauf, der eine saure Wiese war, auf dem Hügel thronte ein Bauernhof. Die Ställe waren direkt zum Graben ausgerichtet. Man sah die Gülle fast zu uns herunter fließen. Alles war so verfallen, dass der Eigentümer beschlossen hatte, die Hütte bei nächster Gelegenheit abzureißen. Als wir Tino und Mama in St. Christophen besuchten, ergab es sich, dass der Vermieter mit uns eine Runde durch die Gegend machte und dabei erwähnte, dass dieses 'Haus' ihm gehöre. Zustand und Lage der Kate waren erbärmlich, aber die Bienen surrten um die Palmkätzchen. Die ganze Welt versank in Grün und Gelb aus Märzenbecher, Goldregen und Löwenzahn. Mit seinem Blühen um den gleichzeitigen Verfall übte der Platz einen eigenartigen Reiz auf mich aus. Tino stimmte mir natürlich begeistert zu. Auf der Rückfahrt träumte ich im Gespräch mit Annamaria von einem hübschen kleinen Bauernhaus, außen hübsch und innen wohnlich hergerichtet. Meine Begeisterung steigerte sich noch, als die Landstraße kurz nach St. Christophen durch den kleinen Ort namens Nest führte. Ein klarer Wink des Schicksals. Die Keusche musste unser Nest werden.


Oddio! Dieser Träumer! Es stimmt, ein Häuschen auf dem Land, das wäre schon schön. Aber doch nicht dieses. In diesem Zustand und an dieser Stelle! Ganz unten im engen Graben! Und so weit von Wien! Hast du Prosciutto auf den Augen? Es würde eine Ewigkeit dauern, diese alte Kiste zu renovieren und dazu ein Vermögen kosten. Troppi soldi spesi male.


Obwohl mir klar war, Annamaria hätte Recht, die Romantik dieses Orts raubte mir alle Vernunft. Schon bald kehrten wir zurück nach Nest, bewaffnet mit Stemmeisen und Hammer. Mit dem Einverständnis des Eigentümers begannen wir, den durchfeuchteten Verputz im Wohnraum von den Wänden aus Feldsteinen zu schlagen. Wenngleich ohne Begeisterung, Annamaria tat mit, mir zu Liebe. Wir arbeiteten ohne Handschuhe. Kalt war es nicht, aber sie hätten unsere Finger ein Wenig geschützt vor den Fehlschlägen. Am Ende des Wochenendes hatten wir ein paar Quadratmeter geschafft. Aber viel, viel mehr Quadratmeter warteten noch. Von den Außenmauern ganz zu schweigen. Wir konnten nicht jedes Wochenende am Nest werken. Es gab ja auch immer wieder Übersetzungen und die eine oder andere Fahrt nach Bozen. Der Sommer war vorüber, als der Innenraum vom Putz befreit war. Wir trugen den Schutt in Kübeln ins Freie. Es war nicht leicht, in dem engen Graben einen vernünftigen Platz für ihn zu finden. Wir begannen damit, die Wände neu zu verputzen. Eine Mischmaschine hatten wir nicht. Wir rührten den Mörtel in einem kleinen Trog an. Vom richtigen Mischungsverhältnis hatten wir keine Ahnung. Die Heimwerkerindustrie war noch nicht so weit. Es gab noch keine Fertigmischungen. Ich versuchte, den Gatsch mit der Kelle an die Wand zu werfen. Er wollte aber dort nicht haften. Ich musste ihn schon sehr lieb streicheln, um ihn dazu zu überreden. Als ich ein paar Quadratmeter bedeckt hatte, war die Wand unglaublich bucklig. Meine Haut schmerzte vom aggressiven Kalk.


Beim nächsten Besuch nahmen wir Gabi und Walter mit. Gabi war eine der Rental Agents bei Avis gewesen. Lang und dünn wie eine Bohnenstange. Ihre Sprache war nicht so international wie in der Branche üblich an vorderster Front. Sie war ein ganz liebes Mädchen aus Steyr und das hörte man auch. Ihr Umgangston war aber so freundlich, dass man das Bisschen Lokalkolorit gern als besonderen Charme akzeptierte. Bei einer mir nicht mehr erinnerlichen Gelegenheit stellte ich fest, dass sie wunderbar tanzen konnte. Ich selbst war ja ein lausiger Tänzer. Wahrscheinlich hat sie mich so gut geführt, dass ich schon dachte, ich könnte plötzlich tanzen. Kein Wunder, Gabi war Amateur-Sporttänzerin. Ich war zu dieser Zeit so mit meinen anderen Freundinnen beschäftigt, dass ich mir nicht ausreichend Gedanken darüber machte, ob Gabi mich mochte oder mehr als das, obwohl sie mich einmal mitnahm nach Steyr zu ihren Eltern. Sie wohnten in einem hübschen kleinen Reihenhaus in einer Siedlung am Stadtrand am Ufer der Enns. Kleinstädtische Beamtenfamilie, durchaus liebenswert. Dass ich Gabi nicht direkt auf dem Radar hatte, lag vielleicht auch daran, dass sie einen festen Freund hatte. Er hieß Walter und war ein eigenartiger Geselle. Sicher einige Jahre älter als wir, sehr lebhaft und auch lebenslustig, groß und kräftig. Riesige Pranken hatte er, von denen ich nicht gern eine bekommen hätte. Bei jeder Gelegenheit begann er zu singen, Zoten wie "Iwan Diwan zah i man" oder "der Ritter Dariwudl mitn siebn Meter langen – Schwert" und "Ja, so warn de altn Rittersleut". Später wird Gabi das Autovermieten aufgeben und zusammen mit Walter einen Reitstall eröffnen. Sie liebte neben dem Tanzen auch Pferde. Der Betrieb wird Walter gehören. Gabi wird dort arbeiten und das nicht zu knapp. Wie es oft kommt, die Sorgen mit dem Betrieb und andere auftauchende Probleme werden die beiden zur Trennung führen, aus der Gabi mittellos hervorgehen wird.


Dieser Walter besah sich jetzt die Bescherung in Nest. Beurteilen konnte er sie wohl, denn er war Immobilienmakler. Vermutlich erfolgreich, denn seine Extremitäten waren voll behangen mit Goldschmuck. Walter erklärte mir, wieviel von was in den Mörtel gehört und wie man diesen geschmeidig an der Wand aufzieht. Er führte uns das sogar praktisch vor, ohne sich Gedanken über seine Kleidung zu machen. Es änderte aber nichts daran, dass bei meinem nächsten Arbeitswochenende in Nest der Mörtel wieder machte, was er wollte. Wie respektlos von ihm.


Als wir wieder durch Nest fuhren Richtung Wien, war ich ziemlich traurig. Ich hatte verstanden, dass Annamaria mit allen Einwänden richtig lag. Wie sollte ich dem Eigentümer beibringen, dass wir aufgeben würden, nachdem sein Häuschen in eine Baustelle verwandelt war. Heute glaube ich, er hatte ohnehin vorhergesehen, dass es so enden würde. Es war ihm vermutlich egal, er wollte es sowieso abreißen. Trotzdem lag mir daran, meine Untaten irgendwie abzugelten. Er hatte uns einmal seine Münzensammlung gezeigt und ich ihm die Sammlung meines Opa. Ich sortierte nun aus Opas Sammlung alle Duplikate aus. Die behielt ich für mich. Alles andere überreichte ich dem Eigentümer. Die Sammlung war sicher nicht wertvoll, hatte ich doch schon als kleiner Bub alle gültigen Münzen gestohlen und in Schokolade umgetauscht. Über den Rest hat der Liebhaber sich sehr gefreut. 

Die Wochen im Kundenbüro vergehen rasch. Ich mache dabei die erstaunlichsten Beobachtungen. Die geschiedene Frau Prack, eine große und rundliche Dreißigerin, würde eigentlich lieber wie früher heißen. Aber Katzenbeißer? Ist auch nicht das Wahre. Alle nennen sie sowieso Prack. Erstens ist es kürzer und zweitens macht es des Öfteren Prack, wenn sie einen Aktenstoß fallen lässt, auf den Boden oder auf einen Schreibtisch, um einen eingeschlafenen Kollegen zu wecken. Außerdem, wenn sie zuschlägt, macht es ganz sicher auch Prack. Die Karteikarten wohnen in einer großen Trommel, die elektrisch gedreht wird. Ständig werden neue Karten angelegt und erhalten ihren Platz in der Trommel. Die Trommelfütterung, das ist Pracks Sache. Ein Kunde erscheint, seine Akte wird herausgesucht, kann aber auch irgendwo sonst im ganzen Haus zur Bearbeitung sein. Ist die Akte gefunden, wird sie mit dem Kunden zum zuständigen Referenten gebracht. Vorausgesetzt, der Referent ist anwesend. Er könnte auch echt oder unecht abwesend sein. Echt abwesend bedeutet Dienstreise oder Urlaub oder krank. Dann übernimmt sein Stellvertreter, meistens der Tischnachbar, das Gespräch mit dem Kunden. Ist der zuständige Kollege aber unecht abwesend, muss der Kunde warten, bis der Referent zurück ist aus der Zweigstelle. Die Zweigstelle ist das Beisel unten am Brunnenmarkt. Einige Kollegen sehen die Zweigstelle als ihren Hauptarbeitsplatz an. Wartet ein Kunde, wird im Beisel angerufen. Das hilft aber nicht immer, denn manchmal ist dort der Arbeitsanfall einfach zu groß. Und wer lässt schon gern halb geleerte Gläser zurück. Dann bleibt nichts übrig als hinunterzulaufen und den Referenten zur Heimkehr zu überreden. Der Maier ist da. - Welcher Maier? - Der mit dem Dachschaden. – Hab i eh schon abglahnt. Soll scheißn gehn.


Aus Platzmangel steht im Kundenbüro auch der Schreibtisch von Frau Ester. Sie ist eine kleine, zarte Person mit übergroßer Brille, Mitte Fünfzig und hypernervös. Redet in einem fort. Hört nicht auf zu reden, selbst wenn keiner zuhört. Sie bearbeitet einen Teil der Kaskoschäden. Daneben redet sie mit den bedauernswerten Kunden. Das dauert immer endlos, denn es gelingt ihr immer, eine noch so unwichtige Gemeinsamkeit herauszufinden, deren Substrat den Redefluss nährt. Auch ihre Telefonate nehmen kein Ende. Am Abend ist sie fix und fertig von all dem Stress. "Wissen S' was, i muss jetzt weg. Muass no ins Blumengschäft, weil der Ferdl gstuam is. Kennen S' den Ferdl? Wissen S' was, kumman S' muagn, dann hab i echt Zeit für Sie. Dann erzähl i Ihnen, wia des war mit'n Ferdl." Die letzten Worte ruft sie dem Kunden zu, als sie schon durch die offene Tür entschwindet. Der Kunde bleibt zurück, fassungslos und mit seinem unerledigten Anliegen.

Die mozartesken Sängerknaben, die Josefstädter Mitschüler und Lehrer, der intellektuelle Journalist, die ungehobelten Soldaten und die nur wenig weniger groben von der Maturantenkompanie, die vifen Autovermieter, die professoralen höheren Angestellten, die faden Disponenten, alles ganz spezifische Milieus, denen ich ausgesetzt war. Jetzt befinde ich mich in wieder einem neuen. Die Versicherungsangestellten. Meine selbstbewussten Kollegen der Schadenabteilung - Wölfe; eine noch größere Zahl still und leise in der Vertragsabteilung - Rinder; die hühnerhaften Damen in der Schreibstube; die unauffälligen Regenwürmer von der Buchhaltung; der joviale Direktor mit seinem etwas abgehobenen Sekretariat, Pfau und Schwäne. Die füllige Frau Riggl in der Telefonzentrale - ein Kauz, CIA des Hauses. Dazu noch die inspektoralen Kfz-Sachverständigen - Füchse; und ein Heer von Vertretern im Außendienst - Hunde, Bären, Hasen, Schakale, Krokodile. Mit dem ganzen Zoo bin ich oft in Kontakt, vor allem später, als ich, dem Kundenbüro entwachsen, Vogt gegenübersitze und meine ersten Schritte durch die Schadenakten stolpere.

Noch eine weitere Spezies kreuzt da meine Wege. Rechtsanwälte. Einige von ihnen haben sich auf Verkehrsunfälle spezialisiert und gründen ihre Erfolgsquote auf persönliche Kontakte zu den Schadenabteilungen. Sie treten natürlich nicht nur als Gegner auf, sondern möchten auch die Gesellschaft vor Gericht vertreten. Die Aufträge dazu kommen von uns Referenten. Die lernt man am besten im persönlichen Kontakt kennen. Der ist einfach herzustellen, indem man von Zeit zu Zeit mit ein paar Akten, die man genauso gut per Korrespondenz erledigen könnte, in der Schadenabteilung auftaucht und im persönlichen Gespräch mit dem Sachbearbeiter vergleicht. Dabei kann man alles spielen lassen, Charme oder Härte, Überzeugungskraft oder Taktik, am besten alles zusammen. Das Ergebnis für den Klienten ist dabei zweitrangig. Wichtiger ist die Selbstdarstellung als geeigneter Vertreter für den nächsten Auftrag. So etwas haben die alteingesessenen Anwälte freilich nicht mehr nötig. Die lassen, wenn eine Sache ein persönliches Gespräch angezeigt erscheinen lässt, eher den Referenten zu sich in die Kanzlei kommen. Es sind vor allem einige junge Anwälte, die zu uns kommen und sich auf diese Weise hocharbeiten wollen. Es sind sympathische junge Männer oder auch eklige Schleimer, sattelfeste, gut vorbereitete oder auch Chaoten. Tatsächlich werde ich nach vielen Jahren dem einen oder anderen Anwalt, der seinerzeit als junges Burscherl mit mir kleine Verkehrsunfälle abgehandelt hat, wiederbegegnen als Staranwalt in der Fernsehberichterstattung über manchen Promiprozess. Um uns bei Laune zu halten, laden sie ein oder zweimal jährlich die ganze Schadenabteilung zum Heurigen ein. Für mich ist das offene Korruption. Noch berührt mich das nicht direkt, weil ich noch keine Entscheidungen zu treffen habe. Noch bin ich mit Beobachten und Lernen beschäftigt. Schon aber bilde ich dabei Haltungen aus, die ich bald konsequent einsetzen werde. Ich werde mich nicht anschleimen lassen, sondern meine Entscheidungen sachlichen Kriterien unterwerfen. Es wird unbequem werden. Aber zum Heurigen gehe ich sowieso nicht gern.

 Meine engsten Kollegen, Ploner und Kiesler, sind Freizeitjäger. Das heißt, Kiesler ist Jäger und Ploner trinkt auch gern. Also begleitet er Kiesler auf der Jagd. Ihnen verdanke ich meine erste Bewährungsprobe. Eines nebeligen Morgens, alle Morgen sind nebelig nach durchjagter Nacht, erleiden die beiden einen Arbeitsunfall. Ja, Arbeitsunfall, denn ein Unfall auf dem Weg zur Arbeit ist unter Umständen ein Arbeitsunfall. Die Fahrt von der Jagd zum Arbeitsplatz endet für die beiden im Krankenhaus. Selbst als sie nach zwei Wochen wieder erscheinen, sind sie noch gezeichnet von dem Malheur. Kiesler an der Schläfe, Ploner am Kinn. Inzwischen muss ich beide vertreten, was mir, glaube ich dem Gruppenleiter, ganz gut gelingt. Da Kiesler und Ploner rekonvaleszent sind, müssen sie viel Zeit in der Filiale verbringen. Und ich vertrete sie weiterhin. Dabei pflege ich einen Telefonstil, der sich von dem Ploners deutlich unterscheidet. Ploner schaltet, wenn ein Anrufer ihn zu ärgern beginnt, um auf hochdeutsch. Laut vernehmbar schallt es durchs Büro, "Wer sind Sie und was wollen Sie?", oder "Das sind zwei verschiedene Eier!", "Bitte, sprechen Sie zusammenhängend!", "Was heißt Zeitung?", "Das können Sie in den Papierkorb verlängern!", "Und Sense!" Die Gespräche dauern dann meistens nicht mehr lang. Wesentlich sympathischer ist mir der immer gut gelaunte Vogt, der seine Positionen freundlich und mit viel Humor durchsetzt. Ein kluger Opa mit Bodenhaftung. Obwohl mir sein Kommunikationsstil sehr zusagt, werde ich selbst kühl und sachlich bleiben und daher alles andere als sympathisch rüber kommen. Ich bin der bunte Hund, der Ernste, oft Bissige und doch immer wieder zu clownesken Spompanadeln Neigende, der Unnachgiebige ohne Ansehung gegen wen, sei es ein beliebter Anwalt oder ein wichtiger Großkunde oder ein verdienter Kundenvertreter. So wie beim Fußball eben, hart aber fair. Oft werden meine Entscheidungen beim Gruppenleiter landen, der sie fast ebenso oft bestätigen wird. Nur wenn sie bis zum Direktor hinauf gelangen, werde ich Unrecht bekommen. Da geht es wieder nach Sympathie und Opportunität. Und sympathisch ist meine gerade, wenig subalterne Art dem Pfau nicht.

Eigentlich sind Kiesler und Ploner nette Kerle, mit denen man gern Spaß haben mag. Manchmal bin ich aber angewidert von ihrer Einstellung dem Anspruchsteller gegenüber. Den sehen sie nämlich als Jagdwild, das es zu erlegen gilt. Je mehr Forderungen sie ihm verweigern, gerechtfertigt oder nicht, desto höher die Anzahl der Treffer, desto zahlreicher die blutenden Wunden, desto höher ihr Jagdgenuss. "Den hab i jetzt wieder rasiert", grinst Kiesler genussvoll, wenn eines seiner Opfer abgezogen ist. Ich glaube, dass ich damals begonnen habe, die Jäger zu hassen, die mir bis dahin eher gleichgültig waren. Mein Glück ist, dass bei der Allianz gerade eine neue Strategie Einzug gehalten hat. Einer der Manager ist auf die gute Idee gekommen, eine korrekte, kundenfreundliche Schadenabwicklung müsse längerfristig zu besseren Konzernergebnissen führen. Offenbar haben Manager damals noch nicht in so kurzen Zeiträumen gedacht wie heute. Für die Schadenabteilungen wird ein ganz neuer Verhaltenskodex erlassen. Der Anspruchsteller ist nicht zu rasieren und nicht abzuknallen wie ein Hase, sondern über seine Ansprüche korrekt aufzuklären. Wenn dem Sachbearbeiter klar ist, dass dem Anspruchsteller Ersatz für Wertminderung zusteht, so ist ihm dieser anzubieten, selbst wenn er das gar nicht verlangt hat. Dass so der Schadenaufwand steigen wird, ist klar, wird aber als Investition angesehen für höhere Verkaufszahlen. Man wird sehen, dass die Strategie aufgeht. Die Wiener Allianz steigt auf zu den wichtigsten Gesellschaften im Land. Mir persönlich kommt das sehr entgegen. Ich fühle mich äußerst wohl mit diesen Grundsätzen und wende sie konsequent an. Trotzdem wird in der ganzen Zeit meiner Arbeit für die Allianz nie jemand mir vorwerfen, ich hätte zu viel bezahlt. Weil ich nicht mit dem mir anvertrauten Geld um mich werfe, sondern mit Bestimmtheit ablehne was abzulehnen ist.

Viel Zeit in der Filiale verbringt auch Petermann, der Rechtsschutzreferent. Er hat Pensionsalter, doch fehlen ihm aus irgendeinem Grund Arbeitszeiten, sodass sein Ruhestand noch fern ist. Petermann ist unsportlich, gut genährt, bequem, aber gescheit und unglaublich belesen. Ein Mann, dem Höheres bestimmt gewesen sein sollte, und der sein inadäquates Schicksal jetzt im Zynismus ertränkt. Er betrachtet mich aufmerksam, seit er von meinen Vorlieben für Musik und Literatur gehört hat. Ich zeige ihm die Salzburger Nachrichten mit meiner Geschichte. Er macht mich aufmerksam auf einen semantischen Fehler, den ich aus rhythmischen Gründen bewusst so formuliert habe. Er redet mit mir über Hermann Hesse und seinen Lieblingsautor Peter Bichsel. Ja, er redet, ich habe nicht viel zum Gespräch beizutragen. Wir beide merken dabei, was ich alles nicht kenne. Sobald die Filiale abends zusperrt, wechselt Petermann hinüber in den Felsenkeller. Ein biederes Vorstadtlokal Ecke Neulerchenfelderstraße – Gürtel.

Manfred Skat, der Gruppenleiter, ist der einzige Akademiker in der Abteilung. Das zählt aber nicht so viel wie dass er Fußballer ist. Die Allianz veranstaltet jedes Jahr an einem Sommerwochenende ein großes Turnier in einer der Landeshauptstädte. Jede Landesdirektion stellt ein Team. Als 'Profiverteidiger' darf ich natürlich dabei sein. Der Fußballer Skat ist ein braver Arbeiter, so wie ich. Genialität ist uns beiden nicht gegeben. Viele Teilnehmer kommen aus dem Außendienst. Einer ist noch dabei vom Innendienst, Wojtek, der Chef der Buchhaltung. Er gehört zu jenen, denen immer etwas weh tut und deren Erfolglosigkeit immer auf pures Pech zurückzuführen ist. Zu den Turnieren fahren wir in Bussen zusammen mit einer Anzahl Schlachtenbummlern aus allen Abteilungen. Für Henndorf als Betriebsrat ist das natürlich ein Pflichttermin. Henndorf bearbeitet die großen Elementarschäden und ist Hornist. Von Musik versteht er also viel, die Betonung liegt auf 'versteht'. Henndorf ist, was man als feinen Pinkel bezeichnet. Er ist groß und schlank, trägt immer Anzug und Krawatte, alles maßgeschneidert. Seine handgenähten Hemden zahlt die Krankenkasse, weil man ihm einen Tumor aus dem Hals schneiden hat müssen. Seither passt keine Konfektionskragenweite zu den übrigen Proportionen. Henndorf führt ein Doppelleben. Seine Frau ist mit ihm glücklich verheiratet und wird niemals erfahren, dass ihr Mann die andere Hälfte der Zeit mit einer der Damen aus der Schreibstube verbringt. Sie ist Ende zwanzig, sehr charmant, dumm und hat einen riesigen Busen. Sie fahren gemeinsam in den Urlaub und auf Kur und zum Fußballturnier. Allerdings nicht mit dem Bus, sondern in Henndorfs Mercedes. Wojtek und seine Freundin, ebenfalls Schreibstube, sind im Bus, aber nicht nebeneinander, um zu tarnen, was jeder weiß, außer mir. Seine Freundin setzt sich neben mich und wir unterhalten uns recht gut. Sie ist aus Weitra an der tschechischen Grenze, unscheinbar aber intelligent, die mit Abstand beste Rechtschreiberin. Nach der Busfahrt wundere ich mich, weshalb Wojtek mich krass schneidet. Woher hätte ich wissen sollen, dass meine Sitznachbarin seine Freundin ist.

Annamarias Übersetzungsaufträge werden immer schwieriger. Oft geht es um technische Gase. Sie fragt mich jetzt öfter um Rat als zuvor. Um brauchbare Antworten zu liefern, muss ich mich eingehender mit dem Originaltext befassen. Also bin ich gezwungen, mich intensiver mit Italienisch zu beschäftigen. Ohne angestrengtes Studium dringe ich mit Annamarias Hilfe in die Grammatik ein und lerne viele Vokabel kennen. Nolens volens dienen mir meine unrühmlichen Erinnerungen ans Lateinische als Unterstützung. Es zeigt sich, dass mir mehr in Erinnerung ist, als ich gedacht hätte. Aber auch Englisch birgt sehr viele romanische Wortstämme. Annamarias Übersetzungen sowie ihr Deutsch gewinnen durch unsere Zusammenarbeit an Qualität. Weitere, immer umfangreichere und kompliziertere Aufträge sind die Folge. Wir schreiben den Rohentwurf mit der Hand, zuletzt tippt Annamaria alles auf der Schreibmaschine. Auch auf persönlicher Ebene verbessern wir unsere Sprachkenntnisse. Ein junges Paar, das aus beruflichen Gründen rasch Italienisch lernen will, nimmt bei Annamaria Privatunterricht. Sie wohnen in der Naglergasse unterm Dach eines barocken Wohnhauses. Abwechselnd findet der Unterricht dort oder bei uns in der Alserstraße statt. Wenn die beiden zu uns kommen, ergibt es sich, dass auch ich am Unterricht teilnehme. Aus trockenem Büffeln werden amüsante Konversationsübungen bei Kaffee und Kuchen. Letztlich bin ich auch in der Naglergasse bei Annamarias Auftritten dabei. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Lehrerin und Schülern, nur noch Studierende. All dies verbessert meine Handhabung der italienischen Sprache, doch bestehen weiterhin beträchtliche Mängel bei der spontanen Verwendung der Umgangssprache, vor allem bei Themen, die wir noch nicht berührt haben.

In der Firma werde ich nicht zuletzt deshalb schief angesehen, weil ich mit einer Italienerin verheiratet bin. Anfangs will man mir noch zugutehalten, es handle sich um eine Südtirolerin. Doch lasse ich keine Gelegenheit aus, um reichlich selbstbewusst klar zu machen, meine Frau ist Italienerin durch und durch. Damit fordere ich meine Kollegen geradezu heraus, von mir Stellungnahmen zu verlangen zu allem, was ihnen an Italien gerade nicht passt. Das ist nicht wenig. Gustav Thöni und Herbert Plank beherrschen die alpinen Schirennen. Kein Wunder, die sind ja Beuteitaliener. Karl Schranz, Heinrich Messner und Alfred Matt halten für Österreich dagegen. Bei den Damen ist Annemarie Moser-Pröll Alleinherrscherin. Der italienische Fußball hat gegenwärtig nicht viel mit Italien zu tun. Dennoch bringen die Italiener mit ihrem Catenaggio (eingeführt übrigens vom Argentinier Helenio Herrera!) ihr Land in Verruf. Bruno Kreisky ist gerade dabei, das endlich ausgehandelte Südtirolpaket zu verwirklichen, aber nichts ist fix und die Zeitungen berichten immer wieder einseitig über angebliche und wirkliche Querschüsse von italienischer so Seite. Italienurlaube sind en vogue Die fremde Kultur bringt vielfach Unverständnis hervor. Alle Klischees werden mir vorgehalten. Falsch, faul, feige, unzuverlässig, treulos, laut, kriminell, chaotisch. Oft habe ich es wirklich nicht leicht darauf zu antworten. Die Vorurteile, die mir, ja mir, zuhauf vorgeworfen werden, sind bis vor kurzem noch meine eigenen gewesen. Erst meine italienische Frau hat mich zum Nachdenken gebracht. Ich habe gelernt, die Vorurteile sind bestenfalls Halbwahrheiten. Oft sind es nur Reflexionen eigener allgemein menschlicher Unzulänglichkeiten. Indem man sie beim Fremden festmacht, der natürlich auch nicht völlig frei davon ist, glaubt man, sich der eigenen Unzulänglichkeiten zu entledigen. Trotz italienischer Ehefrau ist mir selber noch vieles fremd an Italien. Je mehr ich versuche dagegen zu halten, desto unverblümter wird die Ausdrucksweise der Kollegen, desto höher ihre Stimmlage, desto lauter der Ton. Mit ausgesprochenem Vergnügen lassen sie mir, dem Vaterlandsverräter, Ausdrücke wie Katzelmacher und Spaghettifresser an den Kopf. Meine Frau nennen sie, angemessen und doch nicht ohne Spott, die Signora.

Gerade habe ich mich an diesen Arbeitsplatz gewöhnt, da werden Gerüchte laut über eine Verlegung der ganzen Landesdirektion. Am äußersten südlichen Ende Wiens in Oberlaa soll ein eigenes Gebäude für uns errichtet werden. Wie bitte? Oberlaa? Die meisten Innendienstmitarbeiter wohnen in unmittelbarer Nähe oder wenigstens in bequemer Reichweite des Brunnenmarkts. Oberlaa am äußersten südlichen Stadtrand bedeutet für die Meisten eine kleine Weltreise zweimal täglich. Die U-Bahn existiert noch nicht. Vom Brunnenmarkt nach Oberlaa braucht man mit der Straßenbahn gute drei Viertelstunden. Mit dem Auto nicht weniger als fünfundzwanzig Minuten. Das Autofahren wird immer ungemütlicher. Die politischen Ereignisse im Nahen Osten treiben den Ölpreis schlagartig auf ein Vielfaches. Ölprodukte sind plötzlich knapp und daher teuer. Ein autofreier Tag pro Woche wird verordnet. Ein Aufkleber an der Windschutzscheibe zeigt ihn an. Die Höchstgeschwindigkeit wird allgemein auf 100 km/h herabgesetzt. Der Arbeitsmarkt ist noch nicht angespannt. Wer kann, sucht sich einen Arbeitsplatz in Wohnnähe. Und jetzt, Oberlaa!

Die Stimmung unter den Angestellten ist gereizt. Es ist mehr als das übliche Wiener Raunzen. Es wird geschimpft über dies und jenes. Man schlägt den Sack und meint den Esel. Oberlaa. Je nach Temperament betreibt man passiven Widerstand oder verdeckte Obstruktion. Als dann bekannt wird, was das für ein Haus ist, in das wir übersiedeln sollen, tritt der Frust offen zutage. Auf einer Grünfläche zwischen dem einsamen Ende der Favoritenstraße und der ausgedehnten Wohnanlage 'Per-Albin-Hanson-Siedlung Ost', die für damalige Verhältnisse futuristisch anmutet, wird etwas stehen oder liegen, was wie ein Raumschiff aussieht. Auf einem viereckigen Betonblock ruhen weit überhängend zwei einander berührende Waben aus Aluminium und Glas. Auf ihren Schultern tragen sie eine dritte Wabe. Der Betonblock birgt die Haustechnik und den Eingangsbereich. In den Waben im ersten Stock sind die operativen Abteilungen in zwei benachbarten Großräumen untergebracht sowie eine Pausenzone. In der obersten Wabe residiert die Direktion neben einem geräumigen Speisesaal mit Wärmeküche. Klingt ja alles ganz interessant, doch der Teufel steckt wie immer im Detail. Die Umgebung unseres Büros in der Neulerchenfelderstraße ist vielseitig und lebhaft. Der Brunnenmarkt und die umliegenden Straßen bieten alles was das Herz begehrt. Unsere 'Filiale' beweist es. Im Umfeld des neuen Gebäudes in Oberlaa gibt es so gut wie gar nichts. Eine ganze Straßenbahnhaltestelle stadteinwärts ist ein Supermarkt. Das ist alles. Zu Fuß zehn Minuten. Ein kleiner Einkauf bei weniger als einer halben Stunde Abwesenheit ist unmöglich. Nur wer mit dem Auto kommt, kann sich einen kurzen Einkauf leisten, insbesondere bei Schlechtwetter. Wer weiß, vielleicht hat der Generaldirektor den Neubau in dieser gottverlassenen Gegend nur beschlossen, um endlich die kontraproduktive 'Filiale' loszuwerden? Aber dafür bekommt ihr ja den urgemütlichen Pausenraum, versucht man uns zu beschwichtigen. Es wird bequeme Polstermöbel geben, einen Getränke- und einen leistungsfähigen Kaffeeautomaten. Mit Getränke sind Wasser und Kracherl gemeint. Na, dann prost! Niemand wird je beobachten, wie lange man sich dort aufhält. Alles besser als die 'Filiale', mag der Direktor gedacht haben. Das mit der Beobachtung der Aufenthaltsdauer würde man ganz diskret trotzdem machen. Niemandem würde je ein Strick daraus gedreht werden. Konsequenzen würde man dennoch ziehen können. Negative und positive. Einer der Großräume beherbergt die ganze Schadenabteilung mit etwa dreißig Mitarbeitern, der andere die Vertragsbearbeitung und die restlichen Strukturen mit insgesamt ebenso vielen Beschäftigten. Die Wohnzimmer und Kabinette vom Brunnenmarkt sind zwar eng, doch tragen sie den persönlichen Charakter der dort platzierten Menschen. Je nach Empfinden öffnet oder schließt man die Fenster, holt sich einen Imbiss vom Markt, raucht, isst und trinkt oder besucht die 'Filiale'. Zwei Arbeitstische teilen sich ein Telefon, der bewegliche Arm, auf dem es sitzt, wird einfach hin und hergeschwenkt. Man bekommt die Gespräche des Kollegen mit und ist zumeist nicht ganz uninformiert, wenn man ihn zu vertreten hat. Die Abschirmung von anderen Kollegen lässt eine gewisse Vertraulichkeit zwischen Zimmerkollegen entstehen, die in der Regel als heimelig empfunden wird. Und jetzt bald in Oberlaa in einem Großraum! Beraubt jeder Individualität. Ein Telefon auf jedem Tisch. Vertraulichkeit wird schwierig. Man wird sitzen wie die Hühner in der Legebatterie. Abgesehen von Notausgängen  wird man kein Fenster öffnen können. Gegen die Sonne sollen gerade in Mode gekommene Lamellenjalousien schützen, aber nur innen. Das Haus wird vollklimatisiert. Die Medien sind voll von Artikeln über diese Problematik. Vollklimatisierung ist der neueste Trend in der Büroarchitektur. Dem einen wird zu kalt sein, dem anderen zu heiß. Ein ständiger leichter Zug wird Erkältungen begünstigen. Die Raumluft wird umgewälzt, klimatisiert und mit ein wenig Frischluft vermischt. Wir werden den ganzen Tag mit den Bakterien sämtlicher Mitarbeiter angeblasen werden. Und es wird elektronische Bildschirme geben. Für PCs ist die Zeit noch nicht reif. Jeweils eines der riesigen, klobigen Ungetüme wird auf einem eigenen Tisch stehen, direkt verbunden mit dem Server in der Generaldirektion in Hietzing. Fünf oder sechs Mitarbeiter der jeweiligen Zone werden sich die Arbeit daran einteilen müssen. Die Lochkarten werden ausgedient haben. Meine Kollegen lesen massenhaft Artikel über die Schädlichkeit der Strahlung und die zu erwartende Schädigung der Augen durch das Anstarren der einfarbig grünen Schriftzeichen. Viele haben noch nie eine Schreibmaschine bedient und werden lange brauchen, um mit der Tastatur und dem System an sich zurechtzukommen. Henndorf und die anderen Betriebsräte erleben eine schwere Zeit. Eine Abkehr von der Entscheidung kommt nicht in Betracht. Immerhin erreichen sie für die Belegschaft Verbesserungen. Der Großraum wird durch Paravents in kleinere Zonen geteilt. Es wird üppige Begrünung durch Zimmerpflanzen geben. Jeder Mitarbeiter wird die Lage seines Arbeitsplatzes in gewissem Rahmen wählen und individuell einrichten können. Ein Gleitzeitsystem wird eingeführt werden, verbunden mit mechanischer Arbeitszeiterfassung. Erste Anzeichen für das Anbrechen der Ära des Großen Bruders. Gut geschätzt, George. 1984, das kann hinkommen. 

In Eisenstadt steht ein solches Haus schon, ein solches Raumschiff. Alle Landessitze sollen gleich aussehen. Der Betriebsrat organisiert ein paar Ausflugsfahrten nach Eisenstadt zur Besichtigung. Beschwichtigt wird dabei niemand. Manche Mitarbeiter in Eisenstadt sind von der neuen Behausung gar nicht begeistert und geben ihren Frust den Besuchern nicht nur hinter vorgehaltener Hand weiter. Mir fällt auf, dass die Mitarbeiter dort seltsam leblos wirken. Graue Gesichter mit starrer Mimik. Roboterhafte Bewegungen. Leise, eintönige Sprache. Geisterhaft. Aliens, vielleicht? Mich persönlich schreckt die bevorstehende Übersiedlung nicht so sehr. Nun ja, die tägliche Fahrzeit mit der Straßenbahn wird nicht angenehm sein. Aber man kann ja dabei lesen. Der Zufall will es, dass uns ein Schrebergarten angeboten wird. Der Garten liegt an einer riesigen Baustelle. Die Südosttangente ist im Entstehen. Von Inzersdorf bis Favoriten ist sie schon befahrbar. Dort hat man die Trasse tief in den Laaerberg eingegraben. Oben kreuzen Favoritenstraße und Grenzackerstraße, beide schon stark befahrene Verkehrsadern. Dazu bündeln sich die Ausfahrtsrampen von der Tangente herauf und einige Nebenstraßen. All das will man in einen riesigen Kreisverkehr einbinden, der kurz vor der Fertigstellung steht. Eine große Zahl von Kleingärten rundum ist diesen Bauwerken zum Opfer gefallen. Doch in einem kleinen Bereich, wo man vom Kreisverkehr in die Grenzackerstraße abbiegt, sind noch einige wenige Gärten stehen geblieben, als hätte man sie vergessen. In ihrer Mitte liegt unser Schrebergarten. Es ist ein wenig gepflegtes Grundstück, verdunkelt von uralten Obstbäumen, an die hundert Quadratmeter, mit Handpumpe am Brunnen, Wegen aus antiken, vielfach gebrochenen Ziegelsteinen und einer kleinen Holzhütte, bestehend aus einem engen Bettverschlag und einer noch kleineren Veranda davor. Kein Stromanschluss. Das Objekt ist wegen der Primitivität und der voraussehbaren Verkehrshölle vermutlich kaum verkäuflich. Außerdem, wer weiß, wie lange die Gartenanlage unter den gegebenen Umständen noch bestehen bleibt? Somit ist der Preis auch klein, ja fast geschenkt. Wir schwanken, ob wir uns auf dieses Abenteuer einlassen sollen. Gemischte Erinnerungen an den Ameisbach und an unser Nest steigen in mir auf. Die schönen Stunden und die nicht zu unterschätzende Arbeit. Der Verkehr und die Zukunftsfrage. Den Ausschlag gibt der Gedanke, dass Tino den Garten lieben wird. Eben weil er so romantisch verfallen und primitiv ist. Also vielleicht doch ein Nest? Und so haben wir plötzlich eine Sommerresidenz am Laaerberg. Nur zwei Straßenbahnhaltestellen von Oberlaa, meinem zukünftigen Arbeitsplatz, entfernt.

Das hilft, meine persönliche Abneigung gegen die Übersiedlung in Grenzen zu halten. Auf die Gleitzeit freue ich mich schon. Erst um neun ins Büro kommen, herrlich! In den Abend hinein zu arbeiten hat mir noch nie etwas ausgemacht. Ich mache mir auch keine Sorgen über meine Augen wegen der Bildschirmarbeit. Den technischen Fortschritt finde ich spannend und er macht mich neugierig. Ich gehöre nicht zur Gruppe der Revoluzzer gegen Oberlaa. Meine Chefs wissen es zu schätzen.

Annamaria kam mit meinem Hobby als Fußballprofi ganz gut zurecht. Sie verstand zwar auch nicht besser als ich selbst, weshalb ein erwachsener Mensch sich so etwas antut, akzeptierte die weniger angenehmen Begleiterscheinungen aber als Investition in ein gutes Eheklima. Mit meinen Freunden kam sie auch gut aus. Zu denen, die ich auch abseits der Sportplätze traf, gehörte Hömmerl, die Klammer unserer Klassen- und Fußballgemeinschaft. Hömmerl hatte Jus studiert und beim Arbeitsgericht angeheuert, begann schließlich eine Karriere beim Bundessozialamt. Er beriet Black & White in den unvermeidlichen Strafsachen vor dem Fußballverband und mich in meinem Streit mit Hertz. Er war ein groß gewachsener, schlanker junger Mann mit starkem Charisma und festen Standpunkten, die auf humanistischem Denken beruhten. Genau das gefiel mir an ihm am besten. Gemeinsam mit Annamaria und seiner Frau Helga machten wir Ausflüge in die nähere Umgebung, sprachen über Fußball und Politik. Annamaria mochte Hömmerl ebenso gerne wie ich. Trotzdem ließen unsere gemeinsamen Unternehmungen langsam aber beständig nach bis zu einem Punkt, an dem Annamaria erklärte, sie werde daran nicht mehr teilnehmen und würde es vorziehen, wenn Hömmerl und Helga nicht mehr bei uns zuhause erschienen. Das war für mich ein herber Schlag, denn meine Freundschaft mit Hömmerl war völlig intakt. Ich wusste aber, was an Annamarias Rückzug schuld war.

Helga war unwesentlich älter als Hömmerl. Sie arbeitete als Sekretärin bei der Österreichisch-Alpine Montangesellschaft. Es handelte sich um eine AG, die den österreichischen Bergbau und die Metallindustrie zentral verwalten sollte. Nicht verstaatlicht, aber quasi. Eng verbunden mit der Politik. Man stelle sich eine Chefsekretärin aus einem solchen Unternehmen vor. So war Helga. Immer perfekt und teuer gekleidet. Sorgfältiges Makeup. Gutes Gehalt. Sichere Anstellung. Dicker Modeschmuck. Tennisspielerin (damals noch Elitesport). Die Sprache hochösterreichisch mit Wiener Einschlag, expressiv, langsam, gewichtig. Waren wir bei einem Thema, konnte sie mühelos davon wegspringen, ein ganz anderes anschneiden und beharrlich dabeibleiben. Stieg man darauf ein, dauerte es nicht lang, bis sie das Gespräch wieder in eine ganz andere Richtung lenkte. Sie fragte alles minutiös nach, kratzte naiv so lange an einem Ding, bis der Lack ab war, oder begann etwas ganz Neues. Sie scheute sich nicht, dabei tief in Persönliches einzudringen und es zu bewerten. Wobei die Werte, die sie zugrunde legte, die einer Chefsekretärin der Montangesellschaft waren. Ihr Interesse an dem Erfragten kann nicht tiefgehend gewesen sein, denn beim nächsten Treffen stellte sie dieselben Fragen wieder.

Trotz dieser Eigenheiten wäre mir nie in den Sinn gekommen, den Kontakt zu Helga abzubrechen, schon gar nicht zu ihr gemeinsam mit Helmut. In meinen Augen handelte es sich um Schrullen, die zu einer Persönlichkeit gehören durften, ohne gleich die ganze Person ablehnen zu müssen. Ich vermutete eine vorübergehende Missstimmung Annamarias, die bald vergehen würde. Da hatte ich mich getäuscht. Es dauerte nicht lang, bis es zu einem nächsten Treffen mit den Hauers kommen sollte. Annamaria stellte sich quer. Sie war fest entschlossen, ihre Verweigerung wahrzumachen. Zwischen Helga und Annamaria musste etwas vorgefallen sein, was für Annamaria absolut unerträglich war. Ich versuchte herauszufinden, was das wäre, vergeblich. Sie wollte oder konnte es nicht erklären. Diese oder ich, das musste als Erklärung reichen. Ich konnte das Thema nicht weiterverfolgen. Es reizte Annamaria aufs Blut bis hin zu blanker Hysterie.

Meine Verzweiflung war riesig. Ein erster dunkler Schatten war auf unsere noch junge Liebe gefallen, vorläufig noch ohne jede Schuld meinerseits. Was sollte ich machen, ich bot alle meine Überwindung auf und setzte Hömmerl in Kenntnis.


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