Hinter der Hütte gibt es ein Plumpsklo. Katzenwäsche an der Wasserleitung mitten im Garten. Ein paarmal die Woche benutzen wir unser Bad in der Alserstraße. Im Winter genießen wir die Stadtwohnung ständig. Konzerte, Ö1 aus der Stereoanlage oder live irgendwo in der Stadt. Das wöchentliche Fußballmatch mit Muffi, meinem Black & White-Tormann, gelegentlich ein Liederabend, auch mit ihm. Muffi studiert Gesang, nachdem er sein Technikdiplom abgeschlossen hat. Dieses seines strengen Vaters Befehl folgend, jenes seiner Berufung. Das Fach Lied studiert er in der Klasse Erik Werba. Allein die Begleitung am Klavier durch Werba ist schon ein Erlebnis. Neben dem Klavier unser Torhüne mit dem wandlungsfähigen Bariton. Ein Liedernachmittag ist mir in besonderer Erinnerung. Werba mit Muffi und einer Sopranistin im Schlosstheater Laxenburg, das Italienische Liederbuch. Entzückend die Interaktion zwischen den beiden einander abwechselnden Stimmen. Kein Wunder, dass Muffi sich später der Oper widmen und als Peter Weber eine sehr ansprechende Karriere erfahren wird, international und an der Staatsoper Wien. Als Figaro-Graf der Christa Ludwig (Gräfin) aufs Popscherl klopfen dürfen, nein müssen, das hat schon was, erzählt er einmal.
Solange es nicht stark regnet oder Schnee liegt, fahre ich mit dem Klapprad durch halb Wien nach Oberlaa. Ich habe dazu eine Route fast nur durch Nebenstraßen ausgeklügelt und brauche eine gute halbe Stunde. Eine Dusche würde gut tun nach dem Eintreffen. So weit aber geht die soziale Ader des Architekten nicht. Bad ist nicht eingeplant. Also stinke ich mich durch bis zum Abend, bis zum Heimparcours. Ist das Wetter gar zu schlecht zum Radeln, nehme ich die Bim. Professioneller Schwarzfahrer bin ich nicht, aber in morgendlicher Verschlafenheit vergesse ich ein paarmal, dass dazu ein Ticket erforderlich ist. Einmal erwache ich durch die unsanfte Aufforderung eines Kontrollors, die Fahrkarte, bitte. Jetzt ist's passiert, denke ich, und krame in allen Taschen, zu suchen, was nicht vorhanden ist. Der Kontrollor rührt sich nicht von meiner Seite. Es dauert eine ganze Weile. Meine Verlegenheit wächst mit jeder Sekunde. Schon sehe ich mich die empfindliche Strafe zahlen unter den schadenfrohen Blicken der anderen Fahrgäste. Da hält die Bahn am Reumannplatz. Ohne ein Wort zu verlieren, steigt der Kontrollor aus. Vielleicht hat er Dienstschluss und möchte keine Überzeit machen. Ich weiß es nicht.
Habe ich mich beim Radfahren erkältet oder beim Fußball? Wer weiß. So oder so, ich liege leicht fiebrig in unserem Bett in der Alserstraße. Höre die Geräusche vom Kaffeeplausch nebenan im Speisezimmer. Annamaria hat ihre Freundinnen eingeladen, Darma und Francesca. Ich verstehe einzelne Wörter und höre Lachen. Worum es geht, keine Ahnung. Darma und Francesca sind seinerzeit bei der schicksalhaften Party in der Neulerchenfelderstraße zu Gast gewesen. Die aus Triest stammende Darma Prezzi hat die Laufbahn einer Sängerin eingeschlagen und Engagements in Italien und in der Schweiz gehabt. Oper und Operette. Aus Gründen, die ich nicht kenne, hat sie diesen Weg aber nicht fortgesetzt, ist schließlich beim italienischen Außenhandelsinstitut in Wien gelandet. Mit Annamaria besuche ich sie oft in ihrer Wohnung in der Taborstraße im Hintertrakt eines Gründerzeithauses. Sie wohnt umgeben von Triester Stil 1900. Ich erinnere mich an einen schönen Flügel. Wahrscheinlich durch ihre Operettentätigkeit dürfte sie befreundet sein mit Harald Serafin. Anfangs seiner Karriere ist auch er in der Schweiz gewesen. Ihn habe ich aber bei Darma nie gesehen, nur später im Fernsehen, als er schon Mr. Wunderbar war.
Wieso Francesca nach Wien gekommen ist, kann ich nicht sagen. Sie kommt aus Ferlach. Eine Kärntnerin. Sie ist zart, fesch gekleidet. Eine außerordentlich reizvolle, hübsche junge Frau. Viel später, als ich selber Kärntner sein werde, werde ich ihre Züge in vielen Kärntner Frauen wiedererkennen. Die Tür zum Esszimmer öffnet sich. Die drei Damen kommen zu mir, Darma und Francesca, um sich zu verabschieden. Darma fällt noch etwas ein, was sie mit Annamaria besprechen muss. Sie gehen wieder hinüber in den Wohnraum. Francesca nähert sich meinem Bett. Ich richte mich etwas auf. Francesca beugt sich zu mir. Ihre Abschiedsworte sind das Säuseln eines Schirokkos. Wie es zwischen uns üblich ist, küsst sie mich auf die Wange. Sie hat keine Sorge, von mir die Erkältung aufzuschnappen. Francescas Haar streichelt meine Schläfe. Ein betörender Duft strömt betäubend auf mich ein. Ohne es bewusst zu wollen, gleiten meine Lippen die kurze Strecke hinüber zu Francescas Mundwinkel. Weiter zu ihren Lippen ist schon nicht mehr zu vermeiden. Die erwartete Ohrfeige bleibt aus. Nein, Francesca küsst zurück. Es ist ein Kuss, den ich bis heute nicht vergessen habe. So zart, so behutsam, so effervescente. "Rainer, Rainer". Francesca flüstert es bebend an mein Ohr. Wir küssen einander neuerlich. Keine Absicht liegt diesen Küssen zugrunde, schon gar nicht eine böse, keine Gier, kein unredliches Verlangen, kein Wunsch nach mehr. Wir sind von Sinnen in diesem Augenblick und wir sind es beide. Aus einem Augenwinkel sehe ich Annamaria mit entsetzter Miene in der Tür stehen. Sie schlägt die Hände vors Gesicht und wendet sich ab.
Welche Katastrophen ein so kurzer Kontrollverlust verursachen kann. Dauerhaft zerstört Annamarias Freundschaft mit Francesca. Dauerhaft zerstört meine Bekanntschaft mit Francesca. Dauerhaft beschädigt meine Bekanntschaft mit Darma. Zutiefst erschüttert Annamarias Vertrauen in mich.
Es ist wohl die erste grobe Enttäuschung, die ich Annamaria bereitet habe. Ich werde mich lange bemühen müssen, ihr Vertrauen zurückzugewinnen. Obwohl alle Äußerlichkeiten mit der Zeit sich normalisieren, weiß ich im Grunde bis heute nicht, ob es mir restlos gelungen ist. Francesca werde ich nie wiedersehen. Ich versuche es auch nicht, bis in weiter Ferne meine Ehe todkrank ist. Francesca wird verschwunden bleiben. Ihr Kuss aber wird nie entschwinden von meinen Lippen. Ich habe nie aufgehört ihn zu fühlen.
Der Verlust der 'Filiale' muss irgendwie kompensiert werden. Nach und nach bürgert es sich ein, dass einer der leeren Tische zum Fresstisch umfunktioniert wird. Das bedeutet, dass bei jedem auch noch so geringen Anlass ein paar Köstlichkeiten aufgetischt werden wie zum Beispiel gebratene Stelzen mit dem ganzen ungesunden Fett unter der knusprigen Kruste, erstanden im Supermarkt und sorgfältig in Warmhaltefolie eingepackt ins Raumschiff verfrachtet. Da sie möglichst noch warm verzehrt werden müssen, eilen die Schädlinge rasch herbei und stürzen sich über die Delikatesse. In solchen Momenten müssen allfällige Kunden vor dem leeren Empfangspult stehen und anhören wie in einiger Entfernung Bemerkungen über die Qualität der Stelzen ausgetauscht werden, verbal ebenso wie in Form von oft primitiven Fressgeräuschen, dazu das Ploppen von den Stoppeln der Weinflaschen oder das Anstoßen mit den Bierflaschen. Was wären die fetten Schweinebeine ohne Begleitung von ausreichend Alkohol. Der wiederum hebt nochmals die Stimmung auf diesem spontanen Fest. Jeder kennt die immer lauter werdende Unterhaltung bei guter Speis und gutem Trank. Witzigen Bemerkungen folgen laute Lachsalven. Weniger angesteckt davon werden wartende Kunden, die mit Problemen gekommen sind, die für sie nicht lustig sind. Währenddessen verläuft auch das hartnäckigste Läuten der Telefone unerhört im Sand. Besser so, denn Ploners ‚Wer sind Sie und was wollen Sie‘ würde in solch einem Augenblick noch viel unwirscher rüberkommen, den weiteren Verlauf des Gesprächs wage ich mir gar nicht auszumalen. Manchmal frage ich mich, wieso die Maate nicht entscheidend einschreiten. Höchstens dass hie und da der Büroleiter vorbeirauscht und ein "Meine Herren, bitte etwas leiser!" stehen lässt. Fürchtet man, drastischere Gegenmaßnahmen könnten die durch die Freuden des Großraums angespannte Stimmung der Belegschaft explodieren lassen? Anfänglich hat es solche Feten eher selten gegeben, wenn einer Geburtstag gehabt hat oder dergleichen. Mit der Zeit hat der Erfolg den Abstand zwischen den Fressorgien immer weiter verkürzt, auch weil inzwischen die Außendienstmitarbeiter und dann sogar die externen Sachverständigen und die Anwälte dahintergekommen sind, dass zwei heiße Stelzen das Verhandlungsklima ziemlich günstig beeinflussen können. Jetzt gehören die Stelzenfeten schon fast zum Alltag. Kaum zu glauben, dass die meisten Mitarbeiter trotzdem beim Mittagessen im Obergeschoß erscheinen. Sie haben Essenbons für einen Monat gekauft, die sehr günstig sind. Am späten Vormittag kommt der Transporter aus der Zentralküche. Er bringt die Gebinde mit dem vorgekochten Essen und Frau Putzi. Sie ist eine kleine, aber sehr resolute Burgenländerin in Küchenkleidung. Sie hat an der Zubereitung des Essens in der Zentralküche mitgewirkt. Jetzt richtet sie es zur Ausgabe aus der Wärmeküche her. Mit der Zeit kennt sie genau die Vorlieben und Abneigungen der Mitarbeiter und welche Menge für wen richtig ist. Die Meinungen über das Essen sind geteilt. Ich selbst finde die meisten Gerichte sehr gut. Eine Suppe steht immer am Anfang. Fleisch- und Fischrationen in vernünftigen Maßen, immer gibt es reichlich Beilagen. Frau Putzi meint es immer gut mit mir. Ein kleiner Nachtisch rundet die Mahlzeit ab. Dem Speiseplan für die ganze Woche kann man auch den Nährwert der einzelnen Gerichte entnehmen, seit er in Joule angegeben ist, kennt sich keiner mehr aus. In diesen Tagen ist mein Appetit noch sehr groß, ohne dass ich dadurch bemerkenswert zunähme. An den Stelzenorgien beteilige ich mich durchaus, aber mit Zurückhaltung. Mein Fußball und Tennis halten mich in Form. Gesprächsthemen sind Fußball oder Rennergebnisse unserer Schistars. Manchmal läuft ein Radio mit der Übertragung einer Abfahrt oder eines Slaloms. Die Begeisterung ist riesig, wenn Schranz und Hinterseer gewinnen, Annemarie Pröll gewinnt sowieso immer.
Eine andere Unsitte hat sich mit der Zeit eingeschlichen. Kann sein, dass es zuerst versehentlich einem von uns passiert ist, einen lauten Pfurz zu lassen. Ich vermute, das muss Henndorf gewesen sein. Als es sich aber wenig später wiederholte, antwortete einer auf gleiche Weise, wahrscheinlich Junke. Es dauerte nicht lang und ein Dritter fiel ein. Natürlich erkannte ich rasch die soziale Komponente dieses Verhaltens und beteiligte mich nach Möglichkeit kraftvoll an dem Diskurs. War er doch im Grunde Protest gegen den verhassten Großraum. Wie könnte man dessen Ablehnung treffender ausdrücken, ja genau, ausdrücken. Es kann jetzt jederzeit passieren, dass eines dieser Blaskonzerte anhebt, so aus dem Nichts heraus, unvermittelt wie ein Frosch- oder Heuschreckenkonzert.
Dass auf jedem Tisch ein Telefon steht, ist auf den ersten Blick recht praktisch. In Wirklichkeit ist es eine zusätzliche Belastung für Kunden und Mitarbeiter. Die Telefonanlage ist noch nicht digital. Sie kann noch recht wenig, genauso wie die Tischapparate. Das sind einfache Anschlüsse ans analoge Leitungsnetz. Das heißt, niemand kann seinen Apparat auf Besetzt oder Abwesend schalten. Die einzige Möglichkeit dazu besteht darin, den Hörer neben der Gabel liegen zu lassen. Dann hört aber jeder Anrufer dieser Nebenstelle alles mit, was in unmittelbarer Nähe akustisch vor sich geht. Fresstischhörbilder beispielsweise, oder Froschkonzerte. In der Regel läuten die unbesetzten Telefone einfach endlos ins Leere. Was für die anwesenden Mitarbeiter, die möglicherweise gerade selber telefonieren, eine Nervenkrebs fördernde Herausforderung ist, mag der erzürnte Anrufer für eine ausgefuchste Hinhaltetaktik halten, einzig abgezielt auf seine Resignation. Der Firmenleitung muss dieser Missstand ein Dorn im Auge sein. Die Maate haben einige Maßnahmen zur Abhilfe angeordnet. Jeder Mitarbeiter hat jedes Telefon abzunehmen, wenn er nicht gerade selber spricht, und zwar bevor es viermal geklingelt hat. Das hat dazu geführt, dass jeder, in dessen Reichweite ein verwaister Apparat zu klingeln beginnt, rasch seinen eigenen Hörer abnimmt und ein fingiertes oder auch wirkliches Gespräch beginnt. Das fremde Telefon klingelt viermal, siebenmal, zehnmal, doch niemand nimmt das Gespräch an. Der Obermaat galoppiert herbei mit zorngerötetem Gesicht, sieht alle Mitarbeiter in lebhafte Telefonate verwickelt und nimmt den wartenden Anruf selber entgegen. Für den Obermaat, Büroleiter Csipes, haben wir aber noch viel teuflischere Qualen parat auf diesem Raumschiff. Csipes ist um die Fünfzig. Nichts an ihm ist auffällig, außer dass er äußerst beflissen ist in Geschichte, Kunstgeschichte und Kultur. Er ist aus Wiener Neustadt. Den dortigen wunderschönen Dom kennt er wie seine Westentasche. Mir scheint, er hat eine Laienfunktion in der Kirche. Vielleicht hat er damals in meinem Vorstellungsgespräch an mir entfernt ähnliche musische Interessen gespürt. Also sicher nichts Religiöses, aber vielleicht Musik und Literatur. Vielleicht hat er deshalb meine wüste Vergangenheit außer Acht gelassen und mich trotzdem aufgenommen. Ein Fehler. Meine Lernbereitschaft, Zuverlässigkeit, Unbestechlichkeit hat er bekommen. Meine Treue nicht. Csipes gehört zu denen da oben auf der Brücke, ich zur Mannschaft im Rumpf. Obwohl, ich missbillige vieles an dieser Mannschaft und das lasse ich sie unerschrocken spüren. Für sie bin ich ein Außenseiter, ein Clown, ein Till Eulenspiegel, aber kein Karrierist. Keiner von denen, die sich die ganze Zeit unweit der Brücke herumtreiben, um den Maaten gefällig zu sein. Vor mir müssen sich die Kumpel nicht in Acht nehmen. Ich weiß, wo ich hingehöre. Csipes also hat seine jungen Jahre an der Front verbringen müssen. In Russland gefangen genommen, war die Wahrscheinlichkeit groß, Heimat und Familie erst nach vielen Jahren wiederzusehen oder gar nicht mehr. Seltsam, von Wiener Neustadt abgereist, nach Wiener Neustadt heimgekehrt. Der erste Heimkehrerzug aus der Sowjetunion mit Österreichern kam an in Wiener Neustadt. Es war nicht dasselbe Wiener Neustadt, von dem er ausgezogen war. Diese für das Deutsche Reich wichtige Industriestadt gehörte zu den am schwersten getroffenen in diesem scheußlichen Krieg. Von 4178 Objekten waren ganze 18 unbeschädigt. 900 Menschen starben bei Bombenangriffen, dazu 480 Kampfflugzeugbesatzungen.
Wie lang seine Gefangenschaft gedauert hat, kann ich nicht sagen. Man kann aber annehmen, dass das Anhören der sowjetischen Hymne Csipes mit bitterer Abneigung erfüllt. Eines Tages kommt Ploner auf die glänzende Idee, die Internationale zu pfeifen. Er tut es jedenfalls mit vollen Lippen und laut. Weil es so schön war, setze ich das Pfeifkonzert in Rot fort. Genau. Mit der sowjetischen Hymne. Ein Kommunist bin ich nie gewesen. Durch Tino habe ich grundsätzlich Sympathie für die Sozialdemokratie. Die endet aber spätestens dort, wo es um Machtpolitik geht. Mit dem Pfeifen der sowjetischen Hymne will ich also keineswegs meine politische Einstellung ausdrücken. Eher ist es eine meiner Provokationen. Außerdem, ich halte dieses Musikstück für eine gut gelungene Komposition, im Gegensatz zu vielen anderen Hymnen. Beenden kann ich die Darbietung nicht, denn zu meinem Erstaunen kommt Obermaat Csipes im Laufschritt herangesaust. "Aus! Aus! Aus!" Leidend presst er Zischlaute hervor, "Scht! Scht!" Er sagt nichts weiter, wendet auf dem Absatz und entfernt sich rasch in Richtung seines Arbeitsplatzes. Ich kenne eine ganze Reihe von Hymnen. In der Folge, wenn es zu ruhig wird im Großraum, pfeife ich diese oder jene, trotz der Missfallensäußerung des Obermaats hin und wieder auch die sowjetische.
Die Besprechungen mit den Kunden und Anwälten finden jetzt in der Besprechungszone statt. Nach der Anmeldung bittet man den Kunden oder Anwalt, dort Platz zu nehmen. Es kann dann schon ein Weilchen dauern, bis wir die Akte haben, rasch noch einen Bissen vom Fresstisch mit einem Schluck hinunterspülen und zu dem Besucher stoßen. Doktor Berger ist einer, der jede zweite Woche erscheint. Er muss Mitte fünfzig sein, ein fleckiger grauer Anzug schlabbert um seinen gut gefüllten Körper. Er gehört zu denen, wo man sich fragt, warum sie persönlich kommen. Es sind immer sehr unkomplizierte Fälle einfacher Leute, die man ebenso gut per Post oder telefonisch erledigen könnte. Burger aber gefällt es bei uns. Ohne Widerrede setzt er sich geduldig in die Koje. Es dauert keine drei Minuten und – er schläft. Ein paarmal lassen wir ihn schlafen, bis er von selbst wieder erwacht. Dazwischen liegen oft mehrere Stunden. Er hat dann keine Zeit mehr für die Besprechung. Nimmt seine verwitterte Aktenmappe und ist dahin. Einmal finden wir ein paar Unterlagen auf dem Tisch in der Besprechungszone. Wir sehen sie durch, um festzustellen, wem sie gehören. Es ist ein Brief an Berger.
Lieber Herr Doktor Berger!
Freut mich sehr, daß Sie sich für meine Tochter einsetzen werden. Freut mich auch sehr, daß sie so rasch einen Vorschuß kriegt. Sie hat sich sehr gefreut darüber. Lieber Herr Doktor Berger Sie schrieben meiner Tochter Silvia das erste mal wieder in die Schule geht. Einstweilen noch nicht sie geht schon das letzte Jahr. Und im Polytechnischen Lehrgang lernt sie so nicht mehr viel. Lieber Herr Doktor Berger ich weiß nicht wie Sie aussehen ich stelle Sie mir groß und schlank vor? Mit einem guten Aussehen und bei den Frauen sehr gefragt!!!! Wie alt Sie sind weiß ich auch nicht. Aber bei den Männern spielt das Alter keine Rolle. Lieber Herr Doktor Berger hoffentlich sind Sie nicht böse über mein Schreiben? Lieber Herr Dr. Berger ich war noch nie in Wien. Wien ist eine schöne Stadt. Am Land hat man nicht viele Gelegenheiten zum Ausgehen. Wien wird ja für eine romantische Stadt gehalten. Ich war mit meinem Mann 15 Jahre verheiratet wir haben nichts von unserem Leben gehabt und jetzt ist es noch ärger für mich seit dem was ich alleine bin. Eine Frau kann alleine nirgends fortgehen und es liegt mir auch nicht. Ich lebe für meine fünf Kinder. Ich würde mich sehr freuen, wenn mich mal ein Mann ausführen würde. Bei Ihnen spielt Geld bestimmt keine Rolle??? Lieber Herr Doktor Berger bitte sind Sie nicht bös, daß ich so sehr romantisch geworden bin. Frauen wenn sie mal älter werden werden sie zum zweiten mal nochmals jung ich bin zwar noch nicht so alt ich bin 43 Jahre. Lieber Herr Doktor Berger nehmen Sie meine Zeilen zur Kenntnis ich freue mich schon auf Ihre Antwort hoffentlich bin ich enttäuscht darüber. Bitte Herr Doktor Berger wenn Sie zurückschreiben bitte mit der Hand ein paar Zeilen nicht mit der Schreibmaschine alles das wirkt so streng. Bitte verzeihen Sie die Schrift und die vielen Fehler die ich geschrieben habe.
Mit vielen herzlichen Grüßen
Er liebt mich von Herzen mit Schmerzen ein bißchen ein wenig gar nicht.
"Der Bildschirm ist eine wesentliche Erleichterung für den Mitarbeiter." Mit diesem Satz bombardieren uns die Maate von früh bis spät. Sie hoffen, damit die Akzeptanz der neuen Technologie herbeiführen zu können. Wir haben den Merksatz schon so satt, dass wir ihn selber bei jeder Gelegenheit laut wiederholen, vor allem als Antwort auf etwas völlig Unglaubwürdiges, dann mit dem Zusatz, "…und die Erde ist eine Scheibe." Es ist die Zeit, in der man beginnt, sich langsam vom Papier als Grundlage für die Dokumentation zu verabschieden. Der papierlose Akt ist schon irgendwo versucht worden. Bei uns wird er als Ziel propagiert. Freilich ist es noch zu früh, um papierlos arbeiten zu können. Dazu sind die Systeme noch nicht ausgereift genug. Um die Wege dahin zu ebnen, stehen in jeder Ausgabe der Mitarbeiterzeitung ausführliche Artikel über den papierlosen Akt. Und natürlich der Satz "Der Bildschirm ist eine wesentliche Erleichterung für den Mitarbeiter".
Früher gab es Mitarbeiterinnen in der Hollerithabteilung, die anhand des ersten Dokuments über einen neuen Schadenfall, meistens eine Schadenanzeige, eine elektronische Akte anlegen mussten und dazu noch eine greifbare Akte in Papier. Das müssen wir jetzt selber machen über jenen Bildschirm, der für uns die wesentliche Erleichterung ist. Die Mitarbeiterinnen in der Hollerith wurden eingespart. So mancher macht es mit einiger Wut im Bauch. Und bei jedem Vorgang sagt er laut, "Der Bildschirm ist eine wesentliche Erleichterung für den Mitarbeiter." So erhebt sich alle paar Minuten in irgendeiner Ecke des Großraums ein Chor, pianissimo anfangs, wie der Gefangenenchor aus Nabucco, "Der Bildschirm ist eine wesentliche Erleichterung für den Mitarbeiter", mit einer Menge Dacapos, gesteigert bis zum Fortissimo.
Bei der Anlage eines neuen Schadenfalls sind alle wesentlichen Polizzendaten auf dem Bildschirm ersichtlich. Was genau versichert ist, ob der Versicherte brav die Prämien bezahlt hat, welche Schäden er bisher gehabt und wieviel dafür aufgewendet wurde, und so fort. Alles das sah man früher auf einem Blatt Papier. Das Blatt Papier gibt es immer noch. Muss es geben, denn man hat ja den Bildschirm nicht ständig vor sich. Noch gibt es auf den Schreibtischen keine. Mehrere Mitarbeiter teilen sich einen, der auf einem separaten Gemeinschaftstisch steht und dort die Stelzen empfindlich stört. Bei der Aktenanlage gibt der Sachbearbeiter erstmals eine grobe Schätzung ab über den Betrag, den der Schaden voraussichtlich kosten wird. Die Daten werden augenblicklich zentral verarbeitet. Somit kann die Direktion auf Knopfdruck feststellen, welcher Schadenaufwand bereichsweise oder insgesamt zu erwarten ist. Man muss zugeben, das ist ein wirklich großer Fortschritt. Für die Manager. Für den Mitarbeiter bleibt es eine wesentliche Erleichterung. Die Aufwandsreserve stellt eine wichtige Grundlage bei der Feststellung der Steuerpflicht dar. Der Aufwand schmälert den Gewinn und damit die Steuerpflicht. Über den Schadenaufwand kann man trefflich an der Steuerschraube drehen. Was man zweifellos gern tut. Damit die Einschätzung des Schadenaufwands möglichst realistisch wird, ist es notwendig, im einzelnen Schadenfall jede notwendige Änderung elektronisch zu erfassen, so wie überhaupt jede Änderung des Datenbestandes, der darauf Einfluss hat. Früher hat man einmal jährlich sämtliche offenen Akte Stück für Stück überprüfen müssen, inwieweit der bis dahin ihm zugeordnete Aufwand sich etwa geändert hat. Diese Prozedur wird jetzt stark eingeschränkt. Eigentlich müssten ja die ständig aktualisierten Zahlen ein zutreffendes Bild ergeben. Das mit der Steuerschraube funktioniert aber so, dass die Direktion uns bekanntgibt, welche Aufwandzahlen sie sich erwartet. Das ist kaum jemals die Summe unserer Einschätzungen. Also müssen wir viele Akte daraufhin untersuchen, ob sich nicht eine Verminderung oder Erhöhung der Schätzung, je nach Gesamtvorgabe, vertreten lässt. Viele, aber nicht alle. Eine wesentliche Erleichterung für den Mitarbeiter.
In der Praxis gibt es allerdings Mitarbeiter, die sich zu helfen wissen. Sie geben in die Datenverarbeitung nur das absolut Notwendigste ein, um eine gültige Transaktion zu erhalten. Mit diesen Daten kann man einen Schadenfall nicht wirklich abbilden. Das macht aber nichts. Die Papierakte ist bisher sowieso nicht ersetzbar. Die elektronische Datenverarbeitung wird damit völlig sinnlos, aber der Mehraufwand, äääh die Erleichterung, hält sich in Grenzen.
Ich muss jetzt zugeben, als Freak sinnvoller Fortschrittsmaßnahmen bin ich für die elektronische Datenverarbeitung, im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen, sehr aufgeschlossen, selbst in jenem Entwicklungsstadium, das man heute als vorsintflutlich bezeichnen würde. Ich erkenne, welche Möglichkeiten in der neuen Technik liegen. Wenn sie mir auch keine persönliche Erleichterung bringt, ich investiere gern mehr persönlichen Arbeitsaufwand in eine Sache, die ich für zukunftsweisend halte. Ein Beispiel: Die Bildschirmmaske umfasst auch Raum für spezielle Notizen des Bearbeiters. Leider handelt es sich um nur eineinhalb Monitorzeilen für etwa achtzig Zeichen. Auf so wenig Platz kann man Notizen nicht in dem Ausmaß speichern, dass sie eine aktenfreie Teilbearbeitung der Sache erlauben würden, beispielsweise eine kurze telefonische Auskunft, ohne die Papierakte ausheben zu müssen. Mit der Zeit habe ich mein persönliches System von Kürzeln entwickelt, die mir genau das ermöglichen. Kein Mensch außer mir versteht meine Abkürzungen. Das heißt, in meiner Abwesenheit muss mein Vertreter bei einer Anfrage die Papierakte ausheben. Müsste er aber sowieso, auch wenn im Feld für Notizen nicht abgekürzte, demzufolge aber auch unzureichende Anmerkungen stünden. Mir selbst gelingt es aber immer öfter, in Kenntnis meiner eigenen Abkürzungen, Anfragen zu beantworten, ohne die Akte zu holen. Seltsamerweise hat sich meine Aktivität in Richtung Konzernziel papierlose Bearbeitung nicht zu meinen Gunsten ausgewirkt. Ganz im Gegenteil. Meine Kollegen ärgern sich über die für sie unverständlichen Kürzel. Für sie bin ich ein Nerd. Meine Maate aber sehen in meinem System einen Protest gegen die Bildschirmarbeit.
Das mag daran liegen, dass ich zwar kein Nerd bin, aber ein Kabarettist. Als solcher bilden für mich natürlich lächerliche Parolen wie "Der Bildschirm ist eine wesentliche Erleichterung für den Mitarbeiter" ergiebigen Nährboden für allerlei Scherze. Beispiel: An einem Faschingdienstag ist Verkleidung angesagt. Ich grapsche mir ein Kleid von Annamaria, so ein kleines Schwarzes, ärmellos, mit tiefem Ausschnitt. Dazu eine ebenso tiefschwarze Perücke mit langem, lockigem Haar. Zuvor habe ich eine Gemüseschachtel zugeschnitten. Ich kann jetzt von unten den Kopf hineinstecken und schaue durch den ovalen Ausschnitt aus dem ‚Bildschirm‘. Echt 3D. Nun benötige ich noch eine Unterlage für die Akte und den Kaffeebecher. Dazu dient eine alte Möbelplatte aus Ploners früherem Wohnzimmer, die ich mir mit einem Spagat um den Hals hänge und vor dem Bauch trage.