2 Tingeln

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Tingeln

worin vorkommen: Walter Novotny, 'Turandot' (Puccini), Alois Bednar ('Kleine Bühne'), Urfahr bei Linz (Franz Lehar - 'Der Zarewitsch'), Hans Lang und Martin Costa ('Der alte Sünder' - später verfilmt von Franz Antel mit Paul Hörbiger und Maria Andergast), Hans Olden ("Wir haben soeben geheiratet'), Maxi Böhm, Fritz Schatzinger (freier Kunstmaler, später AHS-Zeichnen-Lehrer), auch von der Gloriette und vom Watschenmann im Prater, und mein erster Einsatz als Chor in 'Turandot'

Man kann nicht sagen, dass meine Eltern nach Kriegsende nicht alles unternommen hätten, was im Bereich der geringen Möglichkeiten stand, um in ihren künstlerischen Berufen wieder Fuß zu fassen. Ihre kollegialen Kontakte, sofern überhaupt noch existent, waren alle in Deutschland gewesen. Dort hatte man auf längere Zeit keinen Sinn für die leichte Muse. Wien war eine pragmatische Entscheidung. Hier gab es wenigstens Wohnraum, wenn auch eng und notdürftig, und im Friseurladen der Großeltern auch eine bescheidene wirtschaftliche Grundlage. Meine Großeltern waren Mieter einer Zimmer-Küche-Wohnung, Bassena und Klo gemeinsam mit dem ganzen Stockwerk, in der Lienfeldergasse, also in Gehweite zum Friseurladen. Hinter dem Laden gab es einen kleinen, fensterlosen Raum. In Anbetracht der neuen Familiensituation überließen meine Großeltern die Zimmer-Küche-Wohnung meinen Eltern und nahmen mit dem Hinterzimmer des Friseurladens vorlieb.


Kontakte zu Künstlerkreisen waren hier kaum vorhanden. Meine Mutter war ja blutjung, ihre ersten Bühnenerfahrungen als Operettensoubrette hatte sie im Erzgebirge gemacht. Dort traf sie sozusagen auf halbem Weg auf meinen Vater, der aus Berlin kommend schon viele Jahre als Musikdirektor in sächsischen Theatern tätig gewesen war. In Österreich waren keinerlei künstlerische Beziehungen vorhanden. Dazu haben meine Eltern es sich noch besonders schwergemacht, denn sie hatten einander versprochen, Engagements nur gemeinsam anzunehmen. Die Eifersucht meiner Mutter hätte es anders nicht ertragen.


Meine Eltern waren nicht die Einzigen auf der Suche zur Wiederherstellung ihrer Bühnenexistenz. Wo gesucht wird, kreuzen sich unvermeidlich die Wege der Suchenden. So stießen sie auf Walther Nowotny, einen Schauspieler, etwa im gleichen Alter wie meine Mutter. Auch für ihn war kein Engagement in Sicht, also organisierte er Bunte Abende für die Belegschaften von Fabriken im weiteren Umland Wiens, in Wiener Kinos und überall, wo ein Dutzend Leute unter einem Dach zusammenkommen konnte. Meine Eltern stellten, je nachdem, ein Drittel oder ein Viertel des Ensembles dar. Tingeln nennt man das in Theaterkreisen.


Ich erinnere mich an einen Autobus-Oldtimer mit beschlagenen Scheiben, der sich mit der seltsamen Gesellschaft durch die Schlaglöcher

der nächtlichen niederösterreichischen Straßen quälte. Lichter waren draußen kaum zu sehen, aber immer wieder dunkelrot glosende Sowjetsterne an Schornsteinen und über Fabrikstoren. Durch eines von ihnen schlich schließlich der Bus, um in absoluter Dunkelheit anzuhalten. Die kleine Theatertruppe begab sich in eines der Fabrikgebäude. Nowotny und mein Vater machten sich mit den Gegebenheiten vertraut. Es handelte sich offenbar um die Kantine mit einfachen Holztischen und Bänken. An einer der Schmalseiten befand sich ein windschiefes Pianino, mit Staub dick paniert. Die Beleuchtung bestand aus ein paar starken Glühlampen ohne Abschirmung an der Decke des Raumes. Publikum war noch keines vorhanden. Nowotny pflegte zu sagen, die kommen gleich. Alles gesichert. Eine halbe Stunde nach dem festgesetzten Beginn waren manchmal zehn, manchmal fünfzehn, manchmal auch nur fünf Leute im Publikum. Nowotnys Verträgen zufolge hätte man ohne Darbietung wieder heimfahren können. Alles gesichert. Da es sich aber bei seinem Ensemble um Künstler und Amateure aus Leidenschaft handelte, zog man das Programm durch, egal wie leer der Saal war. Man setzte mich auf den Boden in der Nähe des Klaviers und ich bemühte mich, wie befohlen still zu halten. Gegeben wurden bekannte Arien und Duette aus populären Opern, dann auch aus Operetten, schließlich Couplets meines Vaters, was alles er auf dem verstimmten Klavier begleitete. Ein Highlight war die Arie der Turandot. Dafür hatte mein Vater eigens einen großen Gong mitgebracht. Als die Sängerin schrecklich hoch und schrill aufschrie und mein Vater gleichzeitig in die Tasten und auf den Gong haute, war ich sicher, dass etwas Schlimmes passiert sei und brach in lautes Plärren aus. Mein Vater sagte später, macht nichts, ich hätte das ganze Volk Pekings verkörpert, das in diesem Augenblick aufzuheulen gehabt hätte.

Nowotny findet sich später beim ORF in Kärnten wieder. Er wurde Leiter des Kärntner Schriftstellerverbandes und des Pen Clubs Kärnten.

Ein Herr Alois Bednar gründete eine 'Kleine Bühne'. Die hatte natürlich keinen eigenen Saal, sondern gastierte in Wiener Kinos und improvisierten Aufführungsstätten, kurz überall, wo ein paar Dutzend Leute unter einem Dach Platz hatten. Mama und Tino, auch Nowotny waren dabei.


Von der Kleinen Bühne findet sich später keine weitere Spur. Bednar hatte in den Fünfzigerjahren bei etlichen auch namhaften Filmen die Aufnahmeleitung.


Für Tino und Maria kam es zu mehreren kurzen Engagements in Urfahr und Linz. Obwohl die Kritiken für meine Eltern immer gut waren, ist es zu keinen dauerhaften Verpflichtungen oder Folgeengagements gekommen. 


Das Buffo-Paar Maria Milham und Rudolf Vogler als Mascha und Ivan zwang durch munteres Spiel die Zuschauer zu vielen Wiederholungsrufen.

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Die Mitzi ist jetzt wieder Maria. Für Tino ist 'Mitzi' zu exotisch. Er verwendet Mitzi nur ab und zu scherzhaft. Tino und Maria proben ihre Nummern in der Wohnung mit mir. Der kleine Rainer hört zu und staunt.

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Die Tänzerin Magazani Maria Milhams war eine vorzügliche Leistung. Eleganz, Sicherheit und Charm kennzeichnen das Spiel dieser begabten Schauspielerin.



In der Lienfeldergasse trafen Mamma und ich auf dem Gang an der Bassena oft auf eine ältere Frau. Während Mamma mit ihr plauderte, hatte ich Gelegenheit, die Frau eingehend zu betrachten. Sie war unglaublich dick. Einmal sagte ich, Mamma, - – Ja, was denn Bub? – Ich genierte mich und wollte nicht reden. Mamma und die Frau redeten auf mich ein, sie wollten unbedingt wissen, was ich hatte sagen mögen. Na ja, wenn sie es doch unbedingt hören wollen, dachte ich und spuckte es aus: Du, Mamma, die Frau Happel ist so dick wie der Watschenmann im Prater!


                                                       

                                                         Boing – dschuuuuuuu!


Der bekannte Schauspieler und Regisseur Hans Olden dreht in Wien einen seiner zahlreichen Filme: ‚Wir haben eben geheiratet‘. Mein Vater schreibt dazu die Filmmusik und ich, vier Jahre alter Hoffnungsträger der Dynastie, bekomme die kleine Rolle eines kleinen Buben, der von ‚Papa'(?) Olden einen Indianerfederschmuck geschenkt erhält und im Spazierengehen ein paar Worte mit ihm zu wechseln hat. Man hat mir vierjährigem Wicht wohl nicht zugetraut, den Text des kurzen Dialogs mit meinem berühmten Partner korrekt hinzubekommen, deshalb legt man mir eine Eselsbrücke. Wir haben Hand in Hand auf die Kamera zuzuschlendern und Papa Olden würde mir jedes Mal, wenn ich etwas zu sagen hätte, die Hand drücken. Das geht ein paarmal gut, bis ich beim nächsten Händedruck zu meinem ‚Papa' hinaufblicke und vorwurfsvoll ausrufe: „Jetzt kommst ja du dran!“


Für mich hat sich das Drehen ausgezahlt. Ich darf die Indianertrophäe behalten und werde sie in den folgenden Jahren oft sehnsuchtsvoll betrachten. Spielen darf ich damit nicht. Der Filmproduzent dürfte weniger zufrieden sein. Der Streifen geht sang- und klanglos unter.


Es waren Jahre des Mangels, aber die Hoffnung auf bessere Zeiten lebte. Maxi Böhm moderierte anspruchslose Unterhaltungsabende mit Quizfragen, wobei man ein Doppelpaket Omo gewinnen konnte. Die Veranstaltungen waren öffentlich vor Publikum, wurden aber auch im Radio übertragen und waren – in Prä-TV-Zeiten - äußerst beliebt, sodass das Format vielfach nachgeahmt wurde. So auch von Unternehmen mit politischem Hintergrund.

 

Ich weiß nicht, weshalb meine Eltern einen Bezug zu Unternehmen mit kommunistischem Hintergrund hatten. Mein Vater war ideeller Sozialist, meine Mutter völlig apolitisch. Ich vermute, dass es an den für Künstler hoffnungsvollen Umständen in Ostdeutschland gelegen war. Sie hofften wohl auf  Kontakte, um zu dortigen Engagements zu kommen. Das sind Vermutungen, die ich wohl später angestellt habe, die aber mir kleinem Buben damals kein Kopfzerbrechen verursacht haben.


Eines Tages nahmen meine Eltern mich mit zur Quizveranstaltung eines Unternehmens mit kommunistischem Hintergrund. Der Zufall oder die Regie wollte es, dass ich als  Dreikäsehochkandidat auf die Bühne geschickt wurde. Man stellte mir die Frage, in welchem Land sich das derzeit größte Kraftwerk der Welt befinde, in den USA oder in der Sowjetunion. Die richtige Antwort wäre nicht schwer zu erraten gewesen, wären mir die politischen Hintergründe des Veranstalters bewusst gewesen. So aber antwortete ich ganz spontan, USA! Wieherndes Lachen im Publikum, Betretenheit beim Moderator, nichts gewonnen. Hoffentlich ist es nicht daran gelegen, dass aus Engagements in Ostdeutschland für meine Eltern nichts geworden ist.


Meine Bubenjahre verbringe ich allein auf der Ottakringer Straße ohne Freunde. Ich weiß nicht, dass sie mir fehlen, denn ich kenne es nicht anders. Die Mama mangels Operettenengagements mit ihren Eltern im Friseurladen, Tino aus demselben Grund Hilfsarbeiter in der kleinen Drahtfabrik im Hinterhof desselben Hauses an der Scheuertrommel, in der Messingprodukte in Sägespänen entgratet und poliert werden. Meine Oma, obgleich müde vom Tagwerk im Friseurgeschäft, pinselt nachts Lötpaste auf Messingringe, die danach säuberlich auf besandete Bleche aufgereiht und tags darauf im Lötofen drüben in der Fabrik fertiggestellt werden. Pech, wenn dann Kater Felix über die Bleche spaziert und viele Arbeitsstunden zunichtemacht.


Der Eigentümer der Drahtfabrik, Herr Pilat, bewohnt mit seiner Familie die eine Seite des Obergeschosses, auf der anderen Seite ist die Familie Schatzinger zuhause. Fritz malt Bilder und wird bald eine gut bezahlte Stelle als Mittelschullehrer erhalten. Pepperl hat vom Vater die kleine Baustoffhandlung übernommen, die sich am hinteren Ende des Hinterhofs befindet. Als noch lange vor dem Krieg Militärpolizei erschien, weil Pepperl seinen Einberufungsbefehlen nicht nachgekommen war, stellte seine Mutter sich schützend vor ihn und ordnete an: „Gehn’S ham, mei Pepperl is net für sowas!“ Später wird Rosi, eine junge vertriebene Sudetendeutsche, zur Familie Schatzinger stoßen. Sie wird den Pepperl heiraten, sei er nun für sowas oder nicht. Der Familie Schatzinger gehört übrigens auch das Wiesengrundstück im Liebhartstal mit der Holzhütte, die mit den Granatensplittern...


An der Längsseite des Hinterhofs gibt es einen Abstellraum mit einem Pferdewagen und einen Stall für die dazu gehörende alte Stute. Das Pferdefuhrwerk wird für Lieferungen von Sand oder Löschkalk verwendet und erst mit dem Tod der Stute von einem Bedford Lastwagen ersetzt, den die Engländer wegen Hoffnungslosigkeit ausgemustert haben.


Manchmal kommt der alte Herr Schatzinger auf den Hof und schießt mit seiner Flinte auf Tauben oder Ratten. Rolli, der Hofhund apportiert. Sonst tollt er umher oder schläft faul an einem schattigen Platz, die Augen immer halb offen. Ich habe Respekt vor ihm, weil er beißt. Zeitweise verschwindet er durch das offene Einfahrtstor und kommt erst nach Tagen wieder heim, wenn der Hunger unerträglich wird. 



Als ich einen Tretroller aus Holz geschenkt bekomme, bin ich sicher, einen schöneren Tag werde ich nie erleben. Oft fahre ich jetzt den Abhang neben der gegenüber liegenden Altottakringer Kirche hinunter oder entwende aus Opas Münzensammlung ein paar aktuelle Exemplare und kaufe mir dafür beim Gemüsehändler nebenan eine Bensdorp Schokolade.

Wenn man so allein ist und es tut sich nichts, kommt man auf dumme Ideen. Einmal habe ich eine Maurerklampfe auf die Straßenbahnschiene gelegt und gewartet, was passieren wird. Entgegen meiner Vermutung hat der Fahrer das Eisenstück nicht gesehen und ist drübergefahren. Es hat einen lauten Knall gemacht, worauf der Straßenbahner doch angehalten und nachgeschaut hat. Er hat die verbogene Klampfe aufgeklaubt, in alle Richtungen geschaut, um den Attentäter auszumachen. Dann ist er weitergefahren.


Ein anderes Mal ist ein Mann daher gekommen, den habe ich kurzer Hand angespuckt und bin davongelaufen, der Mann empört hinter mir her, hinein in unseren Hinterhof. Dort ist mein Vater gestanden mit ausgebreiteten Armen, da bin ich nicht vorbeigekommen. Er hat mich hoch gehoben und gar nicht verstanden, was der fuchsteufelswilde Mann von uns will.


Mit dem kleinen Holzroller hatte ich noch so ein überraschendes Wien-Erlebnis. Bald war es mir zu eintönig, immer nur den Hügel neben der Altottakringer Kirche hinunter zu sausen, sah ich doch, dass die Welt an der Thaliastraße nicht endete. Sogar jenseits des Stillfriedparks ging sie noch weiter, bergauf hat mich schon damals mehr gereizt als abwärts, die Huttengasse an der Eisenbahn entlang, und dann erlag ich doch wieder dem Reiz des Abwärtsrollens. Breitenseerstraße - war schon ziemlich groß, die Welt! Das alles konnte ich natürlich nicht benennen. Es war einfach da. Schließlich - die Reinlgasse! Ich stand eine Weile und staunte. Die Straße senkt sich dem Wiental zu, an ihrem unteren Ende stößt sie an eine Häuserzeile, aber oberhalb dieser Häuserzeile, quasi im Himmel schwebend, glänzt in mildem Licht auf grünem Hügel ein weißer Palast. Ich bin ganz sicher, dort muss die Welt aufhören. Etwas so Schönes kann man nur ans Ende der Welt bauen.

Ich hatte die Gloriette entdeckt. Obwohl sie da so vor mir lag und lockte, widerstand ich dem Verlangen, gleich dorthin zu fahren. Größer war der Wunsch, dem Opa zu erzählen, was da für ein himmlisches Haus stünde auf dem grünen Hügel. Ob er es wohl wüsste?





Foto von 2011 – Man stelle sich weniger Vehikel vor

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