1 Flüchtlinge in Tirol

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Flüchtlinge in Tirol

worin vorkommen: Jochberg, Grundlsee, Döbeln (Sachsen), Nossen (Sachsen), Freiberg (Sachsen), Dresden, Chemnitz (Sachsen), Leipzig, Komárom (Esztergom), Györ, Pressburg, Wienerwald, Gallitzinberg, Baden bei Wien, Kitzbühel, Wels, Berlin, Fernpass (Tirol), Kufstein, Filzmoos (Salzburg), Ludwig van Beethoven ('Pour Elise'), der 'Flohwalzer', Graf Ottokar Czernin, Zarah Leander ('Ich steh im Regen', 'Kann denn Liebe Sünde sein'), Adolf Hitler, Emmi Emmering (Bühnenvermittlung im Deutschen Reich), Salome Pockerl (Johann Nestroy - 'Der Talisman' oder 'Titus Feuerfuchs'), Tanzschule Thumser (später fiktiver Schauplatz des 'Gschupften Ferdl', Max Reimann und Otto Schwartz ('Familie Hannemann' - später bekannt unter dem Titel 'Tante Jutta aus Kalkutta'), Eduard Künneke ('Glückliche Reise'), Ernst Hans Richter ('Der Kurier des Zaren'), Franz Lehar, Giacomo Puccini, Joseph Goebbels, Tassilo Antoine, Rainer Maria Rilke, Hedwig Bleibtreu, Alfred Hrdlicka (Mahnmal gegen Krieg und Faschismus)  und ein Musikdirektor als Aussteiger auf der Alm

Wien. Am 2. Jänner 1945 stapft die einundzwanzigjährige Maria 'Mitzi’ Milham  hochschwanger durch den ungeräumten Schnee die Ottakringer Straße stadteinwärts und hinüber zum Alsergrund. Ihr Ziel ist die Klinik, wo sie gebären soll. Es gab zuletzt häufiger Fliegeralarm als eine noch verkehrende Straßenbahn. Aus dem Keller der Klinik kommt sie zur Geburt. Siebzig Jahre später wird sie ihre Erinnerungen so festhalten:


 „Als Einjährige war ich mit meiner Mama am Grundlsee in der Steiermark. Wir besuchten meine Großmutter, die dort beim Grafen Czernin in Diensten stand. Sie wusch und bügelte die Wäsche der zwei Komtessen. Der Graf erlaubte gnädig, daß wir dort einige Tage im Gesindehaus verbringen durften. Mama ruderte mit mir den ganzen Tag auf dem See herum. Keine von uns konnte schwimmen. Vielleicht habe ich von da meine Phobie vor tiefem Wasser.

"Meine Eltern hatten gleich nach Kriegsende ein kleines Friseurgeschäft auf der Ottakringerstraße gekauft. So blieb ihnen wenig Zeit für mich. Ich kam in den Kindergarten zu den Klosterschwestern. Wir spielten dreimal im Jahr Theater. Mein Papa schminkte die Kinder für die Aufführungen und stellte Perücken zur Verfügung. Ich bekam immer die Hauptrollen. Greis oder Monstrum oder Jesuskind, ich spielte alles. Ich spielte auch ohne Theatervorstellung die ganze Zeit, nämlich mich selber, meistens als schlimmes Kind. Obwohl ich sie nervte, war ich der Liebling aller Schwestern. Ich bemühte mich herauszufinden, wie die Schwestern schlafen und ob sie unter dem Schleier Haare haben. Schwester Richaria holte mich manchmal zur Bestrafung mit dem Rohrstaberl. Es hat mich weder erschüttert noch gebessert. Richaria war es auch, die mir riet, zum Theater zu gehen. Bei den Theateraufführungen stand hinter einem Vorhang immer ein großer Weidling voller Würste bereit. Die sollten nach Ende der Vorstellung ans Publikum ausgeteilt werden. Ich spielte meine Rolle diesmal so temperamentvoll, daß ich den Vorhang herunterriß und im Weidling unter den Würsten landete. Die Zuschauer lachten sich tot und applaudierten Minuten lang. Danach kam der Pfarrer und ordnete an, das werde ab sofort bei jeder Vorstellung so gemacht.

***

 Ihre Blicke begegneten einander von oben nach unten und von unten nach oben. Beide standen an einem Fenster. Sein Kopf lag im Nacken, denn seine Blicke konzentrierten sich auf das Fenster im dritten Stock des gegenüberliegenden Wohnhauses, dessen Haustor sich in der Lienfeldergasse befand. Sie hatte wohl bemerkt, daß sie beobachtet wurde und versuchte, sich hinter dem Vorhange zu verstecken, während sie vorgebeugt den Beobachter ihrerseits zu taxieren versuchte. Marie hieß sie, das hatte er herausgefunden. Sie wußte nicht, daß er Hans hieß und nur ein Bein hatte.

Hans erfuhr, daß sie Friseurmeisterin und im Begriffe war, ganz in der Nähe einen Salon zu übernehmen. Das war ein Hoffnungsschimmer, denn auch er hatte Herrenfriseur gelernt. Es gab aber zu viele Herrenfriseure mit gesunden zwei Beinen, da wollte niemand einen beinamputierten Kriegsversehrten einstellen.  Aber: Hans stammte aus einer mährischen Familie wie sie. Das verband. Es imponierte Marie, wie Hans mit seiner schweren, primitiven Prothese stundenlang im Geschäft stehend arbeiten konnte. Ökonomische Überlegungen kamen ins Spiel. Wenn Hans in der fensterlosen Kammer hinter dem Laden nächtigte, konnte er seine Mietwohnung aufgeben. Wenigstens brauchte er mit seinem Holzbeine nicht mehr die Stiegen hinaufsteigen in den dritten Stock. Und der Weg zur Arbeit war auch lang und mühsam für ihn mit seiner Behinderung. Marie und Hans taten sich zusammen. Selbst nachdem die Dinge ihren Lauf genommen hatten und Hans und Marie ein Paar und sogar ein Ehepaar geworden waren, blieb Hans in seiner Dunkelkammer. Drei Stock hinauf in Maries Wohnung wären noch schlimmer gewesen. Marie blieb nachts oft bei ihm. Die Müdigkeit nach einem langen Tag legte es nahe. Und nicht nur die Müdigkeit.

Marie war fünfundzwanzig, als sie fünf Jahre nach dem Ende des schrecklichen Krieges ein Mädchen gebar. Sie nannten es Maria. Aber wohin mit dem Kind, da beide Eltern arbeiten mußten? Solange Maria klein war, blieb sie im Friseurladen. Später mußte Maria in den Kindergarten der katholischen Klosterschwestern. Es gefiel ihr dort. Sie war der Mittelpunkt der Institution. Mit ihren Faxen und Späßen und frühem Theaterspiel hielt sie ihre Mitzöglinge, die Schwestern und den Kaplan auf Trab.

Als Maria sechs wurde, begann es zwischen Marie und Hans zu kriseln. Er ging oft ins Wirtshaus um zu trinken. Wenn er heimkam, wurde er übergriffig. Marie hielt sich jetzt oft in der Wohnung in der Lienfeldergasse auf mit ihrer Tochter. Sie schaffte ein Pianino an auf langfristige Teilzahlung. Vielleicht förderte es ja Marias Musikalität. So trat ich ins Leben dieser Familie.

Mein Name ist Robert Waldhäusl. Mein exaktes Geburtsdatum ist unbekannt, es dürfte aber um 1920 gewesen sein. Lange mußte ich unnütz im Lager der Klavier-Niederlage herumstehen, bevor man mich die drei Stiegen hinauftrug durch die schmale Küche in die helle Stube dieser noch jungen Frau mit dem kleinen Mädchen. Ab und zu klimperte das Mädchen auf mir herum, wild und ohne erkennbares System, dann aber wieder mit einem Finger die Melodie manches Kinderliedes stotternd.

Die Mutter rührt mich nicht an. Mir scheint, meine Anschaffung ist zum Teil dem Bedürfnis nach einem Statussymbol geschuldet. Schade. Wie gern wäre ich in eine Familie gekommen, wo ich herangenommen würde. Wo jemand ernsthaft lernte, die schöne Musik aus mir herauszuholen, die in mir steckt. Oder gar in eine Bar oder ein Revueetablissement, wo ich jeden Abend die Gäste unterhalten dürfte. Nein, zu diesen Banausen mußte es mich verschlagen. Aber was! Immer noch besser als das öde Kontor, wo gar nichts passierte als die spannenden Augenblicke, da die Männer hereinkamen, um eines von uns abzuholen und jedes von uns hoffte, diesmal würde es einen selbst treffen. Die Enttäuschung, wenn es der eingebildete Stutzflügel war.

"Papa trank gerne, vielleicht wegen seiner Behinderung. Er hatte im Krieg ein Bein vollständig eingebüßt. Um im Geschäft stehen zu können, mußte er eine Prothese tragen. Solche waren damals noch sehr schwer. Seine wog acht Kilo. Wenn er zu viel getrunken hatte, wurde er rabiat und fing an, auf Mamma und mich loszugehen. Ich hatte jeden Abend große Angst. Oft mußte ich mit Mamma zur Hausbesorgerin schlafen gehen. Mamma ließ sich schließlich scheiden. Sie führte das Geschäft weiter, während Papa einen Herren-Salon in der Nähe übernahm. Ich war oft bei ihm. Er war der beste Mensch. Nach einem rabiaten Abend wußte er tags darauf nicht mehr, was vorgefallen war. Mein ganzes Sinnen und Trachten war nur, daß Mamma und Papa wieder zusammenkommen sollten. So wanderte ich zwischen den beiden hin und her und gab keine Ruhe, bis ich es erreicht hatte. Nach eineinhalb Jahren der Trennung heirateten sie noch einmal.“

„Mit sieben wurde ich auf der Straße angeschossen. Gassenbuben spielten mit einem Revolver. Blut rann meinen Hals hinunter. Mamma rannte mit mir zum Arzt. Streifschuß, sagte er, als er mich verband. Die Wunde verheilte bald.“


***

Maria ist herangewachsen. Maria ist ein viel zu idyllischer Name für diesen Wirbelwind. Alle nennen sie jetzt Mitzi. Mitzi ist vielbeschäftigt. Die Hauptschule hat sie mit links abgeschloßen. Sie lernt Friseurin. Daneben lernt sie klassischen Tanz und besucht eine Schauspielschule. Mit mir beschäftigt sie sich wenig. Stücke wie ‚Pour Elise‘ oder der ‚Flohwalzer‘ sind ihre Favoriten. Den Flohwalzer spielt sie in Fis-Dur, nur auf den schwarzen Tasten. Schwarz ist auch Mitzis Haar. Das paßt gut zu meiner schwarzen Farbe. Ihr ebenholzschwarzes Haar hat sie schon in bedenkliche Situationen gebracht, nämlich im Zusammenhang mit ihrer gebogenen Nase. Diese Idioten haben sie tatsächlich verdächtigt, jüdisch zu sein. Sie hat nur gelacht darüber. Aber den Ariernachweis hat sie doch erbringen müssen. Zarah Leander ist der große Star in diesen Tagen. Die großen Schlager ‚Ich steh im Regen‘ oder ‚Kann denn Liebe Sünde sein‘ kennt man vor allem aus dem Kino. Radio ist noch wenig verbreitet. Jetzt aber kommen massenhaft Hitlers Volksempfänger in die Wohnungen. Mitzis Sopran imitiert Zahrah Leanders Contra-Alt, wenn sie deren Schlager auf und ab singt.

...

„Mit Eintritt in die Hauptschule besuchte ich nebenbei die Staatsakademie für Ballett und darstellenden Tanz. Acht lange Jahre Tränen und Blut (der Spitzentanz, die Zehen!), aber ich hielt durch. Meine Rollenspiele setzte ich in der Schule fort. Ich imitierte alle Lehrer und den Direktor. Die Tanzausbildung ging weiter, als die Hauptschule beendet war. Daneben wurde ich Friseurlehrling. Die Lehre machte ich nicht im elterlichen Geschäft, sondern in einem vornehmen Salon in der Innenstadt. Mit der Gesellenprüfung in der Tasche arbeitete ich in unserem Geschäft weiter. Ich beteiligte mich an vielen Preisfrisieren und bekam immer erste oder zweite Preise. Zum Tanzen und Frisieren kam mit sechzehn auch noch das Schauspiel. Ich besuchte das Konservatorium. Außer Sprechen konnte man mir dort nicht mehr viel beibringen. Ich war neunzehn, als man über Emmi Emmering munkelte, sie sei in Wien. Die große Schauspielerin vermittelte viele Engagements. Ohne Abschlußprüfung ging ich zu einem Vorsprechen. Der Intendant des Stadttheaters in Döbeln (Sachsen) war auf Suche. Ich brachte die ‚Salome Pockerl‘ und noch eine komische Rolle aus einem musikalischen Lustspiel und hatte einen Vertrag über 125 Mark monatlich für die Spielzeit ab Herbst. Das war 1942. Ich schwebte im siebenten Himmel, dachte überhaupt nicht daran, daß Krieg war, schon wieder. Wie schwer mußte es Mamma fallen, mich so weit fortgehen zu lassen, mich, die ich nicht einmal allein zur Perfektion bei der Tanzschule Thumser in Neulerchenfeld durfte.


Im August fuhr Mamma mit mir nach Döbeln. Wir fanden ein Zimmer für mich bei einem Ehepaar, das gerade den Sohn im Krieg verloren hatte. Ich würde so etwas wie die Ersatztochter sein. Mamma war wichtig, daß jemand mich beaufsichtigte. ‚Daß d' mir ja kan Bamperletsch hambringst!‘, schärfte sie mir wiederholt ein, bevor sie in den Zug nach Wien stieg. Wie ich das im Falle des Falles verhindern hätte können, war mir nicht so richtig klar.


Ich meldete mich am Theater. Die Ballettmeisterin war sehr zufrieden, als sie von meinen vielen Jahren Ballettunterricht erfuhr. Ich durfte mit dem Ballett trainieren und bei jedem Ballettabend mittanzen, sogar Solos. Gleich zu Beginn der Spielzeit mußte ich für die erkrankte Soubrette in ‚Land des Lächelns' einspringen. In zwei Tagen lernte ich Text, Musik und die Personenführung. Alles ging gut. Das Publikum war sehr freundlich zu mir.


 Zwei Tage danach gaben alle Neuen im Ensemble einen musikalischen Abend, um sich dem Döbelner Publikum vorzustellen. Ich war die einzige Wienerin. Wir hatten großen Erfolg. Die Zeitung war voller Lob. Nur der Kapellmeister war nicht zufrieden mit mir. Bei der nächsten Probe meinte er, ich müsse schon zu ihm hinunterschauen und seine Tempi beachten. Na, ich hatte einen Riesenzorn auf den! Vor allen anderen hat er mich heruntergeputzt. Meine Verteidigung ‚Wienerisch ist anders als deutsch‘ war auch nicht wirklich gscheit. Der Zufall wollte es, daß wir wenig außerhalb Döbelns in derselben Straße wohnten und daher nach den Proben denselben Heimweg hatten. Ich mußte immer viel von Wien erzählen. Er war sehr interessiert an Österreich. Im Lauf der Zeit habe ich mich sehr an den Herrn Kapellmeister angeschlossen. Er war so seriös und überhaupt nicht zudringlich, was man von den anderen Kollegen nicht sagen konnte. Sogar die Operettensängerin wollte mich vernaschen. Gottseidank haben mich meine Kolleginnen gewarnt, als ich in der Garderobe strahlend erzählte, ich wäre zum Kaffee bei ihr eingeladen. Damals hatte ich noch keine Ahnung, daß es ‚sowas' gibt.“

„Unser Theater gab Gastspiele in kleineren Orten. Wir machten viele Abstecher. Oft gab es keinen Bus und wir mußten weite Strecken zu Fuß gehen. Im Winter war das sehr beschwerlich. Trotzdem habe ich mich angeboten, dem Herrn Kapellmeister seine Tasche zu tragen. Das hätte ich bleiben lassen, hätte ich geahnt wie schwer sie wirklich war. Das ganze Orchestermaterial! Ich schleppte die blöde Tasche, während der Herr Kapellmeister sich vorneweg mit seinen Orchesterkollegen unterhielt.

Eines Tages standen wir auf einem Bahnsteig. Fahrt zu einem Gastspiel. Ich sagte zum Kapellmeister ‚Wissen Sie eigentlich, Herr Richter, was man in der Stadt über uns tratscht? Man behauptet, wir hätten was miteinander.‘  Der Kapellmeister antwortete unerwartet und trocken: ‚Wat nich ist, kann ja noch werden.‘


Im Lauf der Monate sind wir uns immer nähergekommen. Ich durfte Herrn Kapellmeister Ernst Hans Richter schon 'Tino' nennen. Und auf einmal entwickelte sich ein starkes Gefühl. Wir klammerten uns aneinander. Ich wußte, daß ich nie mehr ohne Tino sein wollte. Schlimm wurde es, als Tino im Frühjahr 1943 ins nächste Engagement ging nach Freiberg. Vierzig Kilometer von Döbeln entfernt! Vierzig Kilometer im Krieg sind länger als vierzig Kilometer im Frieden. Und noch einmal länger, wenn sie zwischen mir und Tino liegen. Wenn die Spielpläne es erlaubten, trafen wir uns jede Woche in Nossen auf dem Bahnhof. Nossen ist ein Knoten der Linien Dresden-Chemnitz-Leipzig, wo von Freiberg ein Zubringer angebunden war. Jeder hatte zwanzig Kilometer zu fahren. Heute mit dem Auto eine Frage von einer Viertelstunde. Unter den seinerzeitigen Umständen konnte die Fahrt unter Einrechnung von Verspätungen mehrere Stunden dauern. Es war verboten, die Stadt zu verlassen, wenn man Vorstellung hatte. Wären wir erwischt worden, wir wären hinter Gittern gelandet oder strafweise im Arbeitsdienst. Einmal fiel ein Zug aus. Wir standen verzweifelt auf dem Bahnsteig. Über Umwege, ich über Dresden, Tino über Leipzig, erreichte ich Döbeln, Tino Freiberg. Beide schafften wir es im allerletzten Moment zu den Theatern. Ich erhielt von der Direktion eine Verwarnung ohne weitere Folgen, weil sie nicht erfuhren, wo ich gewesen war.

„Ich erfuhr, daß in Freiberg eine Vakanz war. Ich fuhr hin, sang und tanzte vor und bekam das Engagement als Tanzsoubrette. Tino hatte keine Ahnung. Der hat vielleicht geschaut, als ich da antanzte. Mit den konspirativen Ausflügen war es endlich vorbei. Um diese Zeit wurde Tinos erste Ehe nach dreijähriger Wartezeit geschieden. Margarete, die ich nie gesehen habe, war Funkerin auf See. Sie hatte einen Kapitän kennengelernt.   








„In Freiberg spielte ich in diversen Operetten und musikalischen Lustspielen, meistens Verrückte oder Eifersüchtige und sonstige komische Rollen. In der Operette 'Glückliche Reise' von Eduard Künneke spielte ich im ersten Akt eine Negergreisin. Im zweiten Akt tanzte ich als junges Mädchen mit dem Ballett. Das hat Spaß gemacht! Es ging sich immer ganz knapp aus, das Umziehen und Umschminken. An schwierigen Herausforderungen habe ich schon damals Gefallen gefunden. Die Sympathie des Publikums war rührend. Nach jeder Vorstellung standen Leute am Bühnentürl, brachten Kaffee, Schokolade und Blumen. Beim Einkaufen in der Fischhandlung hatte ich oft Protektion. Es gab ja alles nur auf Marken. Man muß sich vorstellen, die Leute haben sich die Gaben vom Mund abgespart. Und ich hatte immer gute Kritiken, obwohl ich den Zeitungsschreiber gar nicht kannte..

Uraufführung mit größtem Erfolg

Der Kurier des Zaren

Operette von Ernst Hans R i c h t e r


So nannte Jules Verne seinen großen Abenteuerroman; der Film schuf danach ein prunkvolles ereignisreiches Geschehen – und Ernst Hans Richter machte eine Operette daraus, eine wirkliche Operette im besten und wahrsten Sinne des Wortes.

Eigentlich ist es verwunderlich, daß das Theater sich nicht auch schon längst dieses prachtvollen Stoffes bemächtigt hat. Die Geschichte von dem geheimnisumwitterten Zarenoffizier, der sich mit geheimen Plänen von Moskau durch ganz Sibirien zu dem von aufständischen Tataren unter Führung eines abtrünnigen Russen in der Festung Irkutsk eingeschlossenen Großfürsten durchschlägt, hätte in ihrer nie nachlassenden Spannung doch eigentlich dazu reizen müssen. Vermutlich hat aber die Schwierigkeit, dieses abwechslungsreiche Geschehen auf der Bühne einzufangen, davon abgeschreckt.

 Der Textdichter Ernst Hans Richter hat diese Schwierigkeit mit vollem Erfolg überwunden. Ein straff konzentrierter, geschickt formulierter Dialog läßt den Zuhörer immer im Bilde sein und überbrückt auch die Lücken des rein bühnenmäßigen Geschehens. Die Hauptpunkte des Romans sind sehr gewandt ausgenützt. Es beginnt mit dem Auftrag an den Kurier, führt über dessen Treffen mit der russischen Offizierstochter, die gleichfalls nach Sibirien zu ihrem Vater will und seine Gehilfin wird, zu dem Höhepunkt, der Gegenüberstellung des als Pelzhändler verkleideten Boten mit seiner Mutter im Zelt des Aufständischenführers und schließlich nach seiner fast dramatisch gestalteten Entdeckung und Verhaftung zum in jeder Beziehung glücklichen Ende im befreiten Irkutsk.

Wie diese Figuren, so sind auch die Figuren der Gegenspieler treffsicher herausgearbeitet. Vor allem die der spionierenden Zirkusreiterin Petruschka. Sie bildet den unaufdringlichen Übergang zu den schon reine Operette darstellenden Journalisten Brown und Duval, die das erheiternde und belebende Element der Handlung sind.

So wird Schauspiel- und Operettenmäßiges geschickt zu einem Ganzen verwoben. Es mag Geschmackssache sein, welcher Zutat man den Vorzug geben will, fest steht jedenfalls, daß die Spannung niemals nachläßt. Das bestätigte auch deutlich die Stimme des Publikums während und nach der Aufführung.

Der Komponist Ernst Hans Richter hat dazu eine farbige, dem Stimmungsaufwand immer voll gerecht werdende Musik geschrieben. Sie will dabei weder typisch russisch sein – trotzdem natürlich manche Effekte dem Landschaftscharakter Rechnung tragen – noch etwa gar international. Dafür ist sie einfach in der Linie und, vor allem, in jeder Beziehung originell. Schon das Auftrittslied des Kuriers 'Wie ein Zigeuner' ist ein Schlager und ein guter Anfang. Aber auch sonst finden sich in dem Melodienreichtum noch ein paar besonders 'spritzige' Sachen, so z.B. das Lied 'Ein heimlich Stelldichein', das in seiner leisen Stimmungsseligkeit ebenso wie das prachtvolle Duett 'O Petruschka', dieses fröhlich schmetternde Tanzlied, ein paar sehr gelungene Tänze, nicht zuletzt die lustig tobende Tarantella des letzten Aktes, wirkungsvolle Chorsätze und liebevoll ausgearbeitete Zwischenaktsmusik setzen die Vielseitigkeit des Komponisten ins beste Licht.

Eine geschickte, saubere Instrumentierung gibt dieser Musik blühende Farbigkeit. Wenn dabei einzelne Weisen in unserem Theater leise mitgesummt wurden, so ist das zwar eine Seltenheit, aber auch der beste Beweis dafür, daß sie ins Ohr gehen – übrigens auch in die Beine – und dort haften bleiben. Der Komponist am Dirigentenpult und ein trefflich, sauber und gefühlvoll spielendes Orchester taten dazu ihr Möglichstes.

Intendant Mark hatte diese Operettenaufführung selbst mit spürbarer Liebe und Hingebung an das Werk inszeniert. Es blieben kaum noch Wünsche offen. Keine tote Stelle unterbrach den Fluß der Handlung, in sprühend bunter Lebendigkeit rollte das Spiel. Auch kostümlich war alles getan worden. Günther Schumanns Bühnenbilder waren einfach fabelhaft, sowohl das stimmungsvolle Dorfbild an der Grenze als auch das tatarisch grellbunte Zelt und nicht zuletzt die hohen, schweigenden Mauern und Türme der sibirischen Festung. Und – selbst wenn es etwas überschwänglich klingen mag, schon bei der zweiten Operette in dieser Spielzeit in Superlativen zu reden – auch das Ballett unter Leitung von Wilm Reichert übertraf sich diesmal selbst im farbensatten tollen Wirbel tänzerischer Gelenkigkeit.

In der Titelrolle war Wilhelm Georg ein schöner, warm empfindender Leutnant Strogoff. Er sowohl als auch seine Partnerin, Gerta Vater als Nadja, hatten aber nicht nur Gelegenheit, ihr Spiel in allen Variationen leuchten zu lassen, sondern konnten auch ihre stimmlichen Mittel voll ausnützen. Es gab einen prächtigen Zusammenklang.

Ein paar besondere Zeilen muß man schon der Petruschka von Dolo Langanki widmen. Sie stand hier wirklich auf dem rechten Platz. Es war eine Bombenrolle und deutlich spürbar eine Lust für sie, diesem rassigen Sprühteufelchen Temperament, Farbe und Beweglichkeit zu leihen. Auch stimmlich wurde sie ihrer Aufgabe voll gerecht.

Ein sehr vergnügtes Paar waren Alwin Pichert und vor allem Heinz Brinks, der tänzerisch Vielgewandte, als Journalisten. Besonders schön, daß sie dabei nicht übertrieben. Eine Überraschung bedeutete Hellmuth Jungmann als Ogareff, weniger darstellerisch, denn da konnte man schon einiges von ihm erwarten, als vielmehr gesanglich. Er hielt durchaus das Niveau. Prächtig paßten sich ferner an Lotte Rogall, eine heldenhafte Mutter, Fritz Neumann, ein gewaltiger Emir, Günther Schumann, ein sehr feiner Kommandant, der nicht nur seine Festung, sondern auch die Stimmung hielt, Emil Schön als geradezu 'tolle' Exzellenz und Albert Loesnau als sein leicht sarkastisch angehauchter Adjutant. Hans Zeising als russischer Kutscher – eine Mustermaske, desgleichen Gerd Berger als trinkgeldfreudiger Soldat.

Es waren der verdienstvollen Mitwirkenden noch mehr. Für sie gilt ebenso wie für die vier Genannten, daß sie dem Werk ihres Kollegen zu einem vollen, großen Erfolg verhalfen. Mit ihnen allen konnte Ernst Hans Richter wohlverdienten Lorbeer, viel Blumen und noch mehr stürmischen Beifall eines vollbesetzten und ob dieser so gelungenen Uraufführung glänzend in Stimmung befindlichen Hauses entgegennehmen.

Dr. Hans Lödel.


Der Kurier des Zeren, Bühnenbild 2. Akt, von Günther Schumann









„Es muß im März oder April gewesen sein, als ich meinen Sohn empfing.

"Im Juli konnten wir für ein paar Tage nach Wien reisen. Tino lernte seine Schwiegereltern kennen. Sie begegneten Tino mit reservierter Freundlichkeit und mir mit aller Liebe. Da war er also doch, der Bamperletsch. Unterbrochen von Fliegeralarmen heirateten wir am 12. Juli, drei Tage vor Tinos einundvierzigstem Geburtstag und vier Monate vor meinem einundzwanzigsten.

***

Meine erste Erinnerung besteht aus blassen Bildern wie aus einem verschleierten Traum. Es wird aber kein Traum gewesen sein. Um von diesem weiß gekleideten Herrn mit dem seltsamen Ding träumen zu können, hätte ich zuvor einen Arzt mit so einem seltsamen Ding gesehen haben müssen, Es muss also schon die allererste Erinnerung sein, die sich mir da abbildet, in ferner Vergangenheit. Wie der weiß gekleidete Herr meine aufgeregte Mutter beruhigt, das haben wir gleich. Die Worte kann ich natürlich nicht verstehen, denn ich muss noch ganz sprachlos gewesen sein, aber ich fühle wie ich damals gefühlt habe, dass der weißgekleidete Herr meint, das sei nichts Besonderes, nicht der Rede wert, als er das seltsame Ding in die Hand nimmt, dieses Horn mit einem Ballon, heute würde ich sagen, eine uralte Autohupe. Der weiß gekleidete Herr steckt das seltsame Ding an meinem hinteren Ende kurz in mich hinein, eine warme Welle durchfließt mich, dann gibt mich der Arzt meiner Mutter zurück.


Mein Gefühl sagt mir, dass die Ordination, wo das geschah, ganz in der Nähe unserer Wohnung liegt, in einer Parallelstraße zur Lienfeldergasse, nur ein Häuserblock dazwischen. Ein Häuserblock, der allerdings nicht mehr vorhanden ist, ein ehemaliger Häuserblock sozusagen. Ein Häuserblock, der seit einem Jahr in Trümmern liegt, nachdem eine Fliegerbombe tief in ihn eingedrungen und dann in einer gewaltigen Explosion ihn und die zitternden Menschen in den Kellern auf einen Schlag verwandelt hat in einen ehemaligen Häuserblock und in ehemalige Menschen.


Der fehlende Häuserblock hat meinem Vater einen Schreck eingejagt, weil er ihn mit unserem Wohnhaus verwechselt hat, als er anlässlich eines Fronturlaubs zu mir und zu meiner Mutter wollte und es hat eine ganze Weile gedauert, bis er dahintergekommen ist, dass der fehlende Häuserblock nicht unser Wohnhaus und unser Wohnhaus um einen Häuserblock weiter westlich und ganz unversehrt war. Mein Vater wollte zu meiner Mutter, um sie zu heiraten und dazu hat er auch den Fronturlaub bekommen. Da also der fehlende Häuserblock nicht der Häuserblock mit unserer Wohnung war, haben meine Eltern eine aufs Wesentliche beschränkte Kriegshochzeit feiern können und gleich danach ist mein Vater zu seiner Einheit nach Westungarn zurückgekehrt.


Die Einheit, bei der mein Vater gekämpft hat, war eine Transportkolonne. Das heißt, er hat dort nicht gekämpft, aber Kriegsdienst geleistet. Kämpfen wäre dieser Truppe Sache nicht gewesen, denn sie bestand aus einer Ansammlung von Theaterleuten. Die Theater im deutschen Reich waren im September 1944 geschlossen worden und die Ensembles, soweit sie nicht schon zuvor der Judenverfolgung zum Opfer gefallen waren, nach einer kurzen Einschulung, Ausbildung wäre weit übertrieben, dem Kriegsdienst zugeführt. Da saßen nun der Komiker und der Bariton und der Inspizient und der Tenor und das Cello und die Oboe und der Buffo und der Kapellmeister, mein Vater, judenbefreit in einem Wald östlich von Komárom auf den Ladeflächen von ein paar Henschel und warteten darauf, dass der Hauptmann Bauer mit dem Wachtmeister Zlanabitnik zum Tross zurückkehren würden, hoffentlich mit reicher Beute, denn tagsüber begaben sie sich auf Hasenjagd, um die karge und eintönige Dosenration ein wenig aufzubessern. Jeden dritten Tag wurde mein Vater, der Kapellmeister, mit dem Fahrrad nach Komárom geschickt, um die Feldpost zu holen, später auch nach Györ und Pressburg, nachdem von Osten her Geschützdonner das Näherrücken der Front und Hauptmann Bauer verkündete, „Männer, wir verlegen". Verlegen, das bedeutete immer Aufbruch in Richtung Westen, wo der Geschützdonner gerade noch nicht zu hören war. Und da behaupte jemand, das Reich hätte für seine Künstler nichts übriggehabt!

...

Die Mitzi ist wieder da! Wenn auch nur für ein paar Tage. Ein Wirbelwind ist sie immer noch, aber doch auch verändert. Eine strahlende junge Frau ist sie geworden. Und sie hat ihren Bräutigam mitgebracht. Na bumm! Der ist zwanzig Jahre älter als die Mitzi. Dafür kann er herrlich Klavier spielen. Er hat auf mir herumphantasiert, Operettenmelodien, Lehar und zum Teil wahrscheinlich von ihm selbst, aber auch Puccini, den mag er offenbar sehr. Ich hab‘ mich zusammengerißen, um alledem gerecht zu werden. Die Mitzi hat gesungen. Bei den Duetten hat der Tino, so heißt ihr Mann, den männlichen Part markiert. Haha! Er mit seinem platten Berlinerisch - Wiener Operette – haha! Dafür hat sich sogar Mitzis Vater mit seinem Holzfuße in den dritten Stock heraufgequält und die Schatzingers und die Pilats. Noch mehr hätten in die kleine Wohnung nicht hereingepaßt. Es hat ihnen sehr gefallen, aber daß sie ihn gleich heiraten muß?

...

„Zurück in Freiberg spielten wir noch bis September, dann wurden auf Goebbels' Befehl alle Theater geschlossen. Tino mußte zur Wehrmacht. Ich durfte nach Wien fahren, weil mein Kind unterwegs war. Das hat mich vom Arbeitsdienst in einer Fabrik bewahrt. Tino war zuerst zur ‚Ausbildung‘ für ein paar Tage in Chemnitz stationiert, aber gleich danach wurde seine Kompanie nach Ungarn verlegt. Es muß ein lächerlicher Haufen gewesen sein, die Transportkolonne Bauer. Aus welchem Kalkül man eine Einheit fast zur Gänze aus Theaterleuten bildete, hat sich mir nie erschlossen. Tänzer, Tenöre und Komiker an den schweren Henschel, unvorstellbar. Wir schrieben uns täglich. Tinos Briefe waren immer lang, ohne Wehmut, aber voller Liebe. Trotzdem hatte ich Angst, eine rassige Ungarin könnte ihn mir wegschnappen. Dem Major Bauer muß klar gewesen sein, daß er mit dieser Truppe keine Schlacht gewinnen würde. Hörte man in der Ferne Kanonendonner, verlegte er die Einheit außer Reichweite. Ich bin ihm heute noch dafür dankbar. So näherte Tinos Einheit sich immer mehr Wien.

"Über Intervention eines Bekannten bekam ich eine Berühmtheit als Geburtsarzt, Professor Tassilo Antoine. Ich sagte ihm, er sei eine Persönlichkeit, die unbezahlbar ist. Er lachte und betreute mich kostenlos. Am 2. Jänner ging ich mit Mamma von Ottakring nach Alsergrund zum 'Goldenen Kreuz', zu Fuß. Es fuhr keine Straßenbahn mehr. Ich wollte unbedingt, daß Mamma bei mir bliebe, sie durfte aber nicht und marschierte wieder nach Hause. Am nächsten Morgen erblickte Rainer das Licht der Welt.

Ich rief Mamma an und sagte‚ “Der Bamperletsch ist da. Tino in Miniaturausgabe.” Rainer sah Tino sehr ähnlich. Es war wie ein Wunder. Von mir hatte er gar nichts. Um elf mußten wir alle wieder in den Luftschutzkeller. Die Babys lagen alle durcheinander in einem Wäschekorb, aber man hätte den Knaben nicht verwechseln können, zu groß war die Ähnlichkeit mit seinem Vater. Es war Tinos Wunsch, ihm den Namen nach Rainer Maria Rilke zu geben. Ich habe Tino ein Telegramm geschickt. Ein Wunder, daß er es erhalten hat. Post ging ja keine mehr. Es war mir gelungen, die Burgschauspielerin Hedwig Bleibtreu als Taufpatin zu gewinnen. Sie war damals siebenundsiebzig. Zur Taufe in der Altottakringer Kirche kam sie in einem Fiaker während eines Bombenangriffs. Zu meiner Bitte um diese Gunst hatte sie ohne Zögern ja gesagt. Bedauerte nur, daß sie in diesen schlechten Zeiten nichts zu geben habe. Ein Taufgeschenk brachte sie aber doch mit. Eine ovale Tischschale aus Glas mit einer Einfassung aus ziseliertem Blech. Jugendstil.“


...

Opa und Oma 1926


Mamma und Opa betrieben einen Friseurladen in Altottakring. Mamma hatte ihn am Ende des Kriegs 1918 gekauft. Ein Bekannter hatte das Geld dafür vorgestreckt. Dank der Superinflation der folgenden Jahre war Mamma bald schuldenfrei.

Wenn von meiner Oma die Rede war, nannten alle sie Mamma. Ich sprach meine Mutter mit Mama an. Mama, in die Krise der Zwischenkriegszeit geboren, hatte die übliche Friseurinnenausbildung gemacht. Sie hat danach einige Wiener Siegertitel im Preisfrisieren errungen. Tino, mein Vater, war eingezogen zur Wehrmacht und diente bei einer Transporteinheit in Ungarn. Sie bestand überwiegend aus Theaterleuten. Der Kommandant, Major Bauer, ging alle paar Tage auf die Jagd, um den Speiseplan der Truppe aufzubessern. Wurde der Kanonendonner von der Front her lauter, verlegte er die Einheit so weit in Richtung Westen, bis der Kampflärm einen gewissen Lautstärkepegel unterschritt. Trotzdem gab es natürlich auch gefährliche Momente, wenn die mit Munition schwer beladenen Henschel im Morast steckten und ein leichtes Ziel für Luftangriffe boten.

Die Bombenangriffe auf Wien intensivieren sich. Einem von ihnen ist am 12. März die Staatsoper zum Opfer gefallen. In den Kellern des Philipphofs gleich nebenan sind einige Hundert Menschen unter dem einstürzenden Gebäude begraben worden. Viele der Leichen sind auch später nicht geborgen worden, als man die Ruine eingeebnet hat. Sie liegen noch heute unter Alfred Hrdlickas ‚Mahnmal gegen Krieg und Faschismus‘, gegen das bei und nach seiner Enthüllung im November 1988(!) noch heftig polemisiert worden ist, weil allen Opfern des faschistischen Krieges gewidmet, also auch den Juden.















© Manfred Werner  CC BY-SA 3.0 

Im Wienerwald bei der Jubiläumswarte donnern Flakstellungen, die anfliegenden Bomber zu bekämpfen. Das Artilleriegetöse macht Mama nervös. Sie flüchtet mit mir in Schatzingers Gartenhütte am Gallitzinberg, vermeintlich ins ruhigere Grüne, doch letztlich näher zur Artillerie. Prompt durchschlagen die Splitter eines Luftabwehrgeschoßes das Dach der Holzhütte. Zum Glück bleiben wir unverletzt.


Im April werden die Lebensmittel immer knapper. Es gibt kaum noch zu essen und auch keine Milch für Säuglinge wie mich. Die Russen beginnen den Sturm auf Wien. Man munkelt über Plünderungen und Vergewaltigungen. Ein Bekannter, Transportunternehmer Czermak, besitzt noch einen betriebsfähigen Lastwagen. Er stellt einen Flüchtlingstransport zusammen für Leute, die nach Tirol wollen. Wie er in jenen Tagen an Treibstoff herangekommen ist, bleibt ein Rätsel. Opa überzeugt Oma und Mama, sich mit mir dem Transport anzuschließen. Er, der seit dem Ersten Weltkrieg mit einem Holzbein herumläuft, werde inzwischen versuchen, den Friseurladen zu verteidigen.


Tinos Einheit ist mittlerweile dem Frontlärm bis nach Oberösterreich vorausgeeilt. Unterwegs hat sie in Baden bei Wien kurzen Aufenthalt genommen. Als Mama das gehört hat, hat sie sich sofort ein Fahrrad ausgeborgt und ist unter den wirren Umständen einer sich ständig nähernden Frontlinie von Ottakring nach Baden gestrampelt, um Tino zu treffen. So erfährt er von unseren Fluchtplänen nach Tirol. Einzelheiten stehen noch nicht fest.


Der Lastwagen mit uns Flüchtlingen unter der Plane auf der Ladefläche ist nicht der einzige Richtung Westen. Es sind Zehntausende unterwegs auf der Flucht vor der Ostfront. Kriegsgefangene und Häftlinge zu Fuß, verwundete Soldaten auf Pferdewagen, Truppen, die verlegt werden und immer wieder Zivilisten, Frauen mit Kleinkindern. Tiefflieger beschießen die Kolonnen. Wer kann, sucht Deckung im Straßengraben. So kämpft man sich durch nach Kitzbühel und braucht dafür zwei Tage. Streckenweise regnet es und schneit sogar. Zornig strample ich mir immer wieder den Bauch frei, sehr zu Omas Sorge. Als wir endlich da sind, zittern alle, wegen der feuchten Kälte, aber nicht nur.


Kitzbühel 1945. Schichtwechsel. Die Promiurlauber, Nazi-Bonzen, machen einer neuen Touristenclique Platz. Den Kommandanten und höheren Offizieren der US-Army. Kitzbühel ist weitgehend unzerstört. Ein gewisses Maß an Schäden und Opfern gibt es in der Umgebung, verursacht hauptsächlich von fanatischen SS-lern. Sogar gegen den Widerstand des deutschen Oberbefehlshabers wollen sie den heranrückenden Amerikanern nichts als verbrannte Erde hinterlassen. Auf die vermeintlich menschenleeren Almen fallen Restbomben der Air Force. Das Treiben in den Gassen zwischen den dreistöckigen Tirolerhäusern ist lebhaft. Die Besatzung bringt von Anfang an Leben mit sich. Zu den Lastwagen der Army gesellen sich private, die die Kriegsjahre versteckt in irgendeinem Heuschober überdauert haben. Für den einen oder anderen ergeben sich sehr rasch neue Geschäftsmöglichkeiten. Die Mehrheit darbt.


Kitzbühel heute. Zweimal im Jahr treffen sie sich alle. Im Jänner zum Hahnenkammrennen, Ende Juli beim ATP Tennisturnier. Luxuslimousinen und Hubschrauber des Geld- und Promiadels, in exquisite Freizeitwohnsitze Zugezogene, Tagesgäste, die einmal die Sau rauslassen möchten. Mittel- und Unterschichthorden feiern ab als wären sie auf dem Ballermann. Nichts von alpiner Ruhe, Tag und Nacht. Müllberge werden am frühen Morgen aus den Gassen geräumt. Papierbecher, Whiskyflaschen, weggeworfenes Essen, überall Dreck. Wer hier hungert, dem ist nicht zu helfen.


Wir haben hier keine Ansprechadresse. Im Gemeindeamt nennt man uns einen Bergbauernhof oberhalb Jochbergs. Dort wandern wir hin. Auf dem steinigen Bergpfad bricht unser Kinderwagen zusammen. Jetzt müssen die zwei Frauen mich und die mitgenommenen Habe (die zum Großteil aus schweren Papierpacken bestehen, nämlich die Noten von Tinos Kompositionen), in Händen tragen. Wenigstens hilft das als Argument, um von der Bäuerin (der Bauer ist aus dem Krieg noch nicht heimgekehrt) nicht abgewiesen zu werden.


Abgewiesen werden, das ist gar nicht so weit hergeholt. Zwar ist die Tiroler Bevölkerung grundsätzlich hilfsbereit, doch meinen manche, selber in einer zu tristen Lage zu sein, um Fremde beherbergen zu können. Überdies sind die Wiener nicht sonderlich beliebt, vielleicht nicht ganz grundlos. Und was dann?


Oma gibt Schmuck und Geld für Unterkunft, Milch und Erdäpfelknödel. Sie bezweifelt, dass ich mit drei Monaten Erdäpfelknödel vertragen werde, aber mehr als das sind Erdäpfelknödel bis heute eine meiner Lieblingsspeisen.


Mittlerweile, Ende April, liegt Tinos Theatertruppe bei Wels. Obwohl aus Berlin noch Durchhalteparolen kommen, befindet Major Bauer, der Krieg sei vorbei und die Truppe löst sich auf. Tino will sich nach Tirol durchschlagen.


Die Amerikaner überqueren die Donau in Oberösterreich von Norden her und ebenso die Tiroler Grenze über den Fernpass. Die Erste Armee der Deutschen setzt sich im Raum Kufstein-Kitzbühel fest, verstärkt durch Einheiten der Waffen-SS. Die wollen hier eine Alpenfestung errichten.


Tino kann nur nachts wandern. Überall streunen noch versprengte SS-Leute umher, die nicht zögern, jeden der Desertion Verdächtigen kurzerhand zu erschießen. Deshalb müssen auch größere Orte weiträumig umgangen werden. Tiefflieger der Alliierten verbreiten Angst und Schrecken. Wer weiß, wie viele Menschen in der Phase des Zusammenbruchs noch sinnlos umgekommen sind.


Die Ortsangabe Tirol ist nicht gerade exakt, um im allgemeinen Chaos zwei Frauen und ein Kleinkind zu finden. Tino hat keine Ahnung, wo er suchen soll. Nach der Ankunft in Jochberg hat Mama einer Bekannten in Salzburg geschrieben und die Absenderadresse auf dem Kuvert vermerkt. Die Stadt-Salzburgerin ist wegen der Bombardierungen nach Filzmoos zu Verwandten aufs Land gefahren. Bei denselben Bekannten sucht nun auch Tino zwischenzeitliche Labung. Auf diese Weise erfährt er unseren Aufenthaltsort.


Trotz aller Vorsicht läuft er letztlich doch noch einer Patrouille in die Arme. Der Schreck fährt ihm durch alle Glieder. Allerdings, das ist ja kein VW-Kübel, sondern ein Jeep und die tragen ja auch keine MP38, und die sind ja Schwarze! Also Gefangenschaft? Die GIs reden kurz mit Tino und während sie schon weiterfahren, ruft einer ihm zu, go home!


Tinos Ankunft in Jochberg verbessert unsere Lage nicht. Die Bäuerin findet es wohl ungerecht, dass dieser Mann frei herumläuft, während der ihre irgendwo in Russland gefangen ist oder tot. Dazu kann Tino zum täglichen Überleben nicht allzu viel beitragen. Zwar scheut er keinerlei Anpacken, doch sind ihm, dem Musiker, die Abläufe auf einem Bergbauernhof nicht eben geläufig. Aus Wien hört man Gerüchte, dass die Stadt bald aufgeteilt werden würde in Besatzungszonen und die Franzosen den westlichen Teil, also auch Ottakring, verwalten würden. Mama und Tino beschließen daher, schon einmal mit der Bahn zurück nach Wien zu fahren, während Oma und ich zurückkehren würden, sobald die Umstände es zuließen, mit demselben Lastwagen, mit dem wir gekommen sind.


Die Bahnfahrt ist ein Abenteuer. Es scheint, als hätte die ganze Welt mit diesem Bummelzug nach Wien wollen. Mama, ein Wirbelwind in solchen Situationen, befindet sich schon im Zug, während ihr zurückhaltender Tino noch am Bahnsteig hinter der drängenden Masse steht. Die Fenster des Waggons sind offen, oder besser, alle Scheiben fehlen. Mama ruft flehend den paar Soldaten zu, die in der Nähe stehen: Ich bitt Sie, schiebts ihn eine, und die Männer packen Tino, reichen ihn weiter über die Menschenmassen hinweg und sie schieben ihn eine durch das Wagenfenster. Nur so kann auch er in den Genuss der folgenden Fahrt mit dem schwer havarierten Zug nach Wien kommen, die 36 Stunden dauern wird.


So bleibe ich noch eine ganze Weile Flüchtling in Jochberg, bevor Czermak sich entschließt, die Heimfahrt zu wagen. Auf der Ladefläche des Lasters sind die meisten der früheren Passagiere wieder versammelt, als der Wagen Richtung Osten ruckelt. Es hat ein paar Tage stark geregnet. Bei einem Ausweichmanöver auf das durchweichte Bankett sinkt plötzlich das rechte Vorderrad ein und der Wagen stürzt auf die Seite. Die meisten Fahrgäste bleiben unverletzt bis auf ein paar Prellungen und Abschürfungen, sogar der Lastwagen kann die Fahrt fortsetzen, nachdem die Männer der Reisegruppe ihn wieder aufgestellt haben. Eine Mutter aber bleibt leise weinend über ihren achtjährigen Buben gebeugt, der von der Bordwand erdrückt worden und sofort tot gewesen ist. Trotz des Unfalls setzt sie die Reise mit der kleinen Leiche fort, ihre Probleme wären nicht geringer, wäre sie zurückgeblieben. Es hätte jeden von uns treffen können.


Der fehlende Häuserblock hat meinem Vater einen Schreck eingejagt, weil er ihn mit unserem Wohnhaus verwechselt hat, als er anlässlich eines Fronturlaubs zu mir und zu meiner Mutter wollte und erst nach einigem Herumirren ist er dahintergekommen, dass der fehlende Häuserblock nicht unser Wohnhaus und unser Wohnhaus um einen Häuserblock weiter westlich und ganz unversehrt war. Mein Vater wollte zu meiner Mutter, um sie zu heiraten und dazu hat er auch den Fronturlaub bekommen. Da also der fehlende Häuserblock nicht der Häuserblock mit unserer Wohnung war, haben meine Eltern eine aufs Wesentliche beschränkte Kriegshochzeit feiern können und gleich danach ist mein Vater zu seiner Künstlertruppe nach Westungarn zurückgekehrt.

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