Im Wienerwald bei der Jubiläumswarte donnern Flakstellungen, die anfliegenden Bomber zu bekämpfen. Das Artilleriegetöse macht Mama nervös. Sie flüchtet mit mir in Schatzingers Gartenhütte am Gallitzinberg, vermeintlich ins ruhigere Grüne, doch letztlich näher zur Artillerie. Prompt durchschlagen die Splitter eines Luftabwehrgeschoßes das Dach der Holzhütte. Zum Glück bleiben wir unverletzt.
Im April werden die Lebensmittel immer knapper. Es gibt kaum noch zu essen und auch keine Milch für Säuglinge wie mich. Die Russen beginnen den Sturm auf Wien. Man munkelt über Plünderungen und Vergewaltigungen. Ein Bekannter, Transportunternehmer Czermak, besitzt noch einen betriebsfähigen Lastwagen. Er stellt einen Flüchtlingstransport zusammen für Leute, die nach Tirol wollen. Wie er in jenen Tagen an Treibstoff herangekommen ist, bleibt ein Rätsel. Opa überzeugt Oma und Mama, sich mit mir dem Transport anzuschließen. Er, der seit dem Ersten Weltkrieg mit einem Holzbein herumläuft, werde inzwischen versuchen, den Friseurladen zu verteidigen.
Tinos Einheit ist mittlerweile dem Frontlärm bis nach Oberösterreich vorausgeeilt. Unterwegs hat sie in Baden bei Wien kurzen Aufenthalt genommen. Als Mama das gehört hat, hat sie sich sofort ein Fahrrad ausgeborgt und ist unter den wirren Umständen einer sich ständig nähernden Frontlinie von Ottakring nach Baden gestrampelt, um Tino zu treffen. So erfährt er von unseren Fluchtplänen nach Tirol. Einzelheiten stehen noch nicht fest.
Der Lastwagen mit uns Flüchtlingen unter der Plane auf der Ladefläche ist nicht der einzige Richtung Westen. Es sind Zehntausende unterwegs auf der Flucht vor der Ostfront. Kriegsgefangene und Häftlinge zu Fuß, verwundete Soldaten auf Pferdewagen, Truppen, die verlegt werden und immer wieder Zivilisten, Frauen mit Kleinkindern. Tiefflieger beschießen die Kolonnen. Wer kann, sucht Deckung im Straßengraben. So kämpft man sich durch nach Kitzbühel und braucht dafür zwei Tage. Streckenweise regnet es und schneit sogar. Zornig strample ich mir immer wieder den Bauch frei, sehr zu Omas Sorge. Als wir endlich da sind, zittern alle, wegen der feuchten Kälte, aber nicht nur.
Kitzbühel 1945. Schichtwechsel. Die Promiurlauber, Nazi-Bonzen, machen einer neuen Touristenclique Platz. Den Kommandanten und höheren Offizieren der US-Army. Kitzbühel ist weitgehend unzerstört. Ein gewisses Maß an Schäden und Opfern gibt es in der Umgebung, verursacht hauptsächlich von fanatischen SS-lern. Sogar gegen den Widerstand des deutschen Oberbefehlshabers wollen sie den heranrückenden Amerikanern nichts als verbrannte Erde hinterlassen. Auf die vermeintlich menschenleeren Almen fallen Restbomben der Air Force. Das Treiben in den Gassen zwischen den dreistöckigen Tirolerhäusern ist lebhaft. Die Besatzung bringt von Anfang an Leben mit sich. Zu den Lastwagen der Army gesellen sich private, die die Kriegsjahre versteckt in irgendeinem Heuschober überdauert haben. Für den einen oder anderen ergeben sich sehr rasch neue Geschäftsmöglichkeiten. Die Mehrheit darbt.
Kitzbühel heute. Zweimal im Jahr treffen sie sich alle. Im Jänner zum Hahnenkammrennen, Ende Juli beim ATP Tennisturnier. Luxuslimousinen und Hubschrauber des Geld- und Promiadels, in exquisite Freizeitwohnsitze Zugezogene, Tagesgäste, die einmal die Sau rauslassen möchten. Mittel- und Unterschichthorden feiern ab als wären sie auf dem Ballermann. Nichts von alpiner Ruhe, Tag und Nacht. Müllberge werden am frühen Morgen aus den Gassen geräumt. Papierbecher, Whiskyflaschen, weggeworfenes Essen, überall Dreck. Wer hier hungert, dem ist nicht zu helfen.
Wir haben hier keine Ansprechadresse. Im Gemeindeamt nennt man uns einen Bergbauernhof oberhalb Jochbergs. Dort wandern wir hin. Auf dem steinigen Bergpfad bricht unser Kinderwagen zusammen. Jetzt müssen die zwei Frauen mich und die mitgenommenen Habe (die zum Großteil aus schweren Papierpacken bestehen, nämlich die Noten von Tinos Kompositionen), in Händen tragen. Wenigstens hilft das als Argument, um von der Bäuerin (der Bauer ist aus dem Krieg noch nicht heimgekehrt) nicht abgewiesen zu werden.
Abgewiesen werden, das ist gar nicht so weit hergeholt. Zwar ist die Tiroler Bevölkerung grundsätzlich hilfsbereit, doch meinen manche, selber in einer zu tristen Lage zu sein, um Fremde beherbergen zu können. Überdies sind die Wiener nicht sonderlich beliebt, vielleicht nicht ganz grundlos. Und was dann?
Oma gibt Schmuck und Geld für Unterkunft, Milch und Erdäpfelknödel. Sie bezweifelt, dass ich mit drei Monaten Erdäpfelknödel vertragen werde, aber mehr als das sind Erdäpfelknödel bis heute eine meiner Lieblingsspeisen.
Mittlerweile, Ende April, liegt Tinos Theatertruppe bei Wels. Obwohl aus Berlin noch Durchhalteparolen kommen, befindet Major Bauer, der Krieg sei vorbei und die Truppe löst sich auf. Tino will sich nach Tirol durchschlagen.
Die Amerikaner überqueren die Donau in Oberösterreich von Norden her und ebenso die Tiroler Grenze über den Fernpass. Die Erste Armee der Deutschen setzt sich im Raum Kufstein-Kitzbühel fest, verstärkt durch Einheiten der Waffen-SS. Die wollen hier eine Alpenfestung errichten.
Tino kann nur nachts wandern. Überall streunen noch versprengte SS-Leute umher, die nicht zögern, jeden der Desertion Verdächtigen kurzerhand zu erschießen. Deshalb müssen auch größere Orte weiträumig umgangen werden. Tiefflieger der Alliierten verbreiten Angst und Schrecken. Wer weiß, wie viele Menschen in der Phase des Zusammenbruchs noch sinnlos umgekommen sind.
Die Ortsangabe Tirol ist nicht gerade exakt, um im allgemeinen Chaos zwei Frauen und ein Kleinkind zu finden. Tino hat keine Ahnung, wo er suchen soll. Nach der Ankunft in Jochberg hat Mama einer Bekannten in Salzburg geschrieben und die Absenderadresse auf dem Kuvert vermerkt. Die Stadt-Salzburgerin ist wegen der Bombardierungen nach Filzmoos zu Verwandten aufs Land gefahren. Bei denselben Bekannten sucht nun auch Tino zwischenzeitliche Labung. Auf diese Weise erfährt er unseren Aufenthaltsort.
Trotz aller Vorsicht läuft er letztlich doch noch einer Patrouille in die Arme. Der Schreck fährt ihm durch alle Glieder. Allerdings, das ist ja kein VW-Kübel, sondern ein Jeep und die tragen ja auch keine MP38, und die sind ja Schwarze! Also Gefangenschaft? Die GIs reden kurz mit Tino und während sie schon weiterfahren, ruft einer ihm zu, go home!
Tinos Ankunft in Jochberg verbessert unsere Lage nicht. Die Bäuerin findet es wohl ungerecht, dass dieser Mann frei herumläuft, während der ihre irgendwo in Russland gefangen ist oder tot. Dazu kann Tino zum täglichen Überleben nicht allzu viel beitragen. Zwar scheut er keinerlei Anpacken, doch sind ihm, dem Musiker, die Abläufe auf einem Bergbauernhof nicht eben geläufig. Aus Wien hört man Gerüchte, dass die Stadt bald aufgeteilt werden würde in Besatzungszonen und die Franzosen den westlichen Teil, also auch Ottakring, verwalten würden. Mama und Tino beschließen daher, schon einmal mit der Bahn zurück nach Wien zu fahren, während Oma und ich zurückkehren würden, sobald die Umstände es zuließen, mit demselben Lastwagen, mit dem wir gekommen sind.
Die Bahnfahrt ist ein Abenteuer. Es scheint, als hätte die ganze Welt mit diesem Bummelzug nach Wien wollen. Mama, ein Wirbelwind in solchen Situationen, befindet sich schon im Zug, während ihr zurückhaltender Tino noch am Bahnsteig hinter der drängenden Masse steht. Die Fenster des Waggons sind offen, oder besser, alle Scheiben fehlen. Mama ruft flehend den paar Soldaten zu, die in der Nähe stehen: Ich bitt Sie, schiebts ihn eine, und die Männer packen Tino, reichen ihn weiter über die Menschenmassen hinweg und sie schieben ihn eine durch das Wagenfenster. Nur so kann auch er in den Genuss der folgenden Fahrt mit dem schwer havarierten Zug nach Wien kommen, die 36 Stunden dauern wird.
So bleibe ich noch eine ganze Weile Flüchtling in Jochberg, bevor Czermak sich entschließt, die Heimfahrt zu wagen. Auf der Ladefläche des Lasters sind die meisten der früheren Passagiere wieder versammelt, als der Wagen Richtung Osten ruckelt. Es hat ein paar Tage stark geregnet. Bei einem Ausweichmanöver auf das durchweichte Bankett sinkt plötzlich das rechte Vorderrad ein und der Wagen stürzt auf die Seite. Die meisten Fahrgäste bleiben unverletzt bis auf ein paar Prellungen und Abschürfungen, sogar der Lastwagen kann die Fahrt fortsetzen, nachdem die Männer der Reisegruppe ihn wieder aufgestellt haben. Eine Mutter aber bleibt leise weinend über ihren achtjährigen Buben gebeugt, der von der Bordwand erdrückt worden und sofort tot gewesen ist. Trotz des Unfalls setzt sie die Reise mit der kleinen Leiche fort, ihre Probleme wären nicht geringer, wäre sie zurückgeblieben. Es hätte jeden von uns treffen können.
Der fehlende Häuserblock hat meinem Vater einen Schreck eingejagt, weil er ihn mit unserem Wohnhaus verwechselt hat, als er anlässlich eines Fronturlaubs zu mir und zu meiner Mutter wollte und erst nach einigem Herumirren ist er dahintergekommen, dass der fehlende Häuserblock nicht unser Wohnhaus und unser Wohnhaus um einen Häuserblock weiter westlich und ganz unversehrt war. Mein Vater wollte zu meiner Mutter, um sie zu heiraten und dazu hat er auch den Fronturlaub bekommen. Da also der fehlende Häuserblock nicht der Häuserblock mit unserer Wohnung war, haben meine Eltern eine aufs Wesentliche beschränkte Kriegshochzeit feiern können und gleich danach ist mein Vater zu seiner Künstlertruppe nach Westungarn zurückgekehrt.