3 Tekitisi

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Tekitisi

worin vorkommen: die 'Zehner-Marie', der Schatzinger Pepperl,  Herr Pilat, der Rolli, der Felix, die Hinterbrühl, der J-Wagen, der Feri-Onkel
und meine Erfahrungen mit Sightseeing-Trams und dem Hosentürl im Pyjama des teppichlegenden Onkels Feri

Der Friseurladen meiner Großeltern befand sich in Ottakring, sechzehnter Wierner Bezirk, in der äußeren westlichen Peripherie. Ottakring war früher ein eigenständiges kleines Dorf, bewohnt von Weinbauern. In den Nachkriegsjahren war davon ein Ensemble von ein paar kleinen mittelalterlichen Katen übriggeblieben, die sich an der einen Seite an die östlichen Ausläufer von Wienerwaldhügeln schmiegten, an allen anderen Seiten aber von Zinshäusern der Gründerzeit umgeben, ja fast erdrückt wurden. Dieses Überbleibsel nannte sich Altottakring und die alten Gehöfte beherbergten nun einige der für Wien typischen Heurigenlokale wie die 'Zehner-Marie'. Neben diesem mittelalterlichen Ensemble befand sich, quasi zur Verteidigung gegen das Hereinbrechen der neuen Zeit, eine Zeile niedriger einstöckiger oder ebenerdiger Bürgerhäuser in dürftigem Erhaltungszustand aus der frühesten Epoche der Gründerzeit mit langen und schmalen Innenhöfen, kleinen Geschäftslokalen im Erdbeschoss und der Wohnung des Hausherrn oben in der ‚Beletage‘. Eines dieser Häuser war das Nest meiner Kindheit.

Der Friseurladen der Großeltern war in den späten Vierzigern der Lebensmittelpunkt des Dreijährigen, der ich damals war. Hier baute ich Bergstraßen auf einem der Sandhaufen der kleinen Baustoffhandlung in unserem Innenhof. Ein alter Suppenlöffel fungierte sowohl als Baumaschine wie auch als Postbus, der sich über die Straßen quälte. Ständig waren die Erwachsenen besorgt, ich könnte in die anschließende Kalkgrube fallen. Auch diese Kalkgrube war mir wichtig, denn ab und zu durfte ich dem Baustoffhändler 'helfen', indem ich ihn auf eine Fahrt in die Hinterbrühl begleitete, einen Ort etwa fünfzehn Kilometer südlich von Ottakring, um frischen Kalk zu holen. Wir fuhren mit einem Pferdekarren zusammen mit dem Hund des Baustoffhändlers und meine Hilfe bestand darin, dass ich meinen kleinen Arm in die Richtung ausstreckte, in die der Kutscher abbiegen wollte. Der Wichtigkeit meines Amts bewusst, streckte ich mein Ärmchen immer wieder aus, selbst wenn der Pepperl, also der Sohn des Baustoffhändlers mit keiner Geste andeutete, abbiegen zu wollen. Sechs Stunden, mehr oder weniger, hoch auf dem Kutschbock hinter der Stute, die von Zeit zu Zeit Pferdeknödel oder Pisse ausließ, quer durch die schönsten Vororte der Hauptstadt. Was für ein Abenteuer! Oder das Spielen im Hof mit Rolli, dem Köter, oder unseren roten Kater Felix verfolgen auf seinen Streunereien durch die Gärten, oder mit meinem kleinen Holztriton den Hügel an der Kirche hinunter flitzen und damit so manchem Kirchenweib die übelsten Flüche entlocken.

 

Meine Mutter hatte ein paar Jahre als Soubrette an einigen deutschen Theatern zugebracht. Als die infolge der Kriegsereignisse geschlossen wurden, kehrte sie zur Familie zurück, im Schoß den Sohn des Musikdirektors und Letzterer hinterdrein. Jetzt arbeitete meine Mutter im Friseurgeschäft ihrer Eltern, während mein Vater Hilfsarbeiten in der kleinen Drahtfabrik auf der anderen Seite des Hofes verrichtete, die dem Hausherrn Pilat gehörte. Manchmal beobachtete ich meinen Vater, wie er mit Bündeln von Metallstangen in eine Straßenbahn der Linie J einstieg. So funktionierte damals die Warenauslieferung.

Die Szene stachelte mich an, meinerseits mitzufahren auf einer dieser alten Straßenbahngarnituren mit den offenen Plattformen und dem vorne stehenden Fahrer, der die Kurbeln drehte und mit dem Fuß manchmal sachte, öfters zornig die Warnglocke trat. Es gehörte nicht viel dazu, zur nächsten Haltestelle zu schlendern und abzufahren. Ich kann nicht mehr sagen, ob der Schaffner mich übersah, oder ob ich die dreißig Groschen für den Fahrschein aus der Münzsammlung des Großvaters geklaut hatte, aber ich erinnere mich an mein Staunen, als ich die immer lebhafter werdenden Straßen der Stadt vorbeiziehen sah und die Fahrgäste aller Art. Als aber der altersschwache Zug um die Ringstraße kurvte, die Prachtstraße der Innenstadt, mit ihren eindrucksvollen Palästen, stockte mir der Atem. Einige von ihnen waren noch gar nicht fertig, an ihnen wurde eifrig gebaut. Die vielen Ziegel, die man dazu brauchte, lagen in wüsten Haufen um die wenigen fertigen Mauern aufgeschüttet. Die Leute müssen es sehr eilig gehabt haben mit dem Einziehen. Die Einrichtung stand schon in den Räumen, denen noch die Wände fehlten.


Die Stadt wurde fast zur Gänze durchquert von West nach Ost bis nach Erdberg. Dort kehrte die Bahn um und fuhr auf demselben Weg zurück nach Ottakring. Daheim traf ich auf Mama, Papa, die Großeltern, den Pepperl, Herrn und Frau Pilat, eine Kundin mit Lockenwicklern auf dem Kopf, Rolli und Felix, die alle in heller Aufregung um die Kalkgrube tanzten und versuchten, meine Leiche zu finden und zu bergen.


Klar, dass ich für eine Weile das Abenteuer nicht wiederholen durfte. Doch nach einiger Zeit konnte ich, dank der Existenz des Feri-Onkels, wieder auf Entdeckungsreisen gehen. Der Feri-Onkel hatte kurz zuvor in unserer Wohnung das Linoleum gelegt und war dabei wegen der Sommerhitze mit nichts als einer langen Unterhose bekleidet. Die hatte einen großen Schlitz, der die seltsamsten Einblicke darbot. Wahrscheinlich besaß er keine kurzen Hosen. Nie zuvor hatte ich einen derart hageren, fast nackten Mann gesehen, nicht einmal meinen Papa, und ich hatte auch nie zuvor einen Mann andauernd „Tekitisi“ sagen hören, insbesondere nach einem falschen Schnitt oder wenn das Linoleum um ein paar Zentimeter zu kurz war. Erst viel später lernte ich, dass man die Worte 'take it easy' schreibt und wie man sie korrekt ausspricht. Doch da war der Feri-Onkel längst gestorben.


Wenn ich heute darüber nachdenke, erscheint es klar, dass der Feri-Onkel in amerikanischer Kriegsgefangenschaft gewesen war, sonst wäre er nicht nach Wien zurückgekehrt, oder wenigstens erst zehn Jahre später aus Sibirien, jedenfalls aber genauso mager, und anstatt „Tekitisi“ hätte er wohl „Nitschewo“ gesagt.


Jedenfalls, in den Tagen, von denen ich hier erzähle, war der Feri-Onkel Straßenbahnschaffner, vor allem auf der Linie J und unter seiner Aufsicht durfte ich diese wundervollen Runden um das damalige Universum immer wieder drehen. Und zwar gratis. Mehr als das, der Feri-Onkel unterwies seine Kollegen über die gelegentliche Anwesenheit jenes kleinen VIP-Passagiers, der keine Fahrkarten benötigte und dem jede Aufmerksamkeit gebührte. Nun konnte ich einsteigen, wann immer es mir passte. Ich freute mich über die Liebkosungen und manches Zuckerl, die mir von den französischen Soldaten im Waggon zuteilwurden, immer wenn ich vor ihnen mit einem „Bon jour, Monsieur“ salutierte, so wie es Mama mich gelehrt hatte. In den aufregenden Momenten, wenn ein Kontrollor zustieg, steckte mir der Feri-Onkel oder sein Kollege rasch einen Fahrschein zu, um meine Anwesenheit zu legalisieren. Dadurch habe ich für den Rest meines Lebens kapiert, dass die Kontrollore alle Kretins sind, denen man ein Stück gelochtes Papier zeigen muss, um sein Existenzrecht anerkannt zu sehen. Trotzdem salutierte ich auch vor ihnen mit einem heiteren „Tekitisi“.


Ich möchte noch hinzufügen, dass diese frühzeitigen Lektionen dazu führten, dass ich außer dem Buchstaben J auch die Buchstaben und Ziffern der anderen Linien aufschnappte, die der J-Wagen berührte, das D, G, H, O, die 46, 48, 18, 5, 2, 16, und so fort, aber auch das Verständnis, was ein Sonntag ist, denn sonntags verwandelte sich das J in 45. Aber mein allererster Buchstabe, daran werde ich mich immer erinnern, war das J und mein erster 'englischer' Ausdruck „Tekitisi“.

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