Three Men in the Woods

Three Men in the Woods

worin vorkommen: die Themse, Oxford, Hohenthurn, der Spitzegel, Zeltweg, Seckau, San Bonifacio, Ebensee, das Tote Gebirge, 

Windischgarsten, Uusikaupunki, der Weißensee, das Gailtal, Hermagor, die Gail, Nötsch, Sussawitsch, die Graslitzen, der Vellacher Egel, Naggl, der Mangart, die Weißenfelder Seen - Laghi di Fusine, Rivolto, Italien, Tarvis, Slowenien, Thörl, die Karawanken, der Mittagskogel, das Dreiländereck, die Ladina, der Slizza, der Kapin, Maglern, die Pizzeria Stella, der Stella, Napoli, Coccau, Villach, Hohenthurn - Straja Vas, die Ruine Straßfried - Castrum Strazvrid, Colma, der Klausbach, die 'Via Dante', der Monte Castello, Prato Mesule, Poscolle, Kranjska Gora, Jugoslawien, die Adria-Wien-Pipeline, Triest, Schwechat, die Tschechoslowakei, Bratislava, Berlin, der Monte Leila, Aclete, die Zacchi-Hütte, Kranj, S. Antonio, Rio Bianco, die Julischen Alpen, der Monte Lussari, Gemona, die Foresta di Tarvisio, Malborghetto, der Montasio, Pöckau, das Gasthaus 'Linde', Arnoldstein, der Gasthof Wallner, Jerome K. Jerome, Wotan, Che Guevara, Martin Luther, Dante Alighieri, Benito Mussolini, Enrico Rastelli, Heinz-Christian Strache, 'Three Men in a Boat', sowie sette bottiglie e quattro bichhieri per tre persone.

Es muss in der Fünften oder Sechsten gewesen sein, als ‚das Schwein‘ uns im Klassenunterricht ein Heft mit einer Erzählung von Jerome K. Jerome zum gemeinsamen Lesen vorlegte. ‚Three Men in a Boat‘. Es geht um drei Londoner, die sich Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Bootsfahrt entschließen. Montmorency, der Hund muss auch mit. Sie rudern die Themse hinauf bis nach Oxford und wieder zurück. (Also, Montmorency hat selten gerudert, aber eine tote Wasserratte zum Stew beigesteuert.) So viel verstand ich von dem Text, aber das war auch schon alles. Der stotternde Redefluss bei den Mitschülern, damals aber auch noch bei mir selbst! Wir mussten uns auf das rein Sprachliche konzentrieren. Da blieb von der Erzählung nicht viel hängen. Von Jeromes feinem britischen Humor noch weniger.


Ein Mann, drei Wanderungen. Dieser Gedanke kommt mir zuweilen, wenn ich auf unserer Dorfrunde um Hohenthurn hinüberblicke zum Spitzegel. Drei Wanderungen. Jede eine Zäsur. Jede ein Wendepunkt. Zwei habe ich schon hinter mir. Von Zeltweg nach Seckau die erste, vor undenklichen Zeiten und doch erst vorgestern, am Beginn meines Mannwerdens. Von Zeltweg nach Seckau gewandert, aber in San Bonifacio aufgewacht. Die zweite am Übergang zu meinem zweiten Leben, von Ebensee durchs Tote Gebirge nach Windischgarsten, aber aufgewacht in Uusikaupunki. Gestern. Für den dritten Wendepunkt darf ich mir nicht lange mehr Zeit lassen. Es muss geschehen, bevor ich dafür zu schwach sein werde. Von Hohenthurn über den Spitzegelkamm und hinunter zum Weißensee. Morgen. Und dann einschlafen.


Ich rede nicht von x-beliebigen Touren. Ich rede von Wanderungen. Leute machen Touren. Wotan ist ein Wanderer. Solche Wanderungen sind rare und wuchtige Ereignisse, nach denen nichts mehr ist wie vorher. Jeder Schritt entfernt ihn vom Vorher, trägt ihn hin zum Danach. Solche Wanderungen wandert man selten und allein.


Hömmerl zu Besuch in Hohenthurn. Wir machen die Dorfrunde. Ich deute hinüber zum Spitzegel und etwas unüberlegt plaudere ich meine Pläne aus. Hömmerl gefällt die Idee. Er sieht nicht die Symbolik dahinter, nur ein x-beliebiges Abenteuer mit ein bisschen Herausforderung. Er wird das Vorhaben mit dem Bullen erörtern, der ein eingefleischter Bergwanderer ist. Inzwischen werde ich mich um geeignete Nächtigungsmöglichkeiten entlang der Route umsehen. Praktisch sind wir schon unterwegs, zu dritt. Auf Tour.


Unterwegs das Gailtal hinauf Richtung Hermagor, Querung der Gail vor Nötsch, den Fuß des Spitzegelkamms entlang bis Sussawitsch, von da an entschlossen den Steilhang hinan bis zum Graslitzen Westgipfel, ein gutes Stück den Kamm entlang Richtung Spitzegel. Von hier aus müsste man schon Blick auf den Weißensee haben. Kurz nach dem Vellacher Egel (2108 m) den Abstieg ins jenseitige Tal beginnen, zuerst steil hinab, dann sanfter, den Nordhang querend bis nach Naggl am Seeufer. Meine Erkundung der Nächtigungsmöglichkeiten ergibt kein günstiges Resultat. Selbstverständlich gibt es im Gailtal unzählige Zimmer privat und in Gasthöfen. Ab Sussawitsch aber ist damit Schluss. Kein weiteres Quartier über den Berg bis zum See hinunter. Die Etappe bis Sussawitsch dürfte sich ziehen, doch der wirklich fordernde Teil ist die Bergquerung. Und genau da spießt es sich. Wir beschließen, eine andere Wanderung zu gehen.


Ich brauche nicht lange zu überlegen. Oft und oft war mein Blick vom Haus hinüber zum Mangart geschweift. Da drüben, jenseits von ein paar grünen Bergrücken liegen am Fuß des Mangarts die Weißenfelser Seen, die Laghi di Fusine. Die beiden Bergseen waren schon einmal Ziel eines Ausflugs gewesen, als Soile und ich noch in Rivolto zuhause waren. Da hatten wir aber keinen der beiden Seen gesehen, denn es war ein Feiertag, wahrscheinlich Ferragosto, und Fusine schien an diesem Tag das Reiseziel von ganz Italien zu sein. Die schmale Bergstraße hinauf zu den Seen war auf ihre ganze Länge zugeparkt von Autos und Reisebussen. Auf der einzigen Fahrspur dazwischen kämpfte eine Kolonne in Richtung Seen gegen eine andere, dem Tal zustrebende, weil nirgends mehr Platz zum Parken war. Ein schönes Chaos. Lärm und Abgase veranlassten uns, auf den Anblick der Seen zu verzichten. Bei erster Gelegenheit wendeten wir und verbrachten den Nachmittag anderswo.


Aber danach, insbesondere nachdem wir unseren Standort in Hohenthurn aufgeschlagen hatten, besuchten wir die Laghi immer wieder. So viel Trubel wie damals haben wir auch nie wieder angetroffen. Selbst an Ausflugstagen verlieren sich die Fahrzeuge und Menschen in der weitläufigen Gegend, doch am schönsten ist der Ort, wenn fast gar nichts los ist. Er liegt dann in himmlischer Stille hingezaubert an die schroffen Nordhänge des Mangarts. Aus dem smaragdgrünen Wasser springt hie und da eine Forelle, Entenfamilien gehen beschaulich ihren Geschäften nach, aus den Waldrändern ins Wasser gefallene Baumstämme haben aufgehört, die Jahrhunderte bis zu ihrem Verfall zu zählen. Eine geheimnisvolle Stille ist über die Landschaft gestülpt, fordert allgemeines Silentium ein. Leiser kommen und gehen die Wagen und die Menschen flüstern nicht lauter als die Lärchenwipfel im sanften Wind. Soile und ich waren dort in allen Jahreszeiten, sogar im verschneiten Hochwinter und wir zeigten allen unseren Gästen, sofern sie nur lang genug bleiben konnten, das Plätzchen, das zu den wunderbarsten auf der Erde gehört.


Um auf der Straße von Hohenthurn nach Fusine zu gelangen, muss man einen beträchtlichen Umweg machen. Zuerst nach Tarvis, dann Richtung Slowenien. Kurz vor der Grenze rechts ab ins Tal der Laghi. Insgesamt etwa zwanzig Kilometer. Luftlinie kann das höchstens die Hälfte sein, vermute ich, also trotz einiges topografisch bedingten Auf und Ab und Hin und Her in einem bequemen Tagesmarsch zu schaffen. Hömmerl und dem Bullen war der Vorschlag recht und so blieb uns nur noch, ein Datum für das Unternehmen zu vereinbaren.


An diesem Tag bekommt Helen, unser Mazda 3, überraschenden Besuch von zwei jüngeren Brüdern. Hömmerl ist, nachdem ich mich lobend geäußert hatte über die lange Serie meiner Mazda 6 und im Besonderen über die etwas kleinere, aber lebhaftere und wendigere Helen, von seiner Stammmarke Honda abgerückt, nicht zuletzt, weil die gerade kein Modell auf dem Markt hatten, das Hömmerl in allen Details zugesagt hätte, also hat auch er einen Mazda 3 gekauft. Er nennt ihn Che. Wie das bei Revolutionären manchmal so sein kann, hat sich herausgestellt, Che war kapriziös. Beharrlich kapriziös. Er hat die versiertesten Experten getäuscht, dann aber sich einen Augenblick lang zusammengerissen, sodass sie glaubten, ihm die Flausen ausgetrieben zu haben. Kaum waren die Meister außer Sichtweite, machte er weiter wie zuvor. Er hatte die Manie zu singen, wenn man das rechte hintere Fenster absenkte. Das kam häufig vor, denn Helga hat die Angewohnheit, im Fond Platz zu nehmen, wenn sie mitfährt. Außerdem hatte Che Erektionsstörungen (© Hömmerl). Das Head-Up-Display wollte sich nicht aufstellen. Ich bin überrascht gewesen, als ich später gehört habe, dass auch der Bulle sich einen Mazda 3 zugelegt hat. Bulles Dreier hat wahrscheinlich keinen Namen, das würde nicht zum Bullen passen. Aber Kinkerlitzchen hat auch er aufgeführt. Er gehört der jüngsten Generation an, erfreut sich schon des neuen Mild-Hybrid-Systems, ist in ein aufregendes Magmarot-Metallic gekleidet, das seine sportliche Kraft unterstreicht. Die wollte er aber aus irgendeinem geheimnisvollen Grund nicht immer ausspielen, wie es sich gehört hätte. Die versierten Experten dokterten mehrmals am Hybridsystem herum, aber erst seitdem sie brutal einen kompletten Hirntod mit anschließender Neuprogrammierung herbeigeführt haben, ist die Lähmung überwunden. Diese beiden jüngeren Brüder Helens also parken neben ihr. Soiles Audi 1, Lisa, amüsiert sich über die hypochondrischen Gespräche der Geschwister.


Hömmerl und der Bulle nächtigen im stillgelegten Bergwerk, das heißt in unserem ehemaligen Büro, das, später umgebaut zu Mamas Wohnung, seit ihrem Fortgang verwaist ist. Für den Bullen hat Soile Mamas Bett hergerichtet. Hömmerl nimmt wie auch sonst immer die unbequemere Schlafstatt, ein Gäste-Klappbett. Den Abend versuchen wir nicht allzu lang ausufern zu lassen, denn am frühen Morgen soll die Expedition losgehen. Aus demselben Grund gibt es kein Frühstück. Ein Frühstück wäre ausgedehnt ausgefallen und hätte uns zu lange aufgehalten. Wäre es uns zu gut gegangen beim Frühstück, hätten wir womöglich ganz auf die Tour verzichtet. Geplant war eine kurze Frühstückspause im Beisl der Shell-Tankstelle in Thörl, also nach den ersten beiden Kilometern Marsch. Die beiden Helmute erwähnen so nebenbei, dass sie das ganze Untergeschoß vergeblich nach Klopapier durchsucht haben. Wir hatten übersehen, dass auf der Rolle im Klo nur mehr wenig vorhanden war. Ich frage nicht nach, wie sie das Problem gelöst haben. „Hätte nicht geglaubt, dass ihr so viel zu scheißen habt“, ziehe ich mich aus der Affäre. Wir greifen nach unseren fertig gepackten Rucksäcken und ziehen los.

 

Es ist ein schöner Tag, wie man ihn sich im Sommer vorstellt. Die Morgenluft lau, der Himmel wechselnd bewölkt. Mein Rucksack ist klein, aber prall angefüllt mit allem, was meinem Wissensstand zufolge bei einer Wanderung dazugehört. Regenschutz, Decke, Schnur, Feuerzeug, Messer, Apotheke, Wasserflasche, Handy, Geldbörse, eine gute, wenngleich historische Wanderkarte, Klopapier, sogar das, und das Wichtigste: zwei Flaschen, Whisky und Schnaps. Ich trage ein T-Shirt und meine ältesten Shorts, die einmal graue Jeans gewesen sind, bevor eines ihrer Beine oberhalb des Knies einen immer größeren Riss bekam. Eine Weile gab ich vor, es sei das neueste Modell mit fabriksneuen Beschädigungen, bevor ich kurzerhand beide Hosenbeine brutal abgerissen habe. Über das T-Shirt habe ich mein leichtes ärmelloses Sportgilet angezogen, an den Füßen meine ältesten Tennisschuhe. Hömmerl stellt sich in Jeans, Hemd und Pulli, Schirmkappe und Allwetterjacke. Der Bulle, in langer Wanderhose und T-Shirt, ist mit Wanderstöcken bewaffnet. Sein Gepäckstück ist ein kleines Täschchen, das er an die Lende geschnallt hat. Er trägt leichte Bergschuhe wie auch Hömmerl. Unser Anblick macht es augenfällig, der Bulle ist der Profi, Hömmerl der Dilettant, ich der blutige Laie. So kehren wir nach wenigen Minuten ein in den Verkaufsraum der Shell-Tankstelle. Wir bestellen Kaffee und Wurstsemmeln. Karin bedient uns. Der Bulle will unbedingt für alles bezahlen. Es ist mir peinlich, gehört das Breakfast doch eindeutig zum Bed. Und dafür bin ich ja zuständig. Gegenüber der Tankstelle befindet sich eine Informationstafel mit einer großen Abbildung der Karawankenkette vom Mittagskogel bis zum Dreiländereck samt den wichtigsten Wanderwegen. Wir versuchen, uns den Abschnitt einzuprägen, der für uns von Interesse ist, und vergleichen die moderne Zeit mit der Vorgeschichte unserer Wanderkarte.


Mir ist klar, die nächste Etappe muss hinunterführen zur ‚Ladina‘, das ist die windische Bezeichnung für den Ort, wo sich die Thörler Sportanlage befindet. Wild hügelig ist die Landschaft zwischen Gail und Slizza. Tief haben beide sich ins Gelände eingeschnitten, dazwischen liegen die Hügelzüge von Hohenthurn und Thörl. Thörl am Fuß des Kapin, liegt auf ähnlicher Höhe wie Hohenthurn. Die alte Bundesstraße schlängelt sich durch Thörl bis an die Grenze zu Italien. Von den modernen Verkehrswegen nach Italien ist die Bahn der ältere. Beim Bau der jüngeren Autobahn ist man mit Erdbewegungen ungleich großzügiger umgegangen. Sie liegt daher noch tiefer als die Bahntrasse. Wir queren die Bahn auf einer Brücke, von der man einen großräumigen Überblick über die ganze Gegend Richtung Grenze hat. Sie wird daher heute vom Bundesheer als strategischer Spähpunkt im Abwehrkampf gegen vermutete illegale Migranten verwendet.


Gleich nach der Eisenbahnbrücke steigt das Sträßchen steil hinab in Richtung Maglern. Kurz bevor man Maglern erreicht, liegt hinter einem weiten Türkenacker (die Kärntner sagen Türken zum Kukuruz, also zum Mais) die Ortskirche von Thörl-Maglern. Für den kleinen, zerstreuten Ort ist die Kirche recht groß. Äußerlich scheint sie unauffällig, wenn man von dem Turm absieht. Über quadratischer Grundfläche ragt ein schmuckloser Quader auf, der von einem hohen und schlanken Spitzgiebelhelm gekrönt ist und so das Langhaus weit überragt. Der Kirchturm ist ein ferner Fixpunkt im Blick von unserem Haus nach Süden. Bei näherem Hinsehen stellt man fest, dass das Langhaus gotisch ist und die Fenster mit Maßwerk ausgestattet sind. Das lässt doch auf eine eher herausragende Bedeutung des Bauwerks schließen. Die Vermutung bestätigt sich, betritt man das Innere. Was sofort besticht, ist die spätgotische Architektur mit Spitzbögen, Kreuzgewölben und Maßwerk, doch darüber hinaus ist da ein Reichtum von Fresken aus dem fünfzehnten Jahrhundert, derentwegen viele Kunstliebhaber aus Nah und Fern das Kirchlein aufsuchen. Nachträglich betrachtet hätten wir die zweihundert Meter Umweg zur Kirche in Kauf nehmen und das Innere besichtigen sollen. Aber wie das so ist bei alten Banausen, die junge Hunde geblieben sind, ungeduldig auf der Jagd nach Wild, die lassen sich von alter Kunst weder ablenken, noch aufhalten.


Über eine Biegung des tief ins Gelände eingegrabenen Slizza muss die Autobahn hoch über das Flüsschen anhand einer kühnen, langen Brücke hinwegsetzen. Unter dieser Autobahnbrücke führt das schmale Sträßchen zur Ladina hinunter. Einer Laune der Natur folgend breitet sich eine relativ weite ebene Fläche aus, bevor sie in die tiefe Schlucht des Slizza abfällt. Auf dieser Ebene hat man die Sportanlage angelegt. Eine Vierhundertmeter-Laufbahn umrundet den gepflegten Rasen des Fußballplatzes mit Nationalliga-Dimensionen. Tatsächlich hat der Thörler Sportverein oft erfolgreiche Leichtathleten hervorgebracht, wie auch zuletzt junge Läuferinnen. Zwischen zwei Tenniscourts steht ein großes Klubgebäude. So versteckt liegt die Anlage, dass hier die meiste Zeit friedliche Ruhe herrscht. Wäre da nicht die kühne Brücke, wo die Fernlaster auf der Autobahn hoch über den Köpfen der Sportler hinwegdonnern, man könnte sich außerhalb jedweder Zivilisation wähnen. Hierher kommt nur, wer die Ladina zum Ziel hat. Außer den Sportlern sind das eine Hand voll Bauern. Die nutzen das Stüberl, um ein paar Bier zu trinken, bevor sie sich wieder auf den Traktor setzen. In letzter Zeit wandern manchmal Soldaten in Zweiergruppen vorüber, wenn sie auf Patrouille sind. Noch seltener sieht man einen Streifenwagen der Polizei. Die haben auch hie und da Durst. Bei solcher Frequenz zahlt sich die Bewirtschaftung des Stüberls kaum aus. Nur, wenn ein Fußballmatch steigt, klingelt hier die Kasse. Aber die Kurse sind im Steigen. Zuletzt hat sich ein Rugby-Verein aus Tarvis auf der Ladina niedergelassen. Und eine Tennis-Mannschaft ist aus Arnoldstein abgewandert, hierher. Es sind ausgesprochene Idealisten, die sich den Sommer über dafür hergeben, die Anlage zu pflegen und ein paar Bier zu verkaufen. Der Werginz-Pepi ist ehrenamtlicher Vereinsfunktionär. Er, seine Frau Renate und noch ein Pensionist wechseln einander im Zehn-Tage-Radl dabei ab. Pepi war ein ausgezeichneter Tischtennisspieler, ich glaube, auf nationalem Niveau. Er soll immer noch sehr gut sein. Der Sportverein Thörl hat auch eine Tischtennissektion. Mein Freund Markus leitet die Sektion Tennis, daher finden seine Gefährten sich hier öfters zu Partien ein, selbst wenn sie nicht Vereinsmitglieder sind, so auch ich.


Dazu gehören Franco und Riccardo, den ich wegen seiner Körpergröße ‚Little Richard‘ nenne. Franco, noch etwas länger als Riccardo, ist einer der Pizza-Köche der Pizzeria Stella oben an der Bundesstraße auf der italienischen Seite der Grenze. Sein dunkles Haar ist mindestens einen Meter lang und gezopft. Vor dem Pizzaofen und beim Tennis muss er es kunstvoll um den Kopf wickeln. Franco, Mitte-Ende dreißig, ist mit der Inhaberin verheiratet. Sie haben einen kleinen Sohn im Volksschulalter. Beide sind Italiener. Stella vermutlich aus dem Norden, der Name deutet auf den Fluss Stella, der den Friuli durchquert. (Im Kapitel ‚Rivolto Claims Service‘ ist einiges darüber zu lesen.) Der lange(!) Franco hingegen ist aus Napoli(!) und also glühender Anhänger des SSC Napoli. Bevor er in den Norden ging, war er Torhüter. Nein, wohl nicht beim SSC. Seltsamerweise wohnen sie auf der österreichischen Seite in einem Mehrparteienhaus in Maglern, ganz unten im finsteren Graben am Ufer des Slizza. Eine wahrhaft düstere, depressive Stelle, die längste Zeit ohne Sonne. Wie sie das als Italiener aushalten, ist mir schleierhaft. Seine Vergangenheit als Goalie merkt man ihm beim Tennis an. Kraft, Gefühl, blitzartige Reaktionen und alle üblichen italienischen Flüche, ausgestoßen mit schnarrender Stimme.


Little Richard ist bei Stella Servierer. Obwohl wir dort nur alle heiligen Zeiten zu Gast sind, erinnert er sich ohne nachzudenken, übrigens so wie Franco, wie meine Lieblingspizza zu belegen ist. Tonno, Cipolla, Melanzane. Riccardo, wie Franco Mitte dreißig, profitiert vom Hotel Mamma. Sie wohnen in Coccau in einem modernen Mehrfamilienhaus. Die Mutter arbeitet als Verkäuferin in Villach. Ich habe sie nie kennengelernt. Sie spricht gut deutsch. Etwas davon hat sie Riccardo beigebracht. Ob sie Österreicherin ist? Little Richard besitzt kein Fahrzeug, nicht einmal ein Fahrrad. Zur Arbeit an der Grenze geht er zu Fuß oder nimmt den Bus. Auch zum Tennis in der Ladina kommt er selbständig. Riccardo hat mit uns oft auch in Villach in der Halle gespielt. Dann habe ich ihn in Coccau abgeholt. Unterwegs haben wir uns über alles Mögliche unterhalten in einem Gemisch aus Italienisch und Deutsch. Riccardo hat immer deutsch angefangen, ist aber bald an Grenzen gestoßen. Dann ist es italienisch weitergegangen. Das hat uns dann erlaubt, die oberflächliche Plauderei hinter uns zu lassen und tiefer in diverse Themen einzudringen. Um Politik ist es oft gegangen, über Zustände in Italien und Skandale in Österreich. Die Fremdsprache hat des Öfteren etymologische Fragen aufgeworfen, über die wir angeregt diskurriert haben. An die Frage der Herkunft und Bedeutung des Ortsnamens Hohenthurn erinnere ich mich. Ich habe mich geweigert, der verbreiteten Meinung zu folgen, es habe etwas mit einem hohen oder hoch gelegenen Turm zu tun. Das Wappen von Hohenthurn legt es nahe, denn es enthält einen Wehrturm. Slowenisch heißt Hohenthurn Straja Vas. Vas ist Dorf, Straja dürfte von einem Personennamen ausgehen. Straja ist jedenfalls kein slowenischer Term. Ich halte es aber für möglich, dass die heutige Ruine Straßfried, die ehemalige Burg Castrum Strazvrid, die auf dem Felshügel zwischen Maglern und Hohenthurn stand, etwas mit Straja zu tun hat. Die Festung ist fast völlig ruiniert. Von unserem Haus aus sieht man ein paar Mauern durch den Wald zu uns durchscheinen, die im Winter wie die Skulptur eines Elefanten aussehen. Was den ‚hohen Turm‘ anlangt, den man uns als ‚Hohenthurn‘ vormachen will, so habe ich eher geglaubt, dass ein hohes Tor (Thor) Namensgeber der Ortschaft sei. Dafür spreche auch das nahe Thörl. Eben ein hohes oder hoch gelegenes Thor neben einem kleineren Thörl. Ein Tor ist die ganze Gegend im übertragenen Sinn sowieso. Das Tor zwischen dem Süden und dem Norden. Es kommt vor, dass jemand es unachtsam offenlässt. Dann zieht es kräftig. Der Wind pfeift durchs Türl. Gegen meine Hypothese spricht, dass das Wort ‚Turm‘ tatsächlich vom althochdeutschen ‚turn‘ abstammt, lateinisch ‚torris‘, italienisch ‚torre‘, französisch ‚tour‘, altfranzösisch ‚torn‘, ebenso wie aktuell im Schwedischen. Den deutschen Turm haben wir wohl Luther zu verdanken. Und gegen Luther ziehe ich zweifellos den Kürzeren.


Bei den Autofahrten mit Little Richard, aber eigentlich bei jeder Begegnung mit ihm, sogar auf dem Tenniscourt, hat mich Riccardos liebenswürdige Art beeindruckt. Mit Wohlerzogenheit, Höflichkeit, Einfühlungsvermögen und Taktgefühl wusste er jedes Zusammentreffen zu einer angenehmen Begebenheit zu machen. Eines Tages hat er erwähnt, er denke daran, auf der Kärntner Seite eine kleine Mietwohnung zu nehmen. Ich habe keine Sekunde gezögert, ihm unser leerstehendes Untergeschoß anzubieten. Soile wäre einverstanden gewesen trotz ihrer sozialen Zurückhaltung und des Bedenkens, dass gewisse Bereiche unseres Haushalts wie Waschküche und Tiefkühlschrank sich im Untergeschoß befinden. Schließlich ist es dazu nicht gekommen. Ich glaube, es hat Riccardo an Entschlossenheit und Dynamik gefehlt. Aus dem Hotel Mamma ist Little Richard bis heute nicht ausgezogen.


Natürlich haben Soile und ich die Tennisplätze auf der Ladina oft und oft bespielt, daher kenne ich mich bis hierher bestens aus. Leider aber keinen Meter darüber hinaus. Erstmals ziehen wir die Karte zu Rate. Gerade einmal aufgewärmt folgen wir dem Sträßchen an der Ladina vorbei und gelangen zu einer Brücke über den Slizza. Übergangslos ragt das jenseitige Ufer als Steilhang auf. Ein Karrenweg schneidet ihn mit einigen Serpentinen an. Knappe hundert Höhenmeter später finden wir uns auf einem Rücken, über den in Ost-West- Richtung eine Hochspannungsleitung verläuft, desgleichen eine Gaspipeline. Laut meiner altrömischen Karte nennt sich die Stelle Colma.

Die Gasleitung muss die sein, die sich wenig weiter westlich nach Süden wendet, um unter der breiten Waldschneise, die auch am Fenster bei uns zuhause aus auffällt, geradewegs und steil auf den Bergkamm zuführt, den wir zu überwinden haben. Also folgen wir der Gasleitung bis dorthin, wo sie die Richtung ändert und ansteigt. Hinweisschilder machen uns darauf aufmerksam, dass wir uns genau an der Grenze zu Italien befinden. Das muss uns nicht stören. Verstörend aber ist der Blick die Schneise hinauf. Von Hohenthurn aus gesehen scheint der Anstieg ein Klax. Doch hier an seinem unteren Ende stehend schaut er brutal steil und endlos aus. Man sieht einen Pfad oder mehrere, die sich in Serpentinen die Schneise hinaufwinden, doch sind sie alle kniehoch verwachsen von neu sprießendem Gebüsch, Farn und Unkraut. Meine Freunde und ich stimmen überein, einen anderen Weg zu suchen. Meine ‚Noreia-Karte‘ zeigt auch einen solchen weiter östlich kurz vor dem Klausbach. Folglich kehren wir um und folgen der Hochspannungsleitung nun in östlicher Richtung. Nach einer Weile stoßen wir an den Rand des Klausbachgrabens, der sich atemberaubend tief unter uns dahin schlängelt. Mehr fällt als fließt das Wasser dem Slizza zu. Nach oben hin ist nirgends ein zivilisierter Weg zu erkennen. Die Karte zeigt, dass wir zu weit nach Osten gegangen sind. Also nochmals umkehren und jetzt den Waldrand ganz genau inspizieren. Der eingezeichnete Pfad muss nicht weit von hier abzweigen. Tatsächlich bemerken wir im waldigen Gelände eine Verbreiterung der Abstände zwischen den Bäumen. Das könnte einmal ein Karrenweg gewesen sein. Wir beschließen, dieses zweifelhafte Angebot näher zu untersuchen und ziehen mäßig ansteigend durch den Wald. Bald gelangen wir an eine Stelle, wo der vermutete Weg die Richtung ändert und den Steilhang fast in der Direttissima angeht. Ich kann nicht sagen, ob das ein Weg ist oder eine Rinne, jedenfalls ist es ein mehrere Meter breiter Streifen, vorwiegend aus grobem Geröll, der fast senkrecht nach oben führt. Der Bulle setzt die ersten Schritte zum Aufstieg, ohne etwas zu sagen. Was er zu sagen hätte, wäre sicherlich nicht aufmunternd, nur ziemlich ordinär. Dabei ist der Anstieg anfangs noch erträglich. Die Qualen setzen erst allmählich ein. Zuerst versteifen die Sprunggelenke. Dann zieht es in den Oberschenkeln. Die Schultern schmerzen unter den Rucksackriemen. Der Bulle hat sich ein gutes Stück abgesetzt. Ich glaube, er merkt es nicht. Hat genug damit zu tun, darauf zu achten, wohin er den nächsten Tritt setzt. Hömmerl ist noch in meiner Nähe. Immer wieder schaut er sich nach mir um, merkt, dass es mir nicht wirklich gut geht auf dieser Strafexpedition, sagt aber nichts. Die Runse ist nicht schnurgerade, immer wieder ändert sie leicht die Richtung. Man kann daher nicht an ihr Ende sehen, nur bis zur nächsten Biegung. Ist wahrscheinlich besser so, sonst könnte ich erkennen, dass diese Strafe Gottes noch lange nicht ausgeschöpft ist. Andererseits, nach jeder Biegung diese Enttäuschung, keinerlei Anzeichen für ein Ende des Horrors. Der Blick hinauf unterscheidet sich in nichts von jenem vier Wegbiegungen zuvor vor zwanzig Minuten. Steile, Geröll, Geröll, Steile. Gnadenlose Hölle. Hömmerl ist jetzt ein gutes Stück voraus. Den Bullen sehe ich nur noch ab und zu. In den Sprunggelenken das Ziehen wird stärker. Vom Sport her weiß ich, wie Krämpfe sich ankündigen. Weit sind sie nicht mehr entfernt. Ich steige nicht mehr mechanisch, muss für jede Schrittbewegung einen Beschluss fassen. Die Oberschenkel beginnen zu verweigern. Ihr Hunde, das ist Meuterei! Ich nehme meine Hände zu Hilfe, um die Beine anzuheben, hätte nicht gedacht, dass die so schwer sind. Die Rucksackgurte schneiden ein, versuchen mich zu erwürgen. Mein T-Shirt klebt triefend an meiner Brust. Den Bullen habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Hömmerl verschwindet gerade in der nächsten Kurve. Da niemand mich mehr sehen kann, schwindet jede Motivation. Ich halte an. Auf diesen Stein dort könnte ich mich setzen, fürchte aber, nicht mehr aufstehen zu können. Also stehe ich ein paar Augenblicke lang, selber versteinert.


Hömmerl und der Bulle, wie machen die das? Sind doch nur ein Jahr jünger! Und mit meinem Tennis zwei, drei Mal die Woche müsste meine Kondition doch weit besser sein! Schön, der Bulle macht jede Woche eine Tour, ist gut in Schuss. Und Hömmerl ist regelmäßig im Fitness-Center. Und ich stehe da zusammengekrümmt vor diesem lächerlichen Hügel und warte, was zuerst eintritt, Infarkt oder Hirnschlag. Mein Hirn unterscheidet nicht mehr zwischen Vergangenheit und Zukunft, von Gegenwart kann sowieso keine Rede sein. Halluzinierend spielt es mir vor, was Hömmerl über die Episode zu sagen haben wird:


Zitat Hömmerl: „Helmut-Bulle tänzelte leichten Schrittes mit seinen beiden Wanderstöcken ein längeres Steilstück eines Schotterweges hinauf, ich, Helmut-Hömmerl, etwa dreißig Meter dahinter, musste an meine Leistungsgrenze gehen, um das Ende des Steilstückes zu erreichen, immer mit dem Gedanken ringend - warum tu ich mir das in meinem Alter noch an. Und ca. 100m unter mir kam Rainer - kein Spitzname - zum Stillstand.“


Erstaunlicherweise hilft die kurze Pause und es kann weitergehen. Aber nicht lange, dann brauche ich wieder kurze Rast. Ich überlege, ob ich den Rucksack abnehmen, die Wasserflasche herauskramen, einen Schluck trinken soll. Viel zu umständlich das alles. Würde viel zu viel Kraft kosten. Also weitergeschleppt! Die Denkmaschine stottert. Jetzt phantasiert mein Denkorgan sogar im Weiterwanken:


Zitat Bulle: „Irgendwie endete diese Wiese aufwärts in einen steilen Schotterweg. Die Steine waren zumindest so groß wie Straußeneier und sehr beweglich, seltsamerweise immer nach unten, so dass sich ein lustiger Effekt ergab: zwei Schritte vorwärts, einer zurück. Gottseidank war es bewölkt und hatte nur ca. 25°, sonst wären wir schon auf den ersten Metern verfallen und sicher umgekehrt. Irgendjemand hatte dann die Idee, den Weg ‚Via Dante‘ zu nennen, nach dem Schöpfer der infernalischen Worte: „Der du diese Schwelle überschreitest, lass alle Hoffnung fahren“. Die vorerwähnte Steigung war in etwa der 10° der Eiger-Nordwand und möglicherweise auch der Grund, warum die Bösen zwar bis in den 7. Höllenschlund absteigen konnten, es wurde jedoch nie berichtet, dass auch nur einer von irgendwo wieder heraufkam! 

Wir jedoch ließen nichts fahren und stiegen weiter wacker auf. Rainer hatte mein Angebot, eine Zeit lang seinen Rucksack zu tragen, brüsk abgelehnt, wahrscheinlich hatte er Angst, ich würde ihm den darin befindlichen Whisky unterwegs aussaufen. Nach ca. 300 Höhenmetern und 1,5 Stunden unglaublicher Qualen erreichten wir den Scheitelpunkt des Höhenzuges.“


Was ich schon nicht mehr für möglich gehalten habe, tritt ein. Erschöpft treffen wir einander am oberen Ende der Via Dante. Ich muss die beiden Freunde berühren, mich überzeugen, dass sie keine Phantome sind. Die Rast wird kurz, denn der Platz bietet keine Bequemlichkeit. Die Wasserhaushalte ausgeglichen, ein paar Fotos und schon geht es weiter. Nach den erlittenen Höllenqualen erwarte ich weitere Peinigung auf der kommenden Strecke. Doch, siehe da, die Folter hat sich auf das steile Bergansteigen beschränkt. Jetzt, bergab, macht das Gehen kaum Mühe, pendelt sich ein auf mechanisches Schritt nach Schritt setzen. Nur die Schultern unter den Rucksackriemen schmerzen. Die Karte verrät, dass das Tal, in das wir hinabsteigen, noch nicht jenes von Fusine ist. Dazwischen liegt noch der Höhenzug des Monte Castello. Die Wanderung hinab ins davorliegende Tal, Prato Mesule, führt durch romantischen Laubwald, der uns über die früher erlittenen Leiden trösten will. Auf dem Talboden stoßen wir auf eine Straße, die uns die Entscheidung abverlangt, rechts oder links, westlich oder östlich. Unser Experte ist sich sicher, es geht nach links. Nach einigen Kilometern kommen daran Zweifel auf, denn es geht ständig leicht bergauf. Nach weiterem Kartenstudium stellen wir fest, dass die Straße in dieser Richtung uns zum Dreiländereck bringen wird. Also, kehrt!


Zitat Bulle: „Nach einer kurzen Rast ging es dann auf einem passablen Weg ins Tal hinab. Vorerst folgten wir einer schwarzen Markierung, die abrupt mit einem Pfeil in den Boden endete: vergrabenes Munitionsdepot? Massengrab? Wir werden es nie wissen! Da die Straße, auf der wir nun wanderten, ständig aufwärts ging und das Dreiländereck nun einmal nicht unser Ziel war, drehten wir um und erreichten nach ca. einer halben Stunde wieder den Ausgangspunkt außerhalb des Waldes.“


Dem Bullen fällt auf, dass ich die Position meiner Rucksackgurte immer öfter verändere, schließlich beide Hände zwischen diese und meine Schultern schiebe und dort belasse. Er weiß, dass ich ein Problem damit habe. Entschlossen ordnet er eine Logistikkorrektur an. Der Whisky wandert in Hömmerls Rucksack und er selbst schultert den meinigen, nicht ohne dessen unnötiges Gewicht zu bemängeln. Einerseits schäme ich mich dieses Erbarmens, andererseits marschiere ich doch wesentlich leichter.


Hömmerl und der Bulle plaudern über die Schulzeiten. Über die ganz spezielle Freundschaft, die sich zwischen den Schülern dieser Klasse herausgebildet hat und die nach so vielen Jahren immer noch lebendig ist, vielleicht stärker als zuvor. Plötzlich bricht es aus Hömmerl heraus. Seine Gefühle überwältigen ihn. In den Schweiß mischen sich Tränen. Ein weiteres Mal auf dieser Wanderung fühle ich mich beschämt. Ich weiß mich uneingeschränkt Hömmerls Freund, obwohl ich ihm so lange Jahre Grund gegeben habe, das nicht mehr zu sein oder wenigstens weit distanzierter. Wenn ich an die anderen Klassenkollegen denke, es fällt mir keiner ein, den diese Freundschaft ähnlich emotionalisieren würde. Den Bullen auch nicht. Gut, Hömmerl trägt den Whisky für mich und der Bulle schleppt sich mit meinem Rucksack ab. Ich würde Ähnliches und viel mehr für jeden der beiden tun, wenn es darauf ankommt. Das würde ich aber genauso für viele andere tun, mit denen ich nicht das Klassenzimmer geteilt habe. Und ich bezweifle, dass alle meine ehemaligen Mitschüler bereit wären, meinen Whisky und meinen Rucksack zu tragen. Dieser viel beschworenen Klassengemeinschaft fühle ich mich nicht im gleichen Maß zugehörig wie Hömmerl. Da hat sich gegenüber den Schultagen nichts geändert. Nicht einmal die spätere Black&White-Phase hat das bewirken können. Es mag daran liegen, dass meine uneingeschränkte Freundschaft zunächst jedermann gilt, ob ich ihn kenne oder nicht, gut kenne oder nicht, ob ich mit ihm in der Schule war oder nicht. Sie gilt jedem, dem ich begegne gleichermaßen. Das heißt, zuerst ist Freundschaft und nur, wenn mich dann etwas abstößt, kann sie schwinden. Und jetzt bin ich beschämt, dass Hömmerl, den ich einst abgestoßen hatte, ganz anders ist als ich. Und unter Tränen meinen Whisky trägt. 

 

Korrektur-Anmerkung Hömmerl: Als Rainer meine Autobiographie lektorierte, kam es zu 'literarischen Auseinandersetzungen' (textlichen Meinungsverschiedenheiten) zwischen uns beiden. Rainer befürchtete, diese würden unsere Freundschaft nicht überleben. Ich sah das nicht so, haben wir doch schon stärkere Belastungen unserer Freundschaft unbeschadet überstanden.

Am Höhepunkt der Via Dante, also als wir oben waren, ausgepowert (wie der moderne Ausdruck für fix und fertig heute lautet) und der Bulle von unserer Klassenfreundschaft zu sprechen begann, umarmte ich Rainer und unter Tränen bedeutete ich ihm, der literarische Zwist ist längst begraben und die Lebensfreundschaft ungebrochen. Und seinen Whisky, nachdem wir das mit einem Schluck oder mehreren besiegelt hatten, habe ich dann weiter getragen- die Flasche war ja dann um einiges leichter.

Ich: Der Zeitabstand verursacht Erinnerungsdiskrepanzen. Meine Darstellung bezog sich auf die spätere Wanderung bergab ins Tal hinunter.

Hömmerl: ok, aber lassen wir es so, es passt ja auch so zusammen: was meinst du?

Ich: Klar.




Die ständig leicht abwärts geneigte Straße ist jetzt asphaltiert. Mein Rucksack hängt wieder auf meinen Schultern. Wir nähern uns einer Ansiedlung, die sich Poscolle nennt. Links der Straße im Wald tauchen unheimliche Gebilde auf. Es sind ziemlich große Gebäude, stark verfallen. Vielleicht Mannschaftsunterkünfte aus dem ersten Weltkrieg?


Foto © Hans Novaczek, www.novaczek.at


Um den westlichen Abhang des Monte Castello herum steigt die Straße hinunter ins Fusine-Tal, wir mit ihr. Unten stoßen wir auf die Staatsstraße nach Krajnska Gora. Unter dem Wegweiser nach Poscolle befindet sich eine weitere Hinweistafel mit der Aufschrift ‚Fortificazione Guerra Mondiale II‘. Die geheimnisvollen Ruinen sind jünger als gedacht. Mussolini hat hier Verteidigungsanlagen errichten lassen, vermutlich gegen Bedrohungen von Jugoslawien her.


Von hier aus kenne ich mich wieder aus. Wir müssen der Staatsstraße gegen Osten folgen bis zur Abzweigung zu den Laghi. Um dem Straßenverkehr zu entgehen, nehmen wir die alte Dorfstraße, die parallel zur Staatsstraße durch die Ansiedlungen verläuft. Bei uns allen macht sich jetzt Müdigkeit bemerkbar. Wir sind ohne nennenswerte Pause seit etwa sieben Stunden unterwegs, wegen der fürchterlichen Via Dante gleich zu Beginn gefühlte zehn. Wir lechzen nach einem Sessel und einem Bier. Wir finden beides im Garten eines Cafés. Während wir mitgebrachten Proviant verzehren, formen sich in Hömmerl und dem Bullen Erinnerungen.


Zitat Bulle: „Eine Taverne lag am Weg, die Besitzerin war jedoch nicht bereit, außerhalb der Pausenstunden der benachbarten Baustelle aufzusperren. Dem brünstigen Flehen meiner italienischkundigen Kameraden war es schließlich zu verdanken, dass sie uns doch noch Bier ausschenkte.“


Zitat Hömmerl: „Ende Juli 2017 war es dann soweit. Rainer hatte ein Quartier reserviert für eine Nacht am Lago. Er meinte, von seinem Haus in Hohenthurn wandern wir einen Tag bis zum Quartier Edelweiß und am nächsten Tag wieder zurück bis zur österreichisch-italienischen Grenze bei Thörl-Maglern, wo wir Soile in einem Lokal auf der italienischen Seite treffen werden. Eine Pizzeria, in der Soile und Rainer vor kurzem bei bester Bedienung ausgezeichnet gegessen hätten und den Pizzakoch oder den Chef kenne er, Rainer, obendrein.

Da ich schon ein paar Mal die beiden Laghi di Fusine im Dreiländereck Slowenien-Italien-Österreich von Kärnten aus nach einer, wie mir schien, etwas längeren Autofahrt besucht hatte, äußerte ich Bedenken, ob wir es in einem Tag bis zu den Laghi schaffen würden. Wir saßen am Vortag der Wanderung am späten Nachmittag auf Rainers Terrasse und stärkten uns für die morgige Wanderung mit Bier, als Rainer meine Bedenken zerstreuend auf einen gegenüberliegenden Hügel wies und meinte: „Das geht sich locker aus, wir brauchen morgen immer nur geradeaus gehen, über den Hügel drüber, geradeaus weiter und dann kommen wir zu den Laghi und zum Edelweiß“.


… Wir waren zeitig in der Früh in Hohenthurn aufgebrochen und nach einem kleinen Frühstück im Bistro der Tankstelle in Arnoldstein ging es dem Hügel entgegen. Helmut-Bulle hat unsere anfänglichen Schwierigkeiten, das Immer-geradeaus ließ sich nicht durchhalten, beschrieben. Ich möchte noch hinzufügen, dass wir uns nicht nur im Grenzgebiet von Italien und Österreich befanden, sondern auch immer wieder auf die dort verlaufende Adria-Wien-Pipeline stießen, jene Rohölpipeline, in derRohöl von Triest nach Schwechat transportiert wird. Wir durchwanderten also auch noch ein ‚explosives‘ Gebiet. Mir hat es gefallen, schon immer bin ich in Grenzgebieten gewesen, bin gerne über Staatsgrenzen gegangen - einfach so, ohne Kontrolle. Wenn ich da an die Zeit des Kalten Krieges zurückdenke, an die streng bewachte tschechoslowakische Grenze, als wir unsere Verwandten in Bratislava besuchten. Und ganz zu schweigen von der Mauergrenze in Berlin. Aber das sind wieder andere Geschichten... Und dann kam also die Via Dante.“


Die letzte Etappe für heute setzt uns sein forderndstes Detail gleich an den Beginn. Es ist das Verlassen der Gartensessel, das Schultern des Gepäcks, das Setzen der ersten paar Schritte. Bald aber verfallen wir wieder in unseren gewohnten Trott. Von der Abzweigung zum unteren See hinauf, das entspricht dem lockeren Auslaufen und Ausschütteln der Muskeln nach einem Marathon. Trotzdem sind wir alle heilfroh, als endlich die stille Wasserfläche vor uns auftaucht, dessen glatter Spiegel nur von der Bugwelle einer Ente durchschnitten wird.

Während des ersten Begrüßungsdrinks am Tresen bittet uns die leutselige Wirtin, den Wagen nicht auf der Straße vor dem Haus zu parken, sondern ein paar Meter weiter unten auf vorgesehenen Abstellplätzen. Ich erkläre, das sei völlig ausgeschlossen. Ihre Miene verfinstert sich. Nie und nimmer, setze ich fort, habe ich die Kraft, zu Fuß nach Hohenthurn zurückzugehen, um das Auto zu holen. Wir werden aber auf keinen Fall die Straße vor dem Haus einengen. Das heitert sie wieder auf. „Ihr seid den ganzen Weg zu Fuß gegangen?“, staunt sie. Wir nehmen die Zimmerschlüssel entgegen. Wie üblich nimmt Hömmerl das weniger attraktive Stübchen mit den Fenstern zur Straße. Diesmal wenigstens, leiste ich ihm Gesellschaft. Der Bulle bekommt ein Zimmer mit Balkon und Seeblick. Wir überzeugen uns, dass auch genug Klopapier vorhanden sei, dann hören wir vom Bullen einen Vorschlag, der uns in Schnappatmung versetzt.


Zitat Bulle: „Wir bezogen unsere Zimmer und ich hatte dann die blendende Idee, den unteren See noch zu umrunden. In Hömmerls Augen stand blankes Entsetzen, trotzdem machten wir uns auch noch auf diesen Weg. Nach einer Stunde waren wir zurück und aßen zu Abend.“


Nachdem wir uns frisch gemacht haben, holen wir den Bullen aus seinem Zimmer. Auf dem Flur davor treffen wir auf die Wirtin, die eine junge Frau in das Zimmer neben dem Bullen einweist. Wir nehmen im Gastzimmer Platz. Über die Bestellung von Bier besteht kein Zweifel, aber wir beraten, was auf die Teller kommen soll. Uns schräg gegenüber hat eine größere Gruppe von jüngeren, gut gelaunten Leuten sich an eine lange Tafel gruppiert. Soweit ich verstehe, feiern sie einen Geburtstag. Sie zählen einander ab, um festzustellen, wie viele Gedecke noch fehlen. Nur eines, wird behauptet. Ich strecke vier Finger in die Höhe und rufe hinüber, quattro, quattro! Sie lachen, aber, leider, die erwartete Einladung bleibt aus.


Nach dem Essen dringe ich mit Hömmerl in Bulles Gemach ein. Wir zerren ihn auf den Balkon. Den stillen See stört nun nicht einmal mehr eine Ente, während die Nacht zuerst den Wald und allmählich den ganzen See zudeckt. 

Indem wir das Schauspiel genießen, sinkt der Flüssigkeitsstand in unserer Whiskyflasche langsam auf Null.


Zitat Bulle: „An die Qualität der Speisen kann ich mich nicht mehr erinnern, aber was will man schon in einer Berghütte. Danach gingen wir auf die Zimmer. Hömmerl erschien nachher nicht mehr, nur Rainer klopfte gut hörbar an meine Tür. Wir gingen auf den Balkon und verbrachten dort einige Zeit mit nettem Geplauder und v.a. dem Saufen einer ganzen Flasche Whisky.

Dass ich keinen Schnaps vertrage, merkte ich am nächsten Morgen. Die Beiden, Rainer und Hömmerl hatten eine Nachbarin von mir ausspioniert und wollten wissen, ob ich in der Nacht auf Ihren Balkon rübergegangen sei. Ich verneinte, in meinem konditionellen Zustand hätte es so oder so katastrophal geendet, hätte sie mich entdeckt.“


Ich gehe niemals gerne denselben Weg zurück, den ich gekommen bin. In diesem Fall ist es mehr als eine Frage von Abneigung. Es ist rigorose Verweigerung, oder eigentlich doch eine Frage von Neigung, denn die Neigung der Via Dante will keiner von uns sich ein zweites Mal antun. In den Bergen ist bergab oft härter als bergauf. Die Via Dante hätte uns getötet. Wir einigen uns auf eine längere, aber leichter scheinende Route um den Monte Leila herum ins Slizzatal.

Anfangs steigen wir noch zwischen den beiden Laghi herum, weil wir den Weg nach Aclete erreichen wollen, wobei uns wundervolle Ausblicke erfreuen. Irgendwo da oben, wo aus dem Wald die Felsen des Mangart emporsteigen, liegt die Zacchi-Hütte. Im Zuge der Vorbereitungen hatte ich diese allgemein beliebte Schutzhütte für die Nächtigung in Erwägung gezogen. Die Umstände wären aber einigermaßen kompliziert gewesen. Wir hätten unsere eigenen Schlafsäcke mitbringen müssen. Und der Weg wäre um gut eineinhalb Stunden noch länger gewesen. Jetzt landen wir fast doch noch bei der Zacchi-Hütte, weil wir wieder einmal die falsche Richtung erwischen. An unserem scharfen Orientierungssinn aber scheitern alle Versuche der Irreführung und bald sind wir wieder in der Spur.

Nach Aclete geht es immer leicht bergab auf breitem Fahrweg. Ja, das nennt man wandern. Mit abnehmender Höhenlage geht der Nadelwald in lockeren Laubwald über. Unterwegs kommen wir an der Naturbeobachtungsstation vorbei. Zu unserem Erstaunen sind hier Teile des Fahrwegs befestigt, teils mit Beton, teils mit Kopfsteinpflaster. Tatsächlich kommt uns hier ein Kleinwagen entgegen, ein Oldtimer, der sich den für ihn fast zu steilen Hohlweg heraufquält. Er biegt auf die Wiese der Station ein. Die Kiste scheint eine Abbildung der Subventionen zu sein, mit denen die hier Forschenden leben müssen. Kurz nach Aclete stoßen wir auf die Trasse der aufgelassenen Bahnlinie Tarvisio-Kranj, auf der man einen Fernradweg eingerichtet hat. Wir mischen uns unter die Radausflügler. Ein Hase hoppelt unbekümmert vor den Drahteseln quer über die Trasse. Auf diesem asphaltierten Weg wandern wir bis zu der Stelle, wo an der etwas unterhalb verlaufenden Staatsstraße sich die Abzweigung nach S. Antonio befindet. Die nehmen wir. Die Straße steigt zunächst hinunter zum Rio Bianco, setzt über diesen hinweg und steigt auf der anderen Seite steil an auf die Höhe der winzigen Ortschaft S. Antonio. Idyllisch liegen kleine Gehöfte im Kärntner Stil auf einem Hochplateau mit wunderbaren Aussichten auf die Julischen Alpen, hinüber auf den Monte Lussari, hinunter ins Slizzatal und zu den Gailtaler Bergen. Hier biegen wir um die Westflanke des Monte Leila und gelangen an seinem Nordhang wieder ins Slizzatal. Einen Augenblick lang befinden wir uns genau über der Autobahn, die in einem Tunnel unter uns verläuft. Wir folgen einem Fahrweg, der an der Bergflanke entlang allmählich zum Slizza hinunter strebt. Er wird gerade ausgebaut. Die Brücken über die Bachläufe vom Berg herab sind noch nicht fertig. Wir müssen vorsichtig über die Konstruktionen hinweg turnen. Den gegenüberliegenden Hang entlang verläuft die Staatstraße. Auf dem Talboden rauscht die Autobahn, soweit sie nicht in Tunneln verschwindet. Und der steinige Slizza, ansehnlich breit, nicht tief, aber mit beträchtlicher Strömung. Um die Pizzeria Stella an der Staatsgrenze zu erreichen, werden wir den Slizza queren müssen. Von Stein zu Stein wäre stellenweise nicht unmöglich. Die Gefahr, dabei ein unfreiwilliges Bad zu nehmen, ist aber nicht zu vernachlässigen. Zum Glück erblickt der Bulle ein winziges Stricherl auf der Karte. Es bezeichnet offenbar einen Steg. Tatsächlich kommt er wenig später in unser Blickfeld. Der Steg stellt sich als veritable Brücke für Fahrzeuge heraus. Unsere Hangstraße würde in einiger Höhe daran vorbeiführen. Daher kämpfen wir uns einem Bachbett entlang hinunter zum Talboden. Ein Feldweg strebt der Brücke zu. Seltsam, er kommt eigentlich aus dem Nichts, hat kein Ziel, verliert sich in einer Wiese.


Zitat Bulle (mit Zwischenbemerkungen von mir): „In meiner alten Karte entdeckte ich schließlich eine vergilbte Strichzeichnung, die ein Weg sein konnte und – noch vergilbter - eine Brücke über das Flüsschen! Wir begaben uns also bei nächster Gelegenheit auf einen verwachsenen Weg, der im Schotterbett eines vertrockneten Baches endete. Hoffnungsfroh durchquerten wir auch dieses und standen schließlich vor einer Brücke mit einem uralten Verkehrsschild ‚Höchstbelastung 17t‘. Ich hätte sogar Bedenken gehabt, auch nur einen Kinderwagen über diese Brücke zu schieben! Verfaultes Holz, vergammelte Querstreben, alles, was man sich von einer tragfähigen Brücke halt wünscht. Dazu wies eine andere verrostete Tafel auf die Gefahr von Explosionen hin. Das Bauwerk musste in irgendeinem Krieg verwendet worden sein. Stellenweise waren nicht einmal mehr die morschen Bretter vorhanden und wir schauten durch riesige Löcher hinunter auf den Fluss. Tollkühn und ohne Kollateralschäden überquerten wir auch dieses letzte Hindernis.“


Die Gefahr glücklich gemeistert, folgen wir der Ahnung eines Weges, der unter der Autobahn durchführt. Autowracks unter dem Viadukt träumen von glücklichen Tagen, als sie oben drüber brausten. Jetzt rechnen sie offenbar nicht mehr damit, jemals noch entsorgt zu werden. Dann, o Gott, schon wieder steigen! Steil ist es den Hang hinauf. Wir müssen durch ein verkommenes Gehöft. Eine verlotterte Gestalt schaut uns feindselig an. Ein Hund verbellt uns. Schon wieder Migranten, die sich im Grenzgebiet herumtreiben! Letztlich steigen wir unbehelligt weiter hinauf zur Staatsstraße, überqueren sie und steigen sogar noch weiter bis zu dem weiter oben verlaufenden Fernradweg, ja, auch dieser der aufgelassenen Bahntrasse aufgesetzt. Man kann von Villach bis nach Gemona radeln oder eben bei Tarvisio Richtung Kranj abbiegen.


Die letzte Etappe dieser Wanderung führt uns den Radweg entlang durch den östlichsten Teil der Foresta di Tarvisio. Unter diesem Namen ist vor allem den Italienern das Waldgebiet zwischen Malborghetto und Coccau bekannt. Zwar sind nur kleine Teile davon erklärte Naturreservate, doch ist die ganze Gegend bis hinauf zu den Karnischen Höhenzügen und hinunter bis zum Montasio und Mangart ein weithin beliebtes Ausflugs- und Erholungsgebiet, von dem wir in den letzten beiden Tagen einen kleinen Teil erwandert haben. Das letzte Stück vor der Grenze geht es für uns leicht bergab. Da kommt uns ein Radfahrer schiebend entgegen. Sein Vehikel ist so vollbepackt, wie ich noch nie eines gesehen habe, offenbar macht er eine Ferntour. Wenig später kommt der Rest der Expedition hinterher. Eine junge Frau schiebt ein ebenso schwer beladenes Fahrrad. Dazu ist ein Anhänger mit einem Kleinkind angehängt. Einem schon etwas größeren Kind ist die Steigung egal. Auf seinem Kinderfahrrad kurvt es hin und her, voraus und zurück. Bei solcher Arbeitsteilung ist noch Luft nach oben, kommt mir vor. Unausgesprochen wünsche ich der Familie einen schönen und erholsamen Urlaub. Da sind wir auch schon an der Grenze. Die letzten Meter geht es auf schmalem Pfad in steilen Serpentinen hinunter zum Parkplatz an den Abfertigungsgebäuden, wo sich auch die Pizzeria befindet.


Wir haben es geschafft. Das spüre ich an der Müdigkeit. Ich habe in der Schilderung des Rückwegs die Pausen zu erwähnen nicht vergessen. Wie schon am ersten Tag haben wir keine gemacht. Weiß der Teufel, warum. Vielleicht, weil kein Raucher dabei ist. Es ist etwa fünfzehn Uhr. Wir waren knappe sieben Stunden unterwegs. Jetzt freuen wir uns auf Bier und Pizza. Vor allem auf Bier. Vor der Wanderung habe ich Francesco und Riccardo eingebläut, dass an diesem Tag am Nachmittag eine müde Wandertruppe in der Pizzeria erscheinen wird. Der müdeste von ihnen werde ich sein und ich lege Wert auf gute Bedienung und reichlich Labung. Sie haben hoch und heilig versprochen, darauf zu achten.


Die Pizzeria und das benachbarte Caffé sind bumsvoll. Viel Betrieb ist immer, aber heute sind sie vollgerammelt. Trotz des schönen Wetters sind auch die Innenräume gut ausgelastet. Insbesondere bei Österreichern ist das Lokal äußerst beliebt. Mit viel Glück können wir einen Tisch im Schanigarten ergattern, wo gerade jemand geht. Ich rufe Soile an. Sie wird gleich losfahren mit ‚Lisa‘ (ihr A1), um uns abzuholen. Unsere Kehlen sind ausgetrocknete Wüstengebiete. Zu meinem Erstaunen sehe ich nur eine junge Frau als Bedienung. Für den ganzen Schanigarten mit gut zwanzig Tischen? Sie saust hin und her. Gut, sie saust, aber sie saust mit zwei Flaschen Getränke an einen Tisch, saust ab mit zwei leeren. Rastelli ist sie nicht. Ich habe sie hier noch nie gesehen. Mit letzter Kraft machen wir ihr Zeichen, sie möge zu uns kommen. Sie sieht über uns hinweg. Sind wir schon durchsichtig? Vielleicht, dass sie das eine oder andere Mal, subito sagt, wenn sie ganz in der Nähe saust. Doch sie saust vorbei. Wir holen unsere Trinkflaschen aus den Rucksäcken. Das warme Wasser rettet uns das Leben. Wenn du aber Bier im Kopf hast, ist dir das Leben egal. Ich schaue ins Lokal. Von Riccardo und Francesco keine Spur, auch nicht von seiner Frau. Der andere Pizzakoch, den ich nicht kenne, knetet Teig. Die Kellnerin saust vorbei mit zwei Gläsern in der Hand. Sie hat auch im Innern des vollen Lokals zu sausen. Das schaut nicht gut aus, berichte ich meinen Expeditionsteilnehmern, und damit unterspiele ich beträchtlich. Zu unserer Überraschung hält die Kellnerin nach einiger Zeit doch ihr Sausen bei uns an. Wir bestellen drei große Bier, nein riesige, bitte. Und dazu einen kleinen Krug mit heißem Wasser. Hömmerl verträgt keine kalten Getränke. Er wärmt sie unter Zugabe von etwas warmem Wasser auf. Die Kellnerin sagt in gehetztem Ton, es gibt kein offenes Bier. Nur noch Flaschen. Erstaunt schauen wir uns um. Auf vielen Tischen stehen Gläser mit offenem Bier. Aber sie haben doch gerade erst welches serviert! Der Zapfapparat ist kaputt. Nur noch Flaschen. Dann bitte drei große Flaschen. Die größten, die Sie haben. Und eine davon bitte nicht aus dem Kühlschrank. Die Serviererin schaut Hömmerl an wie einen Marsmenschen. Ist alles im Kühlschrank. Die Flaschen sind alle 0,25. Rasch überschlagen wir die kleinen Mengen, den großen Durst, die Unwahrscheinlichkeit einer baldigen neuen Bestellmöglichkeit, sowie Soiles jeden Augenblick erwartetes Eintreffen. Sette bottiglie! Die Serviererin ist sich sicher, wir wollen sie verarschen. No, no, no, sette ist sieben, du meinst, drei? Sie streckt drei Finger in die Höhe wie seinerzeit Strache. Sette bottiglie e quattro bicchieri. Wir sehen, wie sie uns Drei abzählt. Vier Gläser? Sette bottiglie e quattro bicchieri. Und einen kleinen Krug mit heißem Wasser. Die Kellnerin verdreht die Augen. Womit habe ich das verdient, denkt sie. Das Lokal voll wie nie. Ich ganz allein. Und dann auch noch diese drei Imbecilli. Die Chefin daheim. Wäre sie hier, ich würde auf der Stelle kündigen. Wo sind Franco und Riccardo? Haben frei. Aha, ja, und die Speisekarte, bitte!


Nach einer Ewigkeit erscheint die Servierkraft mit vier kleinen Flaschen Bier. Das schafft sie mit zwei Händen. Noch drei, vergewissert sie sich. Ja, und vier Gläser und den Krug mit heißem Wasser. Was für Pizza? Später. Es wäre vernünftiger gewesen, statt der vierten Bierflasche den Krug mit heißem Wasser zu bringen. So hat Hömmerl ein Problem, während die lächerliche Ration im Bullen und in mir verdampft. Schließlich holt Hömmerl sich das Wasser selber aus dem Lokal. Soile erscheint und widmet sich dem vierten Bier. Ich erkläre ihr die Lage. Wie zur Bestätigung saust die Serviererin vorbei mit fast leeren Händen. Während wir auf das restlich bestellte Bier warten, beraten wir das weitere Vorgehen. Die Kellnerin saust und saust, von uns nimmt sie keine Notiz. Ich spüre den Zorn in mir aufsteigen, der mich in solchen Situationen verlässlich erfasst. Es ist nicht das erste Lokal, das ich mit meiner Gesellschaft vorzeitig verlasse. Wir sind im Begriff aufzustehen, da überrascht uns die Sauserin mit den restlichen drei Bier. Zahlen, sagt der Bulle. Und die Pizze? Obwohl ich mich zu beherrschen versuche, fällt meine Antwort ausführlich, grob und zischend aus. Was kann die Arme dafür, will Soile mich beruhigen. Wahrscheinlich hat sie recht.


Wir zwängen uns zu Soile in die enge Lisa. Unsere zwei Rucksäcke passen gerade so in das Gepäckfach. Kofferraum wäre zu schmeichelhaft. Gut, dass der Bulle nur diesen kleinen Bauchbeutel hat. In Pöckau bei der ‚Linde‘ gibt es auch gute Pizza. Nur, der Versuch scheitert, weil die Linde um diese Zeit noch nicht offen ist. Als letzten Ausweg fährt Soile uns zum Wallner. Das beste Gasthaus in Arnoldstein. Endlich ist alles gut.


Zitat Hömmerl: „Der Rainer hat aber das 'Wanderbummerl'. Jeden Tag hat er die Via Dante vor der Nase, einen Höllenweg, der aber geradewegs in den Himmel führt. Was will ihm das sagen? Ich weiß es nicht und der Bulle wahrscheinlich auch nicht. Ich weiß nur, das waren zwei wunderschöne Wandertage in der Gemeinschaft mit zwei meiner besten Freunde.“


***


Ein Mann, seine dritte Wanderung. Über den Spitzegel zum Weißensee. Aufgewacht am Fuße des Mangart. Die Lebensabschnittswanderung ist es nicht geworden, aber ein Abenteuer, so wie jede Freundschaft ein Abenteuer ist. Dieses hier war schmissig genug.

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