worin vorkommen: die Themse, Oxford, Hohenthurn, der Spitzegel, Zeltweg, Seckau, San Bonifacio, Ebensee, das Tote Gebirge,
Windischgarsten, Uusikaupunki, der Weißensee, das Gailtal, Hermagor, die Gail, Nötsch, Sussawitsch, die Graslitzen, der Vellacher Egel, Naggl, der Mangart, die Weißenfelder Seen - Laghi di Fusine, Rivolto, Italien, Tarvis, Slowenien, Thörl, die Karawanken, der Mittagskogel, das Dreiländereck, die Ladina, der Slizza, der Kapin, Maglern, die Pizzeria Stella, der Stella, Napoli, Coccau, Villach, Hohenthurn - Straja Vas, die Ruine Straßfried - Castrum Strazvrid, Colma, der Klausbach, die 'Via Dante', der Monte Castello, Prato Mesule, Poscolle, Kranjska Gora, Jugoslawien, die Adria-Wien-Pipeline, Triest, Schwechat, die Tschechoslowakei, Bratislava, Berlin, der Monte Leila, Aclete, die Zacchi-Hütte, Kranj, S. Antonio, Rio Bianco, die Julischen Alpen, der Monte Lussari, Gemona, die Foresta di Tarvisio, Malborghetto, der Montasio, Pöckau, das Gasthaus 'Linde', Arnoldstein, der Gasthof Wallner, Jerome K. Jerome, Wotan, Che Guevara, Martin Luther, Dante Alighieri, Benito Mussolini, Enrico Rastelli, Heinz-Christian Strache, 'Three Men in a Boat',
sowie sette bottiglie e quattro bichhieri per tre persone.
Es muss in der Fünften oder Sechsten gewesen sein, als ‚das Schwein‘ uns im Klassenunterricht ein Heft mit einer Erzählung von Jerome K. Jerome zum gemeinsamen Lesen vorlegte. ‚Three Men in a Boat‘. Es geht um drei Londoner, die sich Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Bootsfahrt entschließen. Montmorency, der Hund muss auch mit. Sie rudern die Themse hinauf bis nach Oxford und wieder zurück. (Also, Montmorency hat selten gerudert, aber eine tote Wasserratte zum Stew beigesteuert.) So viel verstand ich von dem Text, aber das war auch schon alles. Der stotternde Redefluss bei den Mitschülern, damals aber auch noch bei mir selbst! Wir mussten uns auf das rein Sprachliche konzentrieren. Da blieb von der Erzählung nicht viel hängen. Von Jeromes feinem britischen Humor noch weniger.
Ein Mann, drei Wanderungen. Dieser Gedanke kommt mir zuweilen, wenn ich auf unserer Dorfrunde um Hohenthurn hinüberblicke zum Spitzegel. Drei Wanderungen. Jede eine Zäsur. Jede ein Wendepunkt. Zwei habe ich schon hinter mir. Von Zeltweg nach Seckau die erste, vor undenklichen Zeiten und doch erst vorgestern, am Beginn meines Mannwerdens. Von Zeltweg nach Seckau gewandert, aber in San Bonifacio aufgewacht. Die zweite am Übergang zu meinem zweiten Leben, von Ebensee durchs Tote Gebirge nach Windischgarsten, aber aufgewacht in Uusikaupunki. Gestern. Für den dritten Wendepunkt darf ich mir nicht lange mehr Zeit lassen. Es muss geschehen, bevor ich dafür zu schwach sein werde. Von Hohenthurn über den Spitzegelkamm und hinunter zum Weißensee. Morgen. Und dann einschlafen.
Ich rede nicht von x-beliebigen Touren. Ich rede von Wanderungen. Leute machen Touren. Wotan ist ein Wanderer. Solche Wanderungen sind rare und wuchtige Ereignisse, nach denen nichts mehr ist wie vorher. Jeder Schritt entfernt ihn vom Vorher, trägt ihn hin zum Danach. Solche Wanderungen wandert man selten und allein.
Hömmerl zu Besuch in Hohenthurn. Wir machen die Dorfrunde. Ich deute hinüber zum Spitzegel und etwas unüberlegt plaudere ich meine Pläne aus. Hömmerl gefällt die Idee. Er sieht nicht die Symbolik dahinter, nur ein x-beliebiges Abenteuer mit ein bisschen Herausforderung. Er wird das Vorhaben mit dem Bullen erörtern, der ein eingefleischter Bergwanderer ist. Inzwischen werde ich mich um geeignete Nächtigungsmöglichkeiten entlang der Route umsehen. Praktisch sind wir schon unterwegs, zu dritt. Auf Tour.
Unterwegs das Gailtal hinauf Richtung Hermagor, Querung der Gail vor Nötsch, den Fuß des Spitzegelkamms entlang bis Sussawitsch, von da an entschlossen den Steilhang hinan bis zum Graslitzen Westgipfel, ein gutes Stück den Kamm entlang Richtung Spitzegel. Von hier aus müsste man schon Blick auf den Weißensee haben. Kurz nach dem Vellacher Egel (2108 m) den Abstieg ins jenseitige Tal beginnen, zuerst steil hinab, dann sanfter, den Nordhang querend bis nach Naggl am Seeufer. Meine Erkundung der Nächtigungsmöglichkeiten ergibt kein günstiges Resultat. Selbstverständlich gibt es im Gailtal unzählige Zimmer privat und in Gasthöfen. Ab Sussawitsch aber ist damit Schluss. Kein weiteres Quartier über den Berg bis zum See hinunter. Die Etappe bis Sussawitsch dürfte sich ziehen, doch der wirklich fordernde Teil ist die Bergquerung. Und genau da spießt es sich. Wir beschließen, eine andere Wanderung zu gehen.
Ich brauche nicht lange zu überlegen. Oft und oft war mein Blick vom Haus hinüber zum Mangart geschweift. Da drüben, jenseits von ein paar grünen Bergrücken liegen am Fuß des Mangarts die Weißenfelser Seen, die Laghi di Fusine. Die beiden Bergseen waren schon einmal Ziel eines Ausflugs gewesen, als Soile und ich noch in Rivolto zuhause waren. Da hatten wir aber keinen der beiden Seen gesehen, denn es war ein Feiertag, wahrscheinlich Ferragosto, und Fusine schien an diesem Tag das Reiseziel von ganz Italien zu sein. Die schmale Bergstraße hinauf zu den Seen war auf ihre ganze Länge zugeparkt von Autos und Reisebussen. Auf der einzigen Fahrspur dazwischen kämpfte eine Kolonne in Richtung Seen gegen eine andere, dem Tal zustrebende, weil nirgends mehr Platz zum Parken war. Ein schönes Chaos. Lärm und Abgase veranlassten uns, auf den Anblick der Seen zu verzichten. Bei erster Gelegenheit wendeten wir und verbrachten den Nachmittag anderswo.
Aber danach, insbesondere nachdem wir unseren Standort in Hohenthurn aufgeschlagen hatten, besuchten wir die Laghi immer wieder. So viel Trubel wie damals haben wir auch nie wieder angetroffen. Selbst an Ausflugstagen verlieren sich die Fahrzeuge und Menschen in der weitläufigen Gegend, doch am schönsten ist der Ort, wenn fast gar nichts los ist. Er liegt dann in himmlischer Stille hingezaubert an die schroffen Nordhänge des Mangarts. Aus dem smaragdgrünen Wasser springt hie und da eine Forelle, Entenfamilien gehen beschaulich ihren Geschäften nach, aus den Waldrändern ins Wasser gefallene Baumstämme haben aufgehört, die Jahrhunderte bis zu ihrem Verfall zu zählen. Eine geheimnisvolle Stille ist über die Landschaft gestülpt, fordert allgemeines Silentium ein. Leiser kommen und gehen die Wagen und die Menschen flüstern nicht lauter als die Lärchenwipfel im sanften Wind. Soile und ich waren dort in allen Jahreszeiten, sogar im verschneiten Hochwinter und wir zeigten allen unseren Gästen, sofern sie nur lang genug bleiben konnten, das Plätzchen, das zu den wunderbarsten auf der Erde gehört.
Um auf der Straße von Hohenthurn nach Fusine zu gelangen, muss man einen beträchtlichen Umweg machen. Zuerst nach Tarvis, dann Richtung Slowenien. Kurz vor der Grenze rechts ab ins Tal der Laghi. Insgesamt etwa zwanzig Kilometer. Luftlinie kann das höchstens die Hälfte sein, vermute ich, also trotz einiges topografisch bedingten Auf und Ab und Hin und Her in einem bequemen Tagesmarsch zu schaffen. Hömmerl und dem Bullen war der Vorschlag recht und so blieb uns nur noch, ein Datum für das Unternehmen zu vereinbaren.
An diesem Tag bekommt Helen, unser Mazda 3, überraschenden Besuch von zwei jüngeren Brüdern. Hömmerl ist, nachdem ich mich lobend geäußert hatte über die lange Serie meiner Mazda 6 und im Besonderen über die etwas kleinere, aber lebhaftere und wendigere Helen, von seiner Stammmarke Honda abgerückt, nicht zuletzt, weil die gerade kein Modell auf dem Markt hatten, das Hömmerl in allen Details zugesagt hätte, also hat auch er einen Mazda 3 gekauft. Er nennt ihn Che. Wie das bei Revolutionären manchmal so sein kann, hat sich herausgestellt, Che war kapriziös. Beharrlich kapriziös. Er hat die versiertesten Experten getäuscht, dann aber sich einen Augenblick lang zusammengerissen, sodass sie glaubten, ihm die Flausen ausgetrieben zu haben. Kaum waren die Meister außer Sichtweite, machte er weiter wie zuvor. Er hatte die Manie zu singen, wenn man das rechte hintere Fenster absenkte. Das kam häufig vor, denn Helga hat die Angewohnheit, im Fond Platz zu nehmen, wenn sie mitfährt. Außerdem hatte Che Erektionsstörungen (© Hömmerl). Das Head-Up-Display wollte sich nicht aufstellen. Ich bin überrascht gewesen, als ich später gehört habe, dass auch der Bulle sich einen Mazda 3 zugelegt hat. Bulles Dreier hat wahrscheinlich keinen Namen, das würde nicht zum Bullen passen. Aber Kinkerlitzchen hat auch er aufgeführt. Er gehört der jüngsten Generation an, erfreut sich schon des neuen Mild-Hybrid-Systems, ist in ein aufregendes Magmarot-Metallic gekleidet, das seine sportliche Kraft unterstreicht. Die wollte er aber aus irgendeinem geheimnisvollen Grund nicht immer ausspielen, wie es sich gehört hätte. Die versierten Experten dokterten mehrmals am Hybridsystem herum, aber erst seitdem sie brutal einen kompletten Hirntod mit anschließender Neuprogrammierung herbeigeführt haben, ist die Lähmung überwunden. Diese beiden jüngeren Brüder Helens also parken neben ihr. Soiles Audi 1, Lisa, amüsiert sich über die hypochondrischen Gespräche der Geschwister.
Hömmerl und der Bulle nächtigen im stillgelegten Bergwerk, das heißt in unserem ehemaligen Büro, das, später umgebaut zu Mamas Wohnung, seit ihrem Fortgang
verwaist
ist. Für den Bullen hat Soile Mamas Bett hergerichtet. Hömmerl nimmt wie auch sonst immer die unbequemere Schlafstatt, ein Gäste-Klappbett. Den Abend versuchen wir nicht allzu lang ausufern zu lassen, denn am frühen Morgen soll die Expedition losgehen. Aus demselben Grund gibt es kein Frühstück. Ein Frühstück wäre ausgedehnt ausgefallen und hätte uns zu lange aufgehalten. Wäre es uns zu gut gegangen beim Frühstück, hätten wir womöglich ganz auf die Tour verzichtet. Geplant war eine kurze Frühstückspause im Beisl der Shell-Tankstelle in Thörl, also nach den ersten beiden Kilometern Marsch. Die beiden Helmute erwähnen so nebenbei, dass sie das ganze Untergeschoß vergeblich nach Klopapier durchsucht haben. Wir hatten übersehen, dass auf der Rolle im Klo nur mehr wenig vorhanden war. Ich frage nicht nach, wie sie das Problem gelöst haben. „Hätte nicht geglaubt, dass ihr so viel zu scheißen habt“, ziehe ich mich aus der Affäre. Wir greifen nach unseren fertig gepackten Rucksäcken und ziehen los.
Es ist ein schöner Tag, wie man ihn sich im Sommer vorstellt. Die Morgenluft lau, der Himmel wechselnd bewölkt. Mein Rucksack ist klein, aber prall angefüllt mit allem, was meinem Wissensstand zufolge bei einer Wanderung dazugehört. Regenschutz, Decke, Schnur, Feuerzeug, Messer, Apotheke, Wasserflasche, Handy, Geldbörse, eine gute, wenngleich historische Wanderkarte, Klopapier, sogar das, und das Wichtigste: zwei Flaschen, Whisky und Schnaps. Ich trage ein T-Shirt und meine ältesten Shorts, die einmal graue Jeans gewesen sind, bevor eines ihrer Beine oberhalb des Knies einen immer größeren Riss bekam. Eine Weile gab ich vor, es sei das neueste Modell mit fabriksneuen Beschädigungen, bevor ich kurzerhand beide Hosenbeine brutal abgerissen habe. Über das T-Shirt habe ich mein leichtes ärmelloses Sportgilet angezogen, an den Füßen meine ältesten Tennisschuhe. Hömmerl stellt sich in Jeans, Hemd und Pulli, Schirmkappe und Allwetterjacke. Der Bulle, in langer Wanderhose und T-Shirt, ist mit Wanderstöcken bewaffnet. Sein Gepäckstück ist ein kleines Täschchen, das er an die Lende geschnallt hat. Er trägt leichte Bergschuhe wie auch Hömmerl. Unser Anblick macht es augenfällig, der Bulle ist der Profi, Hömmerl der Dilettant, ich der blutige Laie. So kehren wir nach wenigen Minuten ein in den Verkaufsraum der Shell-Tankstelle. Wir bestellen Kaffee und Wurstsemmeln. Karin bedient uns. Der Bulle will unbedingt für alles bezahlen. Es ist mir peinlich, gehört das Breakfast doch eindeutig zum Bed. Und dafür bin ich ja zuständig. Gegenüber der Tankstelle befindet sich eine Informationstafel mit einer großen Abbildung der Karawankenkette vom Mittagskogel bis zum Dreiländereck samt den wichtigsten Wanderwegen. Wir versuchen, uns den Abschnitt einzuprägen, der für uns von Interesse ist, und vergleichen die moderne Zeit mit der Vorgeschichte unserer Wanderkarte.
Mir ist klar, die nächste Etappe muss hinunterführen zur ‚Ladina‘, das ist die windische Bezeichnung für den Ort, wo sich die Thörler Sportanlage befindet. Wild hügelig ist die Landschaft zwischen Gail und Slizza. Tief haben beide sich ins Gelände eingeschnitten, dazwischen liegen die Hügelzüge von Hohenthurn und Thörl. Thörl am Fuß des Kapin, liegt auf ähnlicher Höhe wie Hohenthurn. Die alte Bundesstraße schlängelt sich durch Thörl bis an die Grenze zu Italien. Von den modernen Verkehrswegen nach Italien ist die Bahn der ältere. Beim Bau der jüngeren Autobahn ist man mit Erdbewegungen ungleich großzügiger umgegangen. Sie liegt daher noch tiefer als die Bahntrasse. Wir queren die Bahn auf einer Brücke, von der man einen großräumigen Überblick über die ganze Gegend Richtung Grenze hat. Sie wird daher heute vom Bundesheer als strategischer Spähpunkt im Abwehrkampf gegen vermutete illegale Migranten verwendet.
Gleich nach der Eisenbahnbrücke steigt das Sträßchen steil hinab in Richtung Maglern. Kurz bevor man Maglern erreicht, liegt hinter einem weiten Türkenacker (die Kärntner sagen Türken zum Kukuruz, also zum Mais) die Ortskirche von Thörl-Maglern. Für den kleinen, zerstreuten Ort ist die Kirche recht groß. Äußerlich scheint sie unauffällig, wenn man von dem Turm absieht. Über quadratischer Grundfläche ragt ein schmuckloser Quader auf, der von einem hohen und schlanken Spitzgiebelhelm gekrönt ist und so das Langhaus weit überragt. Der Kirchturm ist ein ferner Fixpunkt im Blick von unserem Haus nach Süden. Bei näherem Hinsehen stellt man fest, dass das Langhaus gotisch ist und die Fenster mit Maßwerk ausgestattet sind. Das lässt doch auf eine eher herausragende Bedeutung des Bauwerks schließen. Die Vermutung bestätigt sich, betritt man das Innere. Was sofort besticht, ist die spätgotische Architektur mit Spitzbögen, Kreuzgewölben und Maßwerk, doch darüber hinaus ist da ein Reichtum von Fresken aus dem fünfzehnten Jahrhundert, derentwegen viele Kunstliebhaber aus Nah und Fern das Kirchlein aufsuchen. Nachträglich betrachtet hätten wir die zweihundert Meter Umweg zur Kirche in Kauf nehmen und das Innere besichtigen sollen. Aber wie das so ist bei alten Banausen, die junge Hunde geblieben sind, ungeduldig auf der Jagd nach Wild, die lassen sich von alter Kunst weder ablenken, noch aufhalten.
Über eine Biegung des tief ins Gelände eingegrabenen Slizza muss die Autobahn hoch über das Flüsschen anhand einer kühnen, langen Brücke hinwegsetzen. Unter dieser Autobahnbrücke führt das schmale Sträßchen zur Ladina hinunter. Einer Laune der Natur folgend breitet sich eine relativ weite ebene Fläche aus, bevor sie in die tiefe Schlucht des Slizza abfällt. Auf dieser Ebene hat man die Sportanlage angelegt. Eine Vierhundertmeter-Laufbahn umrundet den gepflegten Rasen des Fußballplatzes mit Nationalliga-Dimensionen. Tatsächlich hat der Thörler Sportverein oft erfolgreiche Leichtathleten hervorgebracht, wie auch zuletzt junge Läuferinnen. Zwischen zwei Tenniscourts steht ein großes Klubgebäude. So versteckt liegt die Anlage, dass hier die meiste Zeit friedliche Ruhe herrscht. Wäre da nicht die kühne Brücke, wo die Fernlaster auf der Autobahn hoch über den Köpfen der Sportler hinwegdonnern, man könnte sich außerhalb jedweder Zivilisation wähnen. Hierher kommt nur, wer die Ladina zum Ziel hat. Außer den Sportlern sind das eine Hand voll Bauern. Die nutzen das Stüberl, um ein paar Bier zu trinken, bevor sie sich wieder auf den Traktor setzen. In letzter Zeit wandern manchmal Soldaten in Zweiergruppen vorüber, wenn sie auf Patrouille sind. Noch seltener sieht man einen Streifenwagen der Polizei. Die haben auch hie und da Durst. Bei solcher Frequenz zahlt sich die Bewirtschaftung des Stüberls kaum aus. Nur, wenn ein Fußballmatch steigt, klingelt hier die Kasse. Aber die Kurse sind im Steigen. Zuletzt hat sich ein Rugby-Verein aus Tarvis auf der Ladina niedergelassen. Und eine Tennis-Mannschaft ist aus Arnoldstein abgewandert, hierher. Es sind ausgesprochene Idealisten, die sich den Sommer über dafür hergeben, die Anlage zu pflegen und ein paar Bier zu verkaufen. Der Werginz-Pepi ist ehrenamtlicher Vereinsfunktionär. Er, seine Frau Renate und noch ein Pensionist wechseln einander im Zehn-Tage-Radl dabei ab. Pepi war ein ausgezeichneter Tischtennisspieler, ich glaube, auf nationalem Niveau. Er soll immer noch sehr gut sein. Der Sportverein Thörl hat auch eine Tischtennissektion. Mein Freund Markus leitet die Sektion Tennis, daher finden seine Gefährten sich hier öfters zu Partien ein, selbst wenn sie nicht Vereinsmitglieder sind, so auch ich.
Dazu gehören Franco und Riccardo, den ich wegen seiner Körpergröße ‚Little Richard‘ nenne. Franco, noch etwas länger als Riccardo, ist einer der Pizza-Köche der Pizzeria Stella oben an der Bundesstraße auf der italienischen Seite der Grenze. Sein dunkles Haar ist mindestens einen Meter lang und gezopft. Vor dem Pizzaofen und beim Tennis muss er es kunstvoll um den Kopf wickeln. Franco, Mitte-Ende dreißig, ist mit der Inhaberin verheiratet. Sie haben einen kleinen Sohn im Volksschulalter. Beide sind Italiener. Stella vermutlich aus dem Norden, der Name deutet auf den Fluss Stella, der den Friuli durchquert. (Im Kapitel ‚Rivolto Claims Service‘ ist einiges darüber zu lesen.) Der lange(!) Franco hingegen ist aus Napoli(!) und also glühender Anhänger des SSC Napoli. Bevor er in den Norden ging, war er Torhüter. Nein, wohl nicht beim SSC. Seltsamerweise wohnen sie auf der österreichischen Seite in einem Mehrparteienhaus in Maglern, ganz unten im finsteren Graben am Ufer des Slizza. Eine wahrhaft düstere, depressive Stelle, die längste Zeit ohne Sonne. Wie sie das als Italiener aushalten, ist mir schleierhaft. Seine Vergangenheit als Goalie merkt man ihm beim Tennis an. Kraft, Gefühl, blitzartige Reaktionen und alle üblichen italienischen Flüche, ausgestoßen mit schnarrender Stimme.
Little Richard ist bei Stella Servierer. Obwohl wir dort nur alle heiligen Zeiten zu Gast sind, erinnert er sich ohne nachzudenken, übrigens so wie Franco, wie meine Lieblingspizza zu belegen ist. Tonno, Cipolla, Melanzane. Riccardo, wie Franco Mitte dreißig, profitiert vom Hotel Mamma. Sie wohnen in Coccau in einem modernen Mehrfamilienhaus. Die Mutter arbeitet als Verkäuferin in Villach. Ich habe sie nie kennengelernt. Sie spricht gut deutsch. Etwas davon hat sie Riccardo beigebracht. Ob sie Österreicherin ist? Little Richard besitzt kein Fahrzeug, nicht einmal ein Fahrrad. Zur Arbeit an der Grenze geht er zu Fuß oder nimmt den Bus. Auch zum Tennis in der Ladina kommt er selbständig. Riccardo hat mit uns oft auch in Villach in der Halle gespielt. Dann habe ich ihn in Coccau abgeholt. Unterwegs haben wir uns über alles Mögliche unterhalten in einem Gemisch aus Italienisch und Deutsch. Riccardo hat immer deutsch angefangen, ist aber bald an Grenzen gestoßen. Dann ist es italienisch weitergegangen. Das hat uns dann erlaubt, die oberflächliche Plauderei hinter uns zu lassen und tiefer in diverse Themen einzudringen. Um Politik ist es oft gegangen, über Zustände in Italien und Skandale in Österreich. Die Fremdsprache hat des Öfteren etymologische Fragen aufgeworfen, über die wir angeregt diskurriert haben. An die Frage der Herkunft und Bedeutung des Ortsnamens Hohenthurn erinnere ich mich. Ich habe mich geweigert, der verbreiteten Meinung zu folgen, es habe etwas mit einem hohen oder hoch gelegenen Turm zu tun. Das Wappen von Hohenthurn legt es nahe, denn es enthält einen Wehrturm. Slowenisch heißt Hohenthurn Straja Vas. Vas ist Dorf, Straja dürfte von einem Personennamen ausgehen. Straja ist jedenfalls kein slowenischer Term. Ich halte es aber für möglich, dass die heutige Ruine Straßfried, die ehemalige Burg Castrum Strazvrid, die auf dem Felshügel zwischen Maglern und Hohenthurn stand, etwas mit Straja zu tun hat. Die Festung ist fast völlig ruiniert. Von unserem Haus aus sieht man ein paar Mauern durch den Wald zu uns durchscheinen, die im Winter wie die Skulptur eines Elefanten aussehen. Was den ‚hohen Turm‘ anlangt, den man uns als ‚Hohenthurn‘ vormachen will, so habe ich eher geglaubt, dass ein hohes Tor (Thor) Namensgeber der Ortschaft sei. Dafür spreche auch das nahe Thörl. Eben ein hohes oder hoch gelegenes Thor neben einem kleineren Thörl. Ein Tor ist die ganze Gegend im übertragenen Sinn sowieso. Das Tor zwischen dem Süden und dem Norden. Es kommt vor, dass jemand es unachtsam offenlässt. Dann zieht es kräftig. Der Wind pfeift durchs Türl. Gegen meine Hypothese spricht, dass das Wort ‚Turm‘ tatsächlich vom althochdeutschen ‚turn‘ abstammt, lateinisch ‚torris‘, italienisch ‚torre‘, französisch ‚tour‘, altfranzösisch ‚torn‘, ebenso wie aktuell im Schwedischen. Den deutschen Turm haben wir wohl Luther zu verdanken. Und gegen Luther ziehe ich zweifellos den Kürzeren.
Bei den Autofahrten mit Little Richard, aber eigentlich bei jeder Begegnung mit ihm, sogar auf dem Tenniscourt, hat mich Riccardos liebenswürdige Art beeindruckt. Mit Wohlerzogenheit, Höflichkeit, Einfühlungsvermögen und Taktgefühl wusste er jedes Zusammentreffen zu einer angenehmen Begebenheit zu machen. Eines Tages hat er erwähnt, er denke daran, auf der Kärntner Seite eine kleine Mietwohnung zu nehmen. Ich habe keine Sekunde gezögert, ihm unser leerstehendes Untergeschoß anzubieten. Soile wäre einverstanden gewesen trotz ihrer sozialen Zurückhaltung und des Bedenkens, dass gewisse Bereiche unseres Haushalts wie Waschküche und Tiefkühlschrank sich im Untergeschoß befinden. Schließlich ist es dazu nicht gekommen. Ich glaube, es hat Riccardo an Entschlossenheit und Dynamik gefehlt. Aus dem Hotel Mamma ist Little Richard bis heute nicht ausgezogen.
Natürlich haben Soile und ich die Tennisplätze auf der Ladina oft und oft bespielt, daher kenne ich mich bis hierher bestens aus. Leider aber keinen Meter darüber hinaus. Erstmals ziehen wir die Karte zu Rate. Gerade einmal aufgewärmt folgen wir dem Sträßchen an der Ladina vorbei und gelangen zu einer Brücke über den Slizza. Übergangslos ragt das jenseitige Ufer als Steilhang auf. Ein Karrenweg schneidet ihn mit einigen Serpentinen an. Knappe hundert Höhenmeter später finden wir uns auf einem Rücken, über den in Ost-West- Richtung eine Hochspannungsleitung verläuft, desgleichen eine Gaspipeline. Laut meiner altrömischen Karte nennt sich die Stelle Colma.