worin vorkommen: die Tauern, die Mulde, der Stausee bei Eibenstock, Hugo Simberg, Gustav Klimt, Elias Canetti, 'Der verwundete Engel', 'Judith und Holofernes', 'Hygieia', 'Der Kuss', 'Spectrum', sowie was noch nicht eingetreten ist. Noch nicht.
Trübes Licht. In der hinteren Wand eine Terrassentür mit halb zugezogenen, ungleich gestalteten Seitenvorhängen: der linke zeigt samische Runen, der rechte alpine Darstellungen. Draußen dunkelgraues Dämmerlicht. Links und rechts der Tür je ein hohes Fenster, deren ganz zugezogene Seitenvorhänge jenen der Tür entsprechen: links samisch, rechts alpin.
In der linken Seitenwand eine niedrige Tür, daneben ein finnischer Kachelofen. An der Wand ein Poster mit Hugo Simbergs ‚der verwundete Engel‘,
zur Rampe hin ein Kästchen mit gebrauchtem Geschirr, daneben auf dem Boden eine Gießkanne vom Garten. Eine als Bett ausgezogene Sitzbank, ein Fauteuil.
In der rechten Wand ebenfalls eine niedrige Tür. Daneben Poster mit Gustav Klimts ‚Judith und Holofernes‘, ‚Hygieia‘ und ‚der Kuss‘. Zur Rampe hin ein Blumentischchen mit einem verloschenen Kerzenstummel. Abgestorbene Pflanzenteile neben dem Tischchen auf dem Boden. Daneben ein Blecheimer. Eine als Bett ausgezogene Sitzbank, identisch mit jener in der linken Bildhälfte, ein Fauteuil, ebenfalls identisch.
Im Bildzentrum hintereinander zwei Müllcontainer, mit ihrer Vorderseite nach links, verhüllt von einem alten Betttuch.
Im rechten Bildteil Rainer, sehr warm angezogen, sitzt im Fauteuil neben einem Packen alter Zeitungen und liest in einer davon. ‚Spectrum‘.
Im linken Bildteil, genau im Zentrum, sitzt Alppi in einem behelfsmäßig mit Röllchen versehenen Sessel, verhüllt von einem alten Betttuch.
SOILE steht regungslos in der Nähe der linken Tür und betrachtet den Sessel. Pause. Sie geht mit steifen und wankenden Schritten ans linke Fenster. Sie betrachtet das linke Fenster mit dem Kopf im Nacken. Sie wendet sich dem rechten Fenster zu und betrachtet es. Sie geht und stellt sich ans rechte Fenster. Sie betrachtet das rechte Fenster mit dem Kopf im Nacken. Sie wendet sich dem linken Fenster zu und betrachtet es. Sie geht hinaus und kommt alsbald mit einer kleinen Trittleiter wieder, stellt sie ans linke Fenster, steigt hinauf und schiebt den Vorhang zur Seite. Sie steigt von der Leiter, geht ein paar Schritte auf das rechte Fenster zu, macht kehrt, um die Leiter zu holen, stellt sie ans rechte Fenster, steigt hinauf und schiebt den Vorhang zur Seite. Sie steigt von der Leiter, geht drei Schritte auf das linke Fenster zu, macht kehrt, um die Leiter zu holen, stellt sie ans linke Fenster, steigt hinauf und schaut durchs Fenster.
O my god.
Sie steigt von der Leiter, geht einen Schritt auf das rechte Fenster zu, macht kehrt, um die Leiter zu holen, stellt sie ans rechte Fenster, steigt hinauf und schaut durchs Fenster.
O my god.
Sie steigt von der Leiter, geht auf die Mülleimer zu, macht kehrt, um die Leiter zu holen, fasst sie an, besinnt sich anders, lässt sie los, geht auf die Mülleimer zu, nimmt das Betttuch, das sie verhüllt, herunter, faltet es sorgsam und legt es über den Arm. Sie hebt einen Deckel an, bückt sich und schaut in den Mülleimer.
O my god.
Sie klappt den Deckel wieder zu. Dasselbe Spiel mit dem anderen Mülleimer. Sie geht auf Alppi zu, nimmt das Bettuch, das ihn verhüllt, herunter, faltet es sorgsam und legt es über den Arm. Im Morgenrock, mit einer Filzkappe auf dem Kopf, einem übers Gesicht gebreiteten großen Taschentuch, einer um den Hals hängenden Signalpfeife, einem auf den Knien liegenden Plaid und dicken Socken an den Füßen scheint Alppi zu schlafen. Soile betrachtet ihn.
O my god.
Sie geht zur Tür, hält an, macht kehrt, betrachtet die Bühne und wendet sich dem Saal zu.
SOILE und RAINER (in der rechten Bildhälfte, die Zeitung in der Hand), beide mit starrem Blick und tonloser Stimme: … Ende. Es ist zu Ende. Es geht zu Ende. Es geht vielleicht zu Ende. Pause. Ein Körnchen kommt zum anderen, eins nach dem anderen, und eines Tages, plötzlich, ist es ein Haufen, ein kleiner Haufen, der unmögliche Haufen. Pause.
RAINER: Canetti.
SOILE: Man kann mich nicht mehr strafen. Pause. Ich gehe in meine Küche, drei Meter mal drei Meter mal drei Meter, warten, bis er mir pfeift. Pause. Es sind hübsche Dimensionen, ich werde mich an den Tisch lehnen, ich werde die Wand betrachten und warten, bis er mir pfeift. Sie verharrt einen Augenblick regungslos. Dann geht sie hinaus, kommt alsbald wieder, holt die Leiter und trägt sie hinaus.
Pause.
ALPPI
(in der linken Bildhälfte):
bewegt sich. Er gähnt unterm Taschentuch. Er nimmt das Taschentuch von seinem Gesicht. Blindenbrille. . .
. Ah! . . .
Er gähnt .
. . Ich bin dran.
Pause. Jetzt spiele ich!
Er hält das Taschentuch mit ausgestreckten Armen ausgebreitet vor sich. Altes Linnen!
Er nimmt seine Brille ab, wischt seine Augen, das Gesicht, putzt die Brille, setzt sie wieder auf, faltet sorgsam das Taschentuch und steckt es bedächtig in die obere Tasche seines Morgenrocks. Er hustet sich frei und legt die Fingerspitzen aneinander. Kann es überhaupt...
er gähnt
. . . ein Elend geben, das . . . erhabener ist als meines? Wahrscheinlich. Früher. Aber heute?
Pause. Tino?
Pause. Mama?
Pause. Meine . . . Katzen?
Pause. Oh, ich kann mir wohl denken, dass sie so viel leiden, wie solche Wesen leiden können. Soll das aber heißen, dass unsere Leiden gleichwertig sind? Wahrscheinlich.
Pause. Nein, alles ist . . . er gähnt .
. . absolut, (stolz:)
je größer man ist, umso voller ist man.
Pause.
Trübsinnig.
Und umso leerer!
Er schnauft.
Soile!
Pause. Nein, ich bin allein.
Pause. Welche Träume! ... Diese Wälder!
Pause. Schluss damit, es wird Zeit, dass es endet, auch in dem Unterschlupf.
Pause. Und doch zögere ich, ich zögere . . . zu enden. Nein, das ist es, es wird Zeit, dass es endet, und doch zögere ich noch zu . . .
er gähnt . . . enden. Er gähnt. Oh je, oh je, was hab ich bloß, ich sollte mich lieber schlafen legen.
Er pfeift einmal kurz.
SOILE kommt sofort herein. Sie bleibt neben dem Sessel stehen.
ALPPI: Mach mich fertig, ich will mich schlafen legen.
SOILE: Ich habe dich gerade aufstehen lassen.
ALPPI: Na und?
SOILE: Ich kann dich nicht alle fünf Minuten aufstehen lassen und wieder schlafen legen, ich habe zu tun.
ALPPI: Wann hast du zuletzt meine Augen gesehen?
SOILE: Ich erinnere mich nicht.
ALPPI: Hat dich niemals verlangt, während ich schlief, meine Brille abzunehmen und meine Augen zu betrachten?
SOILE: Indem ich die Lider hochzöge? Pause. Nein.
ALPPI: Eines Tages werde ich sie dir zeigen. Pause. Sie sollen ganz weiß geworden sein. Pause. Wieviel Uhr ist es?
SOILE: Soviel wie gewöhnlich.
ALPPI: Hast du nachgeschaut?
SOILE: Ja.
ALPPI: Und?
SOILE: Nichts.
ALPPI: Es müsste regnen.
SOILE: Es wird nicht regnen.
Pause
ALPPI: Und sonst?
SOILE: Ich beklage mich nicht.
ALPPI: Fühlst du dich in deinem normalen Zustand?
SOILE gereizt: Ich sagte doch, dass ich mich nicht beklage.
ALPPI: Ich fühle mich etwas komisch. Pause. Soile?
SOILE: Ja?
ALPPI: Hast du es nicht satt?
SOILE: Doch Pause. Was denn?
ALPPI: Das . . . alles.
SOILE: Seit jeher schon. Pause. Du nicht?
ALPPI trübsinnig: Es gibt also keinen Grund dafür, dass sich etwas ändert.
SOILE: Es kann zu Ende gehen. Pause. Das ganze Leben dieselben Fragen, dieselben Antworten.
ALPPI: Mach mich fertig. Soile rührt sich nicht. Pause. Hol das Tuch!
SOILE: Ich werde dir nichts mehr zu essen geben.
ALPPI: Dann werde ich sterben.
SOILE: Ich werde dir gerade so viel geben, dass du nicht sterben kannst. Du wirst die ganze Zeit Hunger haben.
ALPPI: Dann werde ich auch sterben.
Pause
SOILE: Ich hole das Tuch. Sie geht zur Tür.
ALPPI: Nicht der Mühe wert.
SOILE bleibt stehen: Ich werde dir einen Zwieback pro Tag geben. Pause. Anderthalb Zwieback.
Pause
ALPPI: Warum bleibst du bei mir?
SOILE: Warum behältst du mich?
ALPPI: Es gibt sonst niemand.
SOILE: Es gibt sonst keine Stelle.
Pause
ALPPI: Und doch verlässt du mich.
SOILE: Ich versuch's.
ALPPI: Du magst mich nicht.
SOILE: Nein.
ALPPI: Früher mochtest du mich.
SOILE überdrüssig: Früher!
ALPPI: Ich habe dich zu viel leiden lassen. Pause. Nicht wahr?
SOILE: Das ist es nicht.
ALPPI erstaunt: Ich habe dich nicht zu viel leiden lassen?
SOILE: Doch.
ALPPI erleichtert: Ah! Immerhin! Pause. Kalt: Verzeihung. Pause. Lauter: Ich sagte: Verzeihung.
SOILE: Ich habe es gehört. Pause. Hast du geblutet?
ALPPI: Weniger. Pause. Muss ich jetzt nicht meine Tablette nehmen?
SOILE: Nein.
ALPPI: Wie geht es deinen Beinen?
SOILE: Schlecht.
ALPPI: Aber du kannst gehen.
SOILE: Ja.
ALPPI aufbrausend: Also, geh! Soile geht bis an die Wand im Hintergrund und lehnt sich mit Stirn und Händen daran. Wo bist du?
SOILE: Hier.
ALPPI: Komm zurück! Soile kehrt an ihren Platz neben dem Sessel zurück. Wo bist du?
SOILE: Hier.
ALPPI: Warum tötest du mich nicht?
SOILE: Sie haben uns die Waffe genommen. Pause. Und ich kann dich nicht quälen. Alppi lacht. Ich gehe. Ich habe zu tun.
Der Deckel eines der beiden Mülleimer hebt sich, und die um den Rand geklammerten Hände von Tino werden sichtbar. Dann taucht der mit einer Schlafmütze bedeckte Kopf auf. Sehr weiße Gesichtsfarbe. Tino gähnt und lauscht dann.
ALPPI: In der Küche?
SOILE: Ja.
ALPPI: Draußen ist der Tod. Pause. Gut, geh nur.
SOILE ab in die rechte Bildhälfte. Sie lässt sich nieder auf das Couchbett, nimmt ein Heft und schreibt gelegentlich etwas hinein.
ALPPI: Es geht voran.
RAINER ohne von der Zeitung aufzuschauen: Ende. Pause. Es geht zu Ende. Es geht vielleicht zu Ende. Pause. Ein Körnchen kommt zum anderen, eins nach dem anderen, und eines Tages, plötzlich, ist es ein Haufen, ein kleiner Haufen, der unmögliche Haufen. Pause. Canetti. Pause. Es geht ganz sicher zu Ende.
Pause
Blickt zu Soile: Sudoku, Sudoku, Sudoku. Pause. Die ganze Zeit Sudoku. Pause. Du musst sie doch schon alle durchhaben. Pause. Früher, als da noch eine Ordnung war in dieser Welt, da vielleicht hat ja die Ordnung in den Ziffern noch Sinn gemacht. Aber jetzt? Was willst du hier noch ordnen? Pause. Ordnen... Erinnerst du dich, früher hast du immer gesagt, "Es wird sich ordnen", hast du gesagt. Hast gemeint, das wird schon, comme ci comme ça, ché sarà sarà, don't worry, oder so. War wohl so ein Suomizismus. Hab ich schon lang nicht mehr gehört. Was soll sich heute noch ordnen?
SOILE wirft Rainer einen giftigen Blick zu. Sie vertieft sich weiter in ihr Sudoku.
RAINER: Ordnung... Pause. Chaos... Pause. Ordnung ist eine Technik. Eine Technik, die man anwenden kann, um nicht im Chaos unterzugehen. Ich mag Ordnung. Das Chaos liebe ich. Pause. Dass Gott versucht hat, Ordnung ins Chaos zu bringen, war wohl sein erster Schmiss. Pause. Rainer schaut wieder in die Zeitung. Sudoku. Pause. Ziffern ordnen. Sinnlos.
SOILE: Und macht das vielleicht Sinn, alte Zeitungen lesen? Immer wieder von vorne, immer wieder dieselben? Immer wieder?
RAINER: Es gibt keine neuen Zeitungen mehr. Und kein Papier, um selber eine zu schreiben. Ich unterhalte mich beim Recherchieren, wie es zu diesem Knall, zu dieser ultimativen Katastrophe gekommen ist. Pause. Grübelnd: Die Lage schaukelt sich auf. Stellvertreterkriege in der halben Welt. In der anderen Hälfte Hunger und Elend. Keiner kann noch bleiben, wo er ist. Alle müssen weg. Dorthin, wo’s auch nicht besser ist. Pause. Hass. Überall. Hass nicht nur unter den Elenden. Auch unter den Reichen. Gerade unter den Reichen. Hass auf die Elenden.
SOILE: Was bringt dir das Grübeln? Knall ist Knall. Egal wieso.
RAINER grübelt weiter: Neue Techniken multiplizieren den Hass. Gewaltbereitschaft nimmt überhand. Probleme, die einmal gering gewesen wären, werden zu unüberwindlichen Hindernissen. Folglich Zorn und mehr Hass. Pause. Ein paar Rüpel gelangen an die Schaltstellen der Macht. Pause. Was letztlich den ultimativen Knall ausgelöst hat, steht in keiner Zeitung. Konnte nicht mehr in den Zeitungen stehen. Pause. Es gibt keine Zeitungen mehr.
Pause.
TINO: Kann ich mein'n Brei kriegen? Pause. Mein'n Brei?
ALPPI: Alles hier stirbt. Aber in den Urnen ist man hungrig!
Er pfeift. Soile kommt in die linke Bildhälfte und bleibt neben dem Sessel stehen.
Schau, schau! Ich dachte, du wolltest gehen.
SOILE: Oh, noch nicht, noch nicht.
TINO: Mein'n Brei?
ALPPI: Gib ihm seinen Brei.
SOILE: Es gibt keinen Brei mehr.
ALPPI zu Tino: Es gibt keinen Brei mehr. Du wirst nie wieder Brei bekommen.
TINO nachdenklich: So?
ALPPI: Gib ihm einen Zwieback. Soile geht. Sie kommt mit einem Stück Zwieback in der Hand zurück.
SOILE: Ich bin wieder da, mit dem Zwieback. Sie legt den Zwieback in Tinos Hand, der ihn annimmt, betastet und beschnuppert.
TINO den Zwieback erkennend: Zwieback! . . . Er ist hart. Ich habe keine Zähne!
ALPPI: Sperr ihn ein! Soile drückt Tino in den Mülleimer hinein und klappt den Deckel zu.
ALPPI: Setz dich drauf.
SOILE: Ich kann mich nicht setzen.
ALPPI: Ach ja. Und ich kann nicht stehen.
SOILE: So ist es.
ALPPI: Jedem das Seine. Pause. Soile?
Pause
SOILE: Ja?
ALPPI: Die Natur hat uns vergessen.
SOILE: Es gibt keine Natur mehr.
ALPPI: Keine Natur mehr! Du übertreibst.
SOILE: Um uns her.
ALPPI: Wir atmen doch, wir verändern uns! Wir verlieren unsere Haare, unsere Zähne! Unsere Frische! Unsere Ideale!
SOILE: Dann hat sie uns nicht vergessen.
ALPPI: Du sagst doch, dass es keine mehr gibt.
SOILE: Niemand auf der Welt hat je so verdreht gedacht wie du.
ALPPI: Man tut, was man kann.
SOILE: Du hältst dich für gescheit, nicht?
Pause
ALPPI: Muss ich nicht jetzt meine Tablette nehmen?
SOILE: Nein. Pause. Ich gehe, ich habe zu tun.
ALPPI: In deiner Küche?
SOILE: Ja.
ALPPI: Was zu tun, das frage ich mich.
SOILE: Ich betrachte die Wand.
ALPPI: Die Wand! Und was siehst du da, auf deiner Wand? Menetekel? Fratzen?
SOILE: Du sollst nicht so zu mir sprechen.
Pause
ALPPI kalt: Verzeihung. Pause. Lauter. Ich sagte: Verzeihung.
SOILE: Ich habe es gehört.
Pause
Der Deckel von Tinos Mülleimer hebt sich. Die um den Rand geklammerten Hände werden sichtbar. In einer Hand ein Stück Zwieback. Dann taucht Tinos Kopf auf. Tino lauscht.
ALPPI: Sind deine Samenkörner aufgegangen?
SOILE: Nein.
ALPPI: Hast du ein wenig gegraben, um zu sehen, ob sie gekeimt haben?
SOILE: Sie haben nicht gekeimt.
ALPPI: Es ist vielleicht noch zu früh.
SOILE: Wenn sie keimen müssten, hätten sie gekeimt. Sie werden nie keimen.
Pause
ALPPI: Es ist nicht so heiter wie vorhin. Pause. Aber so ist es immer, abends, nicht wahr, Soile?
SOILE: Immer.
ALPPI: Es ist ein Abend wie jeder andere, nicht wahr, Soile?
SOILE: Wie jeder andere.
Pause
ALPPI ängstlich: Was ist denn los, was geschieht eigentlich?
SOILE: Irgendetwas geht seinen Gang.
Pause
ALPPI: Gut, geh nur. Er wirft den Kopf gegen die Rückenlehne des Sessels und verharrt regungslos. Soile rührt sich nicht. Er gibt einen langen Stoßseufzer von sich. Alppi richtet sich wieder auf. Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du sollst gehen.
SOILE: Ich versuch's. Sie geht zur Tür und bleibt stehen. Pause. Seit meiner Geburt. Sie geht in die rechte Bildhälfte.
ALPPI: Es geht voran. Er wirft den Kopf gegen die Rückenlehne des Sessels und verharrt regungslos.
SOILE nimmt ihr Sudokuheft auf, wirft einen Blick hinein, wirft es auf die Couch. Ich muss aufhören. Meine Augen machen nicht mehr mit. Sie nimmt die Brille ab.
RAINER: Ja, du hast recht. Ich seh auch nichts mehr.
SOILE: Meine Augen sind so trocken. Sie brennen. Pause. Es gibt keine Tropfen mehr.
RAINER: Damals, der Tennisball. Pause. Dein Tennisball und mein Blitz. Ich hab in einen der Blitze geschaut.
SOILE: Jetzt kommt wieder die lange Nacht. Zwei Stunden Dämmerung über Mittag. Und dann wieder Nacht.
RAINER: Müsstest du eigentlich gewohnt sein von Finnland her, im Winter.
SOILE: Ja. Pause. Wir hatten Licht. Wir haben gelesen. Wir hatten Licht. Wir haben gespeist. Gut gespeist! Das Licht hat gefunkelt in den Wassergläsern. Wir hatten Feuer zum Beisammensitzen und haben um das Feuer getanzt. Weißer Schnee hat den Mondschein reflektiert. Wir hatten Musik. Wir hatten Fernsehen. Wir haben miteinander geschlafen. Die langen Winternächte waren so kurz, dass man am Morgen unausgeschlafen war. Pause. Mit dieser Nacht hier ist nichts anzufangen. Sie ist so schwarz wie der Schnee vor der Tür. Du kannst nur noch denken. Schlafen geht nicht mehr. Also liegst du wach in der schwarzen Finsternis und denkst. Pause. Scharf: Denken ist tödlich geworden. Es bringt dich um. Pause. Weich: Schlafen! Pause. Schlafen Pause traumlos Pause und nicht mehr erwachen!
Pause
Wenn ich wenigstens wüsste, ob es in Finnland auch so gekommen ist. Sanna, Kirsi Pause sind sie tot? Meine Schwestern, die Enkelkinder… Müssen sie so leben wie wir?
RAINER: Ich hole Wasser aus dem Keller.
SOILE: Glaubst du, es hat sich schon wieder etwas angesammelt? Du hast erst heute früh Wasser geholt. Pause. Oder das, was wir heute Wasser nennen. Stinkende Kloake, die durch die Kellermauern sickert.
RAINER: Und doch tut es gut, sich mit dem Wasser zu befeuchten. Jedenfalls tut es besser als kein Wasser. Pause. Weißt du noch, wie wir die ersten drei Wochen in diesem Keller gehaust haben?
SOILE: Es war unser Bunkerraum. Als wir das Haus gebaut haben, musste jeder Neubau einen Bunkerraum haben. Als Vorsorge für den Fall eines Atomkriegs. Der Bunker hat verstärkte Betonwände, aber auch ein Fenster zu einem Lichtschacht. Viel Strahlung hält der Bunker nicht auf.
RAINER: Dann haben wir diesen Keller als Archiv verwendet. Die blödesten Geschichten haben wir darin gesammelt. In Form von Akten. Lauter Streitigkeiten. Lauter blöde Streitigkeiten um Geld. Wir haben gut gestritten, nicht wahr? Pause. Reich sind wir nicht geworden damit.
SOILE: Aber immer gut ausgekommen. Das Haus war am Ende schuldenfrei. Ganz nach Plan.
RAINER: Geschichten haben wir gesammelt, blöde Geschichten. Wir haben von blöden Geschichten gelebt. Wenigstens dieser Streich ist uns erspart geblieben: Was würden wir heute mit dem Geld anfangen, wenn wir reich geworden wären? Es gäbe absolut nichts darum zu kaufen. Um dieses langsame Sterben zu lindern. Aus dem Bunker mit den blöden Geschichten sammeln wir faules Wasser, um zu überleben. Pause. Verstrahltes Wasser.
SOILE: Das Sterben lindern. Darum sind wir aus dem Bunker hier herauf gezogen. Dort oder da, es geht ja nicht um die Länge des Überlebens, sondern um die Erträglichkeit.
RAINER: Genau. Aus demselben Grund hatten wir schon damals, vor dem Knall, beschlossen, unser schönes Leben nicht durch scheußliche Therapien zu verlängern, sondern, sollte es schon sein, eben früher abzutreten. Pause. Alt sind wir geworden. Kaum krank gewesen. Kein Verrückter hat uns abgeknallt. Kein Raser hat uns überfahren. Wir haben keinen überfahren. Kein Chirurg hat uns vermurkst. Sind nicht abgestürzt mit dem Flugzeug in den Tauern bei Schneesturm. Pause. Nein, alt geworden. Schwein gehabt. Echt Schwein. Dann der Knall. Eine ganz scheußliche Therapie. Und wir sterben lieber ein wenig rascher hier oben neben den Klimts als etwas langsamer unten im nassen Beton.
Pause
SOILE: Ich muss Pipi. Sie setzt sich auf den Blecheimer.
RAINER macht sich an dem Stapel Zeitungen zu schaffen. Die werden wir noch brauchen.
TINO klopft an den Deckel des anderen Mülleimers. Pause. Er klopft heftiger. Der Deckel hebt sich, die um den Rand geklammerten Hände Marias werden sichtbar, dann taucht ihr Kopf auf. Gestrickter Hut. Sehr weiße Gesichtsfarbe.
MARIA: Tino, was is?
TINO: Hast geschlafen?
MARIA: Aber nein. Bussi!
TINO: Geht doch nich.
MARIA: Probier halt!
Die Köpfe nähern sich einander mühsam, ohne sich berühren zu können, und weichen wieder auseinander.
TINO: Komödie, jeden Tag.
Pause
MARIA: Mein Zahn ist ausgfalln.
TINO: Wann denn?
MARIA: Gestern war er noch da.
TINO elegisch: Ah, gestern! Normal: Wann war das denn, gestern?
Sie wenden sich mühsam einander zu.
MARIA: Siehst mi?
TINO: Schlecht. Und du?
MARIA: Was?
TINO: Siehst du mich?
MARIA: Schlecht.
TINO: Umso besser, umso besser.
MARIA: Sag net sowas! Pause. Wir seh'n schon schlecht.
TINO: Ja.
Pause. Sie wenden sich voneinander ab.
MARIA: Hörst mi?
TINO: Leidlich. Und du?
MARIA: Ja. Pause. Meine Ohrwaschln hab'n net g'litten.
TINO: Deine was?
MARIA: Mein Gehör.
TINO: Nein. Pause. Hast du mir sonst noch was zu sagen?
Pause
MARIA: Na.
TINO: Denk gut nach. Pause. Ich werde dich also verlassen. Pause. Willst du den Zwieback nicht? Pause. Ich spare ihn für dich auf.
Pause
MARIA: I hab glaubt, du verlasst mi.
TINO: Ich werde dich verlassen.
MARIA: Kannst mi vorher noch kratzen?
TINO: Nein. Pause. Wo?
MARIA: Am Buckel.
TINO: Nein. Pause. Reibe dich am Eimerrand.
MARIA: Es is weiter unten. Am Kreuz.
TINO: An welchem Kreuz?
MARIA: Am Kreuz halt. Kreuz, Lende. Pause. Kannst net? Pause. Gestern hast mi da 'kratzt.
TINO elegisch: Ja, gestern!
MARIA: Kannst net? Pause. Willst, dass i di kratz'? Pause. Weinst schon wieder?
TINO: Ich hab's versucht.
Pause
ALPPI leise: Es ist vielleicht ein Äderchen.
Pause
MARIA: Was hat er g'sagt?
TINO: Es ist vielleicht ein Äderchen.
MARIA: Was soll das haßen? Pause. Das haßt gar nix.
Pause.
TINO: Ich werde dir den Witz vom Schneider erzählen.
MARIA: Warum ?
TINO: Um uns aufzumuntern.
MARIA: Der is gar net lustig.
TINO: Er hat dich immer zum Lachen gebracht. Pause. Beim ersten Mal habe ich geglaubt, du würdest sterben. Pause: Es war auf der Mulde. Pause. Auf dem Stausee bei Eibenstock. An 'nem Aprilnachmittag. Pause. Kannst du es glauben?
MARIA: Was?
TINO: Dass wir über den See gerudert sind. Pause. An 'nem Nachmittag im April.
MARIA: Am Abend vorher hab'n mir uns verlobt.
TINO: Verlobt! Pause. Du hast so gelacht, dass wir fast gekentert sind. Pause. Wir hätten ertrinken sollen!
MARIA: Es war, weil i mi glücklich g'fühlt hab'.
TINO: Ach was, ach was, es war mein Witz. Du lachst immer noch darüber. Jedes Mal.
MARIA: Es war tief, tief. Man hat bis auf den Grund g'sehn. So klar. So rein.
TINO: Hör ihn dir nochmal an. Erzählerton: Ein Engländer (verzieht sein Gesicht, um einen Engländer nachzuahmen, und entspannt es dann wieder), der dringend eine gestreifte Hose für die Silvesterfeier braucht, begibt sich zu seinem Schneider, der seine Maße nimmt. Stimme des Schneiders: "So, das wäre geschafft, kommen Sie in vier Tagen wieder, dann ist sie fertig." - Gut. Vier Tage später. Stimme des Schneiders: "Sorry, kommen Sie in acht Tagen wieder, der Hosenboden ist missraten." - Gut, macht nichts, der Hosenboden ist nicht so einfach. - Acht Tage später. Stimme des Schneiders: "Bedaure sehr, kommen Sie in zehn Tagen wieder, die Schrittnaht ist misslungen." - Gut, verstehe, die Schrittnaht ist delikat. - Zehn Tage später. Stimme des Schneiders: "Tut mir leid, kommen Sie in vierzehn Tagen wieder, der Schlitz ist missglückt." - Gut, wenn's denn sein muss, ein schöner Schlitz muss sitzen. Pause. Normale Stimme: Ich erzähle ihn schlecht. Pause. Trübsinnig. Ich erzähle diesen Witz immer schlechter. Pause. Erzählerton: Kurzum, die Primeln blühen schon, und er verpatzt die Knopflöcher. Gesicht und dann Stimme des Kunden: "Goddam, Mister, nein, das ist wirklich unverschämt, so was! In sechs Tagen, hören Sie, in sechs Tagen hat Gott die Welt erschaffen. Yes, Mister, sage und schreibe - die Welt! Und Sie, Sie schaffen es nicht, mir in drei Monaten 'ne Hose zu nähen!" Stimme des Schneiders, entrüstet: "Aber Sir! Sir! Sehen Sie sich mal (verächtliche Geste, angeekelt) diese Welt an . . . Pause . . . und sehen Sie da (selbstgefällige Geste, voller Stolz) meine Hose!"
Pause. Er starrt die gleichgültig gebliebene, ins Leere schauende Maria an, bricht in ein krampfhaftes, schrilles Lachen aus, schweigt plötzlich, schiebt seinen Kopf an Maria heran und lacht wieder los.
ALPPI: Ruhe!
TINO zuckt zusammen und hört auf zu lachen.
MARIA: Bis auf den Grund hat man g'sehn.
ALPPI
aufgebracht:
Seid ihr noch nicht am Ende? Kommt ihr nie zu Ende?
Plötzlich wütend:
Es nimmt also kein Ende!
Tino verschwindet im Mülleimer und klappt den Deckel zu. Maria rührt sich nicht.
Worüber können sie denn reden, worüber kann man noch reden?
Rasend. Mein Königreich für einen Müllkipper! Er pfeift.
MARIA: So klar!
SOILE tritt an die Mülleimer. Weg mit diesem Dreck! Ins Meer damit!
ALPPI: Was? Was erzählt sie da?
SOILE beugt sich über Maria und befühlt ihr Handgelenk.
MARIA leise zu Soile: Ich wüsst', was ich tät': i wär' weg.
SOILE lässt Marias Handgelenk los, steckt sie in den Mülleimer, klappt den Deckel zu und richtet sich wieder auf. Auf dem Wege zu Alppis Sessel: Sie hat keinen Puls mehr.
ALPPI: Was hat sie sich in den Bart gebrummt? Heraus damit!
SOILE: Sie sagte, ich soll abhauen, in die Wüste.
ALPPI: Was mische ich mich ein? Ist das alles?
SOILE: Nein.
ALPPI: Was denn noch?
SOILE: Ich hab's nicht verstanden.
ALPPI: Hast du sie eingesperrt?
SOILE: Ja.
ALPPI: Sind sie beide eingesperrt?
SOILE: Ja.
ALPPI: Wir werden die Deckel vernieten. Soile geht zur Tür. Es eilt nicht. Soile bleibt stehen. Meine Wut lässt nach. Ich möchte pinkeln.
SOILE: Ich hole den Katheter. Sie geht zur Tür.
ALPPI: Es eilt nicht. Soile bleibt stehen. Gib mir meine Tablette.
SOILE: Es ist zu früh. Pause. Sie würde nicht wirken. Es gibt auch bald keine mehr.
ALPPI zornig: Es gibt keine mehr! Es gibt keine mehr! Was gibt es denn noch? Wahrscheinlich auch bald keinen Zwieback mehr? Das Wasser, das sich im Keller sammelt, eine Kloake. Kein Whisky! Kälte und Ekel. Nach und nach leiser… Keine Sonne, keine Wolken, kein Himmel. Keine Katze. Keine Musik. Und die Musik in mir! Scheußlich! Ruhig: Nicht einmal mehr Angst. Und keine Menschen. Pause. Keine Menschen. Pause. Wir beide sind die letzten.
Pause
ALPPI: Lass mich eine kleine Runde machen. Soile stellt sich hinter den Sessel und schiebt ihn ein Stück voran. Nicht zu schnell! Soile schiebt den Sessel weiter. Eine Runde um die Welt. Soile schiebt den Sessel weiter. Scharf an der Wand entlang. Dann wieder zurück in die Mitte. Soile schiebt den Sessel weiter. Ich stand doch genau in der Mitte, nicht wahr?
SOILE: Ja.
ALPPI: Wir müssten einen richtigen Rollstuhl haben. Mit großen Rädern. Wie beim Fahrrad. Pause. Scharf an der Wand entlang, nicht wahr?
SOILE: Ja.
ALPPI versucht, mit der Hand die Wand abzutasten: Es stimmt nicht! Du bescheißt mich?
SOILE näher an die Wand heranfahrend: Da, da!
ALPPI: Stopp! Soile hält den Sessel ganz nahe an der Hinterwand an. Alppi legt die Hand an die Wand. Pause. Alte Wand! Pause. Jenseits ist... die andere Hölle. Pause. Heftig: Noch näher! Noch näher! Ganz ran!
SOILE: Nimm die Hand weg. Alppi zieht seine Hand zurück. Soile schiebt den Sessel gegen die Wand. Da!
ALPPI bückt sich und presst sein Ohr an die Wand. Hörst du? Er klopft mit seinem gekrümmten Finger an die Wand. Hörst du? Hohle Backsteine. Er klopft weiter. Das ist alles hohl. Pause. Er richtet sich auf. Heftig: Genug. Jetzt wieder zurück.
SOILE: Wir haben die Runde noch nicht beendet.
ALPPI: Zurück an meinen Platz. Soile schiebt den Sessel wieder an seinen Platz und hält ihn an. Ist das hier mein Platz?
SOILE: Ja, dein Platz ist hier.
ALPPI: Stehe ich genau in der Mitte?
SOILE: Ich werde nachmessen.
ALPPI: Ungefähr! Ungefähr!
SOILE: Da.
ALPPI: Stehe ich ungefähr in der Mitte?
SOILE: Es scheint mir so.
ALPPI: Es scheint dir so! Stell mich genau in die Mitte!
SOILE: Ich hole den Maßstab.
ALPPI: Nicht doch! So in etwa. So in etwa. Soile schiebt den Sessel unmerklich weiter. Genau in die Mitte!
SOILE: Da!
Pause
ALPPI: Ich fühle mich etwas zu weit links. Soile schiebt den Sessel unmerklich weiter. Pause. Jetzt fühle ich mich etwas zu weit rechts. Dasselbe Spiel. Ich fühle mich etwas zu weit vorn. Dasselbe Spiel. Jetzt fühle ich mich etwas zu weit hinten. Dasselbe Spiel. Bleib nicht da stehen hinterm Sessel. Du machst mir Angst.
SOILE kehrt an ihren Platz neben dem Sessel zurück. Wenn ich ihn töten könnte, würde ich zufrieden sterben.
Pause
ALPPI: Wie ist das Wetter?
SOILE: Wie gewöhnlich.
ALPPI: Schau dir das Land an.
SOILE: Ich habe es angeschaut.
ALPPI: Durch das Fernglas?
SOILE: Man braucht kein Fernglas.
ALPPI: Schau es dir durch das Fernglas an.
SOILE: Ich hole das Fernglas. Sie geht hinaus.
ALPPI höhnisch: Man braucht kein Fernglas!
SOILE kommt mit dem Fernglas in der Hand wieder. Ich bin wieder da, mit dem Fernglas. Sie geht auf das linke Fenster zu und betrachtet es. Ich brauche die Leiter.
ALPPI: Warum? Bist du kleiner geworden?
SOILE geht mit dem Fernglas in der Hand hinaus. Pause. Sie kommt mit der Leiter aber ohne Fernglas herein.
SOILE: Ich bin wieder da mit der Leiter. Sie stellt die Leiter unters linke Fenster hin, steigt hinauf, merkt, dass sie das Fernglas nicht mehr hat und steigt von der Leiter. Ich brauche das Fernglas. Sie geht zur Tür.
ALPPI heftig: Du hast doch das Fernglas!
SOILE hält an, heftig: Eben nicht, ich hab das Fernglas nicht! Sie geht.
ALPPI: Es ist zum Weinen!
SOILE kommt herein, mit dem Fernglas in der Hand. Sie geht zur Leiter. Es regnet. Sie steigt auf die Leiter und richtet das Fernglas nach draußen. Mal sehen... Sie schaut, das Fernglas hin und her schwenkend. Nichts . . . sie schaut . . . nichts . . . sie schaut . . . und wieder nichts. Sie lässt das Fernglas sinken und wendet sich Alppi zu. Na? Beruhigt? Sie schaut. Nichts rührt sich. Alles ist . . .
ALPPI heftig: Alles ist... alles ist... alles ist was? Noch heftiger: Alles ist was?
SOILE: Was alles ist? Mit einem Wort? Das möchtest du wissen? Augenblick. Sie richtet das Fernglas nach draußen, schaut, lässt das Fernglas sinken und wendet sich Alppi zu. Aus! Pause. Na? Zufrieden?
ALPPI: Schau dir die See an.
SOILE: Ist doch dasselbe.
ALPPI: Schau dir die See an!
SOILE steigt von der Leiter, geht ein paar Schritte auf das rechte Fenster zu, macht kehrt, um die Leiter zu holen, stellt sie unterm rechten Fenster auf, steigt hinauf, richtet das Fernglas nach draußen und schaut lange hindurch. Sie zuckt zusammen, lässt das Fernglas sinken, prüft es und setzt es von neuem an. Hat man je so was gesehen!
ALPPI beunruhigt: Was denn? Ein Segel? Eine Flosse? Eine Rauchfahne? Ein Atompilz?
SOILE schauend: Der Leuchtturm liegt im Kanal.
ALPPI erleichtert: Pah! Der liegt schon lange da.
SOILE schauend: Es war ein Stück davon übriggeblieben.
ALPPI: Das Fundament.
SOILE schauend: Ja.
ALPPI: Und jetzt?
SOILE schauend: Nichts mehr.
ALPPI: Keine Möwen?
SOILE schauend, ärgerlich: Möwen!
ALPPI: Und der Horizont? Nichts am Horizont?
SOILE das Fernglas absetzend, sich Alppi zuwendend, voller Ungeduld: Was soll denn schon sein am Horizont?
Pause
ALPPI: Die Wellen, wie sind die Wellen?
SOILE: Die Wellen? Sie setzt das Fernglas an. Aus Blei.
ALPPI: Und die Sonne?
SOILE schauend: Was für eine Sonne?
ALPPI: Sie müsste eigentlich gerade untergehen. Schau gut nach.
SOILE nachdem sie nachgeschaut hat: Kein Gedanke.
ALPPI: Es ist also schon Nacht?
SOILE schauend: Nein.
ALPPI: Was denn?
SOILE schauend: Es ist grau. Sie setzt das Fernglas ab und wendet sich Alppi zu. Lauter. Grau! Pause. Noch lauter: GRAU! Sie steigt von der Leiter.
ALPPI: Grau! Sagtest du grau?
SOILE: Hellschwarz, allüberall.
ALPPI: Du übertreibst. Pause. Bleib nicht da stehen du machst mir Angst.
SOILE geht wieder an ihren Platz neben dem Sessel. Warum diese Komödie, jeden Tag?
ALPPI: Der alte Schlendrian. Man kann nie wissen. Pause. Diese Nacht habe ich in meine Brust gesehen. Darin war eine kleine Wunde.
SOILE: Du hast dein Herz gesehen.
ALPPI: Nein. Es lebte. Pause. Ängstlich: Soile!
SOILE: Ja.
ALPPI: Was geschieht eigentlich?
SOILE: Irgendetwas geht seinen Gang.
Pause
ALPPI: Soile!
SOILE gereizt: Was denn?
ALPPI: Wir sind doch nicht im Begriff, etwas zu . . . zu . . . bedeuten?
SOILE: Bedeuten? Wir, etwas bedeuten? Kurzes Lachen. Das ist gut!
ALPPI: Ich frage es mich. Pause. Wenn ein vernunftbegabtes Wesen auf die Erde zurückkehrte und uns lange genug beobachtete, würde es sich dann nicht Gedanken über uns machen? Computerstimme: Ah, ja, jetzt verstehe ich, was es ist, ja, jetzt begreife ich, was sie machen!
SOILE zuckt zusammen, lässt das Fernglas fallen und beginnt, sich mit beiden Händen den Unterleib zu kratzen.
ALPPI normale Stimme: Und ohne überhaupt so weit zu gehen, machen wir selbst... gerührt: wir selbst... uns nicht manchmal... Ungestüm: Wenn man bedenkt, dass alles vielleicht nicht umsonst gewesen sein wird!
SOILE ängstlich, sich kratzend: Ich habe einen Floh!
ALPPI: Einen Floh! Gibt es noch Flöhe!?
SOILE sich kratzend: Auf mir ist einer. Es sei denn, es ist eine Laus.
ALPPI sehr beunruhigt: Von da aus könnte sich ja die Menschheit von neuem entwickeln! Fang es, um des Himmels willen! Fang es!
SOILE: Ich hole das Pulver. Sie geht ab.
ALPPI: Ein Floh! Das ist ja schrecklich! Was für ein Tag! Pause. Die gesamte Evolution - nichts anderes als ein gigantischer Umweg, den das Plasma nahm, um nach dem Sündenfall der Urzeugung und seiner Vertreibung aus dem Anorganischen seine neuerworbene potentielle Unsterblichkeit zu korrigieren und nach Äonen des Wucherns erneut ins Nirwana des Staubes und der Gase einzugehen. Und jetzt, aufs Neue? Ein Floh. Schreit: Nein!
SOILE kommt mit einer Streudose in der Hand herein. Ich bin wieder da, mit dem Insektentod.
ALPPI: Streu es ihm mitten in die Visage! Schnell!
SOILE zieht ihre Bluse aus der Hose, die sie so aufknöpft und offen hält, dass sie das Pulver von oben hineinstreuen kann. Sie bückt sich, schaut nach, wartet, zittert, streut wild noch mehr Pulver hinein, bückt sich, schaut nach und wartet. So ein Biest!
ALPPI: Hast du ihn erwischt?
SOILE: Es scheint so. Sie lässt die Streudose fallen und ordnet ihre Kleider. Es sei denn, er kuschelt sich.
ALPPI: Kuschelt? An wen? Kuscht, meinst du. Es sei denn, er kuscht sich.
SOILE: Ah! Man sagt kuscht? Man sagt nicht kuschelt?
ALPPI: Stell dir vor, er kuschelt sich an eine Flohin, dann wären wir bedient.
Pause
SOILE: Und dein Pipi?
ALPPI: Hat sich erledigt.
SOILE: Ah, das ist gut, das ist gut.
Pause
ALPPI schwungvoll: Lass uns abhauen! Nach Süden. Übers Meer! Du baust uns ein Floß. Die Strömungen treiben uns fort, weit weg, zu anderen . . . Säugetieren!
SOILE: Nenn das Unglück nicht beim Namen!
ALPPI: Allein! ich werde allein aufbrechen. Mach mir sofort das Floß. Morgen werde ich schon weit weg sein.
SOILE auf die Tür zu: Ich mach mich gleich daran.
ALPPI: Warte! Soile bleibt stehen. Meinst du, dass es da Haie gibt?
SOILE: Haie? Ich weiß nicht. Wenn es noch welche gibt, gibt es da welche. Sie geht zur Tür.
ALPPI: Warte! Soile bleibt stehen. Muss ich noch immer nicht meine Tablette nehmen?
SOILE heftig: Nein! Sie geht zur Tür.
ALPPI: Warte! Soile bleibt stehen. Wie geht es deinen Augen?
SOILE: Schlecht.
ALPPI: Aber du siehst.
SOILE: Genug.
ALPPI: Wie geht es deinen Beinen?
SOILE: Schlecht.
ALPPI: Aber du läufst.
SOILE: Hin. . . und her.
ALPPI: In unserem Haus. Pause. Prophetisch und wollüstig: Eines Tages wirst du blind sein. Wie ich. Du wirst irgendwo sitzen, ganz winzig, verloren im Leeren, für immer im Finstern. Wie ich. Pause. Eines Tages wirst du dir sagen: Ich bin müde, ich setze mich, und du wirst dich setzen. Dann wirst du dir sagen: Ich habe Hunger, ich steh jetzt auf und nehme mir einen Zwieback. Aber du wirst nicht aufstehen. Du wirst dir sagen: Ich hätte mich nicht setzen sollen, aber da ich mich gesetzt habe, bleib ich noch eine Weile sitzen, dann steh ich auf und nehme mir einen Zwieback. Aber du wirst nicht aufstehen und du wirst dir keinen Zwieback nehmen. Pause. Du wirst die Wand ein wenig betrachten und dann wirst du dir sagen: Ich schließe die Augen und schlafe vielleicht eine Weile, danach geht's besser, und du wirst sie schließen. Und wenn du sie wieder öffnest, wird keine Wand mehr da sein. Pause. Die Unendlichkeit der Leere wird dich umgeben, alle auferstandenen Toten aller Zeiten würden sie nicht ausfüllen, du wirst darin wie ein kleiner Kiesel mitten in der Wüste sein. Pause. Ja, eines Tages wirst du wissen, wie es ist, wirst wie ich sein, nur dass du niemanden haben wirst, weil du niemanden bemitleidet hast und weil es dann niemanden mehr gibt, der bemitleiden könnte.
Pause
SOILE: Du vergisst etwas.
ALPPI: Was?
SOILE: Ich kann mich nicht setzen.
ALPPI ungeduldig: Dann wirst du eben liegen, als wenn das was wäre. Oder du wirst ganz einfach anhalten und stehen bleiben, wie jetzt. Eines Tages wirst du dir sagen: Ich bin müde, ich halte an. Ganz gleich wie!
Pause
SOILE: Ihr wollt also alle, dass ich euch verlasse.
ALPPI: Klar.
SOILE: Dann werde ich euch verlassen.
ALPPI: Du kannst uns nicht verlassen.
SOILE: Dann werde ich euch nicht verlassen. Pause.
ALPPI: Du brauchst uns nur zu erledigen. Pause.
SOILE: Ich könnte dich nicht erledigen.
ALPPI: Dann wirst du mich nicht erledigen. Pause.
.
SOILE: Ich gehe, ich habe zu tun.
ALPPI: Erinnerst du dich an deinen Vater?
SOILE überdrüssig: Du hast mir diese Frage Millionen mal gestellt.
ALPPI: Ich liebe die alten Fragen. Schwungvoll. Ja, die alten Fragen, die alten Antworten, da geht nichts drüber! Pause. I c h habe dir als Vater gedient.
SOILE: Ja, hast du.
ALPPI: Mein Haus hat dir als Heim gedient.
SOILE: Ja. Sie schaut lange ringsherum. Hat es.
ALPPI stolz: Ohne mich (er zeigt auf sich) kein Vater. Ohne Alppi (er zeigt ringsherum) kein Heim. Pause.
SOILE: Ich verlasse dich.
ALPPI: Hast du nie daran gedacht . . .
SOILE: Nie.
ALPPI: Dass wir hier in einem Loch stecken. Pause. Hinter den Hügeln aber? Na? Wenn es da noch grün wäre? Na? Pause. Flora! Pomona! Pause. Entzückt: Ceres! Pause. Du brauchst vielleicht gar nicht weit zu gehen.
SOILE: Ich kann nicht weit gehen. Pause. Ich gehe jetzt.
ALPPI: Ist meine Katze fertig?
SOILE: Ihr fehlt noch ein Bein.
ALPPI: Sie ist weich, nicht wahr?
SOILE: Es ist eine Glückskatze.
ALPPI: Also dreifarbig. Hole sie.
SOILE: Ihr fehlt noch ein Bein.
ALPPI: Bring sie! Soile geht. Es geht voran.
Er zieht sein Taschentuch heraus und ohne es zu entfalten wischt er sich damit übers Gesicht. Soile kommt mit einer dreifarbigen Katze herein, die sie an einem der drei Beine festhält. Die Katze ist schwarz, weiß und grau.
SOILE: Deine Katze ist da. Sie gibt Alppi die Katze. Er setzt sie auf seine Knie, betastet und streichelt sie.
ALPPI: Sie ist weiß, gelb und schwarz, nicht wahr?
SOILE: Beinahe.
ALPPI gereizt: Wieso beinahe? Ist sie weiß, gelb und schwarz oder ist sie nicht weiß, gelb und schwarz?
SOILE: Ist sie nicht. Pause
ALPPI: Du hast den Schwanz vergessen.
SOILE verärgert: Sie ist noch nicht fertig. Der Schwanz kommt zuletzt dran.
Pause
ALPPI: Du hast ihr kein Halsband angelegt.
SOILE wütend: Sie ist noch nicht fertig, sage ich! Man macht seine Katze zuerst fertig, dann legt man ihr ein Halsband an, wenn überhaupt.
Pause
ALPPI: Kann sie eigentlich stehen?
SOILE: Ich weiß nicht.
ALPPI: Versuchs. Er reicht die Katze Soile, die sie auf den Boden stellt. Na?
SOILE: Warte! Sie hockt sich hin und versucht vergeblich, die Katze zum Stehen zu bringen. Sie lässt sie los. Die Katze kippt um.
ALPPI: Na, und?
SOILE: Sie steht.
ALPPI: Dass wir hier in einem Loch stecken. Pause. Hinter den Hügeln aber? Na? Wenn es da noch grün wäre? Na? Pause. Flora! Pomona!
Pause. Entzückt: Ceres! Pause. Du brauchst vielleicht gar nicht weit zu gehen.
SOILE: Ich kann nicht weit gehen. Pause. Ich gehe jetzt.
ALPPI: Ist meine Katze fertig?
SOILE: Ihr fehlt noch ein Bein.
ALPPI: Sie ist weich, nicht wahr?
SOILE: Es ist eine Glückskatze.
ALPPI: Also dreifarbig. Hole sie.
SOILE: Ihr fehlt noch ein Bein.
ALPPI: Bring sie! Soile geht. Es geht voran.
Er zieht sein Taschentuch heraus und ohne es zu entfalten wischt er sich damit übers Gesicht. Soile kommt mit einer dreifarbigen Katze herein, die sie an einem der drei Beine festhält. Die Katze ist schwarz, weiß und grau.
SOILE: Deine Katze ist da. Sie gibt Alppi die Katze. Er setzt sie auf seine Knie, betastet und streichelt sie.
ALPPI: Sie ist weiß, gelb und schwarz, nicht wahr?
SOILE: Beinahe.
ALPPI gereizt: Wieso beinahe? Ist sie weiß, gelb und schwarz oder ist sie nicht weiß, gelb und schwarz?
SOILE: Ist sie nicht. Pause
ALPPI: Du hast den Schwanz vergessen.
SOILE verärgert: Sie ist noch nicht fertig. Der Schwanz kommt zuletzt dran.
Pause
ALPPI: Du hast ihr kein Halsband angelegt.
SOILE wütend: Sie ist noch nicht fertig, sage ich! Man macht seine Katze zuerst fertig, dann legt man ihr ein Halsband an, wenn überhaupt.
Pause.
ALPPI: Kann sie eigentlich stehen?
SOILE: Ich weiß nicht.
ALPPI: Versuchs. Er reicht die Katze Soile, die sie auf den Boden stellt. Na?
SOILE: Warte! Sie hockt sich hin und versucht vergeblich, die Katze zum Stehen zu bringen. Sie lässt sie los. Die Katze kippt um.
ALPPI: Na, und?
SOILE: Sie steht.
ALPPI herumtappend Wo? Wo ist sie?
SOILE stellt die Katze auf die Beine und hält sie fest. Da! Sie nimmt Alppis Hand und führt sie an den Kopf der Katze.
ALPPI mit der Hand auf dem Kopf der Katze: Schaut sie mich an?
SOILE: Ja.
ALPPI stolz: Als ob sie mich bäte, sie zu kraulen.
SOILE: Wenn man will.
ALPPI stolz: Oder als ob sie mich um einen Fisch bäte. Er zieht seine Hand zurück. Lass sie so . . . mich anflehen.
SOILE richtet sich wieder auf. Die Katze kippt um.
SOILE: Ich gehe jetzt.
ALPPI: Hast du wieder deine Erscheinungen gehabt?
SOILE: Weniger.
ALPPI: Ist Licht bei Frau Nieminen?
SOILE: Licht! Wie soll bei irgendjemand Licht sein?
ALPPI: Also erloschen!
SOILE: Selbstverständlich ist es erloschen! Wenn es nicht mehr da ist, ist es erloschen.
ALPPI: Nein, ich meine doch Frau Nieminen.
SOILE: Selbstverständlich ist sie erloschen! Was hast du eigentlich heute?
ALPPI: Ich gehe meinen Gang. Pause. Hat man sie beerdigt?
SOILE: Beerdigt! Wer soll sie denn beerdigen?
ALPPI: Du.
SOILE: Ich! Habe ich nicht genug zu tun, ohne Leute zu beerdigen?
ALPPI: Mich wirst du aber beerdigen.
SOILE: Nein, ich werde dich nicht beerdigen.
Pause
ALPPI: Sie war bildhübsch, früher, und überhaupt nicht spröde.
SOILE: Wir waren auch hübsch, früher. Man ist selten nicht hübsch gewesen, früher.
Pause
ALPPI: Hol mir den Bootshaken.
NSOILE geht zur Tür und bleibt stehen. Tu dies, tu das, und ich tu's. Ich weigere mich nie. Warum weigere ich mich nicht?
ALPPI: Du kannst es nicht.
SOILE: Bald werde ich nicht mehr gehorchen.
ALPPI: Du wirst es nicht mehr können. Soile geht ab.
SOILE kommt mit dem Bootshaken zurück. Hier ist dein Bootshaken. Friss ihn. Sie gibt Alppi den Bootshaken.
ALPPI bemüht sich stakend, den Sessel nach links, nach rechts und nach hinten zu schieben. Komme ich voran?
SOILE: Nein.
ALPPI wirft den Bootshaken weg. Hol das Kännchen.
SOILE: Wozu?
ALPPI: Um die Röllchen zu ölen.
SOILE: Ich habe sie gestern geölt.
ALPPI: Gestern! Was soll das heißen? Gestern?
SOILE heftig: Das soll heißen, es ist schon ein dickes Ende Elend her. Ich gebrauche die Wörter, die du mir beigebracht hast. Wenn sie nichts mehr heißen wollen, bring mir andere bei. Oder lass schweigen.
Pause
ALPPI: Ich habe einen Verrückten gekannt, der glaubte, das Ende der Welt wäre gekommen. Er malte Bilder. Ich hatte ihn gern. Ich besuchte ihn manchmal in der Anstalt. Ich nahm ihn an der Hand und zog ihn ans Fenster. Sieh doch mal! Da! Die aufgehende Saat! Und da! Sieh! Die Segel der Fischerboote. All diese Herrlichkeit! Pause. Er riss seine Hand los und kehrte wieder in seine Ecke zurück. Erschüttert. Er hatte nur Asche gesehen. Pause. Er allein war verschont geblieben. Pause. Vergessen. Pause. Anscheinend ist der Fall . . . war der Fall gar nicht so aburd.
SOILE: Ein Verrückter? Wann war das?
ALPPI: Oh, es liegt weit, weit zurück. Wir waren noch nicht zusammen.
SOILE: Die goldene Zeit!
Pause.
ALPPI hebt seine Kappe an. Ich hatte ihn gern. Pause. Er setzt seine Kappe wieder auf. Pause. Er malte Bilder.
SOILE: Es gibt so viele schreckliche Dinge.
ALPPI: Nein, nein, es gibt gar nicht mehr so viele, jetzt. Pause. Soile!
SOILE: Ja.
ALPPI: Meinst du nicht, dass es lange genug gedauert hat?
SOILE: Doch! Pause. Was?
ALPPI: Das ... alles.
SOILE: Seit jeher schon. Pause. Du nicht?
ALPPI trübsinnig: Es ist also ein Tag wie jeder andere.
SOILE: Solange er dauert. Pause. Das ganze Leben dieselben Albernheiten.
Pause
ALPPI: Ich kann dich ja nicht verlassen.
SOILE: Ich weiß. Und du kannst mir nicht folgen.
Pause
ALPPI: Wenn du mich verlässt, wie würde ich das merken?
SOILE aufgekratzt: Dann pfeifst du eben, und wenn ich nicht gelaufen komme, habe ich dich halt verlassen!
Pause
ALPPI: Wirst du nicht kommen, um mir adieu zu sagen?
SOILE: Oh, ich glaube nicht.
Pause
ALPPI: Du könntest aber nur gestorben sein in deiner Küche.
SOILE: Das käme auf dasselbe raus.
ALPPI: Ja, aber wie würde ich merken, dass du nur gestorben wärst in deiner Küche?
SOILE: Hm . . . ich würde schließlich stinken.
ALPPI: Du stinkst jetzt schon. Das ganze Haus stinkt nach Kadaver.
SOILE: Die ganze Welt.
ALPPI wütend: Ich scheiß' auf die Welt! Pause. Erfinde was!
SOILE: Wie bitte?
ALPPI: Einen Trick, erfinde einen Trick. Pause. Wütend. Irgendeinen Plan!
SOILE: Ach so. Sie beginnt mit auf den Boden gerichtetem Blick und den Händen auf dem Rücken hin und her zu gehen. Sie bleibt stehen. Meine Beine tun mir weh, es ist nicht zu glauben. Ich werde bald nicht mehr denken können.
ALPPI: Du wirst mich nicht verlassen können. Soile geht wieder. Was machst du?
SOILE: Ich plane. Sie geht wieder. Ah! Sie bleibt stehen.
ALPPI: Was für eine Denkerin! Pause. Na und?
SOILE: Warte. Sie konzentriert sich. Nicht sehr überzeugt: Ja... Pause. Überzeugter: Ja. Sie richtet den Kopf auf. Ich hab's. Ich ziehe den Wecker auf.
Pause
ALPPI: Ich habe heute vielleicht keinen guten Tag, aber -
SOILE: Du pfeifst mir. Ich komme nicht. Der Wecker rasselt. Ich bin weg. Er rasselt nicht. Ich bin tot.
Pause
ALPPI: Geht er überhaupt? Pause. Ungeduldig. Ob der Wecker geht?
SOILE: Warum sollte er nicht gehen?
ALPPI: Weil er zu viel gegangen ist.
SOILE: Er ist doch kaum gegangen.
ALPPI aufgebracht: Dann, weil er zu wenig gegangen ist!
SOILE: Ich werde nachsehen. Sie geht. Spiel mit dem Taschentuch. Kurzes Rasseln des Weckers im Off. Soile kommt zurück mit dem Wecker in der Hand. Sie nähert sich Alppis Ohr und setzt das Läutwerk in Gang. Sie hören sich das Rasseln bis zum Ende an. Pause. Damit kann man Tote aufwecken! Hast du gehört?
ALPPI: Von Weitem.
SOILE: Das Ende ist unerhört.
ALPPI: Muss ich nicht jetzt meine Tablette nehmen?
SOILE: Nein. Sie geht zur Tür und dreht sich um. Ich gehe jetzt.
ALPPI: Dann muss ich jetzt meine Geschichte erzählen. Willst du meine Geschichte hören?
SOILE: Nein.
ALPPI: Frag meinen Vater, ob er meine Geschichte hören will.
SOILE geht zu den Mülleimern, hebt den Deckel von Tinos Mülleimer hoch, schaut hinein und bückt sich darüber. Pause. Sie richtet sich wieder auf. Er schläft.
ALPPI: Weck ihn.
SOILE bückt sich, weckt Tino mit dem Wecker, spricht in den Mülleimer. Unverständliche Worte. Sie richtet sich wieder auf. Er will deine Geschichte nicht hören.
ALPPI: Ich werde ihm ein Zuckerl geben.
SOILE bückt sich. Unverständliche Worte. Sie richtet sich wieder auf. Er will eine Praline.
ALPPI: Er kriegt eine Praline.
SOILE bückt sich. Unverständliche Worte. Sie richtet sich wieder auf. Er macht's. Sie geht zur Tür. Tino klammert seine Hände um den Mülleimerrand. Dann taucht der Kopf auf. Soile öffnet die Tür und dreht sich um. Glaubst du an das zukünftige Leben?
ALPPI: Meines ist es immer gewesen. Soile geht und schlägt die Tür hinter sich zu. Peng! Das hat gesessen!
TINO: Ich höre.
ALPPI: Du Schweinehund! Warum hast du mich gemacht?
TINO: Es war nicht meine Absicht. Und wenn schon, ich hätte doch nicht wissen können -
ALPPI: Was? Was konntest du nicht wissen?
TINO: Dass du es würdest. Pause. Gibst du mir jetzt die Praline?
ALPPI: Nach dem Zuhören.
TINO: Schwörst du?
ALPPI: Ich schwöre.
TINO: Worauf?
ALPPI: Die Ehre. Pause. Sie lachen.
TINO: Zwei?
ALPPI: Eine.
TINO: Eine für mich und eine. . .
ALPPI: Eine! Still jetzt! Pause. Wo war ich stehengeblieben? Pause. Trübsinnig. Es ist aus. Mit uns ist es aus. Pause. Bald aus. Pause. Es wird keine Geschichte mehr geben. Pause. Es tropft, es tropft in meinem Kopf. Unterdrückte Heiterkeit Tinos. Es klatscht immer auf dieselbe Stelle. Pause. Es ist vielleicht ein Äderchen. Pause. Ein Schlagäderchen. Pause. Lebhafter: Also los, es ist an der Zeit, wo war ich stehengeblieben? Pause. Erzählerton: Der Mann näherte sich langsam auf dem Bauch kriechend. Er war wunderbar blass und mager und schien drauf und dran zu sein... Pause. Normaler Ton: Nein, das hatte ich schon. Pause. Erzählerton: Es breitete sich eine große Stille aus. Normaler Ton: Schöne Stelle. Erzählerton: Ich stopfte in aller Ruhe meine Pfeife... die aus Meerschaum, steckte sie mit einem . . . sagen wir Streichholz an und machte einige Züge. Aah! Pause. An jenem Tage, daran erinnere ich mich, herrschte eine außergewöhnlich bittere Kälte, Null auf dem Thermometer. Aber an einem Heiligen Abend wie damals, war das nichts... nichts Außergewöhnliches. Ein der Jahreszeit entsprechendes Wetter, wie es zuweilen vorkommt. Pause. Na, welcher schlimme Wind führt Sie hierher? Los, reden Sie. Pause. Er hob sein von Schmutz und Tränen schwarzverklebtes Gesicht zu mir auf. Pause. Normaler Ton: So wird's gehen. Erzählerton: Nein, nein, schauen Sie mich nicht an, schauen Sie mich nicht an! Er schlug die Augen nieder, indem er murmelte, wahrscheinlich Entschuldigungen. Pause. Ich bin ziemlich beschäftigt, Sie wissen doch, was das heißt, die Vorbereitungen zum Fest. Pause. Laut: Was ist das für eine Aufdringlichkeit? Pause. An jenem Tage, nun fällt es mir wieder ein, schien eine ganz herrliche Sonne, fünfzig auf dem Heliometer, aber sie versank schon im... bei den Toten. Normaler Ton: Schöne Stelle. Erzählerton: Nur zu, nur zu, tragen Sie Ihr Anliegen vor, ich habe noch unheimlich viel zu tun. Normaler Ton: Ja, das ist gutes Deutsch! Na ja. Erzählerton: In dem Moment fasste er seinen Entschluss. Es ist mein Kind, sagte er. Oh je, oh je, ein Kind, das ist aber ärgerlich. Mein Kleiner, sagte er, als ob das Geschlecht wichtig wäre. Wo kam er her? Er nannte mir das Nest. Gut einen halben Tag entfernt, zu Ross. Erzählen Sie bloß nicht, dass es da unten noch eine Bevölkerung gibt. Das fehlte noch! Nein, nein, niemand, außer ihm und dem Kind, wenn es überhaupt existierte. Gut, gut. Ich erkundigte mich nach der Lage in Hirvensalo, jenseits der Bucht. Kein Schwanz! Gut, gut. und Sie wollen mir weismachen, dass Sie ihr Kind dort gelassen hätten, ganz allein und sogar lebend? Hören Sie doch auf. Pause. An jenem Tage, daran erinnere ich mich, wütete ein peitschender Wind, hundert auf dem Anemometer. Er riss die Birken aus und wehte sie in den See. Normaler Ton: Schwache Stelle. Erzählerton: Los, los, was wollen Sie eigentlich, ich muss meinen Tannenbaum schmücken. Pause Kurzum, schließlich begriff ich, dass er Brot wollte, für sein Kind. Brot! Ein Bettler, wie gewöhnlich. Brot? Ich habe kein Brot, ich verdaue es nicht. Gut. Also Hirse! Pause. Normaler Ton: So wird's gehen. Erzählerton: Hirse habe ich, das stimmt. Aber überlegen Sie doch, überlegen Sie. Ich gebe Ihnen Hirse, ein Kilo, anderthalb Kilo, Sie bringen es Ihrem Kind und Sie bereiten ihm daraus - wenn es noch lebt - einen vollen Napf Brei. Tino reagiert. Anderthalb Näpfe nahrhaften Breis. Gut. Es bekommt wieder Farbe - vielleicht. Und dann? Pause. Ich ärgerte mich. Aber überlegen Sie doch, überlegen Sie, Sie sind auf der Erde, dagegen gibt es kein Mittel! Pause. An jenem Tage, nun fällt es mir wieder ein, war äußerst trockenes Wetter, Null auf dem Hygrometer. Ideal für meinen Rheumatismus. Pause. Aufbrausend: Was erhoffen Sie sich eigentlich? Dass die Erde im Frühling wieder erwacht? Dass Meer und Flüsse wieder fischreich werden? Dass es noch Manna im Himmel gebe, für Idioten wie Sie? Pause. Nach und nach beruhigte ich mich, jedenfalls genug, um ihn zu fragen, wie viel Zeit er zum Kommen gebraucht hätte. Drei volle Tage. In welchem Zustand er sein Kind hinterlassen hätte. In Schlaf versunken. Heftig: Aber in welchen Schlaf schon, in welchen Schlaf? Pause. Kurzum, schließlich schlug ich ihm vor, in meine Dienste zu treten. Er hatte mich gerührt. Und ich bildete mir auch schon ein, nicht mehr lange mitzumachen. Er lacht. Pause. Na? Pause. Na? Pause. Hier könnten Sie bei einigem Geschick eines schönen Todes sterben, mit den Füßen auf dem Trockenen. Pause. Na? Pause. Er fragte mich schließlich, ob ich bereit wäre, auch das Kind aufzunehmen, wenn es noch lebte. Pause. Das war der Augenblick, auf den ich gewartet hatte. Pause. Ob ich bereit wäre, das Kind aufzunehmen. Pause. Ich sehe ihn wieder, auf den Knien, die Hände auf den Boden gestützt, mich mit seinem irren Blick anstarren, trotz allem, was ich ihm diesbezüglich ausdrücklich zu verstehen gegeben hatte. Pause. Normaler Ton: Genug für heute. Pause. Sie reicht nicht mehr lange, diese Geschichte. Pause. Es sei denn, ich führte andere Personen ein. Pause. Wo soll ich sie aber finden? Pause. Woher soll ich sie nehmen? Pause. Er pfeift. Soile kommt herein. Lasst uns zu Gott beten!
TINO: Meine Praline!
SOILE: Es ist eine Ratte in der Küche.
ALPPI: Eine Ratte! Gibt es noch Ratten?
SOILE: In der Küche ist eine.
ALPPI: Und du hast sie nicht getötet?
SOILE: Halb. Du hast uns gestört.
ALPPI: Sie kann sich nicht retten?
SOILE: Nein.
ALPPI: Du wirst sie nachher erledigen. Lasst uns zu Gott beten.
SOILE: Schon wieder?
TINO: Meine Praline!
ALPPI: Erst zu Gott beten! Pause. Seid ihr soweit?
SOILE resigniert: Meinetwegen.
ALPPI zu Tino: Und du?
TINO die Hände faltend und die Augen schließend, sehr schnell sprechend: Vater unser, der Du bist im . . .
ALPPI: Still! Still, jeder für sich! Etwas Haltung! Also los. Gebetshaltungen. Stille. Alppi ist der erste Entmutigte. Na?
SOILE die Augen wieder öffnend: Kein Gedanke! Und du?
ALPPI: Kein Funke! Zu Tino: Und du?
TINO: Moment! Pause. Die Augen wieder öffnend: Keine Spur.
ALPPI: Der Lump! Er existiert nicht!
SOILE: Nicht mehr.
TINO: Meine Praline!
ALPPI: Es gibt keine Pralinen mehr. Du wirst nie wieder eine Praline bekommen.
Pause
TINO rasch und ohne Pause: Ist ja normal. Ich bin schließlich dein Vater. Wäre ich es nicht, so wäre es freilich ein anderer gewesen. Aber das ist keine Entschuldigung. Den türkischen Honig zum Beispiel, den es, wie wir wissen, nicht mehr gibt, mag ich lieber als alles auf der Welt. Und eines Tages werde ich dich darum bitten, als Gegenleistung für eine Gefälligkeit, und du wirst ihn mir versprechen. Was alles du mir nicht versprochen hast! Wen riefst du, als du noch klein warst und Angst hattest, in der Nacht? Deine Mutter? Nein. Mich. Wir ließen dich schreien. Dann stellten wir dich weit weg, um schlafen zu können. Ich schlief soeben, ich fühlte mich wie ein Prinz, und du hast mich wecken lassen, damit ich dir zuhörte. Es war nicht unumgänglich, du hattest nicht unbedingt nötig, dass ich dir zuhörte. Übrigens habe ich dir nicht zugehört. Ich hoffe, dass der Tag kommt, an dem du unbedingt nötig haben wirst, dass ich dir zuhöre, und nötig haben wirst, meine Stimme zu hören, irgendeine Stimme. Ja, ich hoffe, so lange zu leben, dass ich dich mich rufen höre, wie einst, als du noch klein warst und Angst hattest, in der Nacht, und als ich deine einzige Hoffnung war. Tino klopft an den Deckel von Marias Mülleimer. Pause. Maria! Pause. Er klopft heftiger. Maria! Pause. Tino zieht sich in seinen Mülleimer zurück und klappt den Deckel zu.
Pause
SOILE geht zur Tür.
ALPPI gereizt: Was ist denn mit deinen Füßen los?
SOILE: Mit meinen Füßen?
ALPPI: Es hört sich an wie ein Dragonerregiment.
SOILE: Ich habe meine Schnürstiefel anziehen müssen.
ALPPI: Das heißt, du gehst jetzt?
Pause
SOILE: Ich verlasse dich.
ALPPI: Nein.
SOILE: Wozu diene ich denn?
ALPPI: Mir die Replik zu geben. Pause. Ich bin mit meiner Geschichte vorangekommen. Pause. Ich bin gut vorangekommen. Pause. Frag mich, wie weit ich damit bin.
SOILE: Oh, ehe ich's vergesse, deine Geschichte?
ALPPI sehr überrascht: Welche Geschichte?
SOILE: Die du dir seit jeher erzählst.
ALPPI: Ah, du meinst meinen Roman?
SOILE: Eben. Du bist gut vorangekommen, hoffe ich.
ALPPI bescheiden: Oh, nicht viel, nicht viel. Alles muss ja in meinem Kopf ablaufen. Er seufzt. Es gibt solche Tage, an denen man nicht in Form ist. Pause. Man muss warten, bis es kommt. Pause. Nur nichts zwingen, nur nichts zwingen, das ist verhängnisvoll. Pause. Ich bin nichtsdestoweniger ein wenig vorangekommen. Pause. Nachdrücklich: Ich sagte, dass ich nichtsdestoweniger ein wenig vorangekommen bin.
SOILE bewundernd: Na so was! Du bist trotz allem ein wenig vorangekommen!
ALPPI bescheiden: Oh, weißt du, nicht viel, nicht viel, aber immerhin . . . besser als nichts.
SOILE: Besser als nichts! Jetzt muss ich mich aber wundern.
ALPPI: Ich werde es dir erzählen. Er kommt auf dem Bauch kriechend.
SOILE: Wer?
ALPPI: Was?
SOILE: Wer, er?
ALPPI: Tu doch nicht so dumm! Noch einer.
SOILE: Ach so, der! Ich war nicht sicher!
ALPPI: Bohr nur weiter, Menschenskind, bohr nur weiter! - Auf dem Bauch kriechend, um Brot für seinen Kleinen zu betteln. Man bietet ihm eine Gärtnerstelle an. Ehe er . . . Soile lacht. Was gibt es denn da zu lachen?
SOILE: Eine Gärtnerstelle!
ALPPI: Darüber musst du so lachen?
SOILE: Das muss es wohl sein.
ALPPI: Wäre es nicht eher das Brot?
SOILE: Oder der Kleine?
Pause
ALPPI: Das ist alles witzig, in der Tat. Sollen wir uns totlachen?
SOILE nachdem sie überlegt hat: Ich könnte mich heute nicht mehr totlachen.
ALPPI nachdem er überlegt hat: Ich auch nicht. Pause. Ich erzähle also weiter. Ehe er die Stelle dankbar annimmt, fragt er, ob er seinen Kleinen bei sich behalten dürfe.
SOILE: Wie alt?
ALPPI: Oh, ganz klein.
SOILE: Er wäre auf die Bäume geklettert.
ALPPI: Alle die kleinen Arbeiten.
SOILE: Und dann wäre er gewachsen.
ALPPI: Vermutlich. Pause. Das ist alles. Ich habe da aufgehört.
Pause
SOILE: Weißt du schon, wie es weitergeht?
ALPPI: Ungefähr.
SOILE: Ist es nicht bald zu Ende?
ALPPI: Ich fürchte ja.
SOILE: Och, dann machst du eben eine andere.
ALPPI: Ich weiß nicht. Pause. Ich fühle mich etwas erschöpft. Pause. Die andauernde schöpferische Anstrengung. Pause. Wenn ich mich bis ans Meer schleppen könnte! Ich würde mir ein Kopfkissen aus Sand machen, und die Flut würde kommen.
SOILE: Es gibt keine Flut mehr.
Pause
ALPPI: Schau nach, ob sie tot ist.
SOILE geht zu Marias Mülleimer, hebt den Deckel an und bückt sich. Pause. Es hat den Anschein. Sie richtet sich wieder auf und klappt den Deckel zu.
ALPPI hebt seine Kappe an. Pause. Er setzt sie wieder auf. Ohne seine Kappe loszulassen: Und Tino?
SOILE hebt den Deckel von Tinos Mülleimer an und bückt sich. Pause. Es hat nicht den Anschein. Sie richtet sich wieder auf und klappt den Deckel zu.
ALPPI seine Kappe loslassend: Was macht er?
SOILE hebt den Deckel von Tinos Mülleimer an und bückt sich. Pause. Er weint. Sie richtet sich auf und klappt den Deckel zu.
ALPPI: Also lebt er. Pause. Hast du jemals einen glücklichen Moment gehabt?
SOILE: Nicht dass ich wüsste.
Pause
ALPPI: Fahr mich unters Fenster. Soile geht zum Sessel. Ich will das Licht auf meinem Gesicht spüren. Soile schiebt den Sessel. Weißt du noch, am Anfang, wenn du mich spazieren gefahren hast, wie dumm du dich dabei angestellt hast? Du hast zu weit oben angefasst. Bei jedem Schritt hast du mich beinahe umgekippt! Mit zitternder Stimme: Hehe! Wir haben viel Spaß gehabt, wir zwei, viel Spaß! Trübsinnig: Dann haben wir uns daran gewöhnt. Soile hält den Sessel gegenüber dem rechten Fenster an. Schon da? Pause. Er wirft den Kopf in den Nacken. Pause. Ist es Tag?
SOILE: Es ist nicht Nacht.
ALPPI wütend: Ich frage dich, ob es Tag ist?
SOILE: Ja.
Pause
ALPPI: Der Vorhang ist nicht zugezogen?
SOILE: Nein.
Pause
ALPPI: Welches Fenster ist es?
SOILE: Das Land.
ALPPI: Das wusste ich! Wütend: Von da kommt doch kein Licht! Das andere! Soile schiebt den Sessel unter das andere Fenster. Die See! Soile hält den Sessel unter dem anderen Fenster an. Alppi legt seinen Kopf in den Nacken. Das nenne ich Licht! Pause. Man möchte meinen, ein Sonnenstrahl. Pause. Nein?
SOILE: Nein.
ALPPI: Ist das, was ich auf meinem Gesicht spüre, kein Sonnenstrahl?
SOILE: Nein.
Pause
ALPPI: Bin ich sehr weiß? Pause. Heftig. Ich frage dich, ob ich sehr weiß bin!
SOILE: Nicht mehr als gewöhnlich.
Pause
ALPPI: Öffne das Fenster.
SOILE: Wozu?
ALPPI: Ich will das Meer hören.
SOILE: Du würdest es nicht hören.
ALPPI: Selbst nicht, wenn du das Fenster öffnest?
SOILE: Nein.
ALPPI: Es lohnt sich also nicht, es zu öffnen?
SOILE: Nein.
ALPPI heftig: Also öffne es! Soile steigt auf die Leiter und öffnet das Fenster. Pause. Hast du es geöffnet?
SOILE: Ja.
Pause
ALPPI: Du schwörst mir, dass du es geöffnet hast?
SOILE: Ja.
ALPPI: So, so ... Pause. Es muss sehr ruhig sein. Pause. Heftig: Ich frage dich, ob es sehr ruhig ist!
SOILE: Ja.
ALPPI: Es gibt eben keine Schiffe mehr. Pause. Du bist plötzlich so mundfaul geworden. Pause. Ist dir nicht gut?
SOILE: Mir ist kalt.
ALPPI: Welchen Monat haben wir? Pause. Schließ das Fenster. Wir kehren wieder zurück. Soile schließt das Fenster, steigt von der Leiter,
schiebt den Sessel wieder an seinen Platz, bleibt hinterm Sessel stehen. Alppi lässt den Kopf hängen. Bleib nicht da stehen, du machst mir Angst. Soile kehrt an ihren Platz neben dem Sessel zurück. Tino! Pause. Lauter: Tino! Pause. Schau nach, ob er es gehört hat.
SOILE geht zu Tinos Mülleimer, hebt den Deckel an und bückt sich darüber. Unverständliche Worte. Sie richtet sich wieder auf. Ja.
ALPPI: Beide Male?
SOILE bückt sich. Unverständliche Worte. Sie richtet sich wieder auf. Nur einmal.
ALPPI: Das erste oder das zweite Mal?
SOILE bückt sich. Unverständliche Worte. Sie richtet sich wieder auf. Er weiß es nicht.
ALPPI: Es wird wohl das zweite Mal gewesen sein.
SOILE: Man kann es nicht wissen.
SOILE klappt den Deckel zu.
ALPPI: Weint er noch immer?
SOILE: Nein.
ALPPI: Die glücklichen Toten! Pause. Was macht er?
SOILE: Er lutscht seinen Zwieback.
ALPPI: Das Leben geht weiter. Soile kehrt an ihren Platz neben dem Sessel zurück. Gib mir das Plaid, mich friert.
SOILE: Das Plaid habe ich Frau Nieminen gegeben.
Pause
ALPPI: Küss mich. Pause. Du willst mich nicht küssen?
SOILE: Nein.
ALPPI: Auf die Stirn.
SOILE: Ich will dich nirgendwohin küssen.
Pause
ALPPI seine Hand reichend: Gib mir wenigstens die Hand. Pause. Du willst mir nicht die Hand geben?
SOILE: Ich will dich nicht berühren.
Pause
ALPPI: Gib mir die Katze. Soile sucht die Katze. Nein, nicht der Mühe wert.
SOILE: Du willst deine Katze nicht?
ALPPI: Nein.
SOILE: Also, ich gehe jetzt.
ALPPI lässt den Kopf hängen, zerstreut: Ja, ja.
SOILE: Wenn ich diese Ratte nicht töte, wird sie sterben.
ALPPI zerstreut: Ja, ja. Pause.
SOILE geht in die rechte Bildhälfte. Sie beginnt, die auf dem Boden liegenden Zeitungen zu ordnen.
RAINER: Nicht doch, die brauchen wir noch. Pause. Nicht zum Lesen. Pause. Nicht nur zum Lesen. Er legt die gelesene Zeitung zu unterst und versucht, in dem schlechten Licht die Überschriften der obersten zwei Exemplare zu entziffern, entscheidet sich für die zweite und legt sie für später zur Seite. Für sich: Das ist die vom Wahlsieg dieses Trampels. Schöner Meilenstein unterwegs zum Knall. Narzisst. Nationalist. Chauvinist. Pause. Durch die Nationalisten ist es zum Knall gekommen. Ja, durch die Chauvinisten. Spöttisch: Aufräumen. Ordnung machen. Nachdenklich: Solange sie noch nicht an der Macht waren, haben sie einander unterstützt. Sind miteinander aufgetreten. Gemeinsam marschiert. Sogar Trump und Putin haben miteinander kokettiert. Zuerst. Doch einmal an der Macht vertragen Nationalisten einander nicht lang. Erst kommen Nadelstiche. Dann Missverständnisse. Dann Beleidigungen. Dann fliegen die Fetzen. Und dann Bomben. Drohnen. Raketen. Hätte man an der Entstehung der Großen Kriege studieren können. Hätte, hätte, Fahrradkette. Pause. Wieso der Knall letztlich kam, wissen wir nicht. Vielleicht waren nicht die Chauvinisten schuld. Sondern die Menschenfluchtphilosophen. Nach dem ‘Untier’. Der Menschenfluchtbibel. Horstmann. Er geht zum Regal und nimmt einen schmalen Band. Ja, da ist es ja. Pause. Das Untier. Er öffnet das Taschenbuch und hält es mit ausgestreckten Armen vor sich. Ich bin wieder dran. Es geht voran. Pause. Man lacht und lacht, wegen nichts, nur um nicht zu weinen, und nach und nach... wird man doch traurig. Er klappt das Taschentuch zusammen, steckt es wieder in seine Tasche und hebt den Kopf ein wenig. Alle, denen ich hätte helfen können. Pause. Alle, denen ich hätte helfen müssen! Pause. Helfen! Pause. Die ich hätte retten können. Pause. Retten! Pause. Auf ihren Bäuchen krochen sie aus allen Ecken. Pause. Heftig. Überlegt euch doch, überlegt euch! Ihr seid auf der Erde, dagegen gibt es kein Mittel! Pause. Ruhiger. Wenn es kein Brot war, das sie verlangten, waren es Pralinen. Pause. Heftig. Haut ab, zurück zu euren Orgien! Liebt euch und leckt einander! Pause. Leise. Das alles, das alles! Pause.
ALPPI: Das Ende ist im Anfang, und doch macht man weiter. Pause. Ich könnte vielleicht an meiner Geschichte weitermachen, sie beenden und eine andere anfangen. Pause. Ich könnte mich vielleicht auf den Boden werfen. Er richtet sich mühsam auf und lässt sich wieder zurückfallen. Meine Fingernägel in die Ritzen haken und mich mit Brachialgewalt voran ziehen. Pause. Es wird das Ende sein, und ich werde mich fragen, durch was es wohl herbeigeführt wurde, und ich, werde mich fragen, durch was es wohl ... Er zögert.... warum es so spät kommt. Warum so spät! Pause. Ich werde da sein, in dem alten Unterschlupf, allein gegen die Stille und ... Er zögert....die Starre. Wenn ich schweigen kann und ruhig bleiben, wird es aus sein mit jedem Laut und jeder Regung. Pause. Ich werde meinen Vater gerufen haben, und ich werde meine... meine Frau gerufen haben. Sogar zweimal, dreimal, falls sie nicht gehört hätten, beim ersten oder zweiten Mal. Pause. Ich werde mir sagen: Sie wird wiederkommen. Pause. Und dann? Pause. Und dann? Pause. Sie konnte nicht, sie ist zu weit weggegangen. Eine Katze, die zu weit weggegangen ist. Pause. Und dann? Pause. Sehr erregt. Alle möglichen Phantasien! Einer, der auf mich lauert! Eine Ratte! Schritte! Augen! Ein fremder heißer Atem und dann . . . Er atmet aus. Dann sprechen, schnell, Wörter, wie das einsame Kind, das sich in mehrere spaltet, in zwei, drei, um beieinander zu sein, und miteinander zu flüstern, in der Nacht. Pause. Ein Augenblick kommt zum anderen, Bluff, Bluff, wie die Hirsekörnchen des... er denkt nach . . . jenes alten Griechen, und das ganze Leben wartet man darauf, dass ein Leben daraus wird. Pause. Ah, so weit sein, so weit sein! Er pfeift. Soile kommtmit dem Wecker in der Hand in die linke Bildhälfte. Sieh mal an! Weder fern noch tot?
SOILE: Nur im Geiste.
ALPPI: Was denn?
SOILE: Beides.
ALPPI: Fern wärst du tot.
SOILE: Und umgekehrt.
ALPPI stolz: Fern von mir ist der Tod. Pause. Und die Ratte?
SOILE: Hat sich gerettet.
ALPPI: Sie wird nicht weit kommen. Pause. Ängstlich. Nicht wahr?
SOILE: Sie braucht nicht weit zu kommen.
Pause
ALPPI: Muss ich nicht jetzt meine Tablette nehmen?
SOILE: Ja.
ALPPI: Ah! Endlich! Her damit!
SOILE: Es gibt keine Tabletten mehr.
ALPPI entsetzt: Mein . . .! Pause. Keine Tabletten mehr!
SOILE: Keine Tabletten mehr. Du wirst nie wieder eine Tablette bekommen.
ALPPI: Aber die kleine runde Schachtel. Sie war doch voll!
SOILE: Ja. Aber jetzt ist sie leer.
Pause. Soile beginnt im Zimmer herumzugehen. Sie sucht einen Platz, um den Wecker hinzustellen.
ALPPI leise: Was soll ich nur machen? Pause. Brüllend: Was soll ich machen? Soile nimmt das Poster vom Haken und lässt es unordentlich zu Boden fallen. Sie hängt den Wecker an den Haken. Was machst du? Pause. Schau dir das Land an.
SOILE: Schon wieder? Hast du wieder Heimweh? Pause. Möchtest du etwas Lakritze? Pause. Nein? Pause. Schade. Sie geht vor sich hin summend zum rechten Fenster, bleibt davor stehen und betrachtet es mit dem Kopf im Nacken.
ALPPI: Nicht singen!
SOILE sich Alppi zuwendend: Darf man nicht mehr singen?
ALPPI: Nein.
SOILE: Wie soll das denn enden?
ALPPI: Möchtest du, dass es endet?
SOILE: Ich möchte singen.
ALPPI: Ich könnte dich nicht daran hindern.
Pause.
SOILE wendet sich dem Fenster zu. Was habe ich nur mit der Leiter gemacht? Sie schaut sich nach der Leiter um. Hast du die Leiter nicht gesehen? Sie sucht und erblickt sie. Aha, immerhin! Sie geht zum linken Fenster. Manchmal frage ich mich, wo ich meinen Kopf habe. Dann geht es vorüber, und ich werde wieder klar. Sie steigt auf die Leiter und schaut durchs Fenster. Schweinerei! Alles überschwemmt! Sie schaut. Wie ist das nur möglich? Sie streckt den Kopf vor und schirmt die Augen mit der Hand ab. Ach ja, es hat ja geregnet. Sie wischt die Scheibe und schaut. Pause. Sie schlägt sich an die Stirn. Ich Dummkopf! Ich bin ja auf der Seeseite! Sie steigt von der Leiter und geht ein paar Schritte auf das rechte Fenster zu. Überschwemmt - Unsinn! Sie geht wieder zurück, um die Leiter zu holen. Ich Dummkopf! Sie zieht die Leiter hinter sich her ans rechte Fenster. Sie geht zum Regal, nimmt eine der zwei verbliebenen Fruchtsaftpackungen, gießt sich ein Glas ein und trinkt. Wenigstens braucht man hier keinen Kühlschrank. Sie fröstelt.
RAINER entzündet den verbliebenen Kerzenstummel.
SOILE: Bist du verrückt geworden? Wir werden nie wieder irgendein Licht haben!
RAINER: Wenn der Stummel da finster bleibt, werden wir auch kein Licht mehr haben. Kurze Pause. Ich wollte uns noch einmal was vorlesen…
SOILE bemerkt das Taschenbuch: Nicht schon wieder diesen Horstmann! Das halt ich nicht aus!
RAINER zitiert aus dem Taschenbuch: "Die Apokalypse steht ins Haus. Wir Untiere wissen es längst, und wir wissen es alle. Hinter dem Parteiengezänk, den Auf- und Abrüstungsdebatten, den Militärparaden und Anti-Kriegsmärschen, hinter der Fassade des Friedenswillens und der endlosen Waffenstillstände gibt es eine heimliche Übereinkunft, ein unausgesprochenes großes Einverständnis: dass wir ein Ende machen müssen mit uns und unseresgleichen, so bald und so gründlich wie möglich - ohne Pardon, ohne Skrupel und ohne Überlebende."
SOILE: Manchmal frage ich mich, wo ich meinen Verstand habe. Dann geht es vorüber, und ich werde wieder vernünftig. Sie stellt die Leiter unterm rechten Fenster hin, steigt hinauf und schaut durchs Fenster. Laut, hinüber zu Alppi: Gibt es Sektoren, die dich besonders interessieren? Pause. Oder einfach alles?
ALPPI schwächlich: Alles.
SOILE: Der allgemeine Eindruck. Pause. Sie wendet sich wieder dem Fenster zu. Moment! Sie schaut.
ALPPI: Soile!
SOILE vertieft: Hmm.
ALPPI: Weißt du was?
SOILE vertieft: Hmm.
ALPPI: Ich bin nie dagewesen. Pause. Soile!
SOILE sich Alppi zuwendend, aufgebracht: Was ist das denn?
ALPPI: Ich bin nie dagewesen.
SOILE: Du hast Schwein gehabt. Sie wendet sich wieder dem Fenster zu.
ALPPI: Abwesend, immer. Alles ist ohne mich vorgegangen. Ich weiß nicht, was geschehen ist. Pause Weißt du, was geschehen ist? Pause. Soile!
SOILE sich Alppi zuwendend, aufgebracht: Soll ich diesen Dreck anschauen, ja oder nein?
ALPPI: Erst antworten!
SOILE: Was?
ALPPI: Weißt du, was geschehen ist?
SOILE: Wo? Wann?
ALPPI heftig: Wann! Was geschehen ist! Verstehst du nicht? Was ist geschehen?
SOILE: Das ist doch ganz wurscht! Sie wendet sich wieder dem Fenster zu.
ALPPI: Ich weiß es nicht.
Pause
RAINER weiter zitierend: "Was sonst trüge das, was das Untier 'Weltgeschichte' nennt, wenn nicht die Hoffnung auf die Katastrophe, den Untergang, das Auslöschen der Spuren. Wer könnte eine sich Jahrtausend und Jahrtausend fortsetzende Litanei des Hauens, Stechens, Spießens, Hackens, die Monotonie des Schlachtens und Schädelspaltens, das Om mani padmehum der Gräuel ertragen, ja seinerseits nach Kräften befördern, der nicht zugleich in der Heimlichkeit seiner Vernunft gewiss wäre, dass diese rastlosen Übungen ihn und seine Gattung Gemetzel um Gemetzel, Schlacht um Schlacht, Feldzug um Feldzug, Weltkrieg um Weltkrieg unaufhaltsam jenem letzten Massaker, jenem globalen Harmageddon näherbringen, mit dem das Untier seinen Schlussstrich setzt unter die atemlose Aufrechnung sich fort- und fortzeugenden Leids."
"Nicht ein Jahrzehnt des Ausruhens, der Rast und des völligen Friedens hat sich das Untier in der von der Geschichtsschreibung erschlossenen Zeitspanne seit der Antike gegönnt, sondern waffenklirrend Schritt vor Schritt gesetzt, Hieb um Hieb geführt, als Lohn für die selbstlos dem militärischen Fortschritt dienenden Legionen Grab um Grab geschaufelt."
SOILE zu Alppi, hart: Als Frau Nieminen dich um ÖI bat für ihre Lampe, und du sie zum Teufel schicktest, da wusstest du doch, was geschah, nicht? Pause. Weißt du, woran sie gestorben ist, Frau Nieminen? Pause. An der Dunkelheit.
ALPPI schwächlich: Ich hatte kein Öl.
SOILE hart: Doch, hattest du!
Pause
ALPPI: Hast du das Fernglas?
SOILE: Nein. Es ist so nahe genug.
ALPPI: Hol es.
RAINER
weiter zitiernd:
"Vielleicht ist der Vernichtungs- und Selbstzerstörungswille des Menschen überhaupt nur die höchste und erstmals zum Bewusstsein seiner selbst gelangte Manifestation eines Urimpulses und Protoinstinkts, der allem Lebendigen innewohnt und es in seinen Untergang treibt."
"Vielleicht war die gesamte Evolution nichts anderes als ein gigantischer Umweg, den das Plasma nahm, um sich nach dem Sündenfall der Urzeugung und seiner Vertreibung aus dem Anorganischen seiner neuerworbenen potentiellen Unsterblichkeit zu berauben und nach Äonen des Wucherns erneut ins Nirwana des Staubes und der Gase einzugehen."
"Und vielleicht ist das Untier mit all seinem Erfindungsreichtum, seinem Selbstbewusstsein und seiner Philosophie nicht die Krone der Schöpfung, sondern bloß ihr Strick, die ingeniöse Methode, auf die vor Milliarden von Jahren der erste Einzeller verfiel, um nach ebenso vielen Zellteilungen und Teilungen von Teilungen, die sein Leben multiplizierten, doch noch Selbstmord zu begehen."
SOILE verdreht die Augen, reißt die Arme in die Luft, mit geballten Fäusten. Sie verliert das Gleichgewicht und klammert sich an die Leiter. Sie steigt zwei Stufen hinab und bleibt stehen. Es gibt etwas, das ich nicht begreifen kann. Pause. Sie steigt hinab auf den Boden und bleibt stehen. Zu Alppi: Warum gehorche ich dir immer? Kannst du mir das erklären?
ALPPI: Nein... Es ist vielleicht Mitleid. Pause. Eine Art großes Mitleid. Pause. Oh, du wirst es schwer haben, du wirst schwer haben.
Pause
SOILE beginnt im Zimmer herumzugehen. Sie sucht das Fernglas. Ich habe unsere Geschichten satt, sehr satt. Sie sucht. Sitzt du nicht darauf? Sie verschiebt den Sessel, schaut auf dem Platz nach, wo er gestanden war, und sucht weiter.
ALPPI ängstlich: Lass mich nicht hier stehen! Soile schiebt den Sessel zornig wieder an seinen Platz und sucht weiter. Schwächlich: Bin ich genau in der Mitte?
SOILE: Man müsste ein Mikroskop haben, um dieses... Sie erblickt das Fernglas. Ah! Immerhin. Sie hebt das Fernglas auf, geht zur Leiter, steigt hinauf und richtet das Fernglas nach draußen.
ALPPI: Gib mir die Katze.
SOILE
schauend: Sei still.
ALPPI lauter: Gib mir die Katze!
SOILE lässt das Fernglas fallen und nimmt den Kopf in beide Hände. Pause. Sie steigt schnell von der Leiter, sucht die Katze, findet sie, hebt sie auf, stürzt sich auf Alppi und versetzt ihm mit der Katze zwei heftige Schläge auf den Kopf.
SOILE: Da hast du deine Katze! Die Katze fällt zu Boden. Pause.
ALPPI: Du hast mich geschlagen!
SOILE: Du machst mich wütend, ich bin wütend!
ALPPI: Wenn du mich schon schlagen musst, so schlag mich mit dem Wecker. Pause. Oder mit dem Haken, ja, schlag mich mit dem Haken. Nicht mit der Katze. Mit dem Haken. Oder mit dem Wecker.
SOILE hebt die Katze auf und gibt sie Alppi, der sie in seine Arme nimmt. Flehend: Lass uns aufhören zu spielen!
ALPPI: Nie! Pause. Leg mich in meinen Sarg.
SOILE: Es gibt keine Särge mehr.
ALPPI: Also Schluss damit! Es soll enden! Soile geht zur Leiter. Heftig: Und zwar ruckzuck! Soile steigt auf die Leiter, hält an, steigt hinab, sucht das Fernglas, hebt es auf, steigt wieder auf die Leiter, setzt das Fernglas an. An der Dunkelheit! Geschlagen. Hat man mich je bemitleidet, mich?
SOILE das Fernglas absetzend und sich Alppi zuwendend: Was? Pause. Geht das gegen mich?
ALPPI zornig: Ein Beiseite, Soile! Ist es das erste Mal, dass du ein Beiseite hörst? Pause. Ich rüste mich zum letzten Monolog.
SOILE: Lass dir gesagt sein, dass ich diesen Dreck anschaue, weil du es befiehlst. Aber es ist bestimmt das letzte Mal. Sie setzt das Fernglas an. Schauen wir . . . Sie schwenkt das Fernglas hin und her. Nichts...nichts... gut... sehr gut... nichts... ausge - Sie zuckt zusammen, lässt das Fernglas sinken, prüft es und setzt es wieder an. Pause. Oh je, oh je, oh je, oh je!
ALPPI: Schon wieder Komplikationen? Soile steigt von der Leiter. Wenn es nur nicht wieder losgeht!
SOILE erschrocken: Sieht aus wie ein Bub.
ALPPI sarkastisch: Ein Bub!
SOILE: Ich werde hingehen. Ich nehme den Haken. Sie sucht den Bootshaken, findet ihn, hebt ihn auf und geht zur Tür.
ALPPI: Nicht der Mühe wert.
SOILE bleibt stehen. Nicht der Mühe wert? Ein potentieller Erzeuger?
ALPPI: Wenn er existiert, kommt er hierher oder er stirbt dort. Und wenn er nicht existiert... Nicht der Mühe wert.
Pause
SOILE: Du glaubst mir nicht? Du glaubst, ich lüge.
Pause
ALPPI: Es ist zu Ende, Soile, wir sind am Ende. Ich brauche dich nicht mehr.
Pause
SOILE: Das trifft sich gut. Sie geht zur Tür.
ALPPI: Lass mir den Haken.
SOILE gibt ihm den Bootshaken und schaut nach dem Wecker. Ich verlasse dich.
Pause
ALPPI: Sag noch was, vorm Weggehen.
SOILE: Es ist nichts zu sagen.
ALPPI: Ein paar Worte . . . über die ich nachdenken könnte... in meinem Herzen.
SOILE: Deinem Herzen!
ALPPI: Irgendetwas... aus deinem Herzen.
SOILE: Meinem Herzen!
ALPPI: Ein paar Worte... aus deinem Herzen.
SOILE mit starrem Blick und tonloser Stimme: Man sagte mir: Ja, das ist Liebe. Doch, doch, glaub es nur, du wirst schon sehen, wie leicht es ist. Man sagte mir: Ja, das ist Freundschaft. Doch, doch, ganz bestimmt, du brauchst nicht weiter zu suchen. Man sagte mir: Hier, bleib stehen, Kopf hoch, schau dir diese Herrlichkeit an. Diese Ordnung! Man sagte mir: Nur zu, du bist doch kein Tier, bedenke diese Dinge und du wirst schon sehen, wie klar alles wird. Wie einfach! Man sagte mir: Sieh doch, mit welcher Kunst sie gepflegt werden, all diese tödlich Verletzten. Pause. Ich sage mir . . . manchmal, Soile, du musst noch besser leiden lernen, wenn du willst, dass man es satt kriegt, dich zu strafen . . . eines Tages. Ich sage mir . . . manchmal, Soile, du musst noch besser da sein, wenn du willst, dass man dich gehen lässt . . . eines Tages. Aber ich fühle mich zu alt und zu weit weg, um neue Gewohnheiten annehmen zu können. Gut, es wird also nie enden, ich werde also nie gehen. Pause. Dann, eines Tages, plötzlich, endet es, ändert es sich, ich verstehe es nicht, stirbt es . . . Ich denke Wörter, die übrigbleiben - Schlafen, Wachen, Abend, Morgen. Sie sagen nichts. Pause. Ich öffne die Tür der Zelle und gehe. Ich gehe so gebeugt, dass ich nur meine Füße sehe, wenn ich die Augen öffne, und zwischen meinen Beinen ein wenig schwärzlichen Staub. Ich sage mir, dass die Erde erloschen ist, obgleich ich sie nie glühen sah. Pause. Es geht von selbst. Pause. Wenn ich falle, werde ich weinen . . . vor Glück. Pause. Sie geht zur Tür.
ALPPI: Soile!
Soile bleibt stehen, ohne sich umzudrehen. Pause. Nichts.
Soile geht weiter.
Soile!
SOILE bleibt stehen, ohne sich umzudrehen.
ALPPI: Ich entlasse dich, Soile.
SOILE sich umdrehend, lebhaft: Moment bitte, i c h entlasse d i c h.
ALPPI: Wir entlassen einander. Pause. Eines noch! Eine allerletzte Gnade. Soile geht in die rechte Bildhäfte. Verstecke mich unter dem Tuch. Eine lange Pause. Nein? Gut. Pause. Also, ich bin dran. Pause. Jetzt spiele ich. Pause. Müde: Altes, von jeher endendes Endspiel, Schluss damit, nicht mehr sterben. Pause. Belebter. Schauen wir einmal. Pause. Ach ja! Er versucht, den Sessel mit Hilfe des Bootshakens zu verschieben. Ach was, zuletzt stehe ich nicht mehr in der Mitte. Er gibt das Staken auf. Gut. Pause. Wegwerfen. Er wirft den Bootshaken weg, will die Katze wegwerfen, besinnt sich anders. Halt, Vorsicht, nicht so schnell! Noch nicht. Pause. Und nun? Pause. Abnehmen. Er nimmt seine Kappe ab. Friede unsern . . . Ärschen! Pause. Und wieder aufsetzen. Er setzt seine Kappe wieder auf. Null zu null. Pause. Er nimmt seine Brille ab. Putzen. Er zieht sein Taschentuch heraus und putzt damit, ohne es auseinanderzufalten, seine Brille. Und wieder aufsetzen. Er steckt sein Taschentuch wieder in die Tasche und setzt die Brille wieder auf. Es kommt. Noch ein paar Albernheiten wie diese und ich rufe. Pause. Ein bisschen Poesie. Pause. Du hast gerufen nach . . . . Er verbessert sich. Du hast g e f I e h t nach der Nacht. Sie kommt . . . Pause. Er verbessert sich. Sie n a h t: sie ist schon da. Er wiederholt es mit singendem Ton: Du hast gefleht nach der Nacht; sie naht: sie ist schon da. Pause. Schöne Stelle. Pause. Und jetzt? Pause. Augenblicke gleich null, immer gleich null, und die doch zählen, damit die Rechnung aufgeht und die Geschichte endet. Pause. Erzählerton: Ob er seinen Kleinen bei sich behalten dürfe . . . Pause. Das war der Augenblick, auf den ich gewartet habe. Pause. Sie wollen ihn nicht verlassen? Sie wollen, dass er blüht, während Sie, während Sie welken? Pause. Sie wollen, dass er Ihnen die hunderttausend letzten Viertelstündchen versüßt? Pause. Er hat ja keine Ahnung, er kennt nur den Hunger, die Kälte und den Tod am Ende. Aber Sie! Sie müssen doch wissen, was das ist, die Erde, jetzt. Pause. Oh, ich habe ihm seine Verantwortung vor Augen geführt! Pause. Normaler Ton: Also gut, es ist so weit, es reicht. Er hebt die Signalpfeife an, zögert und lässt sie los. Pause. Ja, wirklich! Er pfeift. Pause. Lauter. Pause. Gut. Pause. Vater! Pause. Lauter. Vater! Pause. Verzweifelt: Vaaater! Pause. Gut. Pause. Es kommt.
RAINER
zitierend:
"Die Geschichte des Untiers ist erfüllt. Kein Überlebender wird sein Gedächtnis bewahren, keine Sage wird von den Prüfungen berichten, die es heimsuchten, die Qualen benennen, die es litt, um der großen, der universalen Erlösung willen."
"Über dem nackten Fels seiner Heimat aber wird Frieden sein, und auf den Steinen liegt der weiße Staub des Organischen wie Reif."
"Das Reißen und Schlingen, das Zermahlen und Ausbluten, das Stechen und Kröpfen, dieser ohne Unterlass wütende Bürgerkrieg alles Lebendigen ist nie gewesen; und der Geist ist zu seinem eigenen Hirngespinst geworden. In einem Feuerwerk ohnegleichen ist er untergegangen, und mit dem Aufsteigen der letzten Rakete sind die Spuren getilgt, die ein Einzeller in Äonen hinterließ und die das Antlitz der Erde furchten wie sonst nur Gletscher und Glaziale."
Die Kerze verlischt endgültig. Es ist jetzt fast völlig dunkel.
SOILE Das war's dann. Wir werden nie wieder Licht haben.
RAINER deklamiert auswendig weiter. "Vermonden wir unseren stoffwechselsiechen Planeten! Denn nicht bevor sich die Sichel des Trabanten hienieden in tausend Kraterseen spiegelt, nicht bevor Vor- und Nachbild, Mond und Welt, ununterscheidbar geworden sind und Quarzkristalle über dem Abgrund einander zublinzeln im Sternenlicht, nicht bevor die letzte Oase verödet, der letzte Seufzer verklungen, der letzte Keim verdorrt ist, wird wieder Frieden sein auf Erden."
Pause
Wie schön Sprache sein kann, noch in der Beschreibung des ultimativen Untergangs!
Pause
Staunend: Die Tragödie der vergangenen großen Kriege liegt nicht so sehr im Sterben der Unzähligen, sondern im Überleben der Übriggebliebenen.
Pause
RAINER holt den Blecheimer. Ich geh ausleeren.
SOILE: Mach bitte nicht auf. Ich frier zu Tode. Und du erwischst wieder eine Ration Strahlung.
RAINER öffnet die Terrassentür. Man hört den Wind heulen. Kein Blätterrascheln. Undeutlich biegen sich kahle Äste im Wind. Rainer tritt hinaus, leert den Kübel über das Balkongeländer. Dabei hält er ihn möglichst weit weg. Der ewige blöde Wind! Er hält den Kübel noch weiter weg, bis er ihm fast aus der Hand gerissen wird. Rainer macht einen schnellen, großen Schritt vorwärts und stürzt samt dem Kübel vom Balkon. Kein Schrei. Dumpfer Aufprall. Das Scheppern des Kübels. Absolute Dunkelheit. Absolute Stille.
Lange Pause. – Vorhang.
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