J-Wagen Linie

Die J-Wagen Linie

worin vorkommen: Strassoldo, Cervignano, die Provinz Udine, Görz, die Republik Venezia, der Markusplatz, Paris, Edinburgh, Prag, Friuli, Palmanova, Aquileia, Roma, Milano, Rivolto, Wien, Hohenthurn, Graz, der Triestiner Karst, Italien, die Wieden, Judenburg, Klagenfurt, Ottakring, der Kärntner Ring, die Josefstädterstraße, Wilhelminenstraße, Dornbach, Sandleitengasse, die Ottakringerstraße, die Kvarner Bucht, Mali Losinj, die Mariahilferstraße, Leoben, Arnoldstein, Bad Bleiberg, Abbazia, die Adria, die Steiermark, die 'Süd-Steiermark', die Piazza S. Antonio, das Franziskanerkloster, der Palazzo dei Lantieri, Schönbrunn, Meidling, Alterlaa, das Wiener Becken, Baden, die Wiedner Hauptstraße, der Weißensee, China, Napoleon Bonaparte, Ludovico Manin, Marie Antoinette, Maria Thérèse Charlotte de Bourbon, Graf Coronini Cronberg, Herzog von Angouléme, Ben Segenreich, Ludwig van Beethoven, Harry Glück, Mao Zedong, das ‚Grand Hotel Entourage', der Palazzo Strassoldo, Ö1, das Café Mozart, Black&White, die 'Zehner Marie', der Bahnhof Wien Mitte, die Vorortelinie, der WAT XVI-Platz, der Fußballverein Maccabi, die Montanuniversität, die Bleiberger Bergwerksunion (BBU), das Hotel Miramare, die Burg Görz, die Capella di Santo Spirito, das Bitro al Chiostro, die Chinese Airlines, sowie die Organtransplantation an einem Pianino.

Strassoldo ist der Name eines uralten Adelsgeschlechts, den die Ahnen der Familie angenommen haben, als sie zwischen dem achten und elften Jahrhundert, exakt ist das nicht belegt, etwas nördlich von Cervignano eine Verteidigungsanlage übernommen und nach und nach zur Burg ausgebaut haben. Die Ansiedlung um die Burg herum nennt sich seither Strassoldo. Das Geschlecht hat all die Jahrhunderte bis in unsere Tage überstanden. 2001 wird ein Strassoldo Präsident der Provinz Udine. Seine Nachkommen residieren weiterhin in Strassoldo. Den Strassoldo gelang es, alle Wirren der Geschichte zu überstehen, nicht zuletzt, weil sie immer mit den benachbarten Grafen von Görz befreundet waren. Görz fällt nach dem Tod des letzten kinderlosen Grafen ans habsburgische Kaiserreich. Die Freundschaft mit den Strassoldo übernehmen die Habsburger gleich mit. Die umstrittene Grenze zwischen dem Kaiserreich und der Republik Venezia wechselt mehrmals den Verlauf. Strassoldo gehört einmal zur Dogenrepublik, dann wieder zum Kaiserreich. Die Strassoldo bleiben den Habsburgern verbunden, selbst in den Tagen, da sie zur Serenissima gehören. 1797, das Hin und Her ist vorbei, denken die Strassoldo. Napoleon steht auf dem Markusplatz. Die Franzosen verjagen den letzten Dogen namens Manin (Villa Manin!). Venezia geht im Habsburgerreich auf. Mit ihm Strassoldo.


Die Ruhe dauert nicht lang. Paris revoltiert. Napoleon verbannt. Der französische Adel auf dem Schafott oder auf der Flucht. Marie-Antoinette auf dem Schafott. Ihre Tochter Maria Thérèse Charlotte de Bourbon flüchtet über weite Umwege nach Gorizia. Sie überlebt die Revolution als einzige Angehörige des Königshauses. Die Strassoldo haben einen Palazzo unterhalb der Burg von Görz errichtet. Heute ist es ein sehr hübsches, geschichtsträchtiges Hotel, ‚Grand Hotel Entourage‘. Auf dessen Website wird behauptet, Maria Thérèse habe 1830 mit dem ganzen exilierten französischen Hofstaat im Palazzo Strassoldo residiert. Das erscheint kaum möglich, da sie 1830 Paris verließ und zunächst in Edinburgh, danach in Prag Zuflucht suchte. Erst 1836 gelangte sie nach Görz, wo ihr dem italienischen Wikipedia zufolge Graf Coronini Cronberg seinen eben erst restaurierten Palazzo, unweit von jenem der Strassoldo, als Residenz überließ. Der gesamte restliche exilierte Hofstaat habe im Palazzo Strassoldo Quartier gefunden. Das scheint gut zum Namen des heutigen Hotels ‚Entourage‘ zu passen. Gut möglich, dass die Entourage der Königlichen bereits ab 1830 im Palazzo Strassoldo untergebracht war und gelegentlich von Maria Thérèse, von Edinburgh und Prag kommend, besucht wurde, bevor sie, die weithin ‚Dauphine‘ Genannte, und ihr Mann, Herzog von Angouléme, immer noch Anwärter auf den französischen Thron, beschlossen, ganz nach Görz zu übersiedeln. Kein Wunder, so hatte man den Hofstaat besser unter Kontrolle und das Wetter war zweifellos besser als in Edinburgh oder Prag.


Auf meinen dienstlichen Fahrten durch das südliche Friuli bin ich zwischen Cervignano und Palmanova oft und oft an Strassoldo vorbeigekommen. Die Regionalstraße verbindet Palmanova mit Aquileia, unvorstellbar, was dieser steinalte Verkehrsweg nicht schon alles gesehen hat. War doch Aquileia einmal nach Roma und Milano die drittwichtigste Stadt auf der Apenninenhalbinsel. Kummer gewohnt, hat er sogar meine Fahrkünste ertragen. Die alte Straße durchquerte alle Ortszentren. Heute vermeidet eine Umfahrung Cervignano und Strassoldo. An den sternförmigen Kasematten Palmanovas kommt sie nicht vorbei. Wer sich nicht durch die engen Festungstore quälen will, muss die Mauern auf den Glacis umrunden. Wegen der Umfahrung von Strassoldo bin ich nie in den Ort hineingelangt. Interessiert hätte er mich schon, doch, wenn ich vorbeikam, war immer Eile angesagt, entweder zu einem Termin oder nach langem Tag heim nach Rivolto. So habe ich die obere und die untere Burg und die reizvollen Ecken des alten Orts nur gelegentlich im Fernsehen geschaut.


Heute aber werde ich bei den Strassoldo residieren, in ihrem Görzer Palazzo, im Gemach gleich neben jenem der Dauphine, von ihr getrennt nur durch unerhebliche hundertsechsundachtzig Jahre, eingeladen von Hömmerl, Helmut Hauer, dem Autor.

***

Meine Nostalgie nach Wien war nie besonders ausgeprägt. In den Hohenthurner Jahren schwand sie mehr und mehr. Griesgrämige Menschen, die durch verparkte, graue Straßen hetzen. Das einzige, was mir fehlte, war das überbordende Musikangebot, aber selbst dieses war seinerzeit in den Grazer Tagen durch Nähe und Lebendigkeit übertroffen worden. In Hohenthurn auf der Alm sorgt Ö1 dafür, dass ich nicht völlig austrockne. Hier machen die Schönheit der Natur und die Vorzüge des Landlebens jeden anderen Mangel mehr als wett.


In Wien hatte ich nur noch einen Freund. Hömmerl. Er kam gelegentlich bei uns in Hohenthurn vorbei, wenn er auf einer seiner Reisen in den Triestiner Karst unterwegs war, oder nach Italien, um zusammen mit Helga ihrer beiden Italienischkenntnisse zu perfektionieren. Dann tauschten wir für ein paar kurze Stunden Bilder unseres aktuellen Lebens aus. Wie schon immer war Hömmerl immer noch die Klammer, die unsere einstige Schulklasse zusammenhielt. Sie trafen sich regelmäßig im Café Mozart. Muffi, der Kammersänger aus der Fußballdusche. Der Bulle, der Ex-Singvereinbariton und Ex-Bankcontroller hatte inzwischen eine chinesische Frau und ein Blumengeschäft auf der Wieden. Norbert, das Physikgenie hatte als Allianz-Vertriebsmanager ein paar Infarkte überlebt. Herfried, der Ex-Personalchef einer anderen Bank war dabei. Man sieht schon, alles, was ihnen einst gesellschaftliches Gewicht verliehen hatte, war ex. Richard und Wolfgang. Mario, der Schokolade-Pleitier. Sherlock, der vielleicht nicht Ex-Inhaber eines privaten Bildungsinstituts. Eros, der Zahnarzt. Lupo, der Star von Judenburg und Patentamtsleiter. Muffi hatte ein paar Mal angesetzt zu einem Besuch bei uns, es ist aber dazu nie gekommen.


Hömmerl organisierte einige Jubiläumstreffen von Black&White, da kamen zu den Schulkollegen noch Kameraden hinzu, die nicht in unserer Klasse waren. Mit keinem von ihnen hatte ich noch Kontakt. Zu zweien dieser Treffen fuhr ich nach Wien. Das letzte fand in der Zehner-Marie statt. Aus Zeitmangel kam ich aus Klagenfurt geflogen, um mit der Spätmaschine desselben Tages zurückzufliegen. Den Nachmittag verbrachte ich mit Hömmerl. Wir trafen uns am Bahnhof Wien Mitte und fuhren mit der Straßenbahn nach Ottakring. Die Linie J gab es nicht mehr. Es machte nichts. Die nostalgischen Gefühle waren die gleichen über den Kärntner Ring, durch die Josefstädterstraße, wenn auch die Bim jetzt 2 hieß. Ich vermute, die Änderung hat Hömmerl veranlasst, denn der 2er geht jetzt über die Wilhelminenstraße an seiner Wohnung vorbei nach Dornbach. Bei der Sandleitengasse stiegen wir aus, um durch das Grätzel zu flanieren. Vorbei an der Wäscherei, wo die Black&White-Dressen gewaschen worden waren. Über die Brücke, unter der die Vorortelinie hindurchgeht und wo ich einst den entlaufenen Kater Felix wiederentdeckt hatte. Die Fußballplätze des WAT XVI, eine Zeitlang Heimstätte von Black&White. Die alte  Häuserzeile an der Ottakringerstraße mit dem Friseurladen und der Baustoffhandlung unter Wohnhochhäusern begraben. Um die Ecke in der Kurve hat man ein kleines Ensemble von Streckhöfen verschont. Einer davon ist der Heurige, die Zehner-Marie.


Als wir am frühen Abend den Gastgarten betraten, waren einige Teilnehmer schon versammelt. Es ging so, wie ich es manchmal über Klassentreffen erzählen hören habe. Manche erkannte ich sofort, bei anderen wäre eine Vorstellung hilfreich gewesen. Es war laut rundum, auch an unserem langen Tisch war es nicht leise. Die Verständigung war nur mit den nächsten Nachbarn möglich. Die anderen habe ich zwar gesehen, aber kaum gesprochen. Hömmerl hatte Ben Segenreich eingeladen, den Israel-Korrespondenten des ORF. In der Liga des Black&White hatte zeitweilig auch der Verein Maccabi um Punkte gekämpft, mit Ben Segenreich. Leider konnte Ben unserer Einladung nicht folgen. Hömmerl verlas das Email, das er von ihm erhalten hatte:


„Es ist toll, dass sich jemand daran erinnert, dass ich in der Antike bei Maccabi gespielt habe. Ja, es stimmt, ich war von 1972 bis 1978 dabei. In den letzten Jahren war ich sogar Kapitän. Dann hat eine Knieverletzung meine stolze Karriere beendet. Ich erinnere mich an einen Verein namens Black&White, der, glaube ich, ziemlich stark war. An das spezifische 0:0 Spiel erinnere ich mich nicht, aber man erinnert sich ja nur (außer an Schlägereien) an Tore, am besten die selbst geschossenen.“


Außer diesem Highlight des Abends tat sich nicht viel. Ich musste auch bald wieder zum bestellten Taxi.


Eines Tages überraschte Hömmerl mich mit der Bombe, er habe beschlossen, ein Buch zu schreiben. Seine Autobiografie. Selbstverständlich bestärkte ich ihn in dieser Idee, vielleicht auch, weil er mich fragte, ob ich ihn Korrektur lesen wollte. Dieser Gedanke war mir sofort durch den Kopf geschossen, als ich von seinen Plänen hörte. Dass Hömmerl mich tatsächlich darum bat, er, der Wirkliche Hofrat, mich, den Gymnasialabbrecher, erfüllte mich mit Genugtuung. Ich fühlte mich geehrt. Ich strapaziere nicht den Begriff Stolz, weil ich Stolz für eine der dümmsten menschlichen Eigenschaften halte. Ich erinnere mich an die Zeit in der Schule. Bei den Lehrern war ich wenig geschätzt gewesen. Ich hatte ihnen wenig Grund dafür geboten. Unauffällig, introvertiert, verträumt, schwache Leistungen. Den Mitschülern war es mit mir nicht viel bessergegangen. Wenigstens hatten sie etwas übriggehabt für meine Aufsätze in Deutsch und Englisch. Die hatten sie geschätzt. Ich hatte sie ganz flüssig hingeschrieben, ohne viel nachzudenken. Die Quantität hatte der Qualität keinen Abbruch getan. Nicht selten hatte ich eine dieser Schularbeiten der Klasse vorlesen müssen. Es hatte immer Beifall gegeben, manchmal auch stürmischen. An eine Englischarbeit erinnere ich mich. Es war eine kurze, spannende Erzählung geworden. Ich hatte angenommen, dass der Englischlehrer sie mich deshalb vorlesen ließ. Die Mitschüler waren begeistert. In den Wirbel hinein hörte ich den Professor sagen, „Thema verfehlt. Nicht genügend. Setzen.“ Die Klasse protestierte vergeblich. In der Folge nannten wir diesen Englischlehrer nur noch ‚das Schwein‘. Wenn das arme Schwein zur Englischstunde die Klasse betrat, hörte er uns einen Satz rappen: „I rabbit the pig! – I rabbit the pig! ...“ Damit konnte er nichts anfangen. Trotzdem fragte er nie nach. Einer von uns hätte erklären müssen, es handelte sich um einen neuen Hit. Selbst wenn wir gestanden hätten, das wäre die korrekte Übersetzung von „Ich hase das Schwein“, der Unsinn hätte sich ihm nicht erschlossen.


Auch meine Mitschüler hatten nicht viel zu schätzen an mir. Unauffällig, introvertiert, verträumt, zum Einsagen oder Abschreiben lassen unbrauchbar. Schlecht gekleidet, nicht in der näheren Umgebung der Schule wohnend, somit kaum außerschulische Kontakte. Das mit dem Fußball kam erst später. Ich glaube, dass Hömmerl sich auch an meine Aufsätze erinnerte. Im Laufe unserer aktiven Freundschaft hatte ich mich wohl auch mit dem einen oder anderen Gedicht bei ihm bemerkbar gemacht. Offenbar traute er mir das Korrekturlesen zu und ich bot den Vorteil, viele der Themen, weil miterlebt, gut zu kennen. Ich sagte sofort zu, gehört doch die Arbeit mit Sprache zu meinen bevorzugten Steckenpferden. Hömmerl, der sich unterschätzte und ich, der sich weit Überschätzende. Wir ahnten beide nicht, was uns dieses gemeinsame Projekt abverlangen würde.

 

Seine Idee war, die ganze Geschichte an der Wiener Straßenbahn-Linie J aufzuhängen. Alle wesentlichen Stationen seines Lebenslaufs, vom kleinen Hömmerl bis zum Hofrat Doktor Helmut Hauer, waren räumlich im Bereich der J-Wagen-Route gelegen. Das traf zum geringeren Teil auch auf mich zu. Man erinnere sich an das Kapitel ‚Tekitisi‘ in diesem Schmisseverzeichnis. Der Arbeitstitel von Hömmerls Werk lautete ‚LebensKarriere an der Wiener J-Wagen-Linie‘ und hat es genauso auf sein Buch geschafft. 


Wir begannen mit dem Vorwort. Er schickte mir den Text. Er schildert seine Zweifel, ob es nicht besser wäre, von dem Projekt Abstand zu nehmen, denn er war zu dem Schluss gekommen, dass es in seinem Leben nichts gegeben habe, das für eine breitere Allgemeinheit von besonderer Bedeutung gewesen wäre. Aus Selbstgefälligkeit würde er es nicht tun. Selbstgefälligkeit lag wirklich nicht in seinem Wesen. Schließlich fand er aber doch ein Motiv, die Sache anzugehen. Das war die Selbstironie. Es stimmte. Selbstironie war ein Zug, der nicht nur ihn auszeichnet, sondern auch mich und die meisten unserer Freunde prägt, von frühen Schultagen über Black&White bis heute. Mit der Selbstironie konnte er das Vorhaben rechtfertigen.


Eine erste Schwierigkeit ergab sich durch unsere räumliche Entfernung Wien – Hohenthurn. Mit den elektronischen Möglichkeiten, die sich immer fortentwickelten, sollte das überwindbar sein, dachte ich. Nur, wir waren beide keine IT-Freaks, Hömmerl noch weniger als ich. Er besaß zwar PC und Handy, aber seine Fertigkeiten darauf hielten sich in Grenzen und sein Word-Programm war veraltet. Selbstverständlich hatte ich keinerlei Erfahrung im Korrekturlesen. Ich nahm die Word-Datei und schaltete die Kommentar-Funktion ein. Im Kommentarfenster verzeichnete ich die Fehler. Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld. Überwiegend waren es nur Beistriche oder doppelte Abstände. Daher hätte ich eigentlich nicht eigens darauf hinweisen müssen, hätte sie ohne weiteres beheben können. Doch nahm ich die Kompetenz des Autors sehr genau, wollte keinerlei eigenmächtige Änderung anbringen. Ich befürchtete, Hömmerl würde mich feuern, wenn er sehen würde, wie pingelig ich war. Trotzdem schickte ich Hömmerl die korrigierte Datei per E-Mail. Er konnte die angehängten Dateien auf seinem System nicht öffnen, ebenso wenig wie ich seine. Also begannen wir, kleine USB-Sticks per Post hin- und herzuschicken. Bei Durchsicht der von Hömmerl korrigierten Dateien stellte ich fest, dass nicht alle Fehler behoben waren, oder ich stellte andere fest, die ich vorher übersehen hatte. Also mussten die Sticks mehrmals reisen. Das war langwierig und unpraktisch.


In jenen Tagen machte ich erstmals Bekanntschaft mit der Wolke. Also mit der Cloud. Ich kam auf die Idee, die Wolke für unsere Zusammenarbeit zu nutzen. Hömmerl möbelte sein System auf und war dann ebenfalls in der Lage, in den Wolken zu schweben. Das Schlachtfeld vermied ich jetzt, indem ich Hömmerls Entwurf im Text kommentarlos korrigierte. Hömmerl sagt in seinem Prolog, „Ich hatte nie daran gedacht, ein Buch zu schreiben. Mein Juristen-Amtsdeutsch wäre sowieso als unüberwindliches Hindernis erschienen, wenn ich je an so etwas gedacht hätte, und Aufsätze konnte ich schon in der Schule nicht schreiben.“ Nie hätte ich mir erlaubt, den Autor dermaßen zu kritisieren. Wenn er es aber selber so öffentlich machte, nun ja, bis zu einem gewissen Grad trifft es zu. Es juckte mich in den Fingern, über das Orthographische, Grammatikalische, Formale hinauszugehen. Jetzt griff ich auch in die Satzstellungen ein. Anfangs nur in eklatanten Fällen. Hömmerl hatte nichts dagegen. Das ermutigte mich, es überall dort zu tun, wo ich es für vorteilhaft hielt, und rutschte so hinüber zur Änderung von Formulierungen, dann zur Neufassung ganzer Passagen. Ich änderte die Zeitformen in Abschnitten und sogar die Erzählperspektiven. Hömmerl segnete fast alles ab. Jetzt kam ich so richtig in Fahrt. Ich recherchierte alle Behauptungen auf historische oder fachliche Korrektheit, wobei ich eine Menge mir Unbekanntes lernte. Beispielsweise konnte ich den historischen Inhalt eines Prospekts der Fremdenverkehrsbehörde der Kvarner Bucht ad absurdum führen und in Hömmerls Text richtigstellen. Ich versah Abschnitte mit Rahmenhandlungen oder stellte deren Ende an den Anfang. Ich verpasste bestimmten Personen ihre herkunftsgemäßen Dialekte, nicht ohne zuvor deren Charakteristika zu recherchieren. Kurz, ich beförderte mich ungefragt vom Korrektor zum Lektor. Hömmerl billigte es stillschweigend. Irgendwann drehte ich durch und ließ meine Phantasie galoppieren. Die Erzählung würde peppiger, wenn die wahren Begebenheiten mit etwas Erfindungsgabe aufgemöbelt würden. Zum Teil akzeptierte Hömmerl auch das. So geriet etwa Hömmerls Erzählung der Episode am Nacktbadestrand von Mali Losinj, wo er und sein Freund Manfred sich als Doctores der Wiener Schule ausgeben, um die Verbrennungen durch Quallen am Busen einer schönen Britin behandeln zu können, nach meiner Überarbeitung sicherlich erotischer. Wer das überprüfen möchte, wird nicht umhinkommen, sich in die Nationalbibliothek zu bemühen. Im Handel ist Hömmerls Buch wegen der enormen Nachfrage vergriffen. Einer der wenigen Vorschläge, denen Hömmerl sich verweigerte, war die Episode, wo er über die Mariahilferstraße spazierend von einem menschlichen Bedürfnis bedrängt wurde, dessen er sich in seinem nahen Amtssitz zu entledigen beabsichtigte. Pech, dass das Amt gerade bestreikt wurde. Die Streikposten ließen niemanden hinein und blieben auch dem Hofrat in seiner Not gegenüber hart. Ich hätte den Umstand so begründet, dass die Streikposten, überwiegend Bedienstete des Amts, so gern einmal gesehen hätten, wie einer ihrer Hofräte in die Hose macht. Sollte jemand neugierig geworden sein, wie die Sache sich aufgelöst hat – Nationalbibliothek!

 

In Bedachtnahme auf seine italienischen Freunde schuf er eine verkürzte italienische Version. Als Korrektorin fungierte seine Italienisch-Trainerin Benedetta (Hömmerl, obschon über ein quasi perfektes Italienisch verfügend, frequentiert unablässig Konversationstrainings in Wien und Perfektionskurse in Italien). Ich bin sicher, Benedetta hatte mehr Disziplin beim Korrekturlesen als ich. Auf Hömmerls Wunsch textete ich eine originelle Ad-Copy für den italienischen Teil. Die italienische Version beginnt im Buch von der Rückseite her, die für diesen Teil Vorderseite ist.

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Die Sinnlosigkeit meines Daseins macht meine Altersbeschwerden nicht leichter zu ertragen. Der Brustkasten brüchig. Die Sehnen ohne Spannung. Die Katzen, die manchmal über meine Tastatur spazieren, machen einen Buckel, so mißtönend finden sie mein Stöhnen.


O Freunde, nicht diese Töne, sondern lasst uns angenehmere anstimmen.


Etwas ist los in letzter Zeit. Rainer hat mich ein paarmal angerührt. Wenn solche Töne meine Antwort sind, wird sein Interesse nicht lange anhalten. Gäste sind dagewesen. Soweit ich verstanden habe, Freunde vom Tennis. Herbert ist etwas älter als Rainer, aber seine Frau, Stefanie, etwas jünger als Soile. Sie müßen sehr gut sein im Tennis. Ich glaube, Rainer und Soile haben nicht viel zu melden gegen die zwei. Stefanie ist eine Steirerin. Herbert, mit alemannischen Wurzeln, hat in Leoben studiert auf der Montanistischen. Dann ist er als junger Diplomingenieur Doktor zur Bleiberger Bergwerksunion nach Arnoldstein gegangen. BBU, sagen die Arnoldsteiner. Seine Steirerin hat er gleich mitgebracht. In der BBU war er bald Betriebsleiter. Das Blei und das Zink, das die Knappen in Bad Bleiberg aus den Stollen holten, wurde in Arnoldstein aufbereitet. Lange Zeit war die BBU der wichtigste Arbeitgeber in Arnoldstein, neben der Eisenbahn. Die großen Chefs hatten reichlich Zeit, also legten sie einen Tennisplatz an. Sie hatten auch genug Einkommen dafür, aber die Kosten übernahm ohnehin das Unternehmen. Da ließen sich die Verstaatlichten nicht lumpen. Herbert verdingte sich als Ballbub und lernte die Technik von den Kapazundern, bis er selber einer war. Mein Gott, wenn er in Fahrt kommt, ist er nicht zu stoppen, mit so viel Enthusiasmus demonstriert er die jeweils letztgültigen Techniken, die er sich alle drei Monate aus dem Internet holt. Er klappt das Handgelenk und schwingt den Arm, doziert über Hammer und über Peitsche so fanatisch, daß Soile und Stefanie um die Gläser auf dem Tisch bangen. Seine Wohnung befindet sich im Parterre eines Zweifamilienhauses, das ftüher der BBU gehörte, mittlerweile aber Herbert, direkt auf dem Areal der Tennisanlage. Daneben hat er für sich eine Driving Range angelegt, für Tennisübungen wohlgemerkt, nicht für Golf. Herbert liebt es, seine Kompetenzen Anderen zu vermitteln. Die Meisten scheuen aber seine begeisterten endlosen Vorträge und meiden sie. Diese undankbaren Banausen! Halten sich selber für Genies und haben die Chuzpe, ihre falschen Techniken im Training an die Kinder weiterzugeben. Es ist ein Jammer!


Irgendwie gelingt es Rainer, das Thema zu wechseln und da zeigt sich, daß in Herbert noch ganz andere Tugenden stecken. Er spielt Gitarre. Das heißt, er versucht, es autodidaktisch zu erlernen. Noch funktionieren die Finger nicht mit jener Selbstverständlichkeit, die für ein gutes Spiel notwendig wäre. Es ist wie beim Tennis, sagt er. Die Bewegungen müßen so selbstverständlich in den Kopf hinein, daß man darüber nicht mehr nachdenken muß. Die Gliedmaßen müßen vollkommen automatisch das Richtige machen, den Griff, den Hammer, die Peitsche… Mit Mühe drehen die Anderen das Thema zurück auf die Musik. Herbert und Stefanie wünschen sich von Rainer einen kleinen Vortrag mit meiner Mitwirkung. Schon beginne ich zu hoffen, aber Rainer wehrt das Ansinnen ab. Das Klavier ist mindestens so kaputt wie mein Klavierspiel, sagt er. Also bin ich wieder schuld. Er schlägt zwei einfache Akkorde an und ich stöhne erbärmlich.


Stefanie spielt Violine. Da schießt Rainer eine übermütige Idee durch den Kopf. Wir könnten doch einmal statt immer nur Tennis miteinander Musik machen. Herbert und Stefanie sind begeistert. Man spricht an diesem Abend über noch Vieles, natürlich über unsere Katzen. Das bringt Rainer auf den Gedanken mit dem Katzenduett. Ein musikalischer Spaß von Rossini. Entzückend! Zwei Singstimmen und Klavier. Der Text besteht aus zwei Worten: Miau, miau. Rossinis Musik macht eine Komödie daraus. Technisch nicht allzu schwer. Miau, miau… Rossini muß Katzen gehabt haben. Wie er aus zwei Worten Text, miau, miau, ganze Dialoge herausholt! Mit Gitarre und Violine sollte das umso wirkungsvoller werden. Ein neues Projekt ist entstanden. Rainer wird die Noten aus dem Internet beschaffen. Alle drei werden zu üben beginnen. Könnte ja doch noch etwas werden mit meinem Altweibersommer?


Eines Tages rückt Rainer an mit einem Riesenkarton. Lang und schmal und offenkundig schwer. Soile hilft Rainer beim Auspacken. Eine Tastatur kommt zum Vorschein. Sie reden von einem E-Piano. Was soll das denn sein? Ein Piano, ohne Saiten? Was soll dann tönen? Es muß aber doch so sein, wozu sonst wären die weißen und schwarzen Tasten da, ungefähr gleich viele wie die Meinigen. Einen Schwanz hat es auch. Einen dünnen Schwanz mit einem Quastel. Aha, ein Stecker. Also so eine Art Radio? Ja, Klaviermusik kommt auch aus dem Radio. Aber immer nur so, wie die im Radio wollen. Aus diesem Radio kommt die Musik wohl so, wie man sie mit den Tasten steuert?


Ich muß schon sagen, klingt gar nicht schlecht, wie Rainer es so ausprobiert auf dem Speisetisch. Aber was ist das? Er fängt an, mich zu zerlegen! Vorderer oberer Deckel weg. Tastendeckel weg. Unterer Deckel weg! Hilfe, was geschieht mit mir! Rainer beinelt mich ja aus! Die ganze Mechanik ist schon weg. Jetzt geht es mir an die Tasten. Oktavenweise nimmt er mir alle Finger weg. Soile bindet sie zusammen und legt sie in eine Kiste. Das ist mein Ende. Mamma und Tino! Nie wieder werde ich erklingen. Mai più!


Wie bei einem Sterbenden schwebt meine Seele über mir selbst und schaut zu, wie Rainer und Soile das längliche Radio mit den Tasten und dem Schwanz dorthin legen, wo meine Tasten ihm Platz gemacht haben. Das Quastel am Schwanz in die Steckdose und – o Wunder – ich klinge wieder. Ich klinge sogar gut, weil meine Saiten in leichter Erregung mitschwingen können. Sie wollten mich also nicht umbringen! Eine Transplantation verlängert mein Hundeleben.


Rainer holt die alte Klavierschule hervor. Er beginnt wieder von vorne. Ein paar Mal übt sogar Soile mit. Man kann Kopfhörer an mich anschließen. Dann hört der Spieler das Spiel nur in seinem Kopf. Die Umgebung bleibt ungestört. Wie praktisch. Hätte es das früher gegeben, Beethoven hätte nicht dreißig Mal umziehen müßen. Rainer legt die Noten des Katzenduetts auf und beginnt zu üben. Der Klavierpart ist das ostinate Wiederholen von Akkorden in einem Achtel- und Sechzehntel-Rhythmus in der Harmonie der Melodieführung, im Tempo des Katzenherzschlags. Nicht koloßal schwierig, aber bei Rainers ungeübten Fingern…


So. Das war ein kurzes Glück. Kaum gelingen Rainer die ersten sechzehn Takte leidlich, ist es wieder aus. Ich habe ihn ja immer wieder zwischendurch jene andere Tastatur bearbeiten gesehen, die vor dem Bildschirm liegt und lauter kleine Buchstaben- und Ziffern anzeigt. Aber jetzt, er muß süchtig sein, denn er läßt nicht mehr ab davon. Jede freie Minute sitzt er dort und tippt. Zwischendurch endlose Telefonate mit Hömmerl. Das ist Rainers Konsequenz: Niemals eine Sache fertigbringen! Herbert und Stefanie tun mir leid. Ich mir auch.

***

Vier lange Jahre arbeiteten wir an dem Projekt, bevor es zum großen Aufatmen kam. Der Text war fertig, meine Aufgabe erledigt. Hömmerl brachte das Buch im Eigenverlag heraus mit Hilfe eines BoD, Book on Demand. Das war für ihn nochmals sehr viel Arbeit. Abstimmung des Drucks, Anordnung der Fotos, graphische Gestaltung. Hömmerl lobte die Zusammenarbeit mit BoD und dem Grafiker. Endlich war es da, das Buch. Ich muss sagen, es ist äußerst ansprechend geworden, macht optisch und haptisch sehr gute Figur. Von den wenigen Büchern, die Hömmerl drucken ließ, gingen etliche Belegexemplare an diverse Universitäten. Gleich drei Stück mussten der Nationalbibliothek überlassen werden. Verkauft hat er, glaube ich, keines, aber viele verschenkt.


Das Erscheinen des Werks fiel ziemlich genau zusammen mit Hömmerls siebzigstem Geburtstag im September 2016. mmerl und der Bulle, beide mit Vornamen Helmut, pflegen, ihre Geburtstage, die auf genau denselben Tag fallen, gemeinsam zu feiern. Die runden seit dem neuen Jahrtausend sogar im feudalen Hotel Miramare in Abbazia. Auch dies ist Thema eines Abschnitts in Hömmerls Buch. 2016 ließen sie dieser Tradition einen Abstecher nach Gorizia vorausgehen. Neben den beiden Siebzigern war die Geburt von Hömmerls Baby zu feiern. Es wog ein halbes Pfund und war sofort äußerst vielseitig. Von Anfang an zweisprachig. Über seinen Namen war sich Hömmerl noch nicht klar. Jay vielleicht, wie der englische Vorname. Oder Joda, der alte italienische Begriff für I-Lungo, aber modernere Italiener sagen auch Jay. O-Je oder Ui-Je klang zu kläglich.


Hömmerl lud Soile und mich ein, Jays Geburt und das Hundertvierzig-Jahre-Fest mit den Jubilaren in Gorizia zu feiern. Wahrscheinlich sollte ich eher Görz sagen, denn die Neigung der beiden zu den Regionen an der östlichen oberen Adria hängt vorwiegend mit nostalgischen K&K-Empfindungen zusammen, als Görz noch Teil der (Süd-) Steiermark war. Hömmerl und der Bulle mit ihren Frauen waren abgestiegen im Grand Hotel Entourage, wo Hömmerl für Soile und mich ein Zimmer reserviert hatte. Als wir dort eincheckten, stellten wir ehrfurchtsvoll fest, dass wir, die Entourage der Jubilare, hier nicht ab-, sondern aufsteigen würden. Ein Palazzo aus dem sechzehnten Jahrhundert, dessen Schlichtheit seine historische Bedeutung dezent verschleiert. Er erhebt sich nicht an der luftigen Piazza S. Antonio, nein, er liegt dort, hingestreckt, müde von den Wirren der Vergangenheit, uninteressiert an der Gegenwart, die Zukunft gleichgültig. Was soll schon passieren, was nicht schon passiert ist. Herausgeputzt von den Hotelbetreibern räkelt er sich hin wie eine distinguierte Signora. Über die geräumige, frisch gepflasterte Piazza mit dem schlichten Brunnen auf dem niedrigen Sandsteinpodest blinzelt sie hinüber zu den klassischen Arkaden des ehemaligen Franziskanerklosters, die die Piazza begrenzen. Deren Schlichtheit betont die franziskanische Anspruchslosigkeit. Wo aber ist S. Antonio, die Kirche? In der äußersten linken Ecke des Arkadenkarrees, neben dem benachbarten Palazzo dei Lantieri, versteckt sie sich. Nur unwesentlich höher als die Arkaden lugt ihr unscheinbares offenes Geläut aus dem Dach des Bogengangs. Alles wie gewohnt, stellt die schlafende Elegante fest und schließt das Lid. Selbst die wenigen Autos auf der Via dei Lantieri scheinen ihre Ruhe zu respektieren.

Der Palazzo Strassoldo ist einstöckig. Die Beletage weist dreizehn Fenster auf mit hölzernen Fensterläden, wie sie in Italien, aber auch in der Südsteiermark üblich sind. Stilecht sollten sie grün sein, hier hat man sich für weiß entschieden. Das Erdgeschoß ist mit den kleineren Fensteröffnungen der Nutzräume versehen. Das Einfahrtstor in der Mitte, für Kutschen dimensioniert, schmeckt ein wenig nach Burgtor. Darüber befindet sich ein kleiner, zarter Balkon, der einzige an dieser Fassade, für den zentralen Salon. Unter den beiden äußersten Fenstern sind zwei kleinere Nebentüren, wohl für das Personal. Die rechte benutzte, nach Angabe des Hotels, Marie Thérèse, die Dauphine, während ihres Aufenthalts im Strassoldo, um in ihr darüber liegendes Gemach zu gelangen, von dem aus sie auch direkten Zugang zum angrenzenden Garten hatte. Aus dem Dach über dem Obergeschoß ragt eine Mansarde mit drei Fenstern und einem klassischen Scheingiebel darüber. Das ganze Gebäude ist in Kaisergelb gehalten.

Wir parken unseren Wagen vor dem Palazzo und betreten das Hotel durch das Haupttor. Die alte Großsteinpflasterung hat man erhalten. Die Halle, die uns empfängt, hat mit der Hall eines modernen Hotels nur den Verwendungszweck gemeinsam. Der Raum, einst zum Verlassen der Kutsche und Ausladen des Gepäcks gedacht, ist weitgehend so belassen. Links kann man durch eine Glastür die Rezeption betreten. Gegenüber geht es, ebenfalls durch eine alte Tür zur Treppe zu den Zimmern. In der Eingangshalle sind Sitzbänke von altem Charme aufgestellt und ein ebensolches Tischchen mit Stühlen. Man erlaubt mir, den Wagen im Innenhof zu parken. Durch die Eingangshalle fahre ich den Mazda in den Innenhof. Ein Schotterweg umrundet einen Brunnen. Der Hof ist eingegrenzt von den Seitenflügeln des Palazzos, in denen sich ebenfalls Zimmer befinden. Wir steigen über die alte Holztreppe hinauf. Vorbei an schönen barocken Möbelstücken, Kommoden, Sitzmöbel, die man nicht zu benutzen wagt, und an Gemälden an den Wänden, Porträts aus der Renaissance und dem Barock, die man später eingehender betrachten wird. Durch verwinkelte Flure gelangen wir in ein dezent klassisch gehaltenes Matrimoniale. Der Blick aus dem Fenster öffnet sich für uns in den angrenzenden Park, so wie seinerzeit auch der Dauphine.


Ich telefoniere mit Hömmerl. Er und der Bulle sind mit ihren Frauen auf der Burg Görz. Wir kommen überein, uns dort zu treffen. Der Hügel mit der Burg erhebt sich unweit des Palazzos. Die Burg ist in Spazierweite. Das Wetter ist frühherbstlich warm.

Wir steigen die Straße hinan vorbei an dem romanischen Kirchlein di Santo Spirito im Pinienhain und am bedrohlichen Außengemäuer der Burg zum Burgtor und durch dieses in die schmale Rampe, die, bereits im Innern der Verteidigungsanlage, in weitem Bogen dem 

Berghang folgend auf grobem Pflaster zur Burg hinaufführt. Wegen der Biegung der Rampe kann man nur ein paar Meter weit sehen. Trotzdem hören wir schon von Weitem, dass wir unsere Freunde gleich treffen werden. Es ist unfehlbar Helgas Schönbrunner Stimme, die uns entgegenschallt. Und des Bullen Antwort in Meidlinger Wienerisch. So nahe sind einander Schönbrunn und Meidling. Wir erblicken einander nach ein paar weiteren Metern. Begrüßungspalaver. Sie haben die Burg besichtigt und sind bereits auf dem Rückweg. Ein Selfie. 

Wir vereinbaren, Soile und ich werden die Burg gleichfalls besichtigen, anschließend treffen wir uns im Palazzo.

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Für die Feier der Jubilare und des Babys am Abend hat Hömmerl für uns Sechs einen Tisch bestellt im Bistrò Al Chiostro gleich vis-à-vis dem Palazzo unter den Arkaden des ehemaligen Klosters. Das war gut so, denn auf der Piazza gibt es heute Abend ein Fest. Schon seit Mittag besteht ein Parkverbot auf der ganzen Piazza. Das Bistrò ist bummvoll wie auch ein anderes Lokal nebenan. Unsere Plätze unter den Arkaden hat man aber freigehalten. Viele Leute flanieren auf der Piazza. Einen Teil von ihr hat man abgetrennt, er wird für Auftritte freigehalten, wir wissen nicht, um was für Darbietungen es sich handeln wird. Aus Lautsprechern dröhnt Popmusik. Entsprechend hoch ist der Geräuschpegel. Nicht die beste Voraussetzung für feierliche Ansprachen. Das fällt bei Hömmerl und dem Bullen aber ohnehin nicht ins Gewicht und bei mir schon gar nicht. Sie freuen sich, dass wir miteinander da sind. Hömmerl erwähnt im offenen Gespräch, dass sein Buch erschienen ist. Er bedankt sich bei mir für die zeitaufwändige Zusammenarbeit. Es sei ich gewesen, „der sein Buch erst lesbar gemacht hätte“. Ich erhalte aus seiner Hand ein von ihm signiertes Exemplar. Es ist schwerer als seine Maße vermuten lassen, haptisch angenehm anzufühlen. Genauer kann ich es in dem Halbdunkel nicht anschauen. Später werde ich feststellen, dass es ausgesprochen hübsch verarbeitet ist. Die Graphik auf dem Einband ist gut gelungen, das Papier hat Körper, die Schriftgröße angenehm, die Schriftart sympathisch, die Abbildungen gut platziert. Kurz, es hat nichts Billiges an sich, wie man es von einem im Selbstverlag erschienenen Buch – vielleicht zu Unrecht – erwarten könnte. Ins erste Kapitel, ‚Geschichte der Wiener J-Wagen-Linie‘, hat Hömmerl meine Erzählung ‚Tekitisi‘ einfließen lassen, die in meiner Autobiografie als drittes Kapitel erscheint. Meine weitere Erzählung über ‚Black&White‘ hat Hömmerl als Anhang in sein Buch aufgenommen. Ich werde feststellen, dass ich im Impressum für das Lektorat erwähnt bin und am Ende Hömmerl mir seinen besonderen Dank ausspricht. Für den italienischen Teil des Buchs durfte ich den Klappentext verfassen. Meine Erzählung ‚Tekitisi‘ erscheint, übersetzt von Hömmerl und seiner Italienisch-Lektorin, Benedetta, mit dem italienischen Titel ‚Techitisi‘. Somit ist Tekitisi der erste meiner Texte, der (nicht von mir selbst) in eine Fremdsprache übersetzt wurden. Später erst werde ich erfahren, dass im Text irgendwo ein ‚Pabst‘ vorkommt und wahrscheinlich noch ein paar Schmisse mehr.

Im Lauf des Abends, während eines ausgezeichneten Essens und Tanzvorführungen mehrerer Kinder- und Jugendgruppen auf der Piazza fällt Soile und mir auf, dass Jia Jin sich wenig an unserer Unterhaltung beteiligt, obwohl wir versuchen, sie ins Gespräch einzubinden. Vielmehr beschäftigt sie sich mit ihrem Handy. Das setzt sich so fort, noch nachdem wir unsere Plätze im Bistrò verlassen haben und in den ebenfalls überfüllten rustikalen Weinkeller des Entourages hinübergewechselt sind, um den Feiertag flüssig zu beenden. Jia Jin hantiert an ihrem Smart Phone und ist ganz wo anders. Unsere Vermutung, Jia Jin mochte Schwierigkeiten mit unserem Deutsch haben, will nach so langen Jahren mit dem Bullen nicht recht stichhaltig anmuten. Den Bullen scheint Jia Jins Verhalten auch zu ärgern. Er weist seine Frau mehrmals darauf hin und sein Ton wird dabei jedes Mal heftiger. Nur, es nützt nichts. Jia Jin fingert weiter an dem Ding herum. Als schließlich der Bulle in seinem breitesten Wiener Dialekt einen Kommentar abgibt, der schon als äußerst grob bezeichnet werden muss, erhebt sich Jia Jin von ihrem Platz und verschwindet mit dem Handy im Halbdunkel des menschenüberfüllten Lokals. Vielleicht bevorzugt sie die kühle Luft im Dunkel des Gartens des Palazzos. Etwas betreten schaue ich den Bullen an. Immer noch fuchsteufelswild ärgert er sich in derbem Idiom über Jia Jins Abwesenheit, die durch ihr Weggehen nicht größer geworden ist. „Sie treibt mich zum Wahnsinn“, schimpft er, „mit ihrem G‘spiel auf dem deppaten Handy. Das geht so die ganze Zeit von früh bis spät. Es ist eine Sucht!“

 

„Spielt sie Spiele?“ frage ich.


„Was weiß ich. Ist ja alles chinesisch. Ich glaub aber, sie tauscht Nachrichten aus mit ihrer Familie und Freunden.“


So ungeduldig habe ich den Bullen vor vielen Jahren erlebt. Mit seiner ersten Frau, einer Deutschen. Sie wohnten in einem der obersten Stockwerke eines der Harry-Glück-Blöcke in Alterlaa, der markanten Skyline im Süden Wiens. ‚Selbstmörderburgen‘ nannten wir im Scherz die Wohnblöcke, und wirklich, für so Manchen, der sich von ganz oben hinabstürzte, war sein ganzes Unglück jäh zu Ende. Den anderen, die in ihrem Elend noch nicht ganz so weit waren, bot sich ein atemberaubender Ausblick über das südliche Wiener Becken. Ich erinnere mich, wie bei Dunkelheit an der riesigen Glasscheibe die Lichterspiele die Autobahn entlang, Rot und Weiß, sich irgendwo in der Badener Gegend im Nichts verloren. Ein ganz besonderes Erlebnis in Cinemascope. Trotzdem hatte ich kein heimeliges Gefühl da oben. Einsam und kalt, das waren meine Empfindungen. Nicht zuletzt, weil der Bulle seine Frau zur Schnecke machte mit seiner groben Wienerischen Häme. Eines Tages erfuhr ich, dass sie sich getrennt hatten.


Jetzt die gleichen Töne mit seiner Chinesin. Wie soll das zu seiner Hingabe für sie passen? Er hat ihr die Wege geebnet zu ihrem Blumenladen auf der Wiedner Hauptstraße, er macht den täglichen frühmorgendlichen Einkauf für sie auf dem Blumengroßmarkt, führt ihre Buchhaltung. Es ist vielleicht leichter jetzt in seiner Pension. Doch er tat es auch früher neben seinem fordernden Beruf. Wie passt so viel Hingabe zu solcher verbalen Herabwürdigung? Ist es nicht verständlich, dass für Jia Jin Kontakte mit ihrer Familie, mit zurückgelassenen Freunden Tropfen labenden Wassers sind für eine Blume, die in eine fremde Erde mit fremdem Klima und fremder Flora verpflanzt ist? Auch ich habe mich zweimal Frauen aus fremden Ländern vermählt. Ich habe gesehen, wie stark Verpflanzung in die Fremde wirkt. Wie notwendig es ist, die alten Wurzeln nicht ganz verkümmern zu lassen. Bis zu dem Punkt, dass ich die eine sogar rückverpflanzen wollte in die vertraute Erde, um den Preis, dann selber ein Verpflanzter zu werden. Ich weiß auch aus eigener Erfahrung, was das Leben in der Fremde mit dir macht. Du kannst es selbst herbeigeführt haben, du kannst dich gut zurechtfinden, aber dein Leben wird nicht von solcher Selbstverständlichkeit sein wie zuvor in der Heimat. Was mich betrifft, habe ich in der Fremde nicht nach heimatlichen Wassertropfen gelechzt. Hätte nicht Hömmerl mich, den Verpflanzten, gesucht, ich wäre in meiner einsamen Zweisamkeit verharrt. Denn zu fremd habe ich mich immer gefühlt, selbst auf heimatlicher Erde. Das ist aber nicht jedermanns Sache. Daher sollte man verstehen, dass die Tropfen heimatlichen Wassers sehr, sehr fehlen können, sollte das Trinken nicht störend empfinden, sondern nach Vermögen fördern.


Warum ich damals den Bullen nicht darauf angesprochen habe? Hätte es die feierliche Stunde gestört? Es wäre besser gewesen, als mich von seiner Verstörung verstören zu lassen. Delikt durch Unterlassung, also Schmiss. Andererseits auch wiederum nicht nötig. Denn, ein paar Jahre später werden Soile und ich mit dem Bullen und Jia Jin einen Nachmittag am Weißensee verbringen. Die Stunden werden so harmonisch verlaufen, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Das Blumengeschäft wird verkauft sein. Jia Jin verbringt immer wieder längere Zeit in China bei ihrer Familie. Soweit ich verstanden habe, ist es eine wohlhabende Familie, ein gutes Haus. Wenn wir ‚China‘ hören, denken wir immer gleich Kulturrevolution und Mao Zedong. Trotz dieser Wahrheiten gibt es offenbar in China wohlhabende Schichten mit tiefen Wurzeln. Das muss ich mir gelegentlich näher erklären lassen von Jia Jin. Die ganze Zeit wird sie ihr Handy nicht anrühren und mit tiefem Interesse an unseren Gesprächen teilhaben. Sie wird erzählen, wie sie mit einem der letzten Flüge nach Wien gelangen konnte, bevor die Chinese Airlines hier nicht mehr landen durften wegen der Virusgeschichte. Bei ihrer Schilderung der Umstände am Beginn der Pandemie in China und der staatlichen Maßnahmen dagegen wird sie in stolze Begeisterung verfallen, die uns etwas skeptisch zurücklassen wird. Aber, was für eine andere Person sie jetzt sein wird. Auch der Bulle wird locker und gelöst sein und alles, alles gut.

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