iuramed

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worin vorkommen: Padova, Hohenthurn, Indien, der Wozzeck, sowie ein neurasthenischer Südtiroler

Bei einem der Meetings der ANEIS in Padova stellte sich uns ein Mann vor. Dass er italienisch sprach, war ja ganz normal, doch hörte ich gleich, dass da eine sonderbare Färbung mitschwang. Auch blieb er nicht beim Italienischen, sondern schaltete um auf Deutsch. Wenn sein Italienisch ein sehr leichtes Kolorit aufwies, dieses Deutsch war aberwitzig. Rasch wurde mir klar, der Mann war Südtiroler. Mit ein paar Ausnahmen konnte ich verstehen, was er meinte. Soile hingegen verstand kein Wort. Ich antwortete also auf Deutsch, da hatte er schon wieder zurückgewechselt zum Italienischen. Auch gut, dachte ich, und eine Weile ging es eben italienisch weiter. Ganz plötzlich, mitten in einem Satz, schlengglte die Spuderai wiedr ummer zun Oubrwint (… schlug die Sprache wieder um in Nordwind). Wir setzten unser Gespräch also auf Deutsch fort, bis der Mann urplötzlich wieder umschaltete zum Walschen. 


Auf solche Weise bekam ich nach und nach heraus, der quirlige Mann hieß Andrea Failoni, war Arzt und medizinischer Sachverständiger mit Sitz in Padova. Das war sehr schön, denn das war genau, was wir dringend brauchten, und auch wir waren, was er dringend brauchte. Die Personenschäden wurden in Österreich völlig anders bewertet als in Italien und der Schadenersatz dafür klaffte um Welten auseinander. Gab es in Österreich eher bescheidene Schmerzengelder, so konnten in Italien danni morali, danno biologico und danno esistenziale (Schmerzengeld, biologischer Schaden, existenzieller Schaden) zu astronomischen Beträgen kumulieren. Das war für uns in mehrfacher Hinsicht problematisch. Ein italienischer Geschädigter, der seine Ansprüche nach österreichischem Recht durchzusetzen hatte, kam mit einer Erwartungshaltung auf uns zu, die auf seinen Erfahrungen in Italien beruhten, und konnte nicht fassen, wie wenig in Österreich dafür erzielbar war. Umgekehrt stellte sich der österreichische Geschädigte in seinen kühnsten Träumen nicht vor, wie viel ihm nach italienischem Recht zustehen konnte. Das Problem war, die italienische Versicherung oder das Gericht zu überzeugen, welche Faktoren zur Berechnung der Ansprüche heranzuziehen waren. Österreichische Gutachten waren dazu nicht zu gebrauchen. Die komprimierten Schmerzperioden, die österreichische Sachverständige in ihre Gutachten schrieben, klangen in italienischen Ohren wie Bagatellschäden. Es blieb also nichts Anderes übrig, als die österreichischen Geschädigten von einem italienischen Sachverständigen untersuchen zu lassen und die Forderung auf die Basis des italienischen Gutachtens zu stellen. Dazu mussten die Geschädigten allerdings eine Reise nach Italien zur Untersuchung in Kauf nehmen. Der von uns beauftragte Mediziner war Parteiensachverständiger, sein Gutachten Parteienvorbringen, das vom Parteiensachverständigen der Gegenseite zu überprüfen war. Der würde sich selbstverständlich nicht auf die Angaben über die klinische Untersuchung durch den Kollegen verlassen, sondern seinerseits den Geschädigten untersuchen wollen. Eine weitere Reise nach Italien? Wer einen relativ schweren Unfall in Italien überstanden hatte, brachte kaum die Lust auf weitere Reisen nach Italien auf, geschweige denn auf mehrere. Viele glaubten, wir seien verrückt geworden, wenn wir ihnen so etwas vorschlugen. Daher bemühten wir uns um eine gemeinsame Untersuchung durch die beiden Sachverständigen. Auch dabei lauerten vielfache Fallstricke. Schon einen Termin zu finden, der beiden passte, war nicht einfach, dazu kamen die Wünsche des Kunden. Selbstverständlich musste jemand von uns bei der Untersuchung anwesend sein, nicht nur um zu dolmetschen und allfällige Fragen zur medizinischen Dokumentation zu beantworten, sondern auch um dem Kunden zu erklären, was da passierte und ihm entsprechend Vertrauen einzuflößen. Manchmal kam es vor, dass einer der Sachverständigen den Termin nicht wahrnehmen konnte, etwa weil ein Notfall eingetreten war. Die Sachverständigentätigkeit war für sie ja nur eine lukrative Nebenbeschäftigung. Hauptsächlich praktizierten sie als Oberärzte oder Primare in Kliniken. In solchen Fällen hatten wir immer das Glück, dass die beiden Kollegen einander ausreichend vertrauten, um dem dann allein Untersuchenden eine objektive Beurteilung zu unterstellen. Ein Vertrauen, das die beauftragende Versicherung mit Sicherheit nicht aufbringen würde. Wie das ging, weiß ich bis heute nicht, aber letztlich gab es da ein Gutachten, das auf der Basis seiner klinischen Untersuchung die Beurteilung des abwesenden Sachverständigen enthielt.


Nehmen wir nun an, es existierten wirklich die beiden Gutachten der Parteiensachverständigen. Dann war es unsere Aufgabe, die beiden Expertisen in Verhandlungen mit der Gegenseite unter einen Hut zu bringen. Gelang das, gut. Wenn nicht, blieb nur der Klagsweg. Und was würde der Richter tun? Er würde einen Gerichtssachverständigen beauftragen. Eine dritte Reise nach Italien! Viel Glück!


Es ist nachvollziehbar, dass unser Parteiensachverständiger eine ungemein wichtige Figur auf unserem Spielbrett war. Neben seiner medizinischen Expertise sollte er gut mit seinen Kollegen vernetzt sein und mit den speziellen Anforderungen zurechtkommen, die die ausländischen Probanden und die fremdsprachige Dokumentation mit sich brachten. Das konnten wir nur ausprobieren. Mit den unterschiedlichsten Erfahrungen. Selbst mit den zuverlässigsten und besten Partnern blieben die Unterfangen für uns extrem aufwändig.


Failonis Auftritt war uns höchst willkommen. Je mehr wir miteinander redeten, oder besser er mit uns, desto besser stellten sich meine Ohren auf sein Südtirolerisch ein, bis ich zur Auffassung kam, das war ja wirklich nicht so schlimm, mein anfänglicher Eindruck übertrieben und unzutreffend. Er konzentrierte sich aufs Sachverständigenmetier, praktizierte nicht mehr klinisch. Seine Ordination, ausschließlich für die Untersuchungen, befand sich in Padova. Das würde etwas längere Anreisen für unsere Probanden und uns selbst bedeuten. Doch Failoni sagte, er untersuche überall in Italien, oft auch in Südtirol. Er sei da ganz flexibel. Ohne weiteres würde er auch nach Udine kommen. Oder nach Hohenthurn. Oder direkt zu unseren Kunden, wo auch immer. Das war der Knaller! Failoni würde unsere Kunden an ihrem Wohnort untersuchen. Wir müssten nicht dabei sein. Und wir bekämen Gutachten auf der Basis italienischen Rechts. Die Sachverständigenmisere wäre Geschichte. Zu schön um wahr zu sein.


Ob der wuselige Failoni so funktionieren würde, wie er es darstellte? Selbstverständlich versuchten wir es. Anfangs in Udine. Ivos neues Büro war groß genug. Wir informierten die gegnerische Versicherung über den Untersuchungstermin und stellten es ihr anheim, einen Sachverständigen zu entsenden. Der Kunde würde jedenfalls zu keiner weiteren Untersuchung anreisen. Selbstverständlich kam keiner. Ich war bei der Untersuchung anwesend. Failoni behandelte den Kunden wie der Doktor den Wozzeck. Ich bemühte mich, mit Humor einen verbindlichen Ton unterzumischen. Ich sah, wie der Kunde verunsichert war. Positives Feedback bei der Auftraggebergesellschaft war vorerst nicht zu erwarten. Das Gutachten war eine Wucht. Es schien mir viel zu knapp im Wortlaut und viel zu dick aufgetragen in der Beurteilung. Failonis Honorarnote war alles das ohne Zweifel, eine Wucht und viel zu dick aufgetragen. Frech quantifizierten wir die Forderung auf der Basis von Andreas Gutachten. Und siehe da: Das Gutachten hielt im Wesentlichen. Die Gesellschaft zahlte mit akzeptablen Abstrichen, nach etwas Meckern auch Andreas Gutachten. Und unsere Kosten. Jetzt war es vorbei mit der Verunsicherung des Kunden. Das Feedback war wieder in Ordnung.


Failoni reiste gern. Wir organisierten für ihn Rundreisen durch Teile Österreichs von einem Probanden zum anderen. Manchmal war er zwei Tage unterwegs. Bei unseren Treffen mit Failoni fühlte ich mich nie richtig wohl. Die gleiche herablassende Art, mit der er die Probanden behandelte, bekamen auch wir zu spüren. Aber er hielt seine Termine ziemlich pünktlich ein. Er schrieb Gutachten, die in klaren, prägnanten Worten das Wesentliche sagten. Nicht die ausufernden Dissertationen seiner Kollegen, die man so oder auch anders interpretieren konnte und den Verhandlungen ein weites Feld eröffneten. Failonis Gutachten ließen wenig Spielraum. Sie führten zu einem ziemlich stringenten Ergebnis. Da gab es nicht viel zu streiten. Wenn es um gerichtsanhängige Fälle ging und der Gerichtssachverständige zur kollegialen Untersuchung gemeinsam mit den Parteiensachverständigen lud, entsandten wir Failoni. Die Resultate waren immer günstig. Schon mit Marian war unsere Schlagkraft um eine Kategorie gestiegen. Mit Marian und Failoni spielten wir in der Oberliga.


Failoni hatte große Pläne. Er träumte von einer großen internationalen Organisation, spezialisiert auf Gutachtenerstellung. Die Idee fand auch ich vielversprechend. Es schien großes Potential darin zu stecken. Ich fragte mich nur, weshalb er sich damit nicht an die großen finanzkräftigen Spieler des Sektors wandte, sondern ausgerechnet an uns kleinen Fisch. Vielleicht lag es daran, dass er privat in schwierigen Problemen steckte. Seine Ehe lag gerade in den letzten Zügen. Eine kleine Tochter sehnte sich vergeblich nach ihrem Papa. Oder verfolgte er zu viele verschiedene Ziele gleichzeitig? So sprach er auch von der Medikamentenherstellung in Indien oder pharmazeutischen Versuchsreihen an Indern, alles Themen, die später Bedeutung gewinnen sollten, wenn auch eine zweifelhafte. In Richtung Gutachten heckten wir einen Geschäftsplan aus. Miteinander gründeten wir eine Personengesellschaft. Den Namen dafür dachte ich mir aus: ‘juramed’. Wieder gab es Probleme mit dem Gewerbeamt. Der Firmenname wäre irreführend, denn er ließe auf Juristen schließen, die sie führten. Das ‘med’ deckte wohl Failoni ab, aber ich nicht das ‘jura’. Wir einigten uns schließlich auf das romanhafte ‘juramed Richter & Richter OEG & Co Gutachten KEG’, verwendeten aber im täglichen Gebrauch natürlich nur den Titel. Die Idee war, dass Failoni seine Dienste anderen, auch bedeutenderen Auftraggebern anbieten konnte, wenn eine Firmenorganisation dahinterstand. Der Firmensitz in Österreich wirkte seriöser als in Italien. Und wir würden Failoni von fast allen organisatorischen Tätigkeiten entlasten. Er brauchte nur seine Untersuchungen durchführen und die Gutachten verfassen. Unsere Auftraggeber nahmen die Erweiterung des Angebots freundlich auf. Die von ihm erhoffte Ausweitung des Auftraggeberkreises überließ ich aber Failoni selbst. Wir mussten zusehen, mit unserer ureigenen Arbeit zurande zu kommen. „Da tean ma nischt“, dachte Failoni und konzentrierte sich auf seine Gutachten. Das lief gut, aber die Eroberung des Marktes blieb aus. 

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