Reise 2008

Reise 2008

Prolog


1989 und 2008 waren für mich und Soile einschneidende Jahre.


1989, weil da in diesem Teilchenbeschleuniger, den sie das Leben nennen, zwei Elementarteilchen kollidiert sind, dadurch aus ihrer vorbestimmten Bahn geworfen wurden und die weiteren Runden ineinander verschmolzen durch den Ring torkelten.


2008, weil da das Experiment abgeschlossen war. Der Versuchsleiter stellte die Magnete ab. Die fusionierten Teilchen wurden ins Freie entlassen und mussten fortan nicht mehr kreisen. Für sie begann ein neues Experiment. Die Freiheit.


Bis dahin waren unsere Reisen kurz und schnell, bestimmt von Zeitmangel und Eile, weil wir ja kreisen mussten. Sie vergingen tatsächlich im Flug. Jetzt konnten wir auf das ungeliebte Flugzeug verzichten. Am Anfang meines Berufslebens stand das Auto. Das Auto steht auch an seinem Ende. Grundlage für das neue Reisen war die Muße. Nicht nur für das Reisen, für alle Tage.

 



Donnerstag, 28. August

Steiermark


worin vorkommen:  der Obdacher Sattel, das Murtal, Zeltweg, die Fliegerbar, Knittelfeld, Maria Schnee, Kraubath, Seckau, das Stift, der Hofwirt, Admont, Gaal, Sankt Oswald, die Rottenmanner Tauern, Trieben, der Pletzen, Judenburg, das Gesäuse, die Enns, Hieflau, die Radstädter Tauern, die Salza, der Hochschwab, Wildalpen, Steyr, der Brücklwirt, Kirchenlandl


Um 9 Uhr 30 setzen wir uns in die schon gestern beladene, 545 km neue Kisu und fahren los.

 

Die Fahrt über den Obdacher Sattel ist lieblich und sanft, ohne bemerkenswerte Steigungen. Wir gelangen also in aller Ruhe ins Murtal und hier überfällt uns eine andere Welt. Ein Gewirr von breit ausgebauten Straßen und Schnellstraßen und Kreisverkehren, durchzieht ein schon fast regional zusammengewachsenes Industrie- und Gewerbegebiet. Neben den Straßen liegen die bekannten Großbetriebe aller Marken, Großmärkte, Auto- und Möbelhäuser, Gewerbebetriebe. Der Verkehr ist höllisch. Ich habe alle Aufmerksamkeit aufzuwenden, um Soile in die richtige Richtung zu dirigieren, nach Zeltweg. Damals, vor fast fünfundvierzig Jahren, lief eine Bundesstraße an einem Zaun vorbei, der zur Fliegerkaserne gehörte. Zwar war die Straße schon damals relativ stark befahren, trotzdem meinte man sich auf dem Land, nicht wie jetzt, in einer nervösen Industriegegend. Das einzige, was von damals wiederzuerkennen ist, ist das Kasernentor. Immer noch steht da so ein armer Halawachl Wache. Mich wundert, dass er keinen Mundschutz trägt. Der Feldweg an der Ostseite der Kaserne, den Zaun entlang, wo ich an den Wochenenden unerlaubt Richtung Berge gewandert bin, ist noch unverändert, aber aus der Zeit gefallen hinein in die Hektik. Die alte Fliegerbar, damals ein kreisrundes Café, ist umgebaut zu einem grell rot schreienden Nachtlokal. Richtung Knittelfeld liegen offen die seinerzeitigen Felder entlang der Straße, aber der Verkehr bleibt nervös. Ich kann nicht verhindern, dass hinter meinen geschlossenen Augen eine Horde bepackter Gestalten erscheint, die ungeordnet durch die vom weißen Schnee fahl erhellte Nacht über diese Straße von Knittelfeld her in Richtung Kaserne hetzen. Ich suche die Berge im Norden ab nach dem glänzenden Pünktchen Maria Schnee, doch heute zeigt es sich nicht. Es fehlt die Sonne, die es erstrahlen lässt, aber auch die Ruhe zum genaueren Suchen.

 

Auch Knittelfeld ist nicht wiederzuerkennen. Der aufgeregte Verkehr ist auch nicht einladend, ein wenig zu verweilen. Entlang der Straße Richtung Kraubath, wo früher nichts als Gegend war, stehen an den Hängen unzählige Familienhäuser der luxuriöseren Klasse inmitten ihrer gepflegten Grundstücke. Die Region ist trotz der immer wieder aufgetretenen Krisen wirtschaftlich enorm aufgeblüht, ob zu ihrem Vorteil, bleibt fraglich. Vielleicht ist sie auch nur aufgebläht?

 

Kraubath, immer durch mit Vollgas, damals. Wir finden die Abzweigung Richtung Seckau. Auch hier dasselbe Bild. Wunderschöne Wohnhäuser neueren Datums. Aber hier gibt es zwischendurch, gottlob, auch noch die gewohnte grüne Landschaft, wie ich sie einst durchstreift habe. Nach Kurzem erscheint auch schon eine Turmspitze des Stifts über dem Horizont. Also auch von dieser Seite kommend, wie damals von Zeltweg her weglos über die Hügel, tauchen vom Stift zuerst die Turmspitzen auf. Nur damals waren sie für mich eine Überraschung. Nach zwei, drei Kurven stehen wir vor dem imposanten Gebäude.

 

Von außen ist nur der mächtige Vierkant zu sehen, der sich im Innenhof in lange Renaissance-Galerien auflöst. Von der Stiftskirche ist die strenge Fassade mit den beiden kurzen, eckigen Türmen zu sehen. Aus defensiven Zeiten konnte man übergehen zu vorsichtiger Öffnung. Im Innern der Kirche fasziniert der fast toskanisch nüchterne Raum.

Wir sind aber auch wegen des Hofwirts gekommen. Mehrmals hatte ich bei meinen Wanderungen querfeldein von Zeltweg nach Seckau dort beim Hofwirt wundervolle Palatschinken verzehrt. Vielleicht waren sie einfach nur nicht schlecht, aber der Hunger nach der Wanderung hat sie glorifiziert. Gleich bei unserer Ankunft hat mein Blick sich vergewissert, ob es das Gasthaus noch gebe, und es gab. 

Der Platz vor dem Stiftsgebäude wird im Norden von einem wunderschönen barocken Gebäude abgeschlossen. Im Erdgeschoss befindet sich seit undenklichen Zeiten ein Gasthaus. Die Räume sind in altehrwürdigem Zustand belassen, die Zeit hat die hölzerne Vertäfelung verdunkelt, dennoch ist alles sauber restauriert und äußerst einladend. Der Platz dort am Fenster ist noch genau so wie damals, mit den Palatschinken.

 

Wir nehmen aber diesmal im Gastgarten unter den uralten Kastanien Platz und genießen ein feines Mittagessen. Die ganze Zeit weht die Luft Chormusik herüber aus einem offenen Fenster des Stifts. Ein Chor probt geistliche Musik, die ich zwar zu kennen glaube, aber doch nicht einordnen kann. Schöner kann der Urlaub gar nicht werden.

 

Es nützt aber nichts, irgendwann muss aufgebrochen sein, denn die Etappe wäre noch zu kurz. Das nächste Ziel ist Admont. Der Karte folgend möchte ich eine kleine, untergeordnete Straße von Seckau über Gaal nach St. Oswald nehmen, von wo man über die Rottenmanner Tauern nach Trieben und Admont gelangen kann. Zuerst ist die kleine Nebenstraße lieb und anmutig. Wegweiser zeigen den Pletzen an, einen 2342 Meter hohen Gipfel über einem noch nicht lange erschlossenen Wandergebiet. Bald wird das Sträßchen enger und kurviger. Soile bezweifelt, dass es hier noch anderswo hingeht als mitten in den Wald. Dazu hört plötzlich der Asphaltbelag auf und ich muss Kisu über eine Sandpiste tänzeln lassen, steil bergan in zahlreichen Kehren, grobe Steine und Löcher tunlichst vermeidend. Auch mir kommen Zweifel, aber umkehren? Nur über ,eine Leiche. Irgendwo in mir schlummert doch ein Finne! Die Straße macht auch keine Anstalten, sich noch weiter zu verengen. Endlich, nach mehr oder weniger zehn Kilometern, passieren wir offenbar die Passhöhe, wo an einer bewirtschafteten Berghütte einige Fahrzeuge parken. Von nun an geht’s wieder bergab, bisweilen auch steil, aber auf dieser Seite des Passes ist die Straße noch schlechter. Hier liegt Schotter, sehr grob bis zu stellenweise einfach große Steine, sodass man gezwungen ist, im Schritttempo zu fahren. Der Abstieg ist zermürbend, weil ständig äußerste Konzentration erfordernd und nicht weniger als ein Dutzend Kilometer lang und dauert entsprechend. Schön ist es ja hier oben im steirischen Wald, aber mir tut die junge Kisu leid; sie wird glauben, das ganze Leben wird so sein. Endlich kommen wir an eine Weggabelung und von da an geht’s etwas zivilisierter weiter. Wir erreichen St. Oswald ohne Reifenpanne und gelangen nun auf guten Straßen nach Trieben. Der Umweg über Judenburg hätte uns wahrscheinlich zwei Stunden und Kisu etliche Abnutzung am Fahrwerk erspart.

 

Die Gegend um Trieben finden wir verwirrend beschildert, sodass es auch hier eine ganze Weile dauert, bis wir die Straße nach Admont finden. Dort angekommen, macht sich bereits etwas Müdigkeit bemerkbar.

 

Mit einem Ticket für die letzte Stunde der Besuchszeit besichtigen wir die prächtige barocke Bibliothek. Dem Nebenflügel, in dem sie untergebracht ist, würde man von außen einen so edlen Inhalt nicht zutrauen. Das Gebäude ist schmucklos weiß getüncht mit einer – glaube ich – zweistöckigen Reihe ebenso einfacher und schmuckloser Fenster. Und dann innen diese Pracht!

Fahrt durch die enge Schlucht des Gesäuses mit den wiederholten BlickeWir können uns nicht erklären, wie man auf die Emporen gelangt, denn augenscheinlich führen keine Stiegen dort hinauf. Die Emporen sind auch nicht durch die drei Räume miteinander verbunden. Sollten die Bücher dort oben nur Attrappen sein, wie manche der größeren Buchrücken im unteren Bereich? Die Fälschungen sind zwar gut gemacht, aber bei genauerem Hinsehen doch eindeutig. Meist ist eine ganze Bücherreihe zusammen vorgetäuscht. Nahe beisammen liegen Prunk und Prahlerei.

 

n auf das tosende Wasser der Enns. In der fortgeschrittenen Nachmittagsstunde holen viele Wildwassersportler ihre Kanus aus dem grünen Wasser und packen ihre Ausrüstung zusammen. Vor Hieflau wendet sich die Enns, die von den Radstädter Tauern kommend bis hierher immer ostwärts geflossen, scharf nach Nordnordwest. Sie nimmt hier die Salza auf, die ihr ebenso quirliges Wasser aus dem Osten vom Hochschwab herbringt. Wildalpen liegt an ihrem Weg. Der von mir unerwartete Wegweiser nach Wildalpen macht mich sentimental. Ich erinnere mich an diesen wunderschönen Ort mitten in den Bergen, der weitab von allem in einem lieblichen Talkessel liegt, umgeben von uralten Wäldern, in denen bis heute niemals Waldwirtschaft betrieben wurde. So mancher Ausflug und Kurzurlaub hat mich dorthin geführt, mit Maria, Alice und Oskar Langer und Franz Prödiger, später auch mit Annamaria. Einer der Kollegen bei der Autovermietung war aus Wildalpen, ich glaube, er hieß Bauer. Er war genauso wie der Ort, naturbelassen und ungeschliffen. Aber, er hat uns dorthin gebracht.

 

Der Wegweiser kam so überraschend, dass wir bereits in der anderen Richtung unterwegs waren, als all diese Erinnerungen erst auftauchten. Sonst hätte eine Übernachtung in Wildalpen den Umweg wohl gerechtfertigt. Macht nichts, so bleibt Wildalpen ein Ziel für ein anderes Mal.

 

Unterwegs Richtung Steyr ist das Tal jetzt weiter und lieblicher und das Wasser breiter, andante maestoso, kräftig und dunkelgrün, unaufhaltsam. Nicht lange nach der Richtungsänderung passieren wir ein links neben der Straße alleinstehendes Gebäude, das als Gasthof Brücklwirt erkennbar ist. Wir halten hier, fragen nach einem Zimmer und das klappt auch. Die Wirtin führt uns hinauf in den zweiten Stock. Gut, wir sind noch steif vom langen Sitzen im Auto, aber diese Stiegen sind wie zum Teil das Haus aus dem achtzehnten Jahrhundert oder noch älter, extrem steile Stufen mit sehr kurzem Auftritt, sodass man die Beine schon sehr konzentriert und hoch heben muss, um nicht zu stolpern. Oben öffnet sich ein netter Raum mit einfacher, neutraler Einrichtung, kleiner Tisch und zwei Sessel, nachträglich eingebaute Duschkabine. Das Fenster bietet einen atemberaubenden Ausblick über das Ennstal Richtung Südosten. Die Eisenbahntrasse bis weit in die Ferne, dort ein kleiner Bahnhof, darüber die hohe Straßenbrücke, welche die Enns Richtung Wildalpen quert. Und rundum wie Kulissen spitzige und runde Hügel, Wälder und Weiden an den Hängen, kleine Siedlungen und einzelne Gehöfte. Der Abend nähert sich, aber noch malt der Himmel mit seinem Blau die Räume aus zwischen den Gipfeln. Hier bleiben wir.

 

Um uns die Steifigkeit aus den Beinen zu schütteln, machen wir einen nicht ganz kurzen Spaziergang in Richtung des Dorfes, das in einiger Entfernung erkennbar ist. Auf diese Weise erfahren wir, dass wir in Kirchenlandl sind. Bis zur Kirche mit ihrem lustigen Zwiebelturm spazieren wir und wieder zurück zu dem alten Gasthof. Wir beschließen, im Zimmer Mitgebrachtes zu essen. Dazu beschaffe ich etwas Rotwein aus dem Wirtshaus. Die junge Kellnerin möchte mir zwei Glas Wein geben, aber ich verlange die ganze Flasche. Sie will mir zu verstehen geben, es sei nicht nötig, die ganze Flasche zu kaufen, sie könne gern auch nur zwei Gläser verkaufen. Ich aber sage, ein Liter, das schaffen wir leicht im Laufe des Abends und nehme ihr die Flasche weg. Man kann schon was erleben im Gastgewerbe!

 

Im Zimmer stellen wir den Tisch ganz nahe ans weit offene Fenster und machen uns ans Abendmahl. Auf dem Dach unterhalb des Fensters liegt ein Sportschuh. Wir stellen die seltsamsten Hypothesen auf, wie er da hingekommen sein mag und weshalb er nicht geborgen wurde. Die Dämmerung ist jetzt schon fortgeschritten und künstliche Lichter stechen schon auffällig aus der Landschaft. Ein Bummelzug hält an der roten Signalleuchte in der Entfernung. In kurzen Abständen tasten sich Autoscheinwerfer über die Ennsbrücke. Nach Wildalpen.

 

Ein großer Lastwagen kommt aus Richtung Hieflau und parkt mit schwierigen Manövern am Nachbarhaus. Der Fahrer sitzt noch einige Zeit in seiner Kabine und hantiert wohl mit den Tachoscheiben oder füllt Berichte aus. Dann betritt er das Haus und bekommt wohl auch ein gutes Abendbrot. Ein anderer Mann kommt aus der Gegenrichtung auf einem Fahrrad und verschwindet in der Scheune zwischen den beiden Häusern. Auf sein Nachtmahl würde ich nicht unbedingt wetten.

 

Die ersten Sterne erscheinen in ungewohnter Richtung. Wir lassen die Erlebnisse des Tages vorüberziehen. Schließlich herrscht draußen Dunkelheit, nur das Spiel der Lichter zeigt, dass da draußen noch eine Welt ist. Bei den Gehöften gehen die Lichter an und aus, aber die Lichter am Himmel strahlen stetig, nur manche funkeln unruhig, weil sie schon gespannt sind, wie die Reise weitergeht.



Freitag, 29. August

Oberplan

 

worin vorkommen: Graz, der Schlossberg, Enns, das Schloss, Mauthausen, die Donau, die KZ-Gedenkstätte, Freiburg, Bad Leonfelden, die Tschechische Republik, der Moldau-Stausee, Vissy Brod, Iesolo, Horni Plana (Oberplan), der Plöckensteiner See (Plešné jezero), das Stifter-Geburtshaus, die Ruine Wittinghausen, Pension und Restaurant 'Oliver' , Adalbert Stifter, 'Der Hochwald', 'Witiko'


Nach einem schönen Frühstück beim Brückenwirt setzen wir die Reise fort und folgen der grünen Enns. Das Wetter ist heute trüb und windig. In Steyr machen wir eine kleine Stadtbesichtigung.

Hinauf zur alten Stadtpfarrkirche und wieder hinunter über Steige und Stiegen, die an den Grazer Schlossberg erinnern.

 

Ein Kaffee auf dem Stadtplatz, ein Gedanke an Gabi Achatz, dann geht's weiter nach Enns. Wir besichtigen auch hier das Zentrum und das Schloss, dann fahren wir weiter Richtung Nord.

 

Bei Mauthausen setzen wir über die Donau. Sollte sich jemand fragen, weshalb wir auf einen Besuch der KZ-Gedenkstätte verzichten: Meine Einstellung zu der Problematik ist sowieso unerschütterlich und muss nicht gefestigt werden. Wir suchen die Straße nach Freiburg und rasten, kurz bevor wir es erreicht haben, auf einem hübschen Parkplatz, wo auf einer kleinen Anhöhe Tisch und Bank zur Jause einladen.

 

Jetzt ist es nicht mehr weit bis Bad Leonfelden und ehe wir's uns versehen, sind wir an der tschechischen Grenze. Wir halten hier, um ein paar Kronen einzutauschen, dann tauchen wir ein in die Tschechische Republik.

 

Die Straßen sind eng und ländlich, die Dörfer alt und ländlich, moderne Firmenschilder, zu groß, zu gerade, zu schreiend, passen so überhaupt nicht an die mittelalterlichen Häuser, verdecken zum Teil die kleinen Fenster in den Fassaden. Verrunzelte Urgroßväter mit Megaphonen. Hinter manchem dieser Gemäuer spielt sich heute wieder ab, was die tote Grenze während des Kalten Krieges für kurze Zeit unterbunden hatte. Die Geschäfte mit dem käuflichen Sex blühen wieder. Der Sex ist der alte, älter noch als die alten Häuser. Die offene Reklame dafür ist neu und die Herkunft der Anbieterinnen.

 

Durch dichten Laubwald schlängelt sich die Landstraße, bis sie plötzlich den Blick auf den Moldaustausee freigibt. Ein Ast der Straße führt über die Staumauer ans andere Ufer. Der Ort Vissy Brod ist sehr belebt, noch wimmelt hier eine Heerschar Touristen. Ich hatte mir ein Hotel aus dem Internet gesucht, weiß auch, wo etwa es stehen sollte, aber das Hotel hat meine Mailanfrage gar nicht erst beantwortet. Auch stört uns der Trubel allenthalben. Hier geht's zu wie in Iesolo. Wir fahren also weiter dem Nordufer des Sees folgend bis nach Horni Plana, das ist Oberplan, Adalbert Stifters Geburtsort.

 

Am obersten Ende des Platzes liegt die Pfarrkirche. Es ist ein kleiner gotischer Bau mit Wehrturm. Schaut etwa so aus, wie Kinder Kirchen zeichnen. Man geht über eine ziemlich weite Rasenfläche zum Haupttor. In einem kleinen Vorraum werden fromme Publikationen zum Verkauf angeboten. Dahinter die Kirchentür bleibt verschlossen.

 

Oberplan scheint mir ein geeigneter Ausgangspunkt zu sein für die beabsichtigte Wanderung zum Plöckensteiner See. Für die Nächtigung empfiehlt man uns Apartment Stifter, ein Apartmenthaus gleich neben dem Geburtshaus des Dichters (Foto).

Das Museum im Stifter-Geburtshaus ist noch geöffnet und wir haben auch noch ausreichend Zeit für eine eingehende Besichtigung. Neben den erwarteten Informationen über Biografie und Werk des Dichters und Malers findet sich eine ausführliche Sammlung über die Ruine Wittinghausen, die im ‘Hochwald’ eine wichtige Rolle spielt. Die Räume des Hauses beflügeln die Vorstellung, wie sie einstens ausgesehen haben mögen. Tatsächlich ist das Haus bei einem Brand 1936 fast ganz zerstört worden. Bei Ansicht des tschechischen Textes zum Thema ‘Witiko’ stelle ich mit Überraschung fest, dass er auf Tschechisch ‘Vitek’ heißt, und es ist mir völlig unmöglich, jetzt meinen früheren Freund und tatsächlich schlanken Black&White-Spieler Eduard Vitek, den Vitek-Edi, fürderhin nicht in diesem Zusammenhang zu erinnern.

 

Unweit unseres Apartments, schräg gegenüber, auf der anderen Seite der Landstraße, befindet sich in einem ebenfalls alten und restaurierten Bürgerhaus die Pension ‘Oliver’ mit Restaurant. Nachdem wir noch einmal eine gemächliche Runde durch den kleinen Ort gedreht haben, diesmal zu Fuß, kehren wir zu Oliver zurück zwecks Abendessen. Die Karte ist international. Ich suche, finde aber nichts Böhmisches, außer Knödel. Die bestelle ich natürlich als Beilage, ich kann nicht mehr sagen wozu. Es sind zwei Scheiben blass weißer Serviettenknödel, trocken, unscheinbar. Die berühmten böhmischen Knödel müssen andere sein.



Samstag, 30. August

Plöckenstein

 

worin vorkommen: Dlouhy Bor, Jugoslawien, die Pension 'Alma', der Plöckenstein, der Böhmerwald, Nova Pec, die Nordsee, das Schwarze Meer, die Moldau, die Große Mühl, Wien, Prag, Österreich, Bayern, das Hotel 'Nova Pec' ,  Joseph Rosenauer, Fürst Karl Philipp zu Schwarzenberg, Karel Schwarzenberg 




Dennoch finden wir uns auch zum Frühstück wieder bei Oliver ein. Da es nicht kalt ist, frühstücken wir auf der Terrasse. Blaue Aufhellungen am sonst grauen Himmel scheinen Besserung zu versprechen. Als Wanderwetter scheint der Tag ideal. Da wir die Ferienwohnung ohnedies nicht ausnützen und der Preis auch hoch erscheint, beschließen wir, Oberplan zu verlassen und nach Dlouhy Bor zu verlegen, von wo aus wir die geplante Wanderung in Angriff nehmen können, ohne erst mit dem Auto fahren zu müssen.

 

Von unserer Frühstücksterrasse blicken wir hinüber zum Stifterhaus. Auf der Seitenstraße links davon nähert sich eine seltsame Gestalt. Es ist eine Frau in fortgeschrittenem Alter, die warme Wollwesten trägt, einen bunten Rock aus ebenso warmem Material und dicke Strümpfe, in der einen Hand hält sie ein Plastiksackerl, in der anderen eine Stoffpuppe. Ich habe noch nie eine lebendige Matroschka gesehen, aber mir ist sofort klar, das ist eine. Viele Menschen sind nicht unterwegs, aber die wenigen werden von der Matroschka angebettelt. Schließlich setzt sie sich auf die Bank vor dem Stifterhaus und redet mit ihrer Puppe. Die Museumskustodin erscheint, öffnet die Haustür, stellt ein paar Werbeständer vor die Tür, ein großer Kater springt auf die Straße. Die Matroschka bettelt nun auch bei der Museumsbetreuerin, bekommt aber nichts von ihr. Bald tauchen erste Besucher auf. Die Matroschka oder ihre Puppe dringen auf sie ein. Der Kater schleicht um die Ecke.

 

Es ist nicht weit bis Dlouhy Bor auf dem ruhigen Landsträßchen, das einen guten Belag aufweist und trotzdem etwas unterentwickelt erscheint, etwa wie vor vierzig Jahren die Straßen in Jugoslawien. Wir rollen durch das kleine Dorf, das ohne die sichtbaren Auswirkungen des aufstrebenden Tourismus kaum ein Dorf zu nennen wäre. Es liegt am westlichen Ende des Moldaustausees, den man aber wegen der Beschaffenheit des Ufers gar nicht sehen kann. Immerhin gibt es einen Wegweiser zum Hafen und eine Eisenbahnhaltestelle. Dort weitet sich die einspurige Trasse zu einem kleinen Bahnhof aus. An einer der wenigen Straßenkreuzungen befindet sich die Pension Alma. Es ist ein ziemlich neues, modernes Gebäude, einstöckig und weitläufig. Der Betreiber, ein trockener Typ, zeigt uns ein schönes Zimmer und nennt einen angenehmen Preis. Wir sind erleichtert und bleiben gern.

 

Gleich nach dem Einchecken wandern wir los, queren das Eisenbahngleis, nachdem wir eine Zugsgarnitur passieren lassen mussten, die in uns Mitleid und Heiterkeit gleichzeitig erregt, ich weiß nicht von welchem mehr. Eine Diesellokomotive aus den Anfängen des Realsozialismus, grüne und rote Farbreste zwischen dem Rost. Sie versprüht mehr Rauch als jede Dampflok und macht Geräusche, die erbärmlicher sind, als man sich vorstellen kann. Schon Hunderte Meter vor der Kreuzung mit der Straße stößt sie Schreie aus, als näherte sich ein Ozeanriese, dumpf und verzweifelt, anhaltend und markdurchdringend. Das Ungetüm zieht, nein, schleppt mühselig zwei Wagen hinter sich her, Museumsstücke auch diese. Die Schienen kreischen herzzerreißend. Eine Tragödie, die vielleicht zweimal täglich hier ihren Lauf nimmt. Dass dieses Vehikel den nächsten Bahnhof erreichen soll, kann nur eine vage Erwägung sein, in nichts anderem begründet, als dass es so im Fahrplan steht, gerade so wie die Bibel die Auferstehung verspricht. Die erbärmliche Garnitur verschwindet in westlicher Richtung im Wald, noch lange hören wir ihr Gestöhne. Wahrscheinlich gibt es dort noch mehr Eisenbahnkreuzungen.

 

Wir folgen der Straße, die zunächst kaum ansteigend in südlicher Richtung führt, zu beiden Seiten abgeerntete Felder. Die Sonne ist nicht mehr sehr stark, dennoch beginnt ihr Schein auf die Wanderer über die freie Ebene bald zu stechen. Es ist Samstag. Ab und zu gibt es Autoverkehr, die Wagen scheinen besetzt von Wochenendausflüglern oder Urlaubern, die es nicht so sportlich angehen wie wir. Oft tragen sie Fahrräder auf den Dächern. Sportlicher hingegen sind nicht Wenige, die auf ihren Mountainbikes den Erhebungen zustreben, die von Ost über Süd bis West den Horizont begrenzen. Es ist eine lieblich geschwungene Linie, ganz unaufgeregt zwischen dem Dunkelgrün der Wälder und dem milchigen Blau des Himmels. Im Südosten erreicht sie den höchsten Punkt und dort vermuten wir den Plöckenstein.

 

Die paar Kilometer auf der Straße ziehen sich, bald wünschen wir, diese erste Etappe bequem mit Kisu zurückgelegt zu haben, denn dieselbe Strecke wartet auf uns auf dem Rückweg. Bald steigt die Straße merklich an, aus dem Moldautal erhebt sich der Weg hinauf zum Böhmerwald. An riesigen Holzlagerplätzen führt die Straße vorbei, zum Teil sind es unglaublich mächtige Zeugen des nahen Waldes, die hier gestapelt liegen, riesige Leichen, Leichen von Riesen. Noch einmal so viele Schritte, und wir erreichen Nova Pec. Das sind nur ein paar Häuser, alte bodenständige und neue für Erholungszwecke. Immerhin lassen wir hier die Hitze der Ebene hinter uns. Auf einer Seehöhe von 800 Meter treten wir ein in die heilige Halle des Böhmerwaldes.

 

Es sind bequeme Waldstraßen, denen wir durch den spätsommerlichen Nadelwald folgen. Die Fichten und Tannen stehen dichter, wenn sie noch nicht jenes ehrwürdige Alter erreicht haben wie jene Riesen, die allen Nachbarn einen gehörigen Respektabstand abverlangen. Immer wieder treffen wir auf Gruppen von Spaziergängern mit Hunden und ohne, Wanderer, Läufer, Radler und Mountainbiker, die Gegend hat nichts mehr von der Einsamkeit aus Stifters Erzählungen, sondern wir befinden uns mitten in einer Region von intensivstem Erholungstourismus. Stellenweise hat man neben der Fahrstraße ebenso breite Schneisen geschlagen, die vom schnell wachsenden Unkraut bedeckt sind. Vielleicht dienen sie zur Holzbringung? Dann wieder hören wir schon von Weitem Motorenlärm. Wir passieren einen Traktor, der im Morast umher wütet und mit zorniger Gewalt versucht, verstreutes Fallholz in eine Ordnung zu bringen. All das lässt natürlich nichts von der Feierlichkeit aufkommen, welche Stifters Schilderungen erwarten haben lassen.





Nach einer Weile gelangen wir an eine Weggabelung. Der Wegweiser mit Aufschrift ‚Plešné jezero‘ heißt uns jenem breiten Pfad folgen, der sich in sanften Kurven durch den Wald schlängelt, immer einem gemauerten Bachbett zunächst, in welchem ein wenig Wasser träge dahin rieselt. Das Gefälle ist so flach, dass nur die Bewegung des entgegen kommenden Wassers verrät, dass wir doch ansteigend unterwegs sind. Es handelt sich um den Schwarzenberg Kanal, auch Schwarzenbergscher Schwemmkanal oder Svarcenbersky kanal.


Ende des 18. Jahrhunderts verwirklichte der damalige Fürst Karl Philipp Schwarzenberg, Vorfahre des heutigen tschechischen konservativen Außenministers mit starkem Österreich-Bezug und musketiereskem Aussehen, die Idee, die Wasserscheide zwischen Nordsee und Schwarzem Meer zu überwinden durch eine Kanalverbindung zwischen Donau und Moldau. Nach Plänen des Schwarzenbergschen Ingenieurs Joseph Rosenauer baute man einen Kanal oder besser ein Kanalsystem zwischen der Großen Mühl in Österreich und bis hinunter zur Moldau. Der Clou war, die unerschöpflichen Holzschätze aus dem Böhmerwald auf billige Weise in die großen Zentren zu transportieren, also nach Wien und Prag. Das Holz wurde in die Schwemmkanäle geworfen und gelangte ohne viel Zutun an die Moldau oder zur Donau. Der Aufschwung der Holzindustrie fällt in diese Zeit. Fürst Schwarzenberg siedelte damals in der Region Familien aus Österreich und Bayern an und da war's wohl mit der Hochwald-Ruhe des Dreißigjährigen Kriegs endgültig vorbei. Stifter muss das wohl gewusst haben, denn in seine Zeit fällt die Industrialisierung des Böhmerwaldes. Er hätte es wenigstens im Nachwort für mich erwähnen können, damit man nicht Reisen unternimmt mit falschen Vorstellungen.

 

Der Abschnitt dem Kanälchen entlang gehört zum hübschesten Teil der Wanderung. Mit dem Bächlein rinnt Romantik in den schweren Wald, das Licht wird duftig, die Seele leichter.



Wenn wir zum See hinaufwollen, kann es nicht ewig so gemütlich eben dahingehen. Der Wegweiser schickt uns also in den dichten Wald hinein, wo wir ein derzeit trockenes Gerinne zum Aufstieg benutzen. Zwar ist es lustig, von einem Stein auf den nächsten zu springen, aber letztlich auch etwas anstrengend. Unzählige Wanderer haben zwar auf beiden Seiten des Gerinnes Ausweichpfade in den Waldboden gestampft, aber denen zu folgen verlängert wiederum die Distanz. Wir haben's ausprobiert.


Das letzte Stück zum See ähnelt am meisten einem Spaziergang in österreichischen Wäldern. Nach gut zwei Stunden flottem Marschieren stehen wir plötzlich auf einer Lichtung. Ein lebhaftes Volk nimmt hier Aufenthalt. Radler, Wanderer, Ausflügler mit Hunden und ohne, alles picknickt oder hält ein Nickerchen, aber auch Ausschau über den See. Ach ja, ein See ist ja auch da, bei dem Betrieb wäre mir das fast entgangen.


Wir stehen vor dem "schwarzen Auge", einem der abgelegensten Orte der mittelalterlichen Welt, weit abseits jedes Weges, versteckt in dem unermesslichen Walde, wo Clarissa und Johanna Schutz vor den Schweden gefunden in dem vom Vater erbauten Holzhause am jenseitigen Ufer, ganz und gar unzugänglich, es sei denn über das Wasser selbst, darüber der Blockenstein, von wo aus die Schwestern ihr Fernrohr gegen Osten richten, ihr Vaterhaus zu erspähen, die Burg Wittinghausen, die gute Kunde, da sie es unversehrt erkennen, vom Wohlergehen des Vaters und des Bruders, wo auf der Waldwiese Clarissens und des schönen Schwedenkönigs Jugendliebe in reifen, reinen und unauflöslichen Bund verklärt, die verheerende Ahnung, als die Linsen Wittinghausen als rauchende Ruine melden. Durch diese Begebenheit hat der stille Ort unschuldig seine Unschuld verloren, indem das Ungeheuer Krieg eben dort in den liebenden Herzen der Menschen wüten konnte, wo er nimmermehr es hätte dürfen.

 

Adalbert Stifter, Der Hochwald


Eine Gruppe steht am Ufer beisammen, dort, wo einige Informationstafeln verkünden, was in dem Naturschutzgebiet und insbesondere an diesem See verboten ist. Tatsächlich durchstreifen zwei Naturwächter unablässig die Lagerwiese, bereit, bei möglichen Übertretungen einzuschreiten. Die kleine Gruppe hört einem Mann zu, der in stockendem Englisch über den Ort informiert. Dabei möchte er auch auf Adalbert Stifter zu sprechen kommen. "The area is known for Stifter", sagt er, "who was a famous German ... a German ...", das englische Wort für Dichter fällt ihm nicht ein . Eine Zuhörerin betreibt Brainstorming: "dictator", vermutet sie. Klare Assoziation: Was kann in erster Linie ein Deutscher schon sein als eben Diktator? Dem Informanten scheint wohl Diktator ziemlich nahe an Dichter zu liegen, daher akzeptiert er schnell: "Yes, Stifter, a famous German dictator." Wir lachen uns halb tot. Ich überlege noch, ob ich den Irrtum richtigstellen soll. Immerhin, Diktator ginge ja noch, aber Stifter ein Deutscher? Nun ja, der Gesinnung nach ... Es ist aber auch erkennbar, dass keiner der Zuhörer an der dargebrachten Version zweifelt und das lässt mich vermuten, es ist ohnedies völlig egal für die Leut, ob Stifter nun ein österreichischer Dichter oder deutscher Diktator war.

 

Unsere Blicke schweifen über den See, hinauf zum Plöckensteinfelsen, über die Wälder. Und da fällt uns auf: Der Wald ist in dieser Höhe, über 1100 Meter, weitgehend tot, die Nadelbäume weitflächig abgestorben. Ich erinnere mich an solche Bilder bei Berichten über das Waldsterben infolge Umweltverschmutzung. Aber mit eigenen Augen habe ich so etwas noch nie gesehen.

 

Wir brechen bald wieder auf zum Rückmarsch auf demselben Weg, den wir gekommen sind. Leichter geht es hinunter über das Steingerinne, einmal im Trab überholen wir alles, was nicht auf Rädern unterwegs ist. Ein junger Vorsteherhund genießt das Bad im Schwarzenbergkanal. Wie schon beim Hinweg befürchtet, zieht sich am meisten die Landstraße ab Nova Pec bis Dlouhy Bor. Nach insgesamt rund vier Stunden Gehzeit sind wir zurück in der Alma.

 

Nach einer belebenden Dusche lassen wir uns ein Pils auf der Terrasse schmecken. Der trockene Typ setzt sich eine Weile zu uns. Er schlägt vor, dass wir bei ihm zu Abend essen. Wiener Schnitzel will er anbieten. Das trifft meine Vorstellungen von der böhmischen Küche nicht genau, sodass wir höflich ablehnen.

 

Wir spazieren den Campingplatz entlang, der riesig ist. Umso verlorener wirken die wenigen Zelte, neben denen Autos mit tschechischen Kennzeichen warten, um bepackt zu werden. Hinter dem ‘Bahnhof’ befindet sich das Hotel ‘Nova Pec’ mit gleichnamigem Restaurant. Im Freien beherbergen einige Lauben lebhafte Gäste an Tischen und Bänken wie beim Heurigen. Wir studieren die Speisekarte vor dem Eingang, sie hat eine deutsche Übersetzung. Hauptsächlich findet sich Fisch darauf. Ein junger Kellner - oder ist es der Inhaber? – nimmt sich gleich unser an und lädt uns ein einzutreten. Ich frage nach einheimischer Küche. Darauf ist das Haus leider nicht wirklich eingestellt, aber der junge Mann erwähnt einen Sauerbraten mit Knödeln. Nun gut, probieren wir das halt aus.

 

Wir bestellen Bier. "Pilsner oder Budweiser", fragt die junge Serviererin. "Welches ist besser?" – "Keine Ahnung." – Wir versuchen Pilsner. Ob das Budweiser besser wäre, werden wir nie erfahren. – "Zum Sauerbraten Semmelknödel oder Erdäpfelknödel?" – Für mich ist klar: Erdäpfel. – Die Serviererin macht ein erstauntes Gesicht. – "Ist das nicht gut so?", frage ich. – "Nein, nein, schon in Ordnung."

 

Der Sauerbraten ist, nun ja, ein Sauerbraten. Der Knödel eine Scheibe von einem Serviettenknödel, sehr blass weiß, undefinierbar. Das Staunen der Serviererin war wohl weniger auf die seltsame Wahl zurückzuführen, als auf die Kenntnis ihrer Erdäpfelknödel. Mit Wehmut erinnere mich an die Knödel meiner mährischen Großmutter.

 

Die Wanderung hat uns doch ziemlich müde gemacht. Schon gegen zwanzig Uhr liegen wir im Bett, um uns für den kommenden Reisetag auszuruhen.



Sonntag, 31. August

Böhmerwald, Erzgebirge


worin vorkommen: Böhmen, Pilsen (Plzen), Karlsbad (Karlovy Vary), Deutschland, Ostrov, der Fichtelberg, Annaberg, das Theater, Chemnitz, die Dittersdorfer Höhe , Karl  Ditter von Dittersdorf 




Zwölf Stunden gut und fest geschlafen. Wolkenloser Himmel. Sehr frische Luft, ein Hauch von Skandinavien.

 

Frühstück in der Pension Alma. Der tschechische Typ serviert scharfe Debreziner mit Senf. Voll witzig! Er erzählt, es seien die letzten Tage der Pension in dieser Sommersaison. (Die Würsteln mussten wohl noch raus!) Er selbst sei der Eigentümer, habe das Haus selber gebaut, er sei aus der Gegend von Prag, wo er den Winter bis zur Wiedereröffnung der Alma im Frühsommer verbringen werde. Wir zahlen. Der Preis ist nun etwas höher als gestern genannt, aber was soll's, ist wohl eine kleine Rache für das verschmähte Wiener Schnitzel.

 

Ruhige Sonntagsfahrt durch Böhmen.

Karlsbad, einst das nobelste Bad Europas. Jetzt? Flüchtenswert. Um ein Souvenir zu finden, wandern wir eine der Straßen hinauf und

hinunter. Ein paar Läden mit asiatischer Ware und ebensolchen Betreibern, nichts was zum Kauf verlocken würde. Wir setzen die Fahrt fort Richtung Deutschland.

 

Vorbei an Ostrov windet sich die Straße durch den Wald hinauf zum Fichtelberg. An der Grenze schöner Ausblick zurück nach Tschechien.

Wir haben noch ein halbes Kilo tschechische Kronen und wechseln die retour. Einen ganzen Euro kriegen wir dafür. Schöne Pleite.

 

Weiter nach Annaberg. Die erste der Städte mit Bezug auf die Theatertätigkeit meiner Eltern. Tino hat hier oft gastiert. Wir parken Kisu und schlendern durch die Straßen auf der Suche nach dem Theater.

Wir fahren noch ein Stück weiter, nach Chemnitz. Das ist schon von anderem Kaliber als das verträumte Annaberg. Brodelnde Provinzhauptstadt mit sehr lebhaftem Verkehr.

 

Wir suchen nach einer Unterkunft, aber nach einigem Kreisen im chaotischen Verkehrsgewühl habe ich es satt. Ich halte an einer Tankstelle, frage nach einer Übernachtungsmöglichkeit etwas außerhalb der Stadt. Der Mann an der Kasse hat keine Ahnung, aber eine Kundin, elegant, gute fünfzig, bietet mir an, vorauszufahren, um mir etwas Passendes zu zeigen. Sie fährt einen kleinen Ford K. Es geht die Zschopauerstraße stadtauswärts. Schon befinden wir uns auf freiem Land und ich habe schon mehrere hübsche Gasthöfe ausgemacht, die mir geeignet erscheinen, aber die Frau mit dem K fährt unbeirrt weiter, bald sogar auf die Autobahn. Nun, mit etwas außerhalb habe ich nicht gemeint, zurück nach Tschechien. Aber die Dame war so nett und jetzt kann ich nicht einfach abhauen. Bei der ersten Ausfahrt verlässt sie wieder die Autobahn und wir befinden uns jetzt wirklich dort, wo nichts als Gegend ist. Der K kurvt über enge Landsträßchen und plötzlich befinden wir uns in einer winzigen Ansiedlung mit einem einladenden kleinen Holzgebäude, das nicht nur Essen verspricht, sondern anscheinend auch Zimmer. Ich vermute, dass meine flotte Lotsin dieses Haus im Sinn gehabt hatte und suche nach einer Abstellmöglichkeit für Kisu. Da kommt der kleine K zurück. Die Dame winkt heftig. Nicht dieses Haus hatte sie gemeint, sondern ein anderes, ganz in der Nähe. Also wieder gestartet und dem K gefolgt. Auf enger Gemeindestraße geht es den Berg hinan und wirklich stehen wir nach kurzer Fahrt vor einem Berggasthof. Es ist die Dittersdorfer Höhe. Unsere liebenswürdige Führerin will auf dem Parkplatz warten, bis es klar ist, dass es mit dem Quartier auch geklappt hat. Wir betreten das Haus und die Gaststube. Sie ist anheimelnd mit Holz vertäfelt und es ist ziemlicher Abendmahlbetrieb. Der Ober holt die Chefin, die verpasst uns Zimmer Nummer eins und wir sind versorgt. Das Zimmer hat einen Balkon, der gerade zu dem Parkplatz gerichtet ist, wo Kisu und die Frau mit dem K stehen. Wir bedanken uns bei ihr für den guten Tipp. Ich möchte sie zum Abendessen einladen, aber ebenso flott wie sie uns vorangefahren war, ist sie auch wieder verschwunden.

 

Von diesem Balkon aus bietet sich eine wahrlich wunderbare Aussicht in einem Halbrund von Südwest bis Nordost, hinüber über das Erzgebirge tief hinein nach Böhmen. Der Abend glänzt mild über den Feldern und Wäldern und gemächlich zieht ein Heißluftballon über den Himmel. Wo er wohl landen wird heute Abend?

 

Der schöne Blick reißt mich hin zu einer Serie von Aufnahmen, die man zu einem Panorama zusammenfügen könnte.

Neben der atemberaubenden Schönheit der Ditterdorfer Höhe hat der Ort aber noch etwas anderes Gutes, seine Küche. Nach kurzem Frischmachen lassen wir uns in dem urigen Speiselokal nieder, in welchem lebhaftes Treiben herrscht. Gerade noch ist ein kleiner Tisch für uns beide frei. Ich bestelle Bierfleisch, Soile Pute. Wenn ich an dieses Essen denke, habe ich große Lust, gleich wieder dorthin zu fahren. Wir beschließen, hier zwei Nächte zu bleiben, da wir ohnedies einiges in der Gegend anzusehen haben.

 

Übrigens, der Ort hat – nach Meinung unserer Wirtin – nicht direkt mit Karl Ditter von Dittersdorf, dem Komponisten, zu tun, doch, glaubt sie, dürfte es sich um eine weitläufige Verwandtschaft handeln.



Montag, 1. September

Freiberg, Dresden


worin vorkommen: Freiberg (Sachsen), das Theater, die Petri Kirche, Dresden, die Elbe, die Semper-Oper, die Kathedrale, der Stallhof, der 'Fürstenzug', die Donau, Wien, die Nordsee, die Brühlsche Terrasse, die Frauenkirche, Augustusburg, Zschopau, die Geschwister Scholl, die 'Weiße Rose', Meißener Pozellan  




Der Himmel ist bedeckt, aber es ist warm. Nach dem Frühstück über das buckelige Land nach Freiberg. Die kleine Stadt ist im Begriffe, neu zu entstehen. Vieles im alten Zentrum ist sauber renoviert, aber bei ebenso vielen Gebäuden sind die Arbeiten gerade im Gang. Die Straßen werden mit schönen Steinplatten neu gepflastert. Das Theater ist fast fertig und wartet auf die kommende Herbstsaison. Das also war Tinos Hauptarbeitsstätte. Ich stelle mir vor, wie die kleine Stadt in den Vierzigern ausgesehen haben mag, dunkel, eng, verwahrlost. Kein Geld, aber sowieso nichts zu kaufen. Schön kann das Leben nur durch die Kunst gewesen sein und, womöglich, durch das kleine Mitzerl aus Wien.

Wir besichtigen die Petri-Kirche und erleben so etwas vom Unterschied zwischen einem reformierten Gotteshaus und einem katholischen Kirchenmuseum. Um das Kirchenschiff herum gruppieren sich Gemeinschaftsräumlichkeiten, die von einem lebendigen Gemeindezentrum künden. Die Menschen, die dieses Zentrum benutzen, befinden sich im Hause ihres Gottes, das aber auch ihr eigenes und durch und durch bewohnbar ist. Es gibt Versammlungsräume für Vorträge, Arbeitsräume für Bibelstudium, eine modern eingerichtete Küche und ein WC. Ich wage es, darauf hinzuweisen, dass Gotteshäuser auch anderer Religionen so organisiert sind, etwa Moscheen. 

Den Nachmittag haben wir für Dresden eingeplant. Flott geht es über die Hügel Sachsens seiner Hauptstadt zu, die plötzlich zu unseren Füßen auftaucht, groß und feierlich.

 

Wir parken im Zentrum. Es hat leicht zu regnen begonnen. Natürlich streikt auch wieder die Kamera. Macht nix, wir fotografieren direkt ins Gedächtnis.

Kurz danach besuchen wir das Innere der Kathedrale. Dort ist eine beeindruckende Fotoausstellung zu sehen, über die Geschwister Scholl (‘Weiße Rose’) einerseits und die Zerstörungen im Weltkrieg sowie den Wiederaufbau andererseits. Die Vernichtung traf Dresden Mitte Februar 1945, also in meinen ersten Kindheitstagen. Die Bombardements waren so heftig, dass ein Feuersturm entstand, der alles vernichtete, was in seinem Weg stand, einer nuklearen Katastrophe nicht unähnlich. Sechzig Jahre nach diesem sinnlosen Niederbrennen stehen von vielen Gebäuden zwar wieder die Mauern, ihre Seelen aber sind unwiederbringlich verloren.


In der Augustusstraße an der Außenseite des Stallhofes befindet sich über hundert Meter lang ein Fries aus Kacheln von Meißener Porzellan, auf dem die Fürsten und Könige des sächsischen Herrscherhauses in historischer Abfolge abgebildet sind, der ‘Fürstenzug’.

Unter Gewitter romantische Rückfahrt zur Dittersdorfer Höhe. Ich suche dazu einen zweitrangigen Verkehrsweg aus, die Landesstraße 180. Sie führt entlang kleiner Bäche und durch winzige Ortschaften, wird dabei immer gewundener und schmäler, verengt sich stellenweise auf einspurige Abschnitte, wo niemand entgegenkommen dürfte und gottseidank auch nicht kommt, das Geschwindigkeitslimit 30 km/h ist auch nicht berauschend. Aus der Entfernung grüßt Augustusburg herüber. So geht das viele Kilometer bis nach Zschopau, aber da sind wir ja auch schon in Dittersdorf.

 

Ein zweites Mal genießen wir ein leckeres Abendessen und danken nochmals der freundlichen Unbekannten für die Entführung an diesen schönen Ort.



Dienstag, 2. September

Döbeln, Leipzig, Wittenberg


worin vorkommen: Döbeln, die St. Nicolai-Kirche, Rathaus, Nössen, Freiberg, Leipzig, die Thomaskirche, die Nikolaikirche, das Opernhaus, das 'Gewandhaus', Berlin, Wittenberg, Ostdeutschland, der 'Goldene Adler' , Johann S. Bach, Papst Leo X., der 'Mirakelmann'



 

Das Gewitter hat die Wolken fortgeblasen. Heute haben wir schönes, ruhiges Spätsommerwetter.

 

Bevor wir uns nach Döbeln begeben, suchen wir den unscheinbaren Ort Nössen auf. Es ist ein Bahnknoten, wo man umsteigen musste, wenn man von Freiberg nach Döbeln wollte. Hier haben sich Tino und Mama oft getroffen, manchmal nur um eine Weile zusammen sein zu können, bevor jeder mit dem Gegenzug wieder heimfuhr.

 

Heute ist der Bahnhof sicher noch in genau jenem Zustand wie vor fünfundsechzig Jahren. In DDR-Zeiten hat sowieso niemand irgendetwas hergerichtet und danach fehlten dazu gleichen Teils Animo und Mittel.

Beeindruckend im Innern eine haushohe Astronomische Uhr mit bewegten Figuren ähnlich der Ankeruhr in Wien .

 

Vermutlich wurde das Uhrwerk 1472 vom Uhrmacher Hans Düringer gebaut. Von 1641 bis 1643 wurde die Uhr erweitert, das Figurenspiel verändert und ein Glockenspiel und der Renaissancerahmen hinzugefügt.

 

(Man beachte die Größenverhältnisse: hier liest eine langhaarige blonde Dame die Beschreibung vor der Uhr.)


 

Im oberen Stockwerk kann man im Uhrenfeld die Tageszeit, den Tierkreis mit den zugehörigen Monatsbildern, den Sonnenstand und die Mondphase ablesen. Auf der zweiten Scheibe erkennen Sie zusätzlich die Stunde der regierenden Planeten.

Im Erdgeschoss befindet sich ein Kalendarium. Ganz links steht der "Kalendermann", der mit einem Stab das aktuelle Tagesdatum anzeigt. Das Kalenderblatt selbst hat einen Durchmesser von zwei Metern und dreht sich jährlich einmal im Uhrzeigersinn. Um die Kalenderscheibe legt sich wiederum ein Ring mit den Symbolen des Tierkreises.

Die 15 Kreisringe zeigen das aktuelle Tierkreiszeichen und in welchem Sechstel der Gradeinteilung des Tierkreises die Sonne steht, den Monatsnamen und die Anzahl der jeweiligen Tage, das Tagesdatum, den Tagesbuchstaben und den Zeitpunkt des Sonnenaufganges.

Diese äußeren Angaben gelten unabhängig von den Jahresangaben, während die jährlich wechselnden Angaben aus Platzgründen jeweils nach bestimmten Zeiträumen erneuert werden müssen.

Seit der Inbetriebnahme der Uhr musste die Scheibe bereits viermal neu beschriftet werden. Im Jahre 2017 wird wieder eine Weiterführung des Blattes notwendig.







Ein kleiner Fußmarsch bringt uns in die Vorstadt. Am Rösschengrund 4. Da hat Mama in Untermiete gewohnt. Der Herr Kapellmeister durfte sich hier nicht blicken lassen. Es hätte einen Skandal gegeben.










Telefonat für die Milham Mitzi in Wien. Jessas, aus Nössen!? Sie ist ganz aufgeregt. Natürlich.








Auch diese Personenwaage war bestimmt schon 1943 im Einsatz. Die Waagen waren früher auch nicht besser: 85, so ein Blödsinn! Na ja, Bierfleisch…

Auf nach Döbeln!


In Döbeln interessiert uns noch die Nicolaikirche mit dem 'Mirakelmann'. Er ist eine lebensgroße Christusfigur aus Holz und – erstaunlich! - beweglichen Gliedmaßen. 

Mirakelmann

Die bewegliche, lebensgroße Skulptur aus Lindenholz ist eines der ganz wenigen dieser Art in Europa erhaltenen Beispiele mittelalterlicher Frömmigkeit. Derartige Christusfiguren wurden bei Mysterien- und Passionsspielen verwendet, d.h. mit einer solchen Figur konnte der Leidensweg Christi (die Kreuzigung, die Kreuzabnahme und die Grablegung) bildhaft dargestellt werden. Die 1,80 Meter große farbig gefasste Figur wurde um 1500 geschaffen. Einzigartig ist die wohl nach einem Leichnam modellierte, sehr realistische und anatomisch exakte Darstellung eines Toten. Mit dem wächsern-bleichen Inkarnat und den bläulich schimmernden Schattierungen und Adern sowie mit den leuchtend dunkelroten Blutbahnen wurde größter Wert auf unbedingte Realitätsnähe zu einem toten Körper gelegt. Durch die Verwendung dunkelbrauner bzw. schwarzer Tierhaare für Bart und Kopfhaar (größtenteils verloren) wurde diese Wirkung noch gesteigert. Arme, Beine und Kopf sind durch Ledereinsätze, z.T. mit Metallscharnieren, voll beweglich und konnten durch unsichtbare Stricke bewegt werden. Mit dem textilen Lendentuch und durch die Farbfassung aller Lederteile wurden diese Verbindungen kaschiert. Im Hohlen Rumpf ist eine Vertiefung für ein hölzernes ehemals verschließbares Gefäß, das mit der Brustwunde in Verbindung steht. Während der Passionsspiele stieß ein Soldat seine Lanze in die Seite des gekreuzigten Körpers. Dabei wurde die zuvor mit Wachs verschlossene und durch Hautfarbe verdeckte Wunde geöffnet und aus dem mit rotgefärbter Flüssigkeit (evtl. Tierblut) gefüllten Gefäß strömte das "Blut" aus der Brustwunde.


Mit der Einführung der Reformation hing die Figur, ursprünglich mit Kreuz, an einem Pfeiler im Schiff der Kirche. Nach der Restaurierung 1998 - 2000 wurde sie in einer neu angefertigten Holzlade (in Nachbildung eines Heiligen Grabes) im nördlichen Seitenschiff aufbewahrt. Zur Hochwasserkatastrophe im August 2002 wurde der Mirakelmann so stark beschädigt - er lag zwei Tage im Wasser im Kirchenschiff -, so dass er wieder ins Landesamt für Denkmalpflege nach Dresden gebracht wurde. Nach einer mehrmonatigen Trocknungsphase und einer erneuten Restaurierung ist der Mirakelmann seit dem 06. Juli 2005 wieder in der St. Nicolaikirche zu sehen.

Wir holen Kisu aus der Garage und setzen fort nach Leipzsch. Dort muss Kisu schon wieder unter die Erde in die nächste Garage. Wir sind im Zentrum und  daher gleich an der Thomaskirche. Davor steht das J. S. Bach–Denkmal.

Meine Referenz an den größten und wichtigsten Musiker unserer Geschichte. Denkt man an die Renaissance-Musik noch knapp vor seiner Zeit, merkt man, dass mit Bach eine neue Epoche angebrochen ist. Wie er Einfachstes mit Kolossalem verstrickt, aus allem das Schönste herausholt, mathematisch und ornamental mit der Musik spielt, das ergab wahrlich einen Riesenschritt für die Menschheit. Die Reformation war wohl das geistige Material, aus dem er schöpfte. Vorbei sein sollte es mit den heuchlerischen und menschenverachtenden Elementen reaktionärer weltlicher und kirchlicher Herrschaft. Jetzt sollte die Liebe zu Gott vernünftig und menschengerecht sein, aus ihr heraus die Menschenliebe natürlich und in Freiheit erwachsen. Abgeklungen waren die schrecklichen Auswüchse der jahrelangen Kriegsereignisse, die oft religiös motiviert wurden und doch oft nur der Gier nach Macht entsprangen, aber vorbei war die Auseinandersetzung nicht. Die Reaktion hatte Macht und Mittel, den Befreiten jedes kleine Stück errungener Geistesfreiheit wieder streitig zu machen. Die vorweg genommene Revolution, das war wohl die Reformation und ihre Chancen waren aussichtsreicher, denn in ihr fanden sich gemeinsam mit den Einfachen Fürsten und Geistesgrößen. All das kann man in Bachs Musik hören.

Durch die Nicolaikirche lassen wir uns führen.


Die Nikolaikirche ist neben der Thomaskirche die bekannteste Kirche Leipzigs. Sie war der Ausgangspunkt der friedlichen Revolution der DDR 1989/90 mit anschließendem Mauerfall in Berlin und der Wiedervereinigung Deutschlands am 3.Oktober 1990.


Die Nikolaikirche wurde 1165 nach der Verleihung des Stadt- und Marktrechtes als romanische 'Stadt- und Pfarrkirche St. Nikolai' erbaut.

 

Am 25. Mai 1539 wurde durch die Predigten der Reformatoren Justus Jonas der Ältere und Martin Luther die Reformation in Leipzig begonnen.

 

Die Ladegast-Orgel der Kirche aus dem Jahr 1862 ist die größte Kirchenorgel Sachsens und hat die romantische Interpretation der Bach'schen Orgelkompositionen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mitgeprägt.


Heute steht die Nikolaikirche als Zeichen für die Bewegung von unten. Durch die Pforte dieser Kirche gingen jene Menschen, die mit ihren Friedensgebeten und Fürbittgottesdiensten die Leipziger Montagsdemonstrationen 1989 begründet haben.


Wir beschließen, den Rest des Nachmittags dazu zu verwenden, ein wenig Distanz Richtung Berlin zu machen. Durch die Gedanken um Bach angeregt, bietet sich nicht allzu weit die Lutherstadt Wittenberg an. Die Fahrt ist ruhig und lieblich über flache Heide und herbstliche Wälder.

 

Auf der Suche nach einer Nächtigungsmöglichkeit geraten wir zuerst in ein sehr schönes Brauhaus, wo man noch eine Suite frei hat. Suite, das klingt nach teuer. Und das wäre sie auch gewesen. Die Leute sind aber freundlich wie überall bisher im ehemaligen Ostdeutschland und der Wirt fragt telefonisch beim benachbarten Hotel an, wo man für uns ein bezahlbares Zimmer reserviert.




Der Parkplatz des Goldenen Adlers liegt an der Rückseite des Hotels, stimmt uns aber auch als solche einigermaßen bedenklich. Einladend zum Wohnen ist das Gebäude keineswegs. Geht man aber durch das Loch im Gebäude, gelangt man durch einige hübsche, lang gezogene, fast florentinische Innenhöfe direkt ins sehr gepflegte Restaurant, das im Hauptgebäude liegt, dessen Fassade dem Marktplatz zugewandt ist.

Obwohl wir uns schon aufs Abendessen freuen, machen wir vorerst noch einen ersten, schon nächtlichen Rundgang durch Wittenberg. Zwei parallele Straßen durchziehen das Städtchen, dazwischen liegt der weitläufige Marktplatz. Die alten Bürgerhäuser im Licht der Laternen. Ein paar Gruppen Jugendlicher hängen herum. Sie lassen kleine Heißluftlaternen steigen. Sie umschweben die mittelalterlichen Fassaden, steigen auf zu den wuchtigen Türme der Stadtkirche, nehmen ihnen ihr Bedrohliches, das ihnen sonst der Kontrast zwischen Scheinwerferlicht und Dunkelheit verleiht. Aus einiger Entfernung am westlichen Ende grüßt der runde Turm der Schlosskirche.

 

Der Appetit ist richtig ausgebildet, als wir uns daheim im Goldenen Adler zum Essen begeben. Heute ist mir nach Vegetarischem: Pfifferlinge mit Kartoffel. Ich bestelle Eierschwammerln mit Erdäpfel und die junge Serviererin ist aufgeschmissen. "Können Sie mir das bitte in unserer Sprache sagen?"



Mittwoch, 3. September

Wittenberg, Borkheide, Berlin


worin vorkommen: Wittenberg, die Schlosskirche, Böhmen, Österreich, Ungarn, Frankreich, Spanien, Dänemark, Schweden, Sachsen, Bayern; England, Magdeburg, Erfurt, Halle, Dresden, Berlin, Borkheide, Potsdam, Ostberlin, Tempelhof, Bonn, Bernau, 'Zum Zicken-Schulzen' , Johann S. Bach, Martin Luther, der Westfälische Frieden




Heute haben wir bedeckten Himmel, aber es ist ziemlich warm. Nochmals beäugen wir Wittenberg, diesmal bei Tageslicht. In der Stadtkirche Orgelmusik von J. S. Bach.

Anlass für den Streit zwischen dem Papst und Martin Luther waren neben zahlreichen anderen Schriften Luthers dessen Thesen gegen die damals gängige Ablasspraxis, die Luther kurzer Hand an die Kirchentür nagelte. Wenn einer starb, mussten die Hinterbliebenen dem Kirchenherrn reichlich brennen. Dafür musste, redete man dem Volke ein, die Seele des armen Sünders möglichst wenig im Fegefeuer brennen. Brennen musste auch, wer eigene Sünden zu bereuen hatte. Das Infragestellen dieser Praktiken führte zu empfindlichen pekuniären Ausfällen bei den Kirchenherren und in der Folge auch bei den von ihnen unterstützten Fürsten, sodass man sich das Verkünden solcher Thesen keinesfalls gefallen lassen konnte. Die Verfolgung Luthers begann. Mit den religiösen Gründen im Vordergrund, aber oft nur wegen dahinter verborgenen Machtspielen, stellte sich ein Teil der Fürsten auf die Seite der Reform, andere auf jene der ‘reinen Lehre’ und des Kaisers. Viele schwankten dazwischen hin und her, je nach den vorherrschenden Machtverhältnissen. Bald brannten Kirchen und Höfe, bald ganze Landstriche. Wer alles verloren hatte, aber sein Leben noch besaß, konnte sich in eines der Heere angeloben lassen. Sold wurde versprochen, aber kaum bezahlt, dafür durften die gebrandschatzten Bauern, die nun Soldaten waren, ihrerseits plündern und brandschatzen. Die Bauern erhoben sich zum Aufstand, wurden aber vom Adel hingemetzelt. Böhmen trat in die Kämpfe ein, Österreich, Ungarn, Frankreich, Spanien, die italienischen Fürstentümer, der Papst Leo X,, Dänemark, Schweden, Sachsen, Bayern; England half mit Geld, der erste Weltkrieg eigentlich. Manche Städte wurden schicksalhaft immer wieder vom grauenhaften Morden heimgesucht, Magdeburg, Erfurt, Halle, Dresden. Als es nach dreißig Jahren auf diplomatischem Wege zum Westfälischen Frieden kam, so nur deshalb, weil keine der völlig ausgebluteten Parteien mehr Kraft zum Weiterkämpfen hatte.

 

Auf unserer Reiseroute kann man nicht anders als an diese furchtbaren Zeiten zu denken, die sich uns auf Schritt und Tritt bemerkbar machen.

 

 Auf solchen Spuren setzen wir unsere Reise fort Richtung Berlin. Wir beabsichtigen, zuerst nach ‘meinem’ Grundstück in Borkheide bei Potsdam zu sehen. Mein Vater hatte zusammen mit seinem Bruder dort ein Waldgrundstück besessen, welches von der Berliner Familie zu Erholungszwecken verwendet worden war. Im Laufe der Zeit hatte man eine kleine Laube darauf gebaut. Der Krieg hatte die Familie getrennt, ein Teil saß in Ostberlin, ein anderer in Tempelhof im Westen. Die ostdeutschen Behörden hatten die Grundeigentümer kurzerhand enteignet. Nach der Wende bemühte sich meine Cousine Bärbel, die inzwischen in Bonn lebte, um die Restitution des Grundstücks und setzte diese namens der zehn Erben nach unseren beiden Vätern tatsächlich durch. So war ich nun Miteigentümer einer Parzelle in Borkheide.

 

Borkheide ist ein mickriges Dorf in den riesigen Mischwäldern, die sich um Potsdam ausbreiten. Obwohl Berlin nun wieder Hauptstadt ist und vieles sich dort konzentriert, ist Borkheide zu abgelegen, um eine nennenswerte Aufwertung erfahren zu haben. Es gibt keinen Fluss, keinen See, nicht einmal einen Teich, nichts als Wald. Und es liegt hart an einem militärischen Sperrgebiet, ich weiß nicht zu welchem Zweck. Immerhin gibt es Anzeichen, dass die Zeiten sich langsam bessern. Im Zentrum gibt es eine bescheidene Infrastruktur, einen Gasthof, eine Bahnhaltestelle.

 

Wir finden die Abzweigung von der Landstraße eher leicht, eine überaus buckelige Sandstraße führt in den Wald hinein. Wir lassen Kisu nahe der Kreuzung und gehen zu Fuß. Der Wald ist leer, nur ab und zu ist ein Stück davon eingezäunt. Auf solchen Grundstücken stehen dann meist einfache, selbst gebaute Hütten oder Häuser, bewacht von freundlichen Hunden. Manch einer wohnt ja doch hier in der Gegend. So ist es auch mit jenem Haus an der Ecke einer Querstraße, die wieder in den Ort zurückführen dürfte. Es ist die Hütte einer Immobilienmaklerin, die Bärbel mit dem Verkauf unseres Grundstücks beauftragt hatte. Ich kenne ihre Telefonnummer und rufe an, höre drinnen das Telefon läuten, ein Hund bellt, aber er ist offenbar allein.






So stehe ich bald schräg gegenüber auf 'meinem' Grundstück. Darauf stehen zwei kleine Lauben, halb verfallen, sonst nichts.

Übernachten wäre hier ziemlich unbequem und so müssen wir uns für unseren Berlinbesuch ein anderes Quartier suchen. Wir beschließen, das in einem Vorort von Berlin zu versuchen, der mit S-Bahn angebunden ist. Bernau drängt sich auf, hat auf der Karte einen roten Stern. Sehenswert.

 

Die Autobahn dorthin bildet den Außenring und scheint kein Ende zu nehmen. Endlich sind wir da. Ein Zimmer findet sich im sympathischen Gasthof ‘Zum Zicken-Schulzen’.

 

Spaziergang in Bernau, einerseits um die Transportmöglichkeiten nach Berlin herauszufinden, andererseits um eventuell unseren Kabelsalat zu beheben. Der Hintergrund dazu ist folgender:

 

Soile hat vor der Abreise in Kanervala am Netzkabel des Laptops gezogen und ich habe es unter dem Tisch hervorgezogen. Leider habe ich das falsche Kabel erwischt. Ich kann also den Laptop jetzt nicht ans Netz anschließen und auch den Akku nicht aufladen. Das wäre aber dringend nötig, weil in unserer tollen Digitalkamera der Chip voll ist und die Fotos auf die Festplatte überspielt werden müssten, damit wir neue Fotos machen können. Der Laptop-Akku hat leider nicht einmal genug Spannung, um das Gerät hochzufahren. Fotos habe ich schon in den Vortagen weniger geschossen, als ich eigentlich wollte. Da war aber noch nicht der volle Chip das Problem, sondern die Batterien der Kamera, die ständig leer sind. Weil die nur so kurz halten, habe ich aufladbare Batterien mit, die zwar auch nicht lang halten, aber wenigstens billiger im Betrieb sind. Natürlich hatte ich nie geladene Batterien bei mir, als ich sie unterwegs gebraucht hätte. Klüger geworden, habe ich heute zwar Reservebatterien mit, aber jetzt ist der Chip voll. Toll.


Wir beschließen, einen neuen Chip zu kaufen. Heute gibt es ja schon viel leistungsfähigere, auf denen man eine große Anzahl Fotos speichern kann. Also ins Geschäft. Es gibt Chips auch mit 2 GB (meiner hat noch 164 MB!), aber die passen nicht in meine Kamera. Eventuell könnte man einen Adapter verwenden, aber den hat man nicht vorrätig. Also in ein anderes Geschäft. Auf unserer Reise haben wir wenigstens so viele Foto- und PC-Shops besucht wie Kirchen. Vielleicht sollte ich besser für meine Fotos beten? Im nächsten Geschäft haben sie einen Adapter, aber der 2 GB-Chip funktioniert trotzdem nicht. Die Kamera ist dafür nicht geeignet. Immerhin brennen sie mir die Fotos vom Chip auf eine CD, damit der Chip wieder leer ist. Mit dem Netzkabel können sie mir leider auch nicht helfen. Zwar gibt es um etwa 50 Euro Kabel mit Adapter, aber der Stecker passt nicht in meinen Laptop. Vielleicht haben sie das Passende bei Conrad in Berlin, meint der Verkäufer. Mal sehen.


Es ist nicht weit zum Bahnhof. Von da werden wir morgen bequem mit der S-Bahn nach Berlin fahren können. Hoffentlich muss ich für meinen Koffer mit den Batterien keinen Gepäckfahrschein lösen!

 

Abendessen beim Zicken-Schulzen. Eine wiesengrüne Erbsensuppe. Dann Kartoffelklöße, gefüllt mit diversen Wurstsorten, darunter auch mit Blutwurst, dazu Sauerkraut. Köstlich, aber nicht geschafft. In einem Nebenraum, den wir durch eine große Glastür gut einsehen können, breitet ein älterer Herr an einem langen Tisch diverse schriftliche Unterlagen aus. Bei einem Bier wartet er offenbar auf jemanden. Irgendwie schaut er aus wie der Schulze. Nach und nach kommen noch einige wenige Damen und Herren, die an uns in Richtung Extrazimmer vorbeirauschen und ihrerseits Unterlagen in den Händen halten. Es dürfte eine Vereinssitzung sein. Die Damen fortgeschrittenen Alters sehen schrullig aus, etwas zu sehr hergerichtet für das Lokal und doch ein wenig ärmlich. Auch die Herren, alle mit Krawatte, zeigen eine gewisse vornehme Bedürftigkeit. Ein Kulturverein? Eine der Damen führt die meiste Zeit das Wort, die anderen hören mehr oder weniger skeptisch zu. Jede und jeder trinkt etwas, zu Essen wird nicht bestellt. Nach einiger Zeit löst sich die Versammlung wieder auf. Die Teilnehmer verlassen nach und nach, einzeln oder zu zweit, das Lokal. Haben sie Einzelheiten für das mittelalterliche Stadtfest besprochen, das morgen Abend in Bernau stattfinden soll? 



Donnerstag, 4. September

Berlin


worin vorkommen: Berlin, der Potsdamer Platz, Chicago, das Brandenburger Tor, das Holocaust-Mahnmal, die Siegessäule, der Reichstag (Bundestag), der Hauptbahnhof, das Kanzleramt, die Kongresshalle, Dänemark, Österreich, Frankreich, die Philharmonie, die nordischen Botschaften, die Kaiser Wilhelm Gedächtnis-Kirche, der Kurfürstendamm, das Theater am Kurfürstendamm, der Konrad Adenauer-Platz, der Wittenberger Platz, Schöneberg, das Rathaus, Westberlin, die Berliner Mauer, das Kaufhaus des Westens, die Mexikanische Botschaft, die Niederkirchner Straße, der Checkpoint Charly, Ostberlin, die Spreeinsel, die Spree, der Kupfergraben, das Berliner Schloss, das Nikolaiviertel, der Alexanderplatz, das Rote Rathaus, Unter den Linden, die Deutsche Staatsoper, das Hotel Adlon, der Pariser Platz, Bernau, der 'Schwarze Adler' , Angela Merkel, Helmut Kohl, Jim Carter, Egon Eiermann, Brigitte Meier-Denninghoff und Martin Matschinsky, Walter Ulbricht , 'Tanzende Spaghetti'



Bei bedecktem Himmel mit der S-Bahn zirka dreißig Minuten nach Berlin. Potsdamer Platz erscheint uns eine geeignete Stelle zum Aussteigen. Dem Untergrund entstiegen, finden wir uns auf einem weitläufigen Boulevard, überall klotzige Hochhäuser. Protzige Glasfassaden. Hätte nicht gedacht, dass die Berliner S-Bahn bis Chicago fährt. In einer halben Stunde! Sony, Daimler, Deutsche Bahn, gegenüber die Vertretungen der deutschen Bundesländer. Die paar Menschen, die zielstrebig in der einen oder anderen Richtung eilen, verlieren sich in dieser Weite. Selbst der Straßenverkehr macht bei der Weite dieser Verkehrswege einen eher zurückgenommenen Eindruck.

Wir bewegen uns in Richtung Brandenburger Tor, kommen vorbei am Holocaust-Mahnmal. Auf der Fläche von ein paar Häuserblocks erstrecken sich graue Betonblöcke, die in unterschiedlicher Höhe aus dem Boden ragen. Ein Gräberfeld.

Dem Brandenburger Tor nähern wir uns aus seitlicher Richtung. Unmittelbar vorher befindet sich rechts die US-Botschaft, eine Festung wie überall auf der Welt.

Neben dem Brandenburger Tor befindet sich die Einsteigstelle in einen der Sightseeing-Busse. Wir beschließen, eine Tour mitzumachen. Auf dem Oberdeck ohne Dach ist es zugig. Es ist nicht wirklich warm, dafür ist der Überblick besser. Ein junger Mann plaudert über das Mikrofon witzig über die Sehenswürdigkeiten in Englisch und Deutsch. Es ist mehr eine Kabarettnummer als eine Stadtbesichtigung.





Zerstörung im November 1943. Der Architekt Egon Eiermann wollte die Ruine vollständig abreißen und durch einen Neubau ersetzen. Nee, sagten da die Berliner, und  der Hohle Zahn blieb erhalten als Mahnmal gegen den Krieg.

Also auf nach Schöneberg, wieder mit der U-Bahn. Hochinteressante Reise. Sie endet in der Nähe des Schöneberger Rathauses, das in Zeiten der Mauer als Westberliner Rathaus diente.

Der Mann bei HP ist nett, aber auch er hat keine Lösung. Vielleicht bei der Firma so und so, da fahren sie mit dem Auto so und so ... Aber wir sind mit der U-Bahn. Der HP-Mann schaut mich traurig an: "Dät bricht ihn‘n dät Jenick." Ich habe dann neue Batterien gekauft, die aber auch schon wieder aus sind. Jetzt wird häufig unter den aufladbaren gewechselt, die ich massenhaft mit mir führe. Wenn der Chip wieder voll ist, muss ich mir was Neues einfallen lassen. Tröstlich ist, dass auch Soiles Handy spinnt. Es sendet keine Mails. Gestern sind wir draufgekommen, dass es überhaupt keine Verbindung aufbaut. Ausgeschaltet, eingeschaltet (Soiles Idee), es geht wieder. Aber auch dieses Handy leidet daran, dass es innerhalb weniger Stunden keinen Saft mehr hat. Sie hat vor der Reise einen neuen Akku gekauft, aber das hat auch nichts geändert. Dann auf See wird es abwechselnd kein Netz und keinen Strom geben. Gut, dass ich mein altes Handy habe. Ich betreibe es mit einer Prepaid-Card. Schade nur, dass es in Finnland keinen Betreiber dafür geben wird.

 

Der Computer ist eine wesentliche Erleichterung für den Mitarbeiter. Nur mein Bleistift und dieses Notizbuch funktionieren einigermaßen.

Die U-Bahn bringt uns zurück zum Kurfürstendamm, wo wir wieder einen der Sightseeing-Busse besteigen, um die andere Hälfte der Rundfahrt zu absolvieren. Gleich zu Beginn der Fahrt passieren wir die Skulptur "Röhrenwerk" von Brigitte Meier-Denninghoff und Martin Matschinsky, den Berlinern geläufig als ‘Tanzende Spaghetti’. Sie sollte ursprünglich das getrennte Deutschland symbolisieren, wurde aber zwei Jahre nach ihrer Aufstellung, beim Fall der Mauer, zum Sinnbild der Wiedervereinigung. Bald danach kommen wir am traditionsträchtigen KaDeWe, dem Kaufhaus des Westens vorbei. Wir passieren diverse Botschaften (Mexico, Italien) und einige Reste der Berliner Mauer, die man in der Niederkirchnerstraße zu Gedenkzwecken wiedererrichtet hat, ebenso wie den Checkpoints Charly. Hier gelangen wir auf ehemaliges Ostberliner Gebiet.







Auch heute wird wieder abgerissen und zwar in großem Stil. Der Palast der Republik muss weg. Wegen Asbestverseuchung könnte man sich darin sowieso nicht länger aufhalten. Auf dem Riesenareal soll

das Humboldt-Forum entstehen. Auf 40.000 m² wird es kulturelle Einrichtungen des Bundes und des Landes Berlin geben.

Der Bus gelangt nun auf die Spreeinsel, einer Zone zwischen Spree und einem ihrer Arme, dem Kupfergraben. Hier stand einst das Berliner Schloss. Papa Ulbrich meinte aber, die DDR-Regierung gehöre in ein modernes Gebäude und das Schloss wurde kurzerhand abgerissen und durch das Staatsratsgebäude ersetzt. Wenigstens ließ man eines der Tore stehen, welches in die Fassade des Neubaus integriert wurde. Auf dem Foto sieht man noch Bombenkrater, aber heute erstreckt sich dort eine gigantische Baustelle.




Über die Spree weiter durchs Nikolaiviertel zum Alexanderplatz mit dem Roten Rathaus. So was gibt's nicht nur in Wien, aber in Berlin ist es richtig backsteinrot.

Jetzt geht’s wieder Richtung Westen. ‘Unter den Linden' grüßt die Deutsche Staatsoper herüber, das berühmte Hotel Adlon kurz danach und da sind wir auch schon wieder am Brandenburger Tor, dem Ausgangs- und Zielpunkt unserer Rundfahrt.

 

Mit dem Ergebnis dieser Sightseeing-Tour sind wir sehr zufrieden. Vorurteil gegen geführte Tours klar ausgeräumt. Auf eigene Faust hätten wir in der Kürze der Zeit und bei der Ausdehnung der Stadt weniger als die Hälfte gesehen und noch weniger verstanden.

 

Das ist der wichtigste Eindruck, den Berlin auf uns macht: die ungewöhnlichen Weiten, in denen die Großstadt sich verliert. Man gewinnt dadurch ein Gefühl von Freiheit, welches trügerisch sein mag, aber die Grenzen scheinen alle sehr weit weg. Als ich Sechs(?)jähriger mit meinen Eltern beim Onkel in Tempelhof zu Besuch war, beeindruckte mich – außer den Tretrollern mit pneumatischen Reifen, die ich in Ottakring noch nie gesehen hatte – die frühlinghafte Würzigkeit und Milde der Luft. Immer habe ich den Spruch von der Berliner Luft damit identifiziert. Diesen speziellen Duft habe ich diesmal nicht wiedergefunden. Anklänge davon vielleicht in Schöneberg, ist ja auch nicht weit von Tempelhof.

 

Wir schlendern auch zu Fuß nochmals hinein in den ‘Osten’. Über den Pariser Platz unter den Linden hinunter. Großstadtgewimmel. Leider auch hier alles eine riesige Baustelle. Unter den Linden nehmen wir schließlich wieder die S-Bahn und kehren zurück nach Bernau.

 

Ach ja, heute Abend gibt es hier ja ein mittelalterliches Stadtfest. Tatsächlich finden wir in der Bürgermeisterstraße Zeilen von Verkaufsständen, dazwischen Tische und Bänke, an denen jetzt schon sporadisch Leute sitzen bei Getränken und kleinen Speisen. Viele wandern die Straße hinauf und hinunter, um sich einen Überblick zu verschaffen, was alles geboten wird, so auch wir. Hie und da treffen wir auf einige wenige mittelalterlich gekleidete Stadtbewohner.

Das Wetter ist trüb, man rechnet jederzeit mit heftigem Regen. Daher beschließen wir, zuerst einmal im Schwarzen Adler Abend zu essen. Keinen Augenblick zu früh, denn es beginnt zu schütten, als wir uns an einem Fensterplatz zu Tisch setzen. Draußen flüchtet wer kann ins Trockene. Der Wind zerrt an den Festfahnen. Wir erfreuen uns an dem heimeligen Lokal mit seinem mittelalterlichen Kreuzgewölbe und am vorzüglichen Essen: Thüringer Brätle. Als wir fertig sind, ist das Unwetter ebenso plötzlich, wie es gekommen ist, wieder vorbei und das Leben kehrt in die inzwischen nächtliche Bürgermeisterstraße zurück. Eine Gruppe Feuerkünstler schwingt brennende Speere und wirft sie sich zu und lässt sie rotieren. Es handelt sich offenbar um eine Familie, deren Hauptquartier ein Kastenwagen ist, aus dem sie ihre Utensilien nehmen, darunter Flaschen mit einer Brennflüssigkeit fürs Feuerspucken. Meistens handelt es sich um hochgereinigtes Petroleum, aber in diesem Fall könnte es auch Öl auf Rapsölbasis sein, denn die Spuckergebnisse sind nicht wirklich eindrucksvoll. Die Eltern sind Handlanger bei den Aktionen ihrer halbwüchsigen Söhne, am unteren Ende der Teenieskala der eine, im oberen Drittel der andere. Der Ältere hat auch ganz offensichtlich schon größere Fertigkeiten als der Knirps, der aber nonchalant seine Fehlgriffe kaschiert und die Öffentlichkeit genießt. Wir gehen bald zu Bett, denn morgen soll die Reise weiter gehen dem Norden entgegen. Hoffentlich macht niemand ins Bett nach all dem Feuer!


Freitag, 5. September

Plau am See


worin vorkommen: Rostock, Fehrbellin, Neuruppin, die Strelitzer Seenplatte, Leizen, der Plauer See, Plau am See, das Strandhotel   



Tschüs, Zickenschulze! Es geht Richtung Rostock. Für den 7. September in der ersten Stunde sind wir auf die Fähre gebucht. Wir liegen also bequem im Zeitplan und werden vor Rostock noch einmal Halt machen. Das Wetter ist bedeckt, aber mit sunny spells. Habe mich gestern auf dem zugigen Oberdeck des Busses doch etwas erkältet. Auch der heutige Morgen beginnt kühl, tagsüber kommt aber immer mehr Sonne und wir erreichen an die zwanzig Grad. Auf der Autobahn bis Fehrbellin. Von hier aus möchte ich auf der Landstraße nach Neuruppin und weiter zur Strelitzer Seenplatte. Aber es gibt eine Umleitung und die führt geradewegs ins Nirgendwo. Die Straße ist als solche kaum mehr zu bezeichnen. Zur Hälfte ist sie geteert, zur anderen Hälfte buckeliges Kopfsteinpflaster, das ist natürlich unsere Hälfte. So hüpfen wir mehr als fahren zwischen kleinen Gartenhäuschen hin, die ganz offenbar Wohnbehausungen sind, in den Gärten Holzstöße und Gemüsebeete, sicher nicht als Hobby, sondern bitterer Ernst. Auch als die Verbauung endet, wird die Straße nicht besser. Weiter zieht sie sich in diesem erbärmlichen Zustand durch schöne Weiden Kilometer weit dahin, meistens nach Westen, während wir nach Norden wollen. Umkehren aber wäre zutiefst unfinnisch (siehe Pletzen) und so quälen wir uns weiter, bis wir endlich an eine zivilisierte Straße kommen, die uns zur Autobahn zurückbringt. Dieser folgen wir nun neuerlich ein gutes Stück bis nach Leizen, wo wir in Richtung Plauer See abfahren. In Plau am See suchen wir nach einer Unterkunft und fahren direkt ans Seeufer, wo sich in ruhiger abseitiger Lage das Strandhotel anbietet. Der Spa-Betrieb macht einen neuen Eindruck, aber nur, weil die relativ neuen Eigentümer das alte Eisenbahner-Erholungsheim um- und ausgebaut und modernisiert haben. Das will jetzt auch bezahlt sein. Aber was soll's, ist ja nur für eine Nacht. Nobel geht die Welt zugrunde.


Wir spazieren am Seeufer entlang. Es ist keine Promenade, sondern ein naturbelassener, sandiger Pfad, breit genug auch für Radfahrer, der teils durch waldiges Ufergebiet führt. Ab und zu eine Laterne, die haben alle nicht bessere Zeiten aber DDR-Zeiten erlebt. Der See ist weit, die Ausflugsschiffe haben 38 km² Freiheit. Das Ufer uns gegenüber wird etwa 5 Kilometer entfernt sein. In einer kleinen Waldwirtschaft freut sich mit uns ein Kater über unsere Waffel mit Kirsch und Sahne.

 

Wir beschließen, ins Zentrum von Plau zu gehen, um uns mit etwas Digestivo zu versorgen. Über eine Drehbrücke am Hafen, welche die Fahrt entweder für Schiffe oder die Straßenbenutzer freigibt, gelangen wir dorthin. Plau besteht aus ein paar Straßen um einen ausgedehnten Marktplatz. Fachwerk überall. Eine wuchtige und gedrungene Kirche aus rotem Backstein. Keine Lebensmittelgeschäfte. Wir fragen eine Frau danach. Ja, sagt sie, es gibt einen Fleischer und einen Bäcker, die verkaufen wohl auch etwas Gemüse. Danach suchen wir nicht, aber ich möchte der guten Frau nicht verraten, wonach uns wirklich gelüstet. Das Problem wird wieder einmal von Soile brillant gelöst, weil sie im kleinen Schaufenster eines Tabakladens Flaschen entdeckt. Wir kaufen eine Flasche Korn und wandern zufrieden zurück zum Hotel.

 

Zu speisen gibt's Nackenbraten mit Pflaumen und Äpfeln. Lecker. In der Dunkelheit sehen die alten DDR-Leuchten noch trostloser aus in ihrem erfolglosen Versuch, etwas zu beleuchten, aber wir brauchen absolut kein Licht, nur ein paar Schritte, um vor dem Schlafengehen etwas zu verdauen. Dazu trägt auch der Korn das Seine bei.



Samstag, 6. September

Rostock


worin vorkommen:     Rostock, Helsinki, Markgrafenheide, An der Hohen Düne, das Hotel Hasenheide, das Steintor, der Hauptplatz, die St. Marien-Kirche, die Nikolaikirche, die Petrikirche, Wittenberg, die Marienkirche, der Stadthafen, die Freilichtbühne im Klosterhof, Roussillon, Paris, Florenz, Hamburg, Tallin, Estland, Lucas Cranach, der Ältere, Philipp Melanchthon, Martin Luther, William Shakespeare, das Triptychon, die Astronomische Uhr, 'Ende gut, alles gut' 



Es muss nachts geregnet haben. Draußen ist alles nass. Graue Wolken und kühle Luft.

 

Es geht den See entlang, dann Autobahn bis Rostock. Zuerst inspizieren wir die Hafenzufahrt bis zum Anlegepier der Superfast 7, damit wir uns später nachts besser zurechtfinden. Dann wollen wir unsere Übernachtung anlässlich der Rückreise organisieren. Die[HH1] [2]  Fähre aus Helsinki wird am 26. September spät in der Nacht ankommen. Eine Nächtigung wird uns gut tun vor der Heimreise am nächsten Morgen. Wir fahren in Richtung Markgrafenheide und landen dort am Yachthafen an der Hohen Düne.

Die Sonne zeigt sich mittlerweile wieder zaghaft. Spaziergang auf dem östlichen Molenarm ganz hinaus bis zum Leuchtturm. Vor uns die Ostsee, die es zu durchqueren gilt.



Auf halbem Weg zum Leuchtturm liegt ein Ponton verankert, vor dem schwimmende Sperren eine Wasserfläche von ein paar hundert Quadratmetern eingrenzen. Es ist das Revier von Seehunden, die sich, weil sie gerade gefüttert werden, aus dem Wasser katapultieren und wieder eintauchen.


Auf dem Ufer gegenüber findet ein Wettbewerb im Drachensteigen statt. Gute Voraussetzungen durch den lebhaften Wind.


Unterwegs hierher hat mich ein Hinweisschild ‚Hotel Hasenheide‘ angesprochen. Dieses suchen wir auf und reservieren. Dann hinein nach Rostock.

Beeindruckend im Innern eine haushohe Astronomische Uhr mit bewegten Figuren ähnlich der Ankeruhr in Wien .

 

Vermutlich wurde das Uhrwerk 1472 vom Uhrmacher Hans Düringer gebaut. Von 1641 bis 1643 wurde die Uhr erweitert, das Figurenspiel verändert und ein Glockenspiel und der Renaissancerahmen hinzugefügt.

 

(Man beachte die Größenverhältnisse: hier liest eine langhaarige blonde Dame die Beschreibung vor der Uhr.)


Im oberen Stockwerk kann man im Uhrenfeld die Tageszeit, den Tierkreis mit den zugehörigen Monatsbildern, den Sonnenstand und die Mondphase ablesen. Auf der zweiten Scheibe erkennen Sie zusätzlich die Stunde der regierenden Planeten.


Im Erdgeschoss befindet sich ein Kalendarium. Ganz links steht der "Kalendermann", der mit einem Stab das aktuelle Tagesdatum anzeigt. Das Kalenderblatt selbst hat einen Durchmesser von zwei Metern und dreht sich jährlich einmal im Uhrzeigersinn. Um die Kalenderscheibe legt sich wiederum ein Ring mit den Symbolen des Tierkreises.


Die 15 Kreisringe zeigen das aktuelle Tierkreiszeichen und in welchem Sechstel der Gradeinteilung des Tierkreises die Sonne steht, den Monatsnamen und die Anzahl der jeweiligen Tage, das Tagesdatum, den Tagesbuchstaben und den Zeitpunkt des Sonnenaufganges.


Diese äußeren Angaben gelten unabhängig von den Jahresangaben, während die jährlich wechselnden Angaben aus Platzgründen jeweils nach bestimmten Zeiträumen erneuert werden müssen.


Seit der Inbetriebnahme der Uhr musste die Scheibe bereits viermal neu beschriftet werden. Im Jahre 2017 wird wieder eine Weiterführung des Blattes notwendig.


Gern hätte ich noch Tage und Wochen hier verbracht, um das Kunstwerk zu studieren.









Weiter zur Petrikirche. Hier beeindrucken Wandtafeln, auf denen die Bauweise und das Aufsetzen der steilen Kupferhaube auf den Turm dargestellt ist. Seit einem Bombenangriff im April 1942 war der Turm ohne Haube. Eine historische Rekonstruktion in mehreren Teilen wurde erst 1992 wieder angebracht.


Im Vorraum befindet sich ein Verkaufsstand, dahinter ein Herr, der einen kunstverständigen Eindruck macht. Ich konfrontiere ihn mit meinem Verdacht. Es stellt sich heraus, er ist Herr Boartz, der Türmer. Das Werk ist eine Kopie (etwa 1920) des Triptychons von Lucas Cranach, dem Älteren. Das Original hängt in der Marienkirche von Wittenberg. Na eben! Das Original ist von 1547. Die linke Tafel zeigt eine Taufe durch Philipp Melanchthon im Beisein von Martin Luther.

 

Herr Boartz ist sehr freundlich und ausführlich. Mir scheint, er würde gern dafür wenigstens etwas verkaufen. Das Angebot finde ich aber nicht verlockend und so bedanke ich mich nur sehr herzlich. Das wird Gott nicht gefallen und seine kleine Vergeltung bleibt nicht lange aus.

 

Wir schlendern den weiten und abschüssigen Platz vor der Petrikirche hinunter, da wird Soile plötzlich und völlig unerwartet von einem Kinderwagen an der Ferse getroffen. Das Wägelchen hat sich selbständig gemacht und ist führerlos über den halben Platz hinuntergerollt, zum Glück ohne Passagier, es war daher auch ein wenig leichter. Dass der Wagen dabei genau auf Soile traf, ist schlicht unglaublich. Wäre er an uns vorbei auf die Straße und gegen die Hausmauer gerast, es hätte Totalschaden gegeben. Soile hat eine schmerzhafte Schwellung an der Ferse abbekommen. Der Vater kommt herbeigeeilt, dann auch die junge Mutter mit dem Kind. Worte der Betroffenheit und des Bedauerns. Schadenersatz wird angeboten. Die beiden wissen ja nicht, dass wir Profis sind. Die Familie wohnt Petriplatz 9. Soile meint, es sei nicht so schlimm. Für eine Weile ist ihr Gang hinkend. Ich glaube, sie hätte auch einen Beinbruch als Nichtigkeit abgetan, nur um die Fähre nicht zu versäumen.

Trotzdem schlendern wir, besser ich schlendere, Soile hinkt zum Stadthafen hinunter. Es wird langsam Abend, aber wir haben noch die langen Stunden bis Mitternacht zu überbrücken, bis wir auf der Fähre einchecken können.

Kurz danach eine Werbetafel für ein Sommertheater: Shakespeare, ‚Ende gut, alles gut‘. Freilichtbühne im Klosterhof. Beginn 20 Uhr 30. Ideales Abendprogramm für uns.

 

Wir suchen uns ein Lokal zum Abendessen. Die Innenstadtstraßen sind von ruhiger Betriebsamkeit. Wir treffen auf mehrere Zettelverteiler, die für verschiedene Lokale werben. So gelangen wir zu einer kleinen Gaststube in einer Seitenstraße. Die Straßenfront hat gerade einmal vier Meter, ein schmaler Eingang und ein Fenster, davor drei Tische im Freien, einer davon behindert nicht unwesentlich den Eingang. Eine schwarze Tafel, die mit bunter Kreide das Menü ankündigt. Der Kellner steht untätig im Eingang. Wir lassen uns nieder und bestellen ein Kartoffel-Gemüse-Gratin. Das Lokal ist innen zweistöckig und geräumiger, als es von außen scheint, auch geschmackvoll eingerichtet. Während wir warten, füllt es sich innen ebenso wie außen. Gegenüber leuchtet aus den großen Schaufenstern eines Geschäfts schräge Mode und Kunstfiguren aus Pappe. Solche lugen auch aus den Fenstern der oberen Etagen des alten Gebäudes. Mode und Kunst. Es ist amüsant, wie Frauen und auch Männer vor den Schaufenstern stehen bleiben, länger nachzudenken scheinen, weitergehen, aber wieder zurückkehren und neuerlich nachdenken. Das Gratin ist heiß und unauffällig.


Frühzeitig sind wir im Klosterhof. Ein Hinterhof mit einigen alten Bäumen. Man gelangt hinein durch einen schmalen Durchgang zwischen zwei Gebäuden. An einem kleinen Tisch kauft man die Eintrittskarten. Eine kleine Zuschauertribüne für rund 130 Personen, aufgebaut aus Gerüstteilen wie von einer Baustelle, auf den Stufen ein paar Reihen Kunststoffsessel, darüber eine Zeltplane gespannt, seitlich einige Scheinwerfer. Davor eine einfache offene Bühne. Das Bühnenbild: vor einem ‚Gebäude‘ mit vier Bögen. Nahe dem Eingang ein Schuppen, aus dem man warme Decken und Sitzpolster mitnehmen kann. Nützlich bei der Abendkühle des nördlichen Frühherbstes. Daneben ein weiterer Schuppen, notdürftig als Buffet eingerichtet. Auf einem Gartengriller beginnen Bratwürste zu rauchen. In einiger Entfernung links neben der Bühne steht ein winziger Verschlag, in dem die Technik untergebracht ist. Leider gibt es kein Programm zum Mitnehmen. Die Informationen auf der kleinen Eintrittskarte sind dürftig. Immerhin wissen wir von den Plakaten, dass Shakespeares ‚Ende gut, alles gut‘ gegeben werden soll.

Allmählich fällt die Dunkelheit ein, ein paar Zuschauer kommen, die Tribüne ist schütter besetzt. Viele bringen vom Buffet ein Getränk, oder ein Brötchen mit, man trinkt Bier aus der Flasche. Der Duft von Glühwein liegt in der Luft. In der Technikhütte geht das Licht an, Mitwirkende nützen die Dunkelheit, um hinter die Bühne zu gelangen. Die Scheinwerfer gehen an, es kann losgehen.

 

Hier muss ich vorausschicken: Wir sind in diese Aufführung völlig unvorbereitet hineingeschlittert. Das Stück war uns, vom Titel abgesehen, unbekannt. Es zu verstehen, hing also von der Deutlichkeit der Sprache und der Inszenierung ab. Nun ist das Stück eine Komödie mit einer sehr lebhaften Handlung, zum Teil Verwechslungen. Die Regie war einfallsreich und hat es geschafft, für die Auftritte von zwanzig handelnden Personen mit neun (?) Darstellern auszukommen. Die Schauspieler mit Mehrfachrollen wechselten ihre Kostüme nur marginal, es wäre dazu auch kaum Zeit gewesen. Im Übrigen waren diese Kostüme nur angedeutet, leger über die Alltagsjeans geworfen. Fallweise musste es zu Kollisionen kommen, wenn der Originaltext die gleichzeitige Anwesenheit von zwei Figuren auf der Bühne verlangte, die von einem Darsteller gespielt wurden. Das konnte gelingen, indem Adaptierungen und Striche im Text vorgenommen wurden, vor allem aber durch die bewundernswerte Wandlungsfähigkeit der Darsteller, allen voran die Darstellerin, welche die Helena, die Diana und die Mariana zu übernehmen hatte. Auch war die Regie bemüht, fast ohne Requisiten und mit einem einzigen Bühnenbild auszukommen. Die Ortswechsel – die Szenen wechseln zwischen Roussillon, Paris und Florenz – wurden angedeutet, indem die Darsteller je nach dem Ort der Handlung einen Teppichläufer in den Farben der französischen oder der italienischen Trikolore entrollten. (Es war nicht möglich, über den sicher bewussten Anachronismus nicht zu schmunzeln.)

 

All das machte es natürlich schwierig, den Überblick zu behalten und ich muss zugeben, dass ich nur in groben Zügen folgen konnte. Die Übersicht und das wahre Vergnügen gewann ich erst später, als ich zu Hause das Stück nachlas und die Rollenregie rekonstruierte.

 

So bin ich mir heute ziemlich sicher, dass von einem und demselben Darsteller gespielt wurden:

 

-       der König von Frankreich, der Herzog von Florenz und der Narr in Rousillon

-       Lafeu und der Soldat, der auch schon bei Shakespeare außerdem den Dolmetsch macht, sowie ein Diener in Florenz

-       der Haushofmeister in Roussillon und je ein Edelmann in Roussillon und Florenz

-       der Page in Roussillon und ebenfalls je ein Edelmann in Roussillon und Florenz

-       Helena, Diana und Mariana

 

In Shakespeares Personenverzeichnis kommt auch noch Violenta vor, Dianas und Marianas Freundin, aber im Text meiner Ausgabe habe ich diese Rolle nicht gefunden.

 

Keine Mehrfachrollen hatten nur drei, die Witwe in Florenz, Bertram und Parolles. Bertram, ein Held von ähnlich trauriger Gestalt wie etwa Tamino. (Ich verstehe bis heute nicht, weshalb Helena diesen und Pamina jenen um jeden Preis haben müssen.) Parolles, der Name sagt es schon, das Großmaul. Er wird von einer Darstellerin in einer Hosenrolle gegeben. Langes blondes wallendes Haar und großer Genitalsack, damit auch alles klar ist. Sie und Helena halte ich für die herausragenden Darstellerinnen des Abends.

In Rousillon verstarb der Gräfin Mann,

Von Bertram, seinem halberwachsnen Sohn beweint

 Und Helena, die âdoptierte Maid,

Eines verblichnen namhaften Arztes Kind.

Sogar der König trauert in Paris.

Ihm war der Graf ein vielverdienter Freund.

's liegt nahe, dass er fördern wird den Jung

Und ruft ihn nach Paris an seinen Hof.

Die Gräfin kann nicht hindern Bertrams Stolz,

Doch Helena, in Bertram insgeheim

total verknallt, verzweifelt und beschließt,

Zu folgen dem Geliebten nach Paris.

Verhüllen diesen Grund der Reise wird

Ihr Wunsch, des Königs inkurable Brest

Zu heilen Durch des Vaters Medizin.


                       * * *


Im Streit der Kaiser einem Papste trotzt.

Doch keiner wird von beiden selber fechten.

‚s ist klüger, diese Drecksarbeit

Zu delegiern. Vasallen gibt’s genug.

Die Ghibellinen und die Guelfen tun’s.

(Mich dünkt, ich hätt so was vor Kurzem auch

gehört. Es scheint, Methode hat der Wahn.)

Siena liegt in Fehde mit Florenz

und das ruft Vetter Frankreich, rasch zu Hülf.

Dem klugen König widerstrebt‘s, doch stellt,

Um nicht des Kaisers Huld zu strapaziern,

er seinen Rittersleuten frei, das Schwert

Zu führn für Siena oder für Florenz,

ganz wie es jedem besser passen mag.

Florenz wird’s sein, das ist ja jedem klar.

Auch Bertram möchte fort zu Felde ziehn,

Ein paar erschlagen um des Ruhmes Willen.

In väterlicher Sorg' der König wehrt‘s

Dem Jungen. Helena kommt an und bietet

Dem König ihre Medizin. Nicht leicht

Ist es, den Herrn zu überreden, der

nur noch den Tod ersehnt in diesem Leben.

 (Obgleich, sein Leiden, eine böse Fistel

Am Arsch – er lässt bereitwillig sie schaun -

Hämorrhoiden, tät der Grieche sagen -

scheint unheilbar auch damals nicht gewesen?)

Kurzum, was Paracelsus nicht und auch nicht

Galenus glückt', Helena locker schafft‘s.

Der König ist geheilt und froh, gelobt,

Der Ärztin einen Gatten ihres Wunsches

Zu geben. Wohl erraten wir's, es kann

Nur Bertram sein. Doch dieser Schnösel schätzt

Helenen zu gering, nicht ebenbürtig

ihr fehlt der Adel, auch kennt er seine Braut

Als Schwester fast und weigert sich ihrer

Verdienten Hand. Doch ist's die Majestät,

Die fordert und so geht, wenngleich zum Schein,

Herr Bertram auf die Hochzeit ein. Perfide

Ist sein Plan: Zum Krieg in die Toskana

Will er den Rittern folgen, ohne vorher

Die Ehe mit Helenen zu vollziehn.

 

                  * * *

 

Nach Roussillon kehrt Helena zurück,

voll Gram, doch ohne Eh'gemahl. Ein Brief

von ihm erwartet sie schon hier. Er schreibt:

"Wenn jemals Du den Ring besäßest, der

 An meinem Finger steckt und davon nie

Sich lösen soll, und zeigtest mir ein Kind,

Entsprungen Dir, und dem ich Vater wär,

Erst dann magst Du Gemahl mich nennen,

Also nie!“ Dem Trotz des jungen Mannes

Setzt Helena nur Lieb entgegen. Sie wirft

Sich vor, durch ihre Schuld sei Bertram in

 Den Krieg gezogen und gefährde so

Sein Leben. Sie, als Pilgerin verkleidet,

Will folgen dem Verblendeten ins Feld.

Florenz sieht eine Pilgerin ankommen.

Im Hause einer Witwe nimmt sie Wohnung

Und bei der Witwe schöner Tochter, Diana.

Inzwischen wurde Bertram Führer seiner

Berittnen Kompanie. Man rühmet ihn

ob der Verwegenheit, die nebst dem Feind

Betrifft die schönen Florentinerinnen.

Zurzeit ist Diana Ziel der Leidenschaft

Des Ritters. Passt doch gut, denkt Helena.

Mit Hülf der eingeweihten Diana will sie

Den Ring von Bertrams Hand gewinnen. Dann?

Wir werden sehn, vorerst bleibt‘s uns verborgen.

 

* * *

 

Von Bertram wild bedrängt, hat Diana nicht

Viel Mühe, seinen Ring ihm abzuluchsen

Für das Versprechen einer Liebesnacht.

Die Nacht ist finster, lichtlos Dianens Kammer.

In der Nacht sind alle Katzen grau.

 Nicht mit Diana sondern Helena

Steckt unser Recke unter einer Decke,

Vollzieht mit seiner eignen Frau die Eh,

Die früher er verschmäht. Ihm bleibt‘s verborgen.

So kann Trug enden in Gerechtigkeit.

Als Liebespfand empfängt er von Helenen,

Er meint wohl von Diana, einen Reif,

den Helena der König einst verlieh.

 

* * *

 

Der König ist nach Rousillon gereist.

Auch Bertram ist nach Haus zurückgekehrt.

Es trauern wieder alle, diesmal um

Helena, die für tot gehalten ist.

Vergebung schenkt der König Bertram, der

Sich reuig gibt und angesichts des Todes

Der Angetrauten seine Lieb zu ihr

Entdecken will, die früher er verschmäht.

Gelegenheit kennt nicht Verlegenheit.

Nach Bertrams Reif schon giert Lefeuens Tochter

Als neue Braut, doch wird der Reif sofort

Erkannt von allen, auch vom König, der ihn

 Zur Prüfung an sich nimmt. Den Reif gab er

Einst Helena. Auf welchem dunklen Weg

Mag er an Bertrams Hand gelanget sein?

Ein grausiger Verdacht erhebt sich gegen

Den Serienbräutigam. Es kommt noch schlimmer.

Es kommt Diana und verklaget Bertram,

Die Ehe hab' er ihr versprochen und sie dann

Entehrt. Graf Bertram leugnet, doch der Reif ...

(Oh Lord! Schon wieder so 'n Theater um die

Verdammten Ring! Gab's denn in alten Zeiten

Nicht andere Indizien?) ... doch der Reif

Am Finger seiner Majestät, Diana

Erkennet ihn als jenen, den sie Bertram

In jener Nacht gegeben und weist vor

Den andern Ring, den Bertram gab. Die Lage

Graf Bertrams ist damit verheerend, besser

Ist nicht jene Dianens, die sich weigert,

Die Umstände des Tauschs von Reif und Ring

Bekannt zu geben. Schon will Frankreichs König

erzürnt die beiden in den Kerker werfen,

Da ist mit einem Male Helena

Zur Stell und trägt das Kind, das Bertram hat

Gezeugt mit ihr in jener Nacht. Und so

Hat Helena erfüllt den Schwur. Sie hat

Den Ring, der einst an Bertrams Finger stak,

Sie hat das Kind, was will man mehr? Der Herr

Graf Bertram wird als Gattin Helena

Heimführn. Ist's Ende gut, ist alles gut.

(Ist es so einfach denn? Na dann, ich wünsch'

Viel Glück! Verbeiße mir die Frage, wird

Komödie diese Ehe oder Drama?)

 

                       * * * * *


Ein Theaterabend, wie er zu Shakespeares Zeiten stattgefunden haben könnte, deftig, aber auch tief und ritterlich-romantisch. Nur das Publikum ist fad, oder es findet es wegen der Bierflaschen und Becher in den Händen äußerst sekkant, auch noch klatschen zu sollen und so kommt es nur vor der Pause und zum Schluss nach des Königs Epilog – und diesem zum Trotz - zu kurzem Applaus. Unverdiente Geringschätzung der Mitwirkenden und des Autors.

 

Der König wird zum Bettler nach dem Spiel,

Doch ist das Ende gut und führt zum Ziel,

Wenn's euch gefällt; wofür euch Tag für Tag

Der Bühne treulich Streben zahlen mag.

Schenkt nur Geduld; wenn wir gefehlt, verzeiht;

Uns sei die Hand, euch unser Herz geweiht!

 

 

Soile ist nervös. Schon während des vierten Aktes hat sie alle zwei Minuten auf ihre Uhr geblickt. Sie fürchtet, die Fähre werde ohne uns ablegen, obwohl noch ausreichend Zeit ist. Aber natürlich kann auch bis dahin noch einiges passieren und wenn etwas passiert, so meistens im letzten Augenblick. Auf dem Weg zur Parkgarage stellen wir fest, dass Rostock alles andere als nachtscheu ist. In den Straßen, Bars und offenen Läden (Midnight-Shopping-Aktion) herrscht lebhaftestes Treiben, wie sonst zu solcher Stunde nur im Süden. Kein Vergleich zu dem schläfrigen Nachmittagsverkehr! Es wäre jetzt angenehm, in der Menge unterzutauchen und in irgendeinem Straßencafé ein paar zu heben. Doch müssen wir eilig Kisu aus der Tiefgarage holen und zum Hafen fahren. Das Einschiffen dauert seine Zeit, geht aber klaglos vonstatten. Die Innenkabine ist klein, aber hübsch und sauber. Nach einem Gute-Nacht-Schluck, der dem ereignisreichen Tag gerecht wird, sinken wir auf die guten Matratzen. Auf unserer Reise haben wir bisher fast 2000 Kilometer zurückgelegt (wo bitte?). Es sind anschauliche, schöne Tage gewesen. Geregnet hat es nur, wenn wir irgendwo drinnen waren und kamen wir heraus, hörte es gleich auf.

Und jetzt kommt Finnland.





Sonntag, 7. September

Auf See



Der Bordlautsprecher weckt uns. Die Frühstücksbar ist nun geöffnet. Wir haben jetzt finnische Zeit. Eine Stunde später. Das tolle Frühstücksbuffet geht an mir vorüber insofern, als es endlich Rührei und Bacon gibt und da grabe ich mich ein, alles andere verschmähend. Verheerend !






Es regnet sehr stark. Die Welt um das Schiff ist nur in Nuancen unterschiedlich grau. Ich arbeite am Reisebericht. Ein ausgedehnter Mittagsschlaf – was sonst sollte man bei diesem Wetter tun? – gleicht unseren Minussaldo an Schlaf aus. Ich lese: Schiller, der Dreißigjährige Krieg. Ein verwegener Spaziergang über die Decks im Freien wegen Sturm und Regen bald abgebrochen. Seltsam, wie ruhig das Meer trotz dieses Wetters ist. Wir sitzen in der Bar an der riesigen Frontscheibe und lassen Regen und Meer auf uns zukommen. Ganz ruhig gleitet der Bug der Fähre über die glatte See. Schnell ist dieses Schiff, wir errechnen etwa 50 km/h. Damit überholen wir alles, was sonst noch unterwegs ist.


Schließlich wird es Zeit zum Abendessen. An unseren Tisch bekommen wir einen nicht mehr ganz jungen Mann, um die Dreißig vielleicht. Er ist allein und heißt Hagen. Ist mit seinem Fahrrad unterwegs, von Hamburg aus. Er will nach Tallin und von da durch Estland. Sehr übereinstimmende Auffassungen und daher sympathische Gefühle. Erinnerungen an meine eigenen Alleinreisen in jungen Jahren. Das Essen ist gleichermaßen gut, reichlich und teuer. Mit dem üblichen Gute-Nacht-Schluck in der Kabine zu Bett. Weckzeit wird fünf Uhr sein wegen der Ankunft in Helsinki. Nur ganz leicht vibrieren Bett und Wandpaneele, die Fahrt ist fast geräuschlos und es schaukelt auch kaum. So kommt der Schlaf sanft und unversehens.




Montag, 8. September

Helsinki


worin vorkommen: Helsinki, Aurinkoranta, Uusikaupunki, Porvoo, Turku, die Uspenski-Kathedrale, Amerika   




Fünf Uhr geweckt und aufs Ausschiffen vorbereitet. Als wir an Deck kommen, ist die Morgendämmerung bereits fortgeschritten. Die Lichter des nahen Hafens wären kaum noch nötig. Es hat aufgehört zu regnen. Sehr frisch ist die Luft, als Kisus Räder finnischen Boden berühren. Wir fahren zu den Seppos (Soiles Bruder Seppo und sein Ehemann, gleichfalls Seppo) nach Aurinkoranta und kommen da nach einigem Herumsuchen gegen sechs Uhr an. Mit Hilfe ihres Handys reißt Soile die beiden aus dem Schlaf. Nach kurzer Weile haben die Ärmsten sich und die Wohnung so weit, dass man Menschen, wenn auch verwandte, an sich heranlassen kann. Seppo (unserer) holt uns vom Parkplatz ab und wir fahren mit dem Lift hinauf zur Wohnung. Wir trinken zusammen eine Tasse Kaffee und sind wiederum von der herrlichen Aussicht von der Terrasse auf das Meer und die vorgelagerten Inselchen gefesselt. Weiterhin liegt das Wasser grau unter dem grauen Himmel, leicht bewegt jetzt.

Die Seppos erzählen, es sei ein verregneter Sommer gewesen und auch nur im Juli ganz kurz richtig warm, sodass sie nur ein einziges Mal mit ihrem kleinen Motorboot aufs Meer gefahren seien. Die Seppos werden dieses wunderschöne und luxuriös ausgestattete Appartement in wenigen Tagen aufgeben und nach Uusikaupunki übersiedeln. Das Motorboot soll noch heute Nachmittag per Autoanhänger dorthin überstellt werden.



Bevor der Transporter das Boot holen kommt, machen wir alle eine kleine Ausfahrt mit Kisu nach Porvoo. Es ist ein kleiner, sehr alter Marktflecken, nach Turku die zweitälteste Ansiedlung in Finnland, nordöstlich von Helsinki. Es gibt eine kleine orthodoxe Kirche, in die wir nicht hineinkönnen, weil heute das Fest der Geburt der Gottesgebärerin (bei uns Mariä Geburt) ist, eines der wichtigen Feste der Orthodoxen Kirche. Die orthodoxen Kinder des Ortes nehmen gerade an einer Feier teil, wobei sie auch ein Mahl einnehmen.


Der alte Ort liegt auf einem Hügel und besteht aus den typischen Dorfhäusern aus Holz, die in Porvoo vielfach erhalten und zum Teil restauriert sind. Er scheint nicht so genau zu wissen, ob er Museum werden oder am Leben bleiben soll.

 

Auf der Kuppe des Hügels, die wir über eine mit groben Steinen gepflasterte Straße erklimmen, steht eine prächtige Kirche, sie nennen sie den Dom.

Außen ist die Restaurierung schon abgeschlossen. Für das Dach hat man wieder die typischen Holzschindeln verwendet, die stärker sind als in unseren Breiten. Alle sind gleich geformt, eine Art auf dem Kopf stehende Herzen. Diese Deckung wird noch geteert werden und dann schwarz sein.

Das moderne Zentrum Porvoos liegt an den Fuß des Hügels geschmiegt. Hier pulsiert der Verkehr, wenngleich im bedächtigeren skandinavischen Rhythmus. Wir nehmen in einem der alten Lokale einen kleinen Salatlunch ein, dann geht es zurück nach Helsinki.

 

Wir kurven durch die Stadt und konzentrieren uns auf Sehenswürdigkeiten, die wir noch nicht kennen.

Es wird Zeit, dass wir nach Aurinkoranta zurückfahren, denn Seppos Boot soll abgeholt werden. Wir besteigen das kleine Kajütenboot, das vor dem Appartementhaus seinen Liegeplatz hat. Wir wollen es jetzt zum nahen öffentlichen Hebeplatz verlegen, wo der Transporter warten soll. Seppo lässt den hochgeklappten Außenborder zu Wasser und der springt sofort und problemlos an. Wir lösen die Taue und Seppo legt ab. Unsicher steuert er das Schinakl an den zahlreichen anderen Booten vorbei aus dem Hafenbecken. Seppos Handy läutet. Der Transportfahrer benötigt Anweisungen, wie er zum Hebeplatz findet. Seppo ist im Stress. Er muss gleichzeitig steuern, im Stadtplan nachsehen, den Kai nach dem Hebeplatz absuchen und dem Fahrer Anweisungen geben. Ich sage nur, Louis de Funes.

Endlich finden auch wir den Hebeplatz. Der Transporter wartet schon. Das Boot wird an ein Stahlseil gehängt und über die Rampe auf den Trailer gezogen. Schneller als erwartet liegt es auf den Gummilagern des Anhängers und wird mit starken Riemen festgezurrt. Rasch übernimmt der Fahrer die Schlüssel und verschwindet auch schon mit dem Boot im Schlepp durch die Straßen Aurinkorantas. Ich frage Seppo, ob er den Fahrer kannte. Tat er nicht. In Marseille wäre das ein Abschied auf immer gewesen. Aber hier in Helsinki kann man doch auf ein Wiedersehen in Uusikaupunki hoffen.

Schon auf der Rückfahrt aus Helsinki hatten wir in einem Supermarkt eingekauft, weil der andere Seppo uns etwas zum Abendessen kochen wird. Während ich einen Aperitif anbiete, klopft unser Seppo das Rindfleisch. Er klopft wenigstens fünfzehn Minuten. Das stimmt mich bedenklich. Soile hat Erdäpfel geschält, die nun gekocht werden. Es dauert etliche Aperitifs, bis alles fertig ist. Es gibt eine Art Steaks (ziemlich verbrannt und hart) mit Kartoffelauflauf. Etwas Salat hat sich auch noch gefunden. Der französische Rotwein, den ich gekauft habe, war recht ansprechend, aber ziemlich teuer und gleich weg. Seppos haben noch eine Flasche Gewürztraminer auf den Tisch gestellt. Also weiß und süß auf trocken und rot. Auch nicht schlecht. Bei den anschließenden Digestifs, die wieder aus dem deutschen Weizenklaren bestehen, rundet sich alles ab. Seppos erzählen von Amerika, wir tauschen Volten der Politik und Bankenskandale aus. Was uns aufregt, ist aber im Vergleich mit dem Ungeheuerlichen, das uns gegen Jahresende noch ereilen wird , gar nicht der Rede wert. Ich verstehe, dass Seppos grün sind. Der andere Seppo geht zu Bett, weil alles ausgesoffen ist. Soile verschwindet, auch ziemlich heiter, ins Bad. Ich schaue noch mit unserem Seppo eine Weile aufs Meer hinaus, das jetzt ein schwarzes Loch ist, aus dem in der Ferne ein paar Lichter schwach aufleuchten. Im Licht der Laternen springt ein riesiger Feldhase über den sonst verlassenen Kai. Wahrscheinlich will er schlafen gehen und so tun das auch wir.



Dienstag, 9. September

Helsinki-Kuusamo


worin vorkommen: Uusikaupunki, Lahti, Heinola, Jyveskylä, Kuopio, Iisalmi, Kuusamo   


Endlich wieder ohne Wecker zur Normzeit aufgestanden. Ziemlich kärgliches Frühstück nach dem Luxus der vergangenen Urlaubstage. Brot, Margarine, dünner Käse. Kaffee aus den Tassen, die von gestern Abend noch auf dem Tisch stehen. Der Abschied ist nordisch kühl, ohne Körperkontakt. Ist ja auch nicht für lang. Auf unserer Rückreise werden wir Seppos in Uusikaupunki wiedersehen.

 

Es geht nun Richtung Norden. Es regnet, 12 Grad. Heute sind Kilometer angesagt. Soile fährt über Lahti bis Heinola. Je weiter wir nach Norden kommen, desto besser das Wetter. Vor uns im Norden grenzt sich der graue Himmel messerscharf gegen ungestörtes Türkisblau ab. Tatsächlich scheint wenig später die Sonne aus wolkenlosem Himmel. Dennoch wird es kaum wärmer. Jyväskylä schneiden wir kleinräumig ab. Unsere Reise war bisher spätsommerlich. Unvermittelt sind wir ins volle Farbenspiel des Herbstes eingetreten. Einladend die Sommerhütten an den melancholischen, tiefblau-grauen Seen. Der Verkehr ist mäßig, bei Kuopio aber plötzlich sehr dicht. Das geht so bis Iisalmi, dann ist wieder Ruhe im Land. Die Sonne steht schon tief und leuchtet in die Wälder aus Fichten und Birken, die beiderseits der Straße in einem Respektabstand von zehn, fünfzehn Meter stehen. Man hält die Abstände von der Straße zum Wald breit, damit die Fahrer die Elche und Rentiere früher bemerken, falls sie unbekümmert queren. Die Birken sind schon recht gelb und glühen golden in der Abendsonne. Merklich kleiner sind die Fichten hier als ihre Schwestern in unseren Breiten. Die Gegend wird wieder hügeliger. Noch 250 Kilometer nach Kuusamo. Das wird zäh bei erlaubten hundert Stundenkilometern. Viele halten sich daran, etliche aber auch nicht. Ich daher auch nicht mehr. Mit 120/130 über die über weite Strecken leeren Landstraßen, den Blick immer an den breiten gerodeten und gemähten Seitenstreifen, um nach Rentieren Ausschau zu halten, vor denen Kirsi gewarnt hat. Ich überhole einen blauen Kastenwagen. Vor diesem zuckelt noch ein Wagen mit korrekten 100 Km/h dahin. Ich reihe mich zwischen den beiden ein und sehe im Rückspiegel an dem blauen Kastenwagen die Aufschrift "Poliisi". Richtig, das heißt Polizei. Blaue Drehleuchten sind auch an dem Wagen, allerdings ausgeschaltet. Da ich mit gut 120 überholt hatte, erwarte ich jetzt gestoppt und bestraft zu werden. Aber nichts passiert. Außer dass jetzt in der verlassenen Gegend drei Autos in kurzem Abstand hintereinander mit 100 durch die nordländische Dämmerung fahren. A mad world! Die seltsame Karawane bleibt eine gute Weile so beisammen, denn noch einmal vor den Augen der Polizei zu sündigen, wäre denn doch zu frech. Ich hoffe, dass die Polizei einen Patschen kriegt oder einen Kolbenreiber, oder mein Vordermann mutig wird und sich mit 110 absetzen wird, aber nichts dergleichen geschieht und mir bleibt nichts übrig als in dem witzigen Verband mitzuzuckeln. Plötzlich kommt von hinten ein Citroen, überholt uns alle mit gut 130 und verschwindet hinter einer der wenigen Kurven. Die Polizei tut nichts. Vielleicht deshalb wird mein Vordermann mutig und erhöht auf 110. Ich auch. Die Polizei bleibt auf 100 und fällt langsam zurück. Kein Blaulicht blitzt auf. Plötzlich Verkehrszeichen: 50 km/h und Baustelle. Die Baustelle ist eine fertige Straße, aber die Bankette sind noch unbefestigt, teilweise fehlen die Bodenmarkierungen. Mit 50 werde ich nicht bis Kuusamo fahren. Die Polizei ist inzwischen weit zurück, aber noch in Sichtweite. Ich überhole den Vordermann und fahre frei bis ans Ziel. Freilich wäre es denkbar, dass die Polizei uns nach Kuusamo gemeldet hat und wir kurz davor irgendwo angehalten werden. Ein an der Seite stehender Wagen ist aber nicht von der Polizei und wir gelangen unbehelligt in die Stadt. Kirsi hat Soile den Anfahrtsplan zu ihrem Haus durchgegeben. Dem folgen wir und bald treffen wir auf Kirsi mit ihrem Jagdhund Taika in der Nähe des Hauses.

 

Für Eetu, Jussa und Lotta ist es aufregend, die Tante aus dem Ausland mit dem Alppi ankommen zu sehen, der nicht finnisch spricht, sondern so eine eigenartige Sprache, die nur die Erwachsenen verstehen. Hin und her gerissen zwischen Neugierde und Scheu lugen sie hinter den Vorhängen des Wohnzimmers hervor, lassen sich dann aber doch gerne zu einer Begrüßung hochheben. Immerhin hat Eetu jetzt Englisch in der Schule, Jussa hat auf eigenen Wunsch einen Englischkurs gemacht und Lotta hat einfach mitgelernt.

Der Bungalow der Kuoskus liegt in einer Siedlung etwas außerhalb des Zentrums. Die meisten Gebäude sind Bungalows aus Holz, hellbeige oder hellblau gestrichen. Manche, wie das der Kuoskus, besitzen Teile aus gebranntem Backstein. Sie stehen in gebührlichem Abstand voneinander. Die Grundstücke sind groß, Platz ist hier keine Mangelware. Das Haus Kuosku ist das letzte in einer kurzen Sackgasse. Zwei Autos stehen davor, ein betagter Mercedes und ein etwas muntererer Audi. Jetzt auch unsere Kisu. Zwei Fahrräder brav im Ständer und eine Anzahl Kinderräder verstreut in der Gegend, dort wo sie gerade nicht mehr gebraucht wurden. Man könnte solche Unordentlichkeit der Freiheit der nordländischen Weite zuschreiben, doch kennen wir diese Art der Aufbewahrung genauso auch aus dem wilden, doch viel enger begrenzten Kärnten. Es wird also weniger an der topografischen Weite liegen, als an der Weite unbeschwerter Kinderseelen. An der Zufahrtsseite ein paar Birken, Sträucher, Rasen, eine Terrasse mit Eingang zum Wohnzimmer. An den Bungalow schließt ein Gehege an für die zwei Hunde, Taika und Ukko.

 

Ukko ist ein noch junger, dunkler, mittelgroßer Dachshund, Taika ein Sibirischer Husky. Das Gehege ist unterteilt, aber mit einem Durchschlupf verbunden und daher sind beide Teile für beide Hunde zugänglich. In jedem Gehegeteil steht eine geräumige Hundehütte. Wenn in der Gegend irgendetwas vom Gewohnten abweicht, stehen beide Hunde auf den Dächern ihrer Hütten und bellen aufgeregt. Bei unserer Ankunft waren beide frei gelassen und haben uns freundlich begrüßt und abgeschleckt.

Das Hundegehege liegt neben der Garage, die in den Bungalow integriert ist. Am anderen Ende betritt man das Haus an der Schmalseite. Der kleine Vorraum dient als begehbare Garderobe. Die Kleiderhaken sind prall überfüllt mit Outdoor-Kleidungsstücken. Der Boden übersät mit kleinen und großen Schuhen, deren Zusammengehörigkeit zu bestimmen Ortskundigen vorbehalten bleibt. Durch diesen Windfang gelangt man in den Hauptraum, der Korridor, Esszimmer, Wohnzimmer und Küche offen vereinigt. Obgleich keine Türen die Bereiche trennen, ergeben sich doch für jeden Zweck entsprechende Zonen. Das Wohnzimmer liegt außerhalb der Raumflucht und grenzt an die straßenseitige Terrasse. Vom Hauptraum aus sind durch Türen die Kinderzimmer zugänglich, jedes Kind hat einen eigenen kleinen Raum zum Spielen, Lernen und Schlafen. Auch ein kleines Bad mit WC und Waschtisch ist hier zu finden. Für die Dauer unseres Besuches muss Lotta auf ihren Raum verzichten und wird im elterlichen Schlafzimmer nächtigen. Vesa hat es nach einem Umbau aus einem Abstellraum neben der Garage gewonnen. Dabei hat er nicht nur die Wand, sondern auch seinen Daumen gebrochen. Zwischen dem Zentralraum und dem neuen Schlafzimmer liegt noch ein kleiner Schmuseraum mit gemauertem, offenem Kamin und Backofen. Von hier gelangt man auch zum großen Bad und zur Sauna. Die Einrichtung ist schlicht, modern, praktisch, aus dem Kaufhaus. Der Küchenverbau setzt sich passend ins Esszimmer fort und schafft daher eine Menge Stauraum. Im Bad gibt es eine Doppeldusche, Waschmaschine und Wäschetrockner, im Wohnzimmer einen Flachbildfernseher, Stereoanlage mit riesigen Lautsprecherboxen, die aber dezent kaschiert sind, und ein modernes Pianino.

Auf der Kommode im Esszimmer sind Glückwunschkarten aufgestellt, Vesa hatte vor wenigen Tagen seinen vierzigsten Geburtstag. Ein kleiner, etwas rundlicher Bursche, seine Vorlieben sind die Natur, die Jagd, das Fischen. Er trägt Brille. Sein Englisch ähnelt dem meinen: umfassend, aber Akzent behaftet.

Kirsi ist auch nicht groß, blond, selbstbewusst, Natur liebend, vielleicht mehr vom grünen Standpunkt her als ihr Jägergatte. Es wundert mich, wie diese kleine Person es schafft, die ganze Bande auf die Reihe zu kriegen. Es gehört eine Menge Energie dazu, aber auch Geschick und Ausdauer. Alles muss sie sein: Lehrerin, Erzieherin, Köchin, Putzfrau, Gärtnerin, Gattin, Ärztin, Krankenschwester, Physio- und Psychotherapeutin den anderen und sich selbst, Hilfsarbeiterin und berufstätige Angestellte. Hyvä, äiti, palion hyvä.






An Eetu und Jussa merkt man, was Kirsi zum Guten bewirkt hat. Als die beiden bei uns in Hohenthurn waren, sind sie wilde Waldknaben gewesen, unbändig und roh. Jetzt finde ich zwei kleine Professoren, kultiviert und von besten Manieren. Und Lotta ist ein ganz süßes kleines Mädchen.

Machen wir noch einen Blick hinaus ins Grüne. Ums Haus herum gelangt man in den Garten. Auch dort befindet sich eine Terrasse. Es gibt Rasen und einen kleinen Gemüsegarten mit Salat und riesigen Erdbeeren. Der Salat ist erntereif und die Erdbeeren tragen sowohl Früchte wie auch Blüten – im September! Spielzeug liegt umher, Golfschläger aus Plastik für Kinder, ein bunter Kinderball, ein kleines Fußball- oder Hockeytor, eine große runde Sprungmatte, beide mit Netzen, eine Hängematte und ein Baumhaus ohne Dach, gebaut auf eine dreistämmige Birke. Sechs Sträucher tragen reife Johannisbeeren, rote weiße und schwarze. Ab und zu donnern Flugzeuge über die Gegend, der Flughafen ist nicht weit entfernt. Man erklärt uns, dass der Fluglärm oft von den Hornets der finnischen Luftwaffe stammt, die verstärkt hier Übungen fliegt, weil es gerade wieder einmal Stunk gibt mit Russland. Bis zum straßenseitigen Geh- und Radweg liegen etliche Meter Wald, von einem schmalen Trampelpfad gequert.

 

Es gibt ein einfaches Abendessen, nachdem wir mit Sekt empfangen wurden. Man sieht noch ein paar Nachrichten im Fernsehen. Das Wetter soll morgen gut werden, jedenfalls ist kein Regen angekündigt, Temperaturen zwischen zwei und acht Grad. In Wien 27! Bald gehen alle zu Bett. Wir nach 800 Kilometer Autofahrt, die anderen in Erwartung eines Arbeits- und Schultages.



Mittwoch, 10. September

Kuusamo


worin vorkommt: Friedrich Schiller, 'Der Dreißigjährige Krieg'



Lang und gut geschlafen. Es hat drei Grad. Der Himmel ist grau. Nach dem Frühstück arbeite ich auf der Terrasse am Tagebuch. Mein Schiller (Geschichte des Dreißigjährigen Krieges) liegt auch auf dem Tisch.



Jussa ruft das Handy von Soile an. Er hat auch am Nachmittag Schule. Um halbdrei kommt Eetu nach Hause. Er nimmt sich aus dem Kühlschrank etwas zu essen und ein Cola. Auf dem Fußboden kauernd braucht er keine fünf Minuten für die Hausaufgaben. "Habe ich alles schon auswendig gewusst".

 

Soile und ich fahren ins Zentrum, ein paar Sachen zu kaufen, verlieren uns auf dem Rückweg, obwohl das Zentrum gerade einmal aus ein paar Straßen besteht, gesäumt von alten ebenerdigen Holzhäusern und wenigen modernen, mehrstöckigen Häusern. Als wir endlich die richtige Straße finden, ist es zu spät, um mit Vesa und einem Freund und Tajka in den Wald zu gehen zwecks Hundetraining für die Jagd. Die sind schon weg.



Donnerstag, 11. September

Karhunkierros


worin vorkommen: Juuma, Karhunkierros, der Oulanka Nationalpark, der Juuma-Järvi, der Pessanvaara, der Jyrävänjärvi, der Kitkajoki, der Oulanjoki, Russland, Arriach, der Rauterbauer   


Bedeckt, die Sonne versucht durchzukommen, sechs Grad. Soile und ich fahren nach Juuma, wo wir im Nationalpark eine Wanderung machen wollen.

 

Die Kleine Bärenrunde (Pieni Karhunkierros), die wir uns vorgenommen haben, ist nur ein winziger Teil des achtzig Kilometer langen Wanderwegs durch den Oulanka Nationalpark, ein Rundkurs von etwa zwölf Kilometer Länge, östlich und südlich von Juuma.

 

Am Ende der Autostraße am Juuma-Järvi (Järvi = See) ist kaum ein Parkplatz frei. Wir lassen Kisu auf einer Wiese neben anderen Autos weiden. Ein Kleinwagen mit polnischem Kennzeichen hat den letzten regulären Platz knapp vor uns besetzt. Ausgestiegen sind zwei Nonnen in vollem Habit. Knöchellange Röcke, dunkelblau wie die Oberteile, auf dem Kopf riesige weiße Schmetterlingsflügel, schwere Halbschuhe, große Handtaschen. Alter undefinierbar. Wie wir machen sie sich auf den Weg durchs Naturschutzgelände.

 

In dem schönen nördlichen Wald, auf dem Boden überall Heidel- und Preiselbeeren, pflückreif, und uns unbekannte Pilze. Der weite See liegt ruhig und glatt. 

Über eine Fußgeher-Hängebrücke aus Stahlseilen und Holzbrettern in neuwertigem Zustand gelangen wir auf den Pessanvaara, eine Halbinsel zwischen dem Juumajärvi und dem Jyrävänjärvi. Die Seen liegen in 222 Meter Seehöhe und bilden den Durchfluss des Kitkajoki (Joki = Fluss) durch den Nationalpark, bevor er in den Oulankajoki mündet, der bald darauf die Grenze nach Russland quert. Auf der Strecke, die wir durchwandern wollen, bildet er eindrucksvolle Schluchten und Katarakte. Attraktion für alle Wildwassersportler, aber auch für jene, die einfach darüber staunen wollen, wie die ruhige Natur plötzlich in wildbewegte Erregung umschlagen kann. Wo das Gelände nass und sumpfig, oder auch einfach zu steil und unbequem ist, hat man aus Holz Stege, Stiegen und Brücken errichtet, die das Fortkommen sehr erleichtern. Der Personenverkehr ist für die fortgeschrittene Jahreszeit ziemlich stark. Die beiden Nonnen treffen wir immer wieder auf der Rundwanderung, ebenso werden uns manche andere Wandererpaare nach und nach bekannt. Die Meisten aber machen die Runde in der entgegengesetzten Richtung. Wir und die Nonnen sind eben anders.

Wir gelangen an eine aufgelassene Mühle an der Stelle, wo der Kitkanjoki den Jyrävänjärvi verlässt. Der alte Mühlenstein liegt noch vor der Tür als Stufe. Das Blockhaus dient heute als Unterstand und Nächtigungsmöglichkeit für Wanderer auf Holzpritschen. Für Brennholz sorgt die Waldbehörde. Damit kann man auch zwei Feuerstellen vor der Hütte versorgen, an denen man sich wärmen und Speisen zubereiten kann. Sie sind auch tatsächlich in Verwendung, als wir vorbeikommen.

 

Wieder geht es über eine Hängebrücke, die etwa vierzig Meter lang ist und nicht weniger als zehn Meter über dem tosenden Wasser hängt und nur einzeln begangen werden soll. Das Schwanken des Bodens erinnert mich an eine stürmische Seefahrt. Die Nonnen sind auch unerschrocken darüber marschiert, aber die kommen wenigstens in den Himmel?

Der Weg durchquert nun das Innere einer Flussschlinge. Immer munter rauf und runter geht es vorbei an Tümpeln und Teichen, durch den stillen Wald. Es fällt auf, dass keine Vogelstimmen zu hören sind. Überhaupt keine. Nur zweimal auf der ganzen Wanderung hören wir Warnschreie. So ist es, abgesehen von gelegentlichen Lauten von Menschen unendlich still. Nach beständigem Anstieg gelangen wir zu einem Aussichtspunkt, Kollioporti (hat mit dem Frankieren von Paketen gar nichts zu tun). Aus dreihundert Meter Seehöhe blicken wir frei über die Wälder Lapplands, welches hier, sechzig Kilometer südlich des Polarkreises beginnt und sich über achthundert Kilometer nach Norden erstreckt. Nicht zu Unrecht vergleicht die Informationstafel den Ausblick mit dem eines fliegenden Vogels. Es war Glück, dass wir die Runde in dieser Richtung angegangen sind, denn wir können die zweihundertfünfzig Stufen Holzstiege, die vom Aussichtspunkt wegführen, hinabsteigen anstatt hinauf wie die meisten völlig ausgepumpten Wanderer, die uns entgegen wanken und um unsere Bequemlichkeit beneiden, darunter ein paar Schulklassen. Die jungen Leute halten nicht hinter dem Berg, was sie von diesem Ausflug halten. Manchen Schwergewichtigen traue ich nicht zu, dass sie die Anhöhe jemals von oben sehen werden. Das gilt übrigens auch für manchen der begleitenden Erzieher.

Wieder queren wir eine Brücke über den Joki. Der Weg führt uns nun an seinem rechten Ufer entlang, zuerst östlich, aber bald nach Westen wendend. Aus dem Tal hören wir immer wieder das Rauschen der Katarakte.

Von dort kommt plötzlich unbekümmert und mir nichts dir nichts ein großes Huftier, dunkel, behaartes Geweih, eine grün-orange Binde um den Hals und stellt sich hinter uns auf den Waldweg, auf dem wir gekommen sind. Ein Elch? Elche gibt's ja nicht, sage ich, so lange ich keinen echten gesehen habe. Brav bleibt die Kuh stehen, bis ich sie fotografiert habe. Soile meint, es ist ein Rentier. Für ein Solches ist mir das Vieh zu riesig. Doch später wird Vesa das anhand des Fotos bestätigen.

Weiter wandern wir, immer oberhalb der Schlucht des Kitkajoki. Bald vernehmen wir ein sich ständig verstärkendes Tosen und wenig später gelangen wir an den Jyrävä-Wasserfall.

Er hat eine Fallhöhe von neun Meter. Auch bei niedrigsten Temperaturen friert er im Winter nie ganz zu. Es soll Wahnsinnige geben, die hier mit dem Kajak durchfahren.

 

Etwas unterhalb, dort wo man das Naturdrama gut einsehen kann, steht wieder eine Übernachtungshütte an einem Rastplatz. Er ist von gut zwanzig Wanderern frequentiert. Hier nehmen wir die mitgebrachten Brote zu uns und ich verspeise das einzige Stück Rauterbauerwurst aus Arriach, welches es je unverdaut bis hierher geschafft hat. Der Mohn im Ölz-Strudel ist schon leicht ranzig.

Bevor die Wanderrunde des Pieni Karhunkierros bei der Mühlenhütte geschlossen ist, bewundern wir am gegenüberliegenden Ufer einen Felsen, der halb in der Luft hängt, das tosende Wasser lässt er unter sich durch. Auf seinem bemoosten Rücken hat er eine Hütte zu tragen, die auch einen kleinen Garten aufweist. Es muss hübsch zu wohnen sein in der Blockhütte über den tanzenden Wassern, das unaufhörliche Rauschen im Ohr. (Und immer hör ich's rauschen, du fändest Ruhe dort...)

Den Weg durch das Pessenvaara zurück zum Ausgangspunkt kennen wir schon. Ich erspähe unmittelbar am Wegrand einige Herrenpilze, aber Soile meint, ich darf sie nicht mitnehmen (Naturschutz). Schade.

 

Zurück am Parkplatz haben die meisten Autos den Ort bereits verlassen. Kisu steht ganz allein und verlassen inmitten der grünen Weide. Es hätte mich nicht gewundert, sie fressen und wiederkäuen zu sehen.

 

Abendessen bei den Kuoskus. Hirvi (Hirsch) mit Schwammerlsauce und die berühmten lappländischen Erdäpfel. Sie sind sehr klein, länglich wie Kipfler und werden – außer von Soile – samt der Schale verspeist. Vesa räuchert einen rohen Fisch in seinem kleinen Räuchergerät. Es ist ein liegender Zylinder mit Heizstab. Der gewürzte Fisch wird hineingeschoben. Auf eine Schale unter dem Fisch kommen neben etwas Zucker Späne einer besonderen Holzart. Wir konnten nicht klären, was für eine. Sandel? In Kuusamo gibt es das im Supermarkt zu kaufen. Nach vierzig Minuten bei achtzig Grad hat man herrlichen Räucherfisch.



Freitag, 12. September

Kuusamo, Parlamentarierband


worin vorkommen: Kuusamo, die Stadthalle, Sodankylä, Pori, Namibia, Anjalankoski, Kouvola, Jämsänkoski, Oulu, Tampere, Mikko Alatalo, 'Coitus Int', die 'Sex Pistols', Claes Andersson, Oiva Kaltiokumpu, 'Lapp Sheriff', Markku Pakkanen, Tuula Peltonen, Lyly Rajala, Minna Sirnö, Tommy Tabermann, Rakkauskirja' (Buch der Liebe), 'When the Saints Go Marching In' 


Sonnig, aber kalt. Morgens nicht mehr als drei Grad. Vor dem Haus in der Sonne Fußpflege und Tagebuch.

 

Nachmittag Eetu zur Eishalle gefahren. Eishockeytraining. Einige Jugendliche sind mit einem Trainingsspiel ohne Torleute beschäftigt. Ich finde ihr Spiel sehr gekonnt. Es geht alles sehr freundschaftlich vonstatten. Als Eetu mit ein paar anderen Knirpsen aufs Eis fährt, überlassen die Größeren den Kindern sofort einen Teil der Fläche für ihr Training.

 

Während Eetu trainiert, besuchen wir eine Ausstellung von Naturfotos im Kuusamohaus. Schöne Aufnahmen, die mich dennoch kalt lassen, vielleicht, weil die Präsentation vorwiegend kalt wirkenden elektronischen Einrichtungen anvertraut ist.

 

Wir holen dann Eetu wieder ab von seinem Training. Eishockey ist derzeit Eetus wichtigstes Thema. Er möchte ein toller Tormann werden.

 

Vesa und Kirsi haben heute früher Arbeitsschluss. Wir begleiten sie zum Einkaufen. Unterwegs wird auch noch ein gebrauchter Wohnwagenanhänger besichtigt. Die Kuoskus überlegen eine solche Anschaffung, damit die fünfköpfige Familie leichter urlauben kann.

 

Danach begeben wir uns zum Veranstaltungshaus von Kuusamo. Eine Band aus Mitgliedern des Parlaments in Helsinki soll ein Konzert geben. Niemand von uns weiß, was für eine Art Musik die machen. Wir lassen uns überraschen.

Das Konzert findet in der Stadthalle statt. Für die kleine Stadt (17.000 Einwohner) ist die Stadthalle ungemein imposant. Sie hält locker jedem Vergleich mit dem Kongresshaus in Villach stand. Viele auch viel größere österreichische Städte können von einem solchen Mehrzweckhaus nur träumen.


In der Vorhalle (oberes Bild) herrscht schon dichtes Gedränge. Es gibt einen Werbestand von einem Fotogeschäft in Kuusamo und einen Stand von den Naturfotografen, deren Ausstellung wir schon am Nachmittag in einem anderen Gebäude besucht hatten. Es werden Fotoausrüstungen und Bildbände feilgeboten.


Nach einer Weile öffnen sich die Eingänge zum Saal. Es zeigt sich ein wohlproportionierter Raum, ansprechend mit hellem Holz verkleidet, von den Eingängen abfallend bis zur Bühne, etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Reihen zu geschätzt dreißig Plätzen, also etwa siebenhundert Personen fassend. Auch die Bestuhlung ist aus hellem Holz, dezent gepolstert und sehr bequem. Durch das Gefälle besteht von jedem Platz aus sehr gute Sicht zur Bühne. An jeder Rückenlehne gibt es einen hölzernen Tisch, der herausgezogen oder versenkt werden kann. Vesa nimmt für die Kleinen ein paar Pölster mit, die vor den Eingängen bereitliegen, damit sie durch eine höhere Sitzposition besser sehen können. Die Holzverkleidung der Wände ist unregelmäßig, sodass eine gute Akustik erzielt wird.


Ich erinnere mich an Uusikaupunki, wo wir auch ganz tolle Facilitys angetroffen haben, aber Uusikaupunki ist ein Festspielort im Süden und hat eine ähnliche Einwohnerzahl (16.000).



Auf der offenen Bühne sieht man ein Akkordeon, ein Schlagzeug, eine herkömmliche Gitarre, eine E-Gitarre, einen Kontrabass und etliche Mikrofone. Ein Sprecher des Hauses begrüßt das Ensemble.











Mikko Alatalo


ist der Einzige des Ensembles, dem man die Musikerkarriere auch professionell zugestehen muss. Schon seit jungen Jahren schrieb er Texte und Lieder, die von seiner Band ‚Coitus Int‘ aufgeführt wurden, insgesamt mehr als 600, von denen viele Pop- und Volksmusik-schlager geworden sind. In einem seiner TV-Programme traten zum ersten Mal in Finnland die ‚Sex Pistols‘ auf. In die Politik ging er erst 2000 und wurde 2003 für die Zentrumspartei ins Parlament gewählt. Gibt’s also auch in Finnland: Quereinsteiger.



Oiva Kaltiokumpu


geboren in Sodankylä, also ganz in der Nähe von Kuusamo, Polizeikommissar in Pori (Südwestfinnland), dort Gemeindepolitiker der Zentrumspartei, Parlamentsabgeordneter, zuletzt Europaabgeordneter, Musiker: "Lapp Sheriff"


Tuula Peltonen



Pädagogikprofessorin, Bürgermeisterin von Jämsänkoski (Mittelfinnland - Sozialdemokratische Partei), Vorsitzende der Sozialistischen Frauen der Region Mittelfinnland, Europaabgeordnete, Hobbysängerin.


Minna Sirnö




Stadträtin in Tampere (Linke Allianz), Europaabgeordnete, Hobbysängerin und Karaoke.












Claes Andersson


Psychiater, Autor, Jazzpianist, Politiker des Linken Bündnisses, später Parteivorsitzender der Volksdemokratischen Allianz, Kulturminister 1995 – 1998, danach Europaabgeordneter.







Markku Pakkanen


Kaufmann, UNO-Soldat in Namibia, Transportunternehmer, Stadtrat (Zentrumspartei) und Bürgermeister in Anjalankoski und Kouvola (Südfinnland), Mitglied des finnischen Olympischen Komittees, Kontrabassist.




Lyly Rajala



Schlagzeuger, Maurer, Taxifahrer, Moderator, Gemeinderat in Oulu und Europaabgeordneter (Konservative Partei, früher Christdemokraten).



Einer der Gitarristen ist der Leader, ich glaube es ist Mikko Alatalo, er begrüßt seinerseits das Publikum und stellt alle Musiker einzeln vor und zuletzt auch noch einen älteren Herrn, schmale Statur, etwas ergraut, empfindsame, dunkle Stimme:



Tommy Tabermann


 

Sehr bekannter Schriftsteller (schwedischer Muttersprache, schreibt aber in Englisch), Radiojournalist, TV-Moderator, Literat, Parlamentsabgeordneter (Sozialdemokratische Partei), Mitglied der finnischen Delegation im Nordischen Rat, Verwaltungsrat des Finnischen Rundfunks.


Er wird nach jeweils zwei oder drei Musikstücken aus seinem "Rakkauskirja" (Buch der Liebe) lesen. Einige seiner Bücher waren im Fojer an einem Verkaufsstand ausgestellt und zum Verkauf angeboten.

Des mir unverständlichen Redens gab es bisher ein gerüttelt Maß und so bin ich froh, dass es endlich an die Musik geht. Die Band spielt diverse Schnulzen und Tangos, das Meiste einschläfernd langsam. Die eine Dame singt Mezzo, die andere Sopran. Unter den Musikstücken ist ein Volkslied, das als einziges mir Applaus entlockt. Aber auch allgemein ist der Beifall eher dünn und rein höflicher Natur. Für finnische Verhältnisse ist das vermutlich wilde Begeisterung. Dazwischen liest Tommy Tabermann seine Texte in Finnisch. Natürlich verstehe ich wieder kein Wort, aber die Musikalität der Sprache ist unbestreitbar. Musikstücke der anderen Art. Zu allen musikalischen und poetischen Vorträgen werden Aufnahmen aus der lappländischen Natur auf die riesige Leinwand über der Bühne projiziert. Schöne Fotos von Landschaften und Tieren, leider etwas lichtschwach. Der Rhythmus der Projektionen orientiert sich am Charakter der Musik. Ist diese gelegentlich etwas lebhafter oder jazzig, wird die Bildfolge ins Absurde beschleunigt, die Bildwiederholungen nehmen den Rhythmus der Musik auf.


Tabermann liest wieder und wieder. Ist die Sprache auch schön, so wirkt sie mangels Sinnverständnis doch auch einschläfernd und bald entgleite ich unauffällig in sanften Schlummer. Ich erwache, als der E-Gitarrist in einer der Schnulzen auch vokal hervortritt. Leider setzt er eine Quart bis Quint zu hoch an, behält aber diese Tonart beharrlich bei, obwohl die Anderen die richtige Lage deutlich betonen, um ihn herunter zu holen. Seemann, deine Heimat ist das Land ... Gegen Ende des Programms versuchen die Akteure, das Publikum zu rhythmischem Mitklatschen zu bewegen, aber keiner rührt einen Finger. Ich frage mich, ob das fehlende Feuer der Darbietung daran schuld ist, oder die Kühle des Auditoriums. Nach einem 'When the Saints Go Marching In' in Wiegenliedversion ist endlich Schluss. Das Publikum, ich ausgenommen, klatscht artig ein wenig, hört damit aber schon auf, während die Parlamentarier noch ihre Verbeugungen fortsetzen. Wir gehen ins Restaurant Pizza essen.


Soile und ich nehmen Rentierstücke auf der Pizza. Der meinem Geschmack nach unpassende Blauschimmelkäse überdeckt alles andere, sodass die Rentierstückchen wirklich auch fehlen könnten. Der Teig ist weder knusprig noch saftig, sondern eher Gummi. Die anderen Gerichte auf der Karte waren eher international und schweineteuer, sodass die Rentierpizza ein interessanter Ausweg schien. Zuhause wird der Magen wieder eingerichtet mit Schnaps und dem Räucherfisch auf Knäckebrot.



Samstag, 13. September

Oulanka


worin vorkommen:     der Oulanka Nationalpark, der Oulanka, Salla, Ruka, Käylä, Bohmen, Adalbert Stifter, 'Der Hochwald'   






Es dauert immer soooo lang, bis die Großen fertig sind. Da vertreibt man sich die Zeit am besten mit Hockey auf der Straße vor dem Haus.



Eetu und Lotta 


In zwei Autos fahren wir an Ruka vorbei bis Käylä, von dort rechts ab eine Schotterstraße 17 Kilometer bis zum Ziel.

 

Vesa fährt voran mit 80 km/h. Soile hat Angst. Ein Wagen kommt entgegen, schleudert leicht, vermutlich, weil er etwas bremst, schleudert noch etwas stärker. Ich lenke so weit rechts wie vernünftig auf den losen Schotter hinaus. Der Entgegenkommende fängt das Schleudern etwas ab. Wir passieren einwandfrei. Im Spiegel sehe ich, wie der andere Wagen neuerlich immer stärker schleudert, sich schließlich dreht und auf unserer Seite in entgegengesetzter Richtung zum Stillstand kommt, das Heck etwas aus der Fahrbahn. Hat er was vergessen in Salla? Soile hat noch mehr Angst.

 

Die Straße verläuft Hügel auf Hügel ab wie auf einer Hochschaubahn. Bei der Annäherung an eine Kuppe weiß man nie, was dahinter kommt. Manchmal ist es eine Kurve, manchmal Rentiere. Wir gelangen unfallfrei zum Parkplatz beim Nationalparkeingang, aber Vesas Audi hat eine Reifenpanne. Er hatte den Wagen ein paar Wochen zuvor gekauft, ein schöner Kombi 2,5 TD, 200.000 km. Die Reifen sind allerdings ziemlich am Ende und spröde. Der am rechten Hinterrad hat die Strapazen der Schotterpiste nicht ausgehalten.

Unter fachkundigen Anweisungen der Kinder wird das Rad gewechselt. Gottseidank ist alles Nötige vorhanden, sogar etwas Druck im Reservereifen.


Dann ziehen wir glorreichen Sieben los in den Wald. Wieder die schönen Ausblicke auf Seen und Flüsse, Wasserfälle und Schnellen, rote Granitfelsen und graugrüne Sümpfe.

Das Wasser des Sees führt eine sehr langsame Spiralbewegung aus. Die vom Wasserfall stammenden Schaumspuren bilden eine kleine Milchstraße auf der Wasseroberfläche.


Wir gesellen uns zu einem Paar an der Feuerstelle. Kirsi packt Knackwürste aus, sie werden über dem Feuer gebraten und mit Appetit verspeist. Die Spieße gehören dem Nationalpark. Manche Besucher bringen aber auch ihre eigenen mit, die sie wie Teleskope zusammenschieben können.


Wir gelangen nach kurzem Wandern an eine Feuerstelle, die ist aber von Menschen übervölkert. Also gehen wir weiter. Es wird nicht weit sein bis zur nächsten.


Das Paar zieht inzwischen weiter und wird von einem anderen mit Hund abgelöst. Es herrscht reger Betrieb im Wald. Dennoch ist es ruhig und still. Die Gegend hat mehr von der Ruhe und Abgeschiedenheit von Stifters Hochwald als das Original in Böhmen.




Eetu schnitzt einen Dolch und baut mit Jussa auf einem der Pfade eine Falle für nachfolgende Wanderer.

Weil die Knackwürste aus sind, wandern wir zurück zum Parkplatz und machen uns an die Rückfahrt. Über die Schotterstraße begnügen wir uns jetzt mit 60 km/h. Zuhause gibt es ein herrliches Essen.

Abschließend Kaffee und ein sehr guter Weinbrand. "Und das müssen wir dauernd essen!" jammert Vesa. Ich bedaure ihn aufrichtig. So ein Lump!



Sonntag, 14. September

Kuosku


worin vorkommen: Kuosku, Salla, Kelloselkä, der Polarkreis, Venäjä (Russland), Kuolojärvi, Alakurtti, Sallajoki, die Sowjetunion, der Tenniöjoki, Savukoski, Ludwig van Beethoven, Friedrich Schiller,    Kalervala', Kullervo, die 9. Symphnie, die 'Ode an die Freude' 


Keine Wetteränderung. Grau bleibt die Devise. Heute soll es nach Kuosku gehen, um die Eltern Vesas, Kullervo und Leena Kuosku, zu besuchen. Es muss schon eine alte Familie sein, die den Namen des (kleinen) Ortes trägt. Dazu ist Kullervo eine Hauptfigur im urfinnischen Mythos Kalervala.

 

Es geht also noch weiter in den Norden. Durch sumpfiges Land an diversen Tunturis (etwa 500 Meter hohe Hügel) vorbei nach Salla und Kelloselkä. Vor Salla passieren wir den Polarkreis. Bei Kelloselkä wären es nur noch drei Kilometer zur russischen Grenze. Östlich könnten wir also einfach hinüber fahren nach Venäjä, so nennen die Finnen Russland. Die Ortsbezeichnungen drüben klingen auch nicht russisch: Kuolojärvi, Alakurtti, Sallajoki, usf. Es handelt sich um Gebiete, die Finnland durch den zweiten Weltkrieg an die Sowjetunion verloren hat. Wir halten uns scharf links und folgen nordwestlich dem Tenniöjoki, die letzten vierzig Kilometer von insgesamt zweihundert bis Kuosku, das kurz vor Savukoski liegt.

 

Über ein paar Sandstraßen gelangen wir zum Hof der Kuoskus.

Das Haupthaus ist eine schöne Holzvilla, skandinavienrot, einstöckig. In geringer Entfernung stehen einige Scheunen und eine alte Wohnhütte am Flussufer, das etliche Meter steil zum träge dahinziehenden Wasser abstürzt. Der Rasen vor dem Wohnhaus ist frisch gemäht. Kullervo hat das gestern gemacht in Erwartung der Gäste aus dem Ausland. Einige schöne Vogelbeerbäume stehen an der Wiese und ein Gefäß mit schönen Wiesenblumen. Auf der anderen Seite des Hauses bieten einige Sträucher ihre Beeren an. Daran schließt eine weitläufige Weide, die auch bis zum Fluss reicht. Drei Hunde bewachen den Hof. Die alte Saska war schon bei unserem letzten und einzigen Besuch vor elf Jahren da. Zwei jüngere Hunde sind wie sie ostsibirische Rasse. Sonst sind keine Tiere auf dem Hof. Die Hauptakteure, die Rentiere, laufen frei in den Wäldern. Erst bei Wintereinbruch werden die Tiere eingesammelt und auf die jeweiligen Eigentümer aufgeteilt. Die kalte Jahreszeit verbringen sie dann in großen Gehegen. Da die Rentiere oft auch entlang den Autostraßen grasen und dabei überhaupt keine Scheu vor Menschen und Autos entwickeln, kommt es oft zu Unfällen. Dann wird davon ausgegangen, dass den Autofahrer die Schuld trifft, weil er sich nicht ausreichend auf die Tiere eingestellt hat. Die Versicherung ersetzt dem Tierhalter den Schaden nach Pauschalsätzen. Nur wenn eine Kaskoversicherung besteht, wird auch der Fahrzeugschaden bezahlt.

 

Kullervo und Leena haben sich und das Haus herausgeputzt. Kullervo trägt ein dunkles Hemd, ein Kleidungsstück, das er nach Vesas und Kirsis Meinung sonst niemals tragen würde. Leena mit ihrem hellen Rock und ebenso heller Weste ist von dezenter Eleganz und ihre Bewegungen sind anmutig.

 

Man betritt das Haus und steht in einem geräumigen Vorraum. An der Wand hängen zwei Kleinkalibergewehre. Anschließend befindet sich ein großes Wohnzimmer, auch innen ist alles aus Holz. Ein Holztisch mit zwei Bänken, deren Plätze für vier Personen gut, für sechs nur noch knapp reichen, zwei Leder bezogene Holzfauteuils, eine Schlafbank, großer Fernseher. Die Heizung ist elektrisch. Ein großer Teppich auf dem Holzboden. An der hölzernen Zwischenwand zur Küche hängt ein großes Bärenfell. Es soll sechzig Kilo schwer sein. Es ist sehr angenehm, mit den Fingern durch das lange Haar zu streichen, insofern der innewohnende Bär nicht anwesend ist.

 

Im Übergangsbereich zur Küche, der offen ist, steht eine zweite Tischgarnitur wie im Wohnzimmer. Von hier überblickt man sowohl den Wohnraum als auch die Küche. Es gibt auch gleich Essen. Da nur sechs Personen gleichzeitig zum Essen Platz haben, wird in zwei Gruppen gespeist. Es ist auch Riisto gekommen,

Riisto gehört zur Familie Vesa und Kirsi Kuosku wie der Mond zur Erde. Mond und Erde sind miteinander verwandt. Die Kuoskus und Riisto nicht. Und doch umkreist Riisto Vesa und Kirsi so zuverlässig wie der Mond die Erde. Riisto ist zu dieser Zeit Mitte fünfzig. Er lebt in Savukoski in einfachen Verhältnissen mit seinem Hund Reinvuo und ist im Naturpark angestellt, wohl weil er naturliebend ist und sprachenkundig. Schwedisch ist klar, gutes Englisch und ausreichend Deutsch. Seine Arbeitsverhältnisse sind offenbar befristet, denn sie sind ab und zu unterbrochen durch beschäftigungslose Zeiten. Nach Kuosku zu kommen, ist für seine alte Kiste kein Problem, Savukoski ist der nächstgrößere Ort in der Nähe. Nach Kuusamo zu Vesa und Kirsi, das ist schon bedenklicher, etwa 250 Kilometer pro Strecke. Und doch fehlt Riisto bei keiner Familienfeier der Kuoskus, wobei, davon gibt es viele, und er taucht auch zwischendurch öfters auf, wenn es sich irgendwie ausgeht. Den Kuoskus ist er wie ein älterer Bruder. Wir haben Riisto zuerst in Kuusamo bei den Kuoskus getroffen. Selbstverständlich blieb er wie wir über Nacht. Das gab uns reichlich Gelegenheit zum Reden. Riisto ist belesen und hat Humor. Er liebt klassische Musik, Bruckner gehört zu seinen Favoriten. Aus Beethovens Neunter sang er weitgehend fehlerlos den deutschen Text der Ode herunter. Mein geflügeltes Wort „Amol der Gigl, amol der Gogl“ schnappte er sofort auf. Es oft und oft zu wiederholen, machte ihm riesig Spaß. Trotz aller Sympathie wurden wir mit Riisto nicht wirklich warm. Etwas Verstörendes blieb zwischen uns wie ein Vorhang. Als Kirsi und Vesa und die drei Kinder uns in Hohenthurn besuchten, war Riisto selbstverständlich dabei. Sie kamen mit dem Flieger. Für unsere Tagesausflüge wären wir mit Soiles Kabrio und meinem Mazda ausgekommen. Mit Riisto waren wir aber zu viele und ich musste einen Kleinbus anmieten. Am Ende leistete er immerhin einen kleinen Beitrag zur Miete. Nachdem Vesa und Kirsi schon die hohen Reisekosten auf sich nehmen mussten, war es nur selbstverständlich, dass wir unsere Kinder hier weitgehend freihielten. Es wäre uns zu blöd gewesen, von Riisto seinen Anteil zu verlangen, also lief auch er mit. Die Abende mit Riisto waren lustig und erbaulich, feucht und sehr lang. Zu lang manchmal, denn ich musste damals ja tagsüber auch noch arbeiten. Später, als Facebook aufkam, machte Soile mit Riistos Postings Bekanntschaft. Mir selbst blieben sie verborgen, da ich einerseits meinen Account enttäuscht von diesem Medium gelöscht hatte und andererseits mangels ausreichender Finnischkenntnisse. Soile schilderte mir Riistos Einstellungen, die dabei zutage traten als ausgesprochen widerwärtig, weil national und rechts außen. Mag sein, dass, wenn auch unsere Gespräche solche Punkte nie berührt haben, Riistos Haltungen doch fühlbar wurden und es daher zu keiner tieferen Freundschaft gekommen ist. Was uns wundert, ist, wie bleibt dieser Mann für Kirsi so erträglich. Vesas Einstellungen dürften von Riistos nicht gar so weit entfernt liegen.

 

Jetzt aber gibt es ers einmal Gutes zu Essen. Ragu aus Fleisch von Rentier, Schwein und Elch, dazu die lappländischen Erdäpfel "Pujkula", Gemüse und Salat. Zu trinken klares Wasser.

Nach dem Essen gehen wir die Hütte am Fluss besichtigen. Sie ist schon etwas verfallen, aber Vesa und Kirsi verwenden sie noch im Sommer für kurze Sommerfrischeaufenthalte. Wie alle kleinen Wohngebäude hat sie etwas Heimeliges, trotz des Verfalls. Das Gästebuch mit unserer Eintragung vor elf Jahren ist noch vorhanden: ‚Raum ist in der kleinsten Hütte für ein zärtlich liebend Paar‘. Danach sollten drei Kinder und zwanzig Übersiedlungen auf das liebende Paar zukommen. In elf Jahren keine kleine Leistung. Ein kleines Holzfass findet sich in der Hütte. ‚43 Liter‘, sagt der Brandstempel und ‚DR‘ – Deutsches Reich! Von den Deutschen beim Abzug zurückgelassen. Wahrscheinlich Cognac für die Offiziere. Die sind weg. Der Cognac auch. Mit dem Krieg hängt auch die Geschichte dieser Hütte eng zusammen. Die Gegend hatte in allen Kriegsjahren ein schweres Schicksal zu tragen. Zuerst kamen die Russen. Zerstörungen, Plünderungen, Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung. Die weißen Finnen hielten dagegen, konnten aber trotz sprichwörtlicher Tapferkeit den Feind letztlich nicht aufhalten. Dazu kam die Partisanentätigkeit der roten Finnen, Sympathisanten des Kommunismus. Auch sie hielten sich durch Plünderungen über Wasser. Noch lange in den Nachkriegsjahren zerriss der Streit zwischen Weiß und Rot das ganze Land, ja viele Familien, und spielt erst in der jetzt jüngeren Generation keine Rolle mehr. Damals kamen die Deutschen den Weißen zu Hilfe. Wieder Zerstörungen. Dazu verheerten die Russen bei ihren zeitweiligen Rückzügen das Land, um nichts dem Feind zu überlassen. Als später auch die Deutschen sich zurückziehen mussten, taten sie ein Gleiches und brannten alles nieder, was noch stand. Es wird von haarsträubenden Grausamkeiten berichtet, die man dem Mittelalter zuordnen würde, nicht aber der Eliterasse, die die Deutschen gerne sein wollten. Allerdings: Haben wir nicht erst in Dresden in einer Gedenkstätte von der Hinrichtung einer Anzahl Widerstandskämpfer gelesen – durch Enthaupten?! Leider hat sich gar nichts geändert in der Menschengeschichte. Nur die Methoden sind raffinierter geworden.

 

Die Kuoskus machen sich keine Vorstellung, wie ich mich für die Untaten meiner Verwandten schäme, obwohl mich als Spätgeborenen keine persönliche Schuld daran treffen kann. Aber, zurück in unsere Hütte. Der Hof der Kuoskus stand noch nicht. Er entstand 1953. Ein anderer Hof in der Nähe, jenseits des Flusses, wurde durch Kriegsereignisse vernichtet. Es war im Oktober. Der Winter stand vor der Tür. Die Überlebenden mussten in aller Eile eine Notunterkunft herstellen, wenn sie nicht erfrieren wollten. Das war diese kleine Hütte von nicht mehr als 25 Quadratmetern. Im folgenden Winter fanden zwölf Personen Unterkunft darin. Die Hütte wurde in späteren Jahren dort abgetragen und an hiesiger Stelle wieder aufgebaut.

Wir werden ins Haus gerufen. Alle, auch der Nachfahre der Verursacher sinnloser Zerstörungen und widerwärtiger Tötungen, sind zum Kaffee eingeladen. Zum Filterkaffee gibt es Kuchen, Pulla (Buchteln) und Kekse, wieder in zwei Gruppen. Während die Menschen plaudern, schweift mein Blick immer wieder durchs Fenster auf die Weide. Plötzlich erblicke ich ein großes dunkles Tier, das sich in hundertzwanzig Meter Entfernung vom Fluss her über die Weide bewegt. "Ein Wolf!", mache ich die anderen aufmerksam. Ihr Blick streift zuerst ungläubig über die Weide, aber dann ist er für alle sichtbar und auch mir wird klar, es ist kein Wolf, sondern ein riesiges Exemplar von einem Fuchs, sehr dunkel, unglaublich buschiger Schweif. Kullervo und Vesa springen auf und rennen ins Freie. "Die schießen ihn jetzt", sagt Soile. Bitte, das nicht, denke und sage ich und bereue schon, dass ich das schöne Tier verraten habe. In langsamen Kreisen sucht der Fuchs auf der Weide umher, da fällt ein lauter Knall, der Fuchs macht erschreckt einen Satz zur Seite, dann mehrere Sprünge in verschiedene Richtungen und schließlich zurück, dem Fluss zu. Dort aber muss er anders entschieden haben, denn er kommt uns noch einmal vor Augen, als er in entgegengesetzter Richtung dem Wald zu eilt. Zu Vater und Sohn gesellt sich die dritte Generation, Eetu, zu dritt suchen sie die Weide ab, aber vom Gejagten findet sich keine Spur. Der Schuss hat nur den Traktor getroffen, der dort schief und alt am Rand der Weide mehr liegt als steht. Die Hunde lässt man im Verschlag. Ich kehre ins Haus zurück und berichte den Frauen. Tot ist anscheinend nur der Traktor. Lotta: "Ich hasse Füchse."

Das Gespräch wendet sich einem neuen Problem zu, mit dem die Leute zurechtkommen müssen. Das Beerenpflücken war und ist allen gestattet, es gehört sozusagen zu den Menschenrechten im Norden Skandinaviens. Die Bevölkerung pflückt für den Eigenbedarf und bei guten Ergebnissen schaut ein geringer Zuverdienst heraus. Seit ein paar Jahren haben nun die Thailänder(!) das Beerenpflücken als Erwerbsquelle entdeckt. Es klingt absurd, aber die Thais kommen in großen Massen nach Finnland und pflücken alles leer. Sie werden von der Industrie angeworben. Man zahlt ihnen den Flug und einfaches Quartier und einen geringen Betrag für die Ernte. Damit können sie und ihre Familien zuhause in Thailand große Sprünge machen. Das Problem ist, die Thais respektieren nicht die lokalen Bräuche. Unbekümmert bedienen sie sich in der unmittelbaren Umgebung der Höfe, während das Gebot Fernbleiben auf Sichtweite vorgibt. Sie pflücken aus Bequemlichkeit entlang den Straßen alles leer, sodass Einheimische, oft Kinder oder Alte, gezwungen sind, in große Entfernungen zu wandern, um noch irgendetwas zu finden. Heuer allerdings gab es witterungsbedingt überhaupt fast keine Beeren, sodass nicht einmal die thailändischen Pflücker nennenswerte Ernte machen konnten. Es soll zu Selbstmorden unter ihnen gekommen sein, weil so mancher nicht mit leeren Händen – oder Schulden für die Reise – zur Familie zurückkehren wollte.

Noch einmal gehen wir ins Freie. Eetu und sogar der kleine Jussa dürfen unter Kullervos und Vesas Aufsicht und Anleitung schießen üben. Eine kleine Holzfaserplatte wird aufgestellt, darauf die Abbildung eines Auerhahns. In einer Entfernung von etwa zwanzig Meter nehmen die kleinen Schützen Position. Aus der Bauchlage versuchen sie, gegen den Wald hin den Auerhahn zu treffen. Nach ein paar Fehlversuchen gelingt das auch. Der Auerhahn hat Löcher im Kopf, im Hals und im Auge und er wird für tot erklärt.

Es wird Zeit für die Heimreise. Wir danken Kirsis Schwiegereltern für den schönen Nachmittag und werden eingeladen, wieder zu kommen. Von Kullervo erhalte ich ein Geweih von einer Renkuh. Vesa wird mir eine Grundplatte auf die Trophäe machen. Die Heimfahrt ist rasch, zügig und rentierlos. Es ist dunkel, als wir ankommen.



Montag, 15. September

Kuusamo


worin vorkoomt: Raymond Briggs, 'Der Schneemann' ('Lumiukko')


Für heute wäre die Abreise aus Kuusamo geplant gewesen, aber die Wochenplanung Sirkkus und der sicherlich nicht nur höflich gemeinte Vorschlag Kirsis, noch einen Tag zu bleiben, ändern den Ablauf.

 

Ich arbeite am Tagebuch. Anruf von Kirsi, sie haben den Wohnwagen gekauft. Um 16 Uhr 30 ist die Übernahme beim Händler. Wir können dabei sein.

 

Als wir dort ankommen, wird gerade das Vorzelt ausgepackt. Wir sehen einige Zeltrohre und eine Kunststoffplane, ob das alles zusammenpasst, bleibt unerforscht. Der junge angestellte Verkäufer, korrekt dunkel beanzugt und krawattet, sieht die Teile offenbar auch zum ersten Mal und mehr als sie vorzuzeigen, sucht er die diversen Schalter und Einrichtungen. Das kaschiert er aber ziemlich gut, denn geredet wird ohnedies wenig und das langsam.

Die Stützen werden hochgekurbelt, Vesa fährt sein Auto an die Anhängekupplung. Nun soll das Stützrad hochgekurbelt werden.

Vesa dreht an der Kurbel, aber das Stützrad bewegt sich nicht. Dafür hält Vesa die Kurbel ziemlich frei beweglich in der Hand. Ein Stift ist abgebrochen. Der junge Verkäufer holt etwas Werkzeug, gemeinsam bemüht man sich, den Schaden wenigstens provisorisch zu beheben.

Währenddessen wird das halb aufgebaute Vorzelt wieder zerlegt und verstaut. Es ist schweinekalt. Meine Finger beginnen einzufrieren. Die Kinder sind begeistert von ihrem neuen Spielplatz. Sie tollen hinein und heraus, probieren alle Klappen und Hebel, das Licht und die Gashähne und sind kaum zu bändigen. Soile ist auch ganz erfroren und wir verlassen das Lustspieltheater kurz vor dem letzten Vorhang. ‚Travis‘ hieß das Stück. Wir beschaffen bei Alko etwas für seine Taufe und fahren heim, hinter Travis her, der eben um die Kurve kommt. Ich helfe Vesa beim Beziehen des Winterquartiers durch Einweisen auf den Parkplatz vor dem Haus.


Die Kinder sollen jetzt schlafen gehen, aber das wird Das Abendessen wird erstaunlicherweise nicht im Travis eingenommen, sondern im Haus (Hühnerstreifen an Safranreis). Danach steigen wir aber doch in den Wohnwagen, sitzen zum ersten Mal zusammen um den Tisch und taufen Travis mit Henckel Trocken, den wir trinken. Die Flasche an der Wagenhaut zu zerschlagen hätte ein schönes Loch gegeben. Wieder sind die Kinder in ihrem Element. Währenddessen versucht Vesa, die Heizung einzuschalten. Es gelingt nicht. Niemand weiß, wie das funktionieren soll. Wir entdecken nicht einmal, woher die Wärme in den Wagen kommen soll, obwohl alle Türen geöffnet, Klappen untersucht werden. Sogar unter den Sitzpolstern und Bänken wird nachgesehen, aber es bleibt kalt. Da stellt sich heraus, dass das Radio zwar funktioniert, nicht aber das Kassettenteil. Während die Kinder tollen, versucht Vesa festzustellen, ob Gas aus dem Gasherd kommt, wenn man den Schalter dreht. Aber er hört nichts, weil die Kinder eine Polsterschlacht eröffnen. "Hiiiiliaaa!", schreit er verzweifelt. Damit ermahnt man die Hunde zur Ruhe, aber hier hilft es wenig. Gas ist immerhin da. Für uns, insbesondere Soile, wird es wieder kalt beim Sitzen und wir beenden die Tauffeier.

 

eine ziemlich lange Prozedur wie jeden Abend. Jussa rennt herum, nur mit einem Slip bekleidet, und brüllt vor Spaß. Eetu klettert in sein Bett, Jussa folgt ihm, will bei ihm schlafen, obgleich er sein eigenes Zimmer hat. Die Kinder haben ihre Zähne noch nicht geputzt, also alle wieder raus ins Bad. Kirsis Augen rollen. Ihre Körpersprache drückt einkehrenden Wahnsinn aus, aber nicht ohne Humor und viel Liebe, also alles halb so schlimm. Eetu und Jussa putzen die Zähne, wobei Jussa auf einem Schemel steht. Lotta kommt gelaufen und zwickt Jussa ungeniert in den Slip, dort wo er empfindlich ist. Jussa wehrt lachend ab, aber jetzt findet auch Eetu Spaß an dem Angriff und greift Jussa ebenfalls aus. Jussa flüchtet durch die Wohnung, die Zahnbürste im Mund, die anderen hinterher. Kirsi hat etliche Machtwörter zu brüllen, bevor Ruhe einkehrt. Die Knaben liegen in Eetus Bett, Lotta schläft im Schlafzimmer der Eltern.

Vesa wird für mich noch die Basis für das Rengeweih herstellen, das ich von seinem Vater bekommen habe. Ich begleite ihn in die Garage, die als Lager und Werkstatt dient. Der Raum ist riesig, unbeheizt und beherbergt eine biblische Unordnung. Wintersportausrüstung aller Art liegt wild durcheinander mit diversem Werkzeug, Materialien, Fisch- und Jagdgerät, Autoteile, Kinderfahrzeuge, Spielzeug und was weiß ich was noch alles. Ein großer Transportschlitten steht da, drei Meter lang. Vesa hat ihn selbst gezimmert, auf traditionelle Art, ohne Metallteile, mit Holznägeln, die Kufen über Dampf selber gebogen. Birkenholz. Er hat auch einige Möbel in der Wohnung selber hergestellt, so schön, dass ich sie für gekauft hielt. Eines der Kinderbetten, ausziehbar entsprechend der wachsenden Körpergröße des Sohnes, ist bemerkenswert.

 

Vesa sucht ein passendes Stück Holz in dem Chaos, findet ein Brett, zwei Fuß lang, einen Zoll dick, geschnitten von der Außenseite eines Stammes. Graublau verwittert ist die konvexe Seite, wo die Astansätze hervortreten. Zuerst wird die Schädelplatte des Rens plan geschliffen mit einer Schleifbandmaschine. Immer wieder prüft Vesa das glatte Aufliegen auf planer Fläche, bis er mit dem Resultat zufrieden ist. Jetzt wird das Holzstück bearbeitet. Mit der Stichsäge schneidet er quer durch, um eine schöne, rechtwinkelige Oberseite zu erhalten. Zweimalige Versuche gefallen ihm nicht. Er nimmt einen Fuchsschwanz. Jetzt ist der Schnitt schön gerade und ziemlich glatt. Ich halte dabei das Objekt, die Geräte oder die wackelige Tischunterlage fest. Vesa sucht in dem Wirrwarr nach einem Bleistift, zeichnet damit die Konturen eines Wappenschilds auf das Brett. Jetzt kommt ein Elektrohobel zum Einsatz. Das ganze Werkstück wird geglättet, wobei das Holz eine schöne helle Farbe erhält. Auch die konvexe Außenseite wird teilweise gehobelt, damit der glatt geschliffene Knochen schön plan aufliegen kann. Die glatte Auflagefläche bekommt dadurch einen schönen Kontrast zum unbehandelten Teil der Stammoberfläche. Mit der Stichsäge schneidet Vesa nun die Rundungen des Wappens heraus. Es stellt sich heraus, dass eine der natürlichen Spalten in dem Holzstück fast durch seine ganze Stärke durchgeht, also holt Vesa Leim und streicht ihn in die Spalte. Sobald der weiße Leim trocknet, wird er transparent werden und nicht mehr auffallen. Jetzt werden mit der Bandschleifmaschine noch alle Kanten weich gerundet. Das Geweih wird angeschraubt. An der Schädeldecke befindet sich noch das krause Kopfhaar des Rens, welches die Schrauben verbirgt. Noch zwei Löcher mit dem Schraubbohrer durch das Holz für die Schrauben in die Wand und das Kunstwerk ist fertig.

 

Das Geweih ist ziemlich dünn und hellbraun. Das Alter der Renkuh kann man daran erkennen, meint Vesa. Ich weiß schon, dass ich es in meinem Schlafzimmer aufhängen und - nachdem ich die Herstellung des Unterlagewappens miterlebt habe – umso mehr schätzen werde. Jetzt würde natürlich noch ein Rentierfell sehr schön dazu passen.



Während der Arbeit ist es wieder ziemlich kalt geworden. Zurück in die Wärme des Wohnhauses und ein paar Gläser getrunken. Der CD-Player lässt einige klassische und pseudoklassische Musikstücke hören. Damit meine ich solche Zumutungen wie die Drei Tenöre und dergleichen. Mir zur Ehre und Freude bemühen sich die Kuoskus, immer Klassik zu spielen. Es ist ein Stück darunter, das ich nicht kenne. Das ist Lumiukko, erklärt Kirsi, das kennt doch jeder! Es ist die Geschichte eines Schneemanns (Lumiukko), der zu Weihnachten lebendig wird und mit seinem Erbauer, dem Sohn des Hauses, einige bewegende nächtliche Erlebnisse hat. Eine Geschichte vom englischen Kinderbuchautor und Zeichner Raymond Briggs.

Das Stück wird jedes Jahr, seit Kirsi ein kleines Mädchen war, im finnischen Fernsehen gezeigt und Soile müsste es daher fast auswendig können. Aber Soile war in diesen Zeiten immer mit dem Einpacken von Weihnachtsgeschenken beschäftigt – das kenne ich ja! – und hat von Lumiukko nicht einmal irgendetwas mitbekommen. Diese Bildungslücke wird jetzt an Ort und Stelle beseitigt, indem uns eine DVD vorgeführt wird. Es ist eine tschechische Produktion ohne Worte. Die Geschichte erzählt sich ausschließlich in gezeichneten Bildern und der gefälligen Musik von Howard Blake (‚Walking in the Air‘). Wie es sich gehört: Ein Märchen vor dem Schlafengehen. Ein ganz süßes!

 

Wir verabschieden uns noch an diesem Abend vor dem Schlafengehen, werden uns aber auch morgen früh noch ganz kurz umarmen. Kirsi hat einen wichtigen Tag im Büro.



Dienstag, 16. September

Kuusamo-Tampere


worin vorkommen: Kuusamo, Jyväskylä, Tampere, Pori, Nokia, das Hotel 'Rantasipi', das Wikinger Restaurant, Turku   


Ein wichtiger Tag im Büro beginnt mit einer guten Vorbereitung.


Noch im Liegen hören wir, wie es zwischen Kirsi und Jussa Stunk gibt. Jussa weigert sich zur Schule zu gehen, weil er sein Handy nicht findet und keinesfalls ohne gehen will. Kirsi setzt ihn kurzer Hand vor die Tür, aber Jussa läutet immer wieder. Drinnen suchen alle nach dem Handy. Man ruft Jussas Handy an, vergeblich. Jussa hat den Klingelton ausgeschaltet. Ich vermute, das Handy könnte im Travis liegen. Negativ. Endlich entschließt sich Jussa widerwillig zu gehen, als Eetu ihm verspricht, das Handy, sobald gefunden, in die Schule mitzubringen. 


Unsere endgültige Verabschiedung gerät auf diese Weise etwas ins Hintertreffen. Bevor wir Richtung Süden fahren, beschaffen wir noch eine Orchidee für Kirsi, ein Geburtstagsgeschenk für Lotta und für uns selbst ein Rentierfell. 

Außer dem Sportplatz liegen eine Schule und andere Wohnhäuser geringerer und größerer Höhe im Blickfeld. Aus ist's mit den Wäldern. Jetzt gibt's wieder Stadt, Straßen und Hochhäuser. Die Wohnung ist klein, etwa 50 Quadratmeter, und mit wenigen, aber ansprechenden Stücken eingerichtet. Im Wohnzimmer ein einfaches Sofa, ein Hocker, zwei nicht sehr große Regale, wenige Bücher, auch sonst nichts Besonderes, ein Ständer mit einer Menge CDs. War da auch ein Fernseher? Auch die Küche klein, hell, sauber, komplett ausgestattet. Ein kleiner Esstisch, vier Sessel. Alle Wände des Schlafzimmers stehen sehr knapp an den Rändern des Doppelbetts. Saubere, frische Tapeten. Viele Stofftiere, hauptsächlich Tiger und Elefanten. Im Bad das übliche Miniwaschbecken, aber ansonsten ist es etwas größer als das in Kuusamo. Dahinter versteckt sich noch – erraten- eine geräumige Sauna. Das Vorzimmer lässt Platz für einen kleinen Tisch mit zwei Laptops und einem Drucker. Das ist Kari-Pekkas Büro. Kari-Pekka, abgekürzt KP, der finnischen Aussprache zufolge ‚KO-PE‘ genannt, ist uns schon bei früheren Begegnungen als von sich selbst überzeugter Dauerredner (völlig unfinnisch!) aufgefallen. Er bezeichnet sich jetzt als Distriktmanager einer Gesellschaft, die mit Ausrüstung für Erdbohrungen handelt. Das beschriebene Büro im Vorzimmer will nicht so richtig dazu passen. Dafür telefoniert Kope in einem fort mit verschiedenen Gesprächspartnern, seltsam in dieser Abendstunde. Er scheint jemanden zu erwarten, der mit der Bahn in Tampere ankommen soll, einen Mitarbeiter oder Kunden und soll dessen Abholung vom Bahnhof organisieren. Das kommt mir weniger kompliziert vor als die vielen Telefonate es erscheinen lassen. Henkku ist Kopes Telefonieren gewohnt, er macht den ganzen Tag nichts anderes, sagt sie. 

Dann kann's losgehen. Von jetzt an ist die Reiserichtung umgedreht. Adieu, Polarkreis. Soile ist stark erkältet. Die vielen Kälteangriffe gestern waren zu arg. Das Wetter ist unverändert. Auf demselben Weg, den wir nach Kuusamo gekommen sind, fahren wir zurück nach Jyväskylä, von da aber weiter nach Tampere, insgesamt über 700 Kilometer. Angekommen gegen 19 Uhr orientieren wir uns am Stadtplan, um Henriikkas Wohnung zu finden.

 

Henriikka ist eine von drei Nichten Soiles, die mittlere Tochter ihrer jüngeren Schwester Sirkku. ‚Henkku‘ ist nach der Matura (2005) mit ihrem Verlobten Kari-Pekka, nach Tampere gezogen, wo er einen Job hat. Sie studiert in Pori und macht nahe Tampere ein Praktikum als Rezeptionistin im Hotel Rantasipi in Nokia.

 

Das Wohnhaus, Siebzigerjahre, ist sieben Stock hoch. Es steht unweit des Zentrums in einer stilleren Gegend neben einem Fußballstadion. Ein kleinerer Verein ist hier zuhause, Tampere PV, kann sich aber dennoch über einen gepflegten Rasen, großzügige Anlagen und beeindruckende Tribünen freuen. Die Flutlichtanlage entspricht jener eines Spitzenclubs. Was würde etwa Slovan Olympia sagen, könnte es in einem solchen Schmuckkasterl wohnen? 

Wir laden die beiden zum Abendessen ein. Kope schlägt das Wikinger Restaurant vor. Dann telefoniert er wieder. Wir sind schon einmal in der Turku-Variante dieser Restaurantkette gewesen, aber es fällt mir erst ein, als wir das Lokal im Zentrum betreten. Es ist alles sehr dunkel gehalten, man bemüht sich, rustikal zu wirken. An den Wänden im Stiegenabgang zum Keller, dort liegt der Speisesaal, täuschen geschickt geformte Leuchten lodernde Fackeln vor. Die Serviererinnen tragen Wikinger-Tracht. Auch das Speisenangebot soll Mittelalter reflektieren. Schwein, Wild, Geflügel, alles mit seltsam gewürzten Saucen und Beilagen. Honig ist oft dabei. An den Nachbartisch wird eine Platte für zwei Personen aufgetragen. Auf seltsamen Holzplatten oder Halbschalen liegen ein paar Happen von irgendwas. Große Kulisse, wenig Substanz. Die Preise sind stolz, selbst für skandinavische Verhältnisse. Die Gerichte kosten an die dreißig Euro, ein Glas Wein sechs Euro, also nehmen wir eine Flache für vierundzwanzig.

Der Merlot aus Argentinien (wahrscheinlich im Bauch eines Wikingerschiffes transportiert?) schmeckt wenigstens. Dafür bekomme ich das gewählte Wildschwein nicht. Es ist schon lange keines mehr gefangen worden. Vom letzten ziert ein riesiger Schädel die Wand. Also steige ich um auf Ente. Ein zu weich gekochter geräucherter Schenkel mit zwei Salzkartoffeln und ein paar Gemüsereste in einer Sauce mit Honig. Toll! Dessert hatten wir gottseidank schon vorher bei Henkku. Kope telefoniert viel. Irgendwie muss er nun doch nicht zum Bahnhof. Auch nicht schlecht. 


Auch zu später Stunde ist Tampere noch äußerst lebhaft bevölkert. Wäre da nicht die frostige Luft, man könnte sich in einer südländischen Stadt wähnen. Kope und Henkku überlassen uns ihr Schlafzimmer mit Bett und werden selber die Couch im Wohnzimmer benutzen. Kope wird auf dem bloßen Boden enden, das Handy in Reichweite. 




Mittwoch, 17. September

Tampere


worin vorkommen: Tampere, der Dom, das Industrieviertel, Helsinki, das Ateneum-Museum, der Tammikoski, Nokia, der Näsiselkä, der Sorvanselkä, das 'Rantasipi Hotel', Turku, Uittamo, Uusikaupunki, Mynämäki, Vehmaa, Vakka-Suomi, Klagenfurt, Hohenthurn, Venedig, der Dobratsch, das Dreiländereck, Kärnten, Italien, Krajnska Gora, die Themse, Lars Sonck, Hugo Simberg, Magnus Enckel, Jarkko Nieminen, 'Falstaff'

 

Henkku muss erst um 13 Uhr ihren Dienst im Hotel antreten. Wir haben lang geschlafen und gefrühstückt und wollen die kurze Zeit bis zum frühen Nachmittag nützen, um etwas von Tampere zu sehen, was wir noch nicht kennen. Henkku schlägt eine Besichtigung des Doms vor und anschließend einen Rundgang durch das erhaltene Industrieviertel aus der Gründerzeit. Kope ist schon außer Haus. Vielleicht am Bahnhof? Wir können ihn ja am Handy erreichen, falls das einmal nicht besetzt ist. 

 

Der Dom steht auf einer kleinen Anhöhe umgeben von Wohnhäusern, teils modern, teils aus der Jahrhundertwende (19./20.), vielfach klingt der Jugendstil an. Die Kirche aus grauem Granit weist eine fantasievolle asymmetrische Auflösung der Gebäudeteile auf. Sie wurde 1907 fertiggestellt. Lars Sonck war der Architekt. Gesamteindruck: ein wenig gruselig.

Der Standort ist auf einem flachen Hügel inmitten einer Rasenfläche, die von den umliegenden Wohnhäusern freigelassen wird. Die Umgebung ist teils modern, teils Gründerzeit. Im Innern erwarten uns Bögen, die angesichts der Höhe der Decke niedrig und flach erscheinen. Sie ruhen auf dicken, schweren Säulen. Zwei davon sind von ganz außerordentlichem Umfang. Auf den Säulen ruht auch die Empore. Die Wände streben als Kreuzgewölbe bis zum höchsten Punkt der Decke, welche von einem einfachen aber eindrucksvollen Fresko beherrscht wird, einer Schlange auf rotem Untergrund, die einen Apfel im Maul trägt. Hugo Simberg, der Ausgestalter des Doms, hat mit dieser Schlange für einen Wirbel gesorgt, oder sogar für mehrere, denn in mehrjährigen Abständen regten sich die braven Tamperer darüber auf, dass in ihrem Dom die Sünde über ihren Köpfen schwebte. Die Engelsflügel, mit denen Simberg dem unzüchtigen Symbol den Spielraum einengte, bemerkten sie weniger. Immerhin entschied eine Mehrheit demokratisch: Die Schlange bleibt.

Das Licht im Raum ist hell und muss an einem Sonnentag noch heller fluten. (Meine Aufnahmen sind etwas zu dunkel geraten.) Das Licht kommt reichlich durch große bebilderte Glasfenster, ebenfalls von Simberg. An allen vier Seiten prangen Rosetten, die beiden in der Apsis und hinter der Orgel auf der Empore sind riesig. Darunter erstreckt sich ein Fresko über die gesamte Breite des Raumes. In blassen Siena- und Ockertönen im Stil des Symbolismus schreitet ein Zug von Menschen oder schon nicht mehr Menschen, da verklärt, dem ewigen Reich entgegen. Einige von ihnen sind nicht seit Langem in der Prozession. Sie sind noch von kräftigerer Farbe und nackt. Andere Nackte sind im Begriff sich einzureihen, wieder andere erheben sich gerade aus dem Dunkel des Erdbodens, man ahnt, dass auch jene, die noch in der Erde schlafen, bald erwachen und sich erheben werden. Nicht nur Weiße sind dargestellt. Angehörige aller Rassen finden sich in dem Zuge. Es handelt sich natürlich um die Auferstehung. Der zweite Ausgestalter des Doms, Magnus Enckell, hat es geschaffen.

Um die ganze Empore läuft ein Fries. Junge Burschen, alle nackt, tragen eine Girlande aus Rosen und Dornenzweigen. Sie sind dabei nicht besonders geschickt. Wie oft hat man schon Girlanden zu tragen als Bub? Ein Knabe hat sich offenbar an der Hand verletzt. Er lässt die Girlande fallen und greift sich mit der anderen Hand an die wehe Stelle. Ein anderer bückt sich, um eine Rose aufzulesen, die der Girlande entfallen ist. Gemeint sind die zwölf Apostel. Die Bilder sind alle voller Symbolik. Die Girlande ist wieder von Simberg. Er und Enckell gelten als die Begründer des finnischen Symbolismus.

Noch eine Kostbarkeit auf der Empore: Simbergs Fresko ‚Der verwundete Engel‘. Simberg hat vor diesem Fresko auch ein Gemälde auf Leinwand geschaffen, welches sich im Ateneum-Museum in Helsinki befindet. Vor dem Hintergrund einer industrialisierten Welt wird ein verletzter Engel auf einer Bahre abtransportiert. Ein seherisches Werk. Gegenwartgültig.

 

Die Industrialisierung in der Gründerzeit ist in Tampere ein wichtiges Thema. Einige in den Kriegen nicht zerstörte Ensembles an Fabrikbauten aus dunkelrotem Backstein bilden ein weitläufiges Freilichtmuseum. Die Gebäude wurden sauber restauriert und wiederbelebt durch kleine Läden, Künstlerateliers, Galerien und Cafés. So sauber und nett wie heute um den Tammerkoski hat die Gegend seinerzeit sicher nicht ausgeschaut. Als größte Industriestadt Finnlands, manchmal auch Finnlands Manchester genannt, war die Stadt in Kriegs- und Krisenzeiten Zerstörungen und Arbeitslosigkeit besonders ausgesetzt.

Es wird nun Zeit, zu Henkkus Arbeitsplatz in Nokia aufzubrechen. Nach kurzer Fahrt über die schmale Landzunge zwischen den beiden großen Seen Näsiselkä und Sorvanselkä gelangen wir nach Nokia und Henkku dirigiert uns zum Rantasipi Hotel. Da noch etwas Zeit bleibt, verabschieden wir uns bei einem Kaffee, den wir dort einnehmen, wo man Aussicht auf das weitläufige Bassin des Spa-Hotels hat. Es sind alle Attraktionen vorhanden, die ein Wellnessgast erwartet. Ein gigantisches blaues Rutschrohr vom Scheitel der Glaskuppel bis ins Wasser, Stromschnellen, Wellen, Springbrunnen und vieles mehr. Eine Mutter schwimmt mit ihrem Kleinkind, das sich an eine der langen Schwimmpolsterzigarren klammert. Henriikka steht auf der kleinen Messingplatte, die unsere Henkku auf dem Aufschlag ihrer Rezeptions-uniform trägt.


Es wird nun Zeit, zu Henkkus Arbeitsplatz in Nokia aufzubrechen. Nach kurzer Fahrt über die schmale Landzunge zwischen den beiden großen Seen Näsiselkä und Sorvanselkä gelangen wir nach Nokia und Henkku dirigiert uns zum Rantasipi Hotel. Da noch etwas Zeit bleibt, verabschieden wir uns bei einem Kaffee, den wir dort einnehmen, wo man Aussicht auf das weitläufige Bassin des Spa-Hotels hat. Es sind alle Attraktionen vorhanden, die ein Wellnessgast erwartet. Ein gigantisches blaues Rutschrohr vom Scheitel der Glaskuppel bis ins Wasser, Stromschnellen, Wellen, Springbrunnen und vieles mehr. Eine Mutter schwimmt mit ihrem Kleinkind, das sich an eine der langen Schwimmpolsterzigarren klammert. Henriikka steht auf der kleinen Messingplatte, die unsere Henkku auf dem Aufschlag ihrer Rezeptions-uniform trägt.


Rasch noch eine Umarmung und wir sind wieder unterwegs. Es geht nach Turku, zuerst in unsere leere Wohnung. Sie ist in der untersten Etage eines sechsstöckigen Wohnhauses gelegen, am südlichen Stadtrand von Turku, der Stadtteil heißt Uittamo, mitten im Wald aus Föhren und Birken, der die von der Eiszeit rund abgeschliffenen Felsen überzieht. Zig Meter sind die Hügel hoch, die so entstanden sind. Die Bäume sind hier viel stärker und höher als im Norden, die Wipfel reichen bis an die fünfte Etage hinan.

Die Wohnung ist im ersten Stock. Der umgebende Wald macht sie dunkel. Man freut sich, wenn etwas Licht durch die Zweige bricht. Dafür kann man den Eichhörnchen zuschauen, wie sie von Ast zu Ast springen. Die Wohnung besteht aus Vorzimmer mit Schrank, Küche mit Schränken und E-Herd und Platz für Esstisch. In Finnland werden die Küchen bei Besitzwechsel nicht ausgeräumt. Die Küchenmöbel und –geräte werden mitübergeben. Deshalb sind Einrichtung und Geräte hier vorsintflutlich. Eine Terrasse, frisch verglast mit Blick in den Wald. Wohn- und Schlafraum sind leer. Der Schlafraum kann gerade einmal ein Doppelbett aufnehmen. Alles ist sauber und hell tapeziert, hellblau das Schlafzimmer, der Wohnraum in gelb-orange. Das Bad ist klein, ma non troppo, apart verfliest mit kräftig grünen Mosaiksteinen. Es gibt eine moderne Dusche und Platz für eine Waschmaschine. Und wo ist die Sauna? Im Erdgeschoss eine allgemeine. Die Wohnungen in diesem Haus sind Eigentum, wie die meisten hier. Wir haben sie Sanna abgekauft, als sie umgezogen ist.

 

Sanna hat uns die Heizung eingeschaltet und ein Matratzenlager im Wohnraum vorbereitet, wohl auch die Terrasse abgekehrt, aber für draußen ist es schon zu kühl. Ich weiß nicht, soll ich diese Wohnung mögen oder nicht. Momentan neige ich Letzterem zu. Die Lage mitten im Wald gefällt mir. Andererseits, selbst mit Einrichtung kann ich mir ein Wohlbehagen hier drinnen kaum vorstellen. Die üblichen Einrichtungsgegenstände könnte man nur in Nullachtfünfzehn-Manier aufstellen. Dazu kommt das traurige Treppenhaus mit seinen vielen braunen Türen, hinter denen man nichts verloren hat. Immerhin heißt ein Nachbar Nieminen, wie die finnische Nummer eins im Tennis. Soile natürlich würde sich nach einem festen Platz in ihrer alten Heimat sehnen, nahe an ihrer Familie. Das würde ich ihr ja gerne gönnen, aber muss es ein Mietswohnhaus sein? Unsere Seppos beziehen auch jetzt eben ein Appartmenthaus in Uusikaupunki, aber das ist eigentlich ein Penthouse, ein eigenes Haus auf dem Dach des Gebäudes. Wir werden es demnächst besichtigen. Heute jedenfalls werden wir hier auf den Matratzen nächtigen. Julianna und Waltteri werden mit dem Bus aus Mynämäki kommen.

Schon sind sie da. Schweigend und ohne erkennbare Regung nehmen sie das Wiedersehen zur Kenntnis, als wäre alles ganz normal und wir hätten uns gestern erst gesehen. Julianna ist vielleicht um eine kleine Spur herzlicher als ihr Bruder. Meine Überraschung hingegen ist groß. Während Soile ihre Enkelkinder noch im Mai gesehen hat, ist es bei mir schon drei Jahre her und die haben sie natürlich reichlich wachsen lassen. Endlich kann ich mit ihnen auch reden. Sie haben Englisch gelernt und sprechen es ausgezeichnet.

 

Sanna und Outi kommen von der Arbeit. Wir essen zusammen Reis und Hühnersoße, bleiben aber nicht sehr lange auf, denn morgen früh werden wir die Zwillinge zur Schule nach Mynämäki bringen, weil wir ohnehin dort unterwegs nach Uusikaupunki vorbeikommen.


***

Outi. Wer ist jetzt Outi? Gut beobachtet. Ihr habt sie noch nicht kennengelernt. Ich will es euch erklären.


Sanna hat zuletzt mit Esa und den Kindern einen schönen Bungalow außerhalb von Mynämäki bewohnt. Mynämäki ist eine ländliche Kleinstadt nordwestlich von Turku auf halbem Weg nach Uusikaupunki. Esas Familie stammt aus Vehmaa, das ist eine andere rurale Gemeinde nahe Mynämäki. Die Region nennt sich Vakka-Suomi und ist geprägt von Landwirtschaft. Die Ortschaften in Vakka-Suomi sind uralt wie ihre schönen aus Feldstein aufgeschichteten Kirchen. So groß die Liegenschaften sind, so stolz sind ihre alteingesessenen Besitzer. Esas Eltern betreiben eine kleine Schweinezucht. Bei uns würde man die Farm als größeren Mittelbetrieb einstufen. Die Zwillinge gehen in Mynämäki zur Schule. Es ist wie alle finnischen Schulen eine Ganztagsschule, die sie bis zur Matura führen wird. Der Ort hat einen Kindergarten, selbstverständlich, ein paar Gaststätten, ein Hotel, einen Blumenkiosk, einen Supermarkt und diverse Geschäfte, eine Tankstelle, eine weitläufige Sportanlage mit Tenniscourts und eine öffentliche Bibliothek, etwas, wozu Klagenfurt es bis heute nicht gebracht hat. Sanna hat in Turku studiert und ist danach weiter dorthin ausgependelt, mit dem Auto, um in einem Kindergarten zu arbeiten. Versuch und Irrtum, so habe ich Sanna schon charakterisiert. Kurz, es hat sich gezeigt, das Korsett der subalternen Tätigkeit ist immer enger geworden und hat schließlich nicht mehr gepasst. Sie hat den Kindergarten sein lassen und ist als Verkäuferin in eine altehrwürdige Buchhandlung im Zentrum von Turku gegangen. Versuch und Irrtum. Mit Esa hat es auch immer weniger geklappt. Der anfangs zarte, liebe- und verständnisvolle Ehemann hat sich zum Macho entwickelt, wenn ihm etwas gegen den Strich gegangen ist. Zum Beispiel, dass Sanna das Tanzen für sich entdeckt hat. Sie ist Mitglied einer erfolgreichen Line Dance-Gruppe geworden und hat darin den notwendigen Ausgleich zum stressigen Alltag gefunden. Geübt wurde natürlich abends. Esa ist ausgeflippt, was Sannas Tanzleidenschaft nur verstärkt hat. Wenn ihr jetzt die Fortsetzung der Geschichte ahnt, dass Sanna sich in einen der Tänzer verliebt hat, weit gefehlt! Verliebt hat sie sich schon. Aber nicht in einen Tänzer, sondern in eine Tanzpartnerin. Das war zu viel für den stolzen Schweinezüchtersohn. Das Wohl der Kinder vorschützend, aber selbst in Weißglut, hat er die Ehe zum bitteren Ende getrieben und die Kriegsführung danach erbittert fortgesetzt. Sanna aber und Outi, die Tanzpartnerin, haben eine stabile Beziehung begründet, die sie, sobald die gesetzlichen Voraussetzungen dies zuließen, legalisiert haben. Soile und ich haben der Hochzeit beigewohnt. Seppo, also Sannas Onkel, mit seinem Seppo N. in identischer Lage (pulsiert in dieser Familie ein spezielles Gen?), hat eine Rede gehalten, die ich gerne verstanden hätte. Die Zwillinge sind beim Vater in Mynämäki geblieben. Die Mutter, die mit Outi eine Wohnung in Turku bezogen hat (anfangs jene Waldwohnung in Uittamo), haben sie an Wochenenden besucht. Der Schock hat auch sie erschüttert und es hat eine lange Weile gebraucht, bis sich die neue Lage normalisiert hat.


Outi, in Turku zuhause, hatte als Verkäuferin in einem Lidl gearbeitet, später in einem Geschäft namens Muovitukku. Ein unglaublicher Laden voller Plastikzeug jeglicher Art, vom Plastikschwan für den Teich bis zum Vorhangklips. Jeder in Turku kennt den Laden. Wenn man irgendetwas braucht und sonst nirgends findet, der Muovitukku hat es. Sanna ist klein und resolut, intellektuell, Outi groß und lieblich, gefühlvoll. Mit ihrer sinnlichen Alt-Stimme hat sie mich von Anfang an fasziniert. Das sollte noch zu erheblichen Verwicklungen führen. Auch diesen Schmiss, gewiss der schlimmste von allen, will ich nicht verschweigen.


Sanna und Outi waren pleite. Wann wären sie das nicht gewesen? Sie hatten den Sommerurlaub vor sich und wussten nicht recht, was sie damit anfangen konnten. Ich bestärkte Soile in ihrem unausgesprochenen Wunsch, die beiden samt den Zwillingen zu uns nach Hohenthurn einzuladen. Die Flugtickets würden wir finanzieren und der Aufenthalt würde sie nichts kosten. Sie buchten einen Billigurlaub mit Charterflug nach Venedig. Von dort holten wir sie ab. Unser Mansardenschlafzimmer ist recht groß. Es lässt sich durch einen Vorhang in zwei Hälften teilen. In der einen das Doppelbett, in der anderen eine ausziehbare Couch. Julianna und Waltteri waren noch klein, vielleicht sieben oder acht. Wir selbst zogen ins Gästezimmer.


Es waren heiße Sommertage. Sanna und Outi fuhren mit den Kindern mit einem unserer Autos an die Seen zum Baden. Wir verordneten uns mehr Freizeit vom Büro als üblich, machten mit ihnen Ausflüge auf den Dobratsch und mit dem Lift aufs Dreiländereck. Die Stimmung war prächtig und unbeschwert. Nur Waltteri weigerte sich, das letzte Stück von der Bergstation zur Spitze des Dreiländerecks bergauf zu gehen und blieb einfach auf der Weide sitzen. Lass ihn, sagte Sanna, er wird schon kommen.


Für mich waren diese Tage besonders spannend. Ich hatte mir früher nie Gedanken gemacht über Beziehungen gleichgeschlechtlicher Partner. In meiner Vorstellung musste der Sex ganz weit oben stehen und es konnte doch nicht sein, dass Lesbierinnen ganz ausschließlich nur auf Frauen standen. Outi begegnete mir mit einer Herzlichkeit, als wäre sie ein bisschen in mich verliebt, bildete ich mir wenigstens ein. Beim Spazierengehen schritten wir nahe aneinander, sodass unsere Hände sich berührten. Wie zufällig zuerst, aber ich bemerkte, dass Outi sich nicht bemühte, die Kontakte zu vermeiden, also ließ ich es absichtlich geschehen und sooft es nur ging. Wir genossen die Aussichten über Kärnten und hinein nach Italien, nach Krajnska Gora stand der Wald im Weg. Wir blieben nicht lang. Waltteri war nicht nachgekommen. Wir fanden ihn an demselben Platz sitzend.


Auf dem Lift ins Tal saß ich bei Sanna und Outi, Soile folgte auf dem nächsten Sessel mit Julianna und Waltteri. Wir mussten eng zusammenrücken. Outi schien es zu gefallen. Ich legte beide Arme um meine Begleiterinnen. Sie hatten nichts dagegen. Outi schmiegte ihre weichen Rundungen an mich, aus Bequemlichkeit oder weil es ihr angenehm war? Oder hatte sie nur Angst vor der Tiefe, die sich unter uns auftat? Outis Stimme, in der Angst noch warmherzig, trieb mich zum Wahnsinn. Ich schaute in Outis große Augen, ihr Blick wich nicht aus, sie schien in meinen Augen ertrinken zu wollen. Mein angeregter Blutduck sprang auf Überdruck und konzentrierte sich in meiner Mitte. Irgendwoher musste das Blut ja kommen, sicherlich vom Gehirn. Dort nahm Leere überhand. Ich stammelte zweideutige Sachen über Dreiecke, worauf die Frauen ebenso zweideutig bis dreieckig antworteten. Oder führte mein blutleeres Hirn zu Tinnitus und Ohrensausen? Gab es akustische Fata Morganen?


Wir genossen den warmen Abend auf der Terrasse, wie immer begleitet vom Wein. Ich saß wie auf Nadeln. Wollten die gerade heute gar nicht schlafen gehen? Es war spät und ich begann den Wein zu spüren, als sie endlich gute Nacht sagten. Ich legte mich hin. Wieder und wieder machte ich die Fahrt mit dem Lift, eingepresst zwischen Sanna und Outi, spürte Outis weiche Berührung, hörte ihren Alt singen, versank in Outis Augen, hörte wieder und wieder, was sie, wie ich meinte mit Entschlossenheit, über Dreiecke redeten. Ich ließ den Lift fahren, immer wieder.


Ich höre Soile neben mir tief schlafen. Ihr sind solche Abenteuer nicht zuzumuten. Außerdem, mit der eigenen Tochter? Ich gebe mir einen Ruck. Mit der Entschlossenheit der Frauen schlüpfe ich aus dem Bett und schleiche hinüber ins Mansardenzimmer. Es ist ziemlich finster. Kein Licht brennt. Trotzdem erkenne ich mit Genugtuung, dass der Vorhang geschlossen ist. Von dort kommt kein Laut. Mit klopfendem Herzen stehe ich an der Tür, die ich hinter mir geschlossen habe. Sanna und Outi liegen in Nachthemden nebeneinander, die Decken nur bis zu den Hüften gezogen. Es ist immer noch sehr warm. Vor mir liegen Sannas zierliche Umrisse. In meiner erhitzten Fantasie war Sanna mir ebenso entschlossen erschienen zu diesem Abenteuer wie Outi. Dieses aber kann doch unmöglich beginnen mit meiner Stieftochter. Und wirklich hingezogen fühle ich mich zu Outi. Bisher hat niemand mich bemerkt. Jetzt ist noch Gelegenheit, durch die Tür wieder zu verschwinden. Meine Verwegenheit hat mich bis hierher gebracht. Umkehren so knapp vor dem Ziel? Liegt mir gar nicht. Ich schleiche an die Fensterseite. Outi liegt auf der Seite, Sanna zugewandt. Meine Hand bewegt sich auf Outis Kopf zu in der Absicht, ihr Haar zu streicheln. Da dreht Outi sich mit einem Ruck um und stößt einen Schreckenslaut aus. Während Sanna auffährt, setzt sich auch Outi im Bett auf. Dadurch streift meine ausgestreckte Hand kurz an Outis Oberkörper. Das hatte meine Hand wohl vorgehabt und viel ausgiebiger, aber unter ganz anderen Umständen, als die, die jetzt plötzlich eingetreten sind. Hier ist Aufruhr pur. Outi und Sanna reden aufgebracht auf mich ein. Auf Finnisch. Sanna springt aus dem Bett, knipst das Licht an, kommt auf mich zu. Ihre Absicht ist nicht freundlich. Das hatte ich mir ganz anders vorgestellt. Das langsam in mein Hirn zurückkehrende Blut gibt mir zu verstehen, dass mein Besuch hier nicht erwünscht ist. Eilig suche ich das Weite. Von draußen höre ich, wie Sanna und Outi erregt miteinander wörteln, dann dreht sich der Schlüssel im Schloss. Meine Rückkehr ins Bett zur schlafenden Soile ist die eines in die Themse geworfenen Falstaffs.


Man frage mich nicht, wie die folgenden Tage verlaufen sind. Soile verhielt sich vorerst ziemlich gefasst. Ihre Verachtung würde ich später zu spüren bekommen. Ich verfasste einen Brief an die beiden Frauen, in dem ich sie für meinen Fehltritt um Verzeihung bat. Zuerst war von sofortiger Abreise die Rede. Das war wahrscheinlich wegen der komplizierten Buchungslage nicht gut machbar, also blieben alle bis zur geplanten Abreise. Mit der ausgelassenen Heiterkeit war es vorbei. Später erfuhr ich, dass Outi kurz zuvor in Finnland eine fast identische Attacke erleben musste seitens ihres alkoholisierten Stiefvaters.


Mit der Zeit lernte ich, dass die Beziehungen gleichgeschlechtlicher Partner so viel mit Sax zu tun haben wie die der Heteros. Dass zwischen ihnen die Treue keine geringere Rolle spielt, auch nicht die Eifersucht, dass ihr Kinderwunsch nicht weniger ausgeprägt sein kann, dass sie Wert legen auf Öffentlichkeit und Legalisierung, kurz, dass sie eine stinknormale Beziehung wünschen. Das zu lernen, hat es dieses ziemlich dicken Schmisses bedurft.



Donnerstag, 18. September 

Uusikaupunki 


worin vorkommen: Mynämäki, Uusikaupunki, der Genfer See, die Schären, der Saimaasee, Kuopio, Savonlinna, Russland, die Ostsee, Helsinki, Turku   


Überraschend gut geschlafen auf der Matratze. Das Hochkommen ist etwas schwierig. Das Wetter ist unverändert, außer eine Spur wärmer. Ohne Frühstück mit den Zwillingen nach Mynämäki. Wir liefern sie am Wohnhaus des Vaters am Kivistönmäki ab. Wir selbst suchen im Zentrum von Mynämäki eine Möglichkeit zu frühstücken. Dabei geraten wir in ein schmuddeliges Lokal, wo wir uns unter ein paar Clochards einen unappetitlichen Tee und eine Brioche einverleiben. Dabei können wir auf die breite Ortsstraße blicken. Autoverkehr ist kaum, aber auf dem jenseitigen Radweg ist lebhafte Bewegung, vorwiegend in einer Richtung, nämlich zur Schule. Schülergruppen schlendern dahin oder kommen mit Fahrrädern, zwischendurch auch eine Lehrerin. Wir versuchen, Waltteri und Julianna zu entdecken, können aber keines von ihnen eindeutig erkennen. Je später es wird, desto spärlicher der Zustrom, aber desto eiliger die Fortbewegung und die Letzten rasen wie die Bösen.

Wir fahren nach Uusikaupunki. Soile kauft Blumen, dann geht's zum Friedhof. Sind die Toten nicht verärgert über unerwarteten Besuch zu früher Stunde? Vielleicht wollen sie da einfach noch schlafen? Gottseidank sind wir nicht die einzigen Störenfriede. Ein Pflegetrupp ist unterwegs. Es ist wirklich eine Truppe, wenigstens acht Leute, Männer und Frauen mit leichtem und schwerem Gerät (Schiebetruhen und Traktor). Sie reinigen die Gräber und Wege, streuen frischen roten Sand (aus dem roten finnischen Quarz) und streicheln ihn mit den Hahnenfußbesen glatt. Überall wo sie schon gewesen sind, hinterlassen sie das streifige Ornament wie das vom Wind auf den Dünen.

 

Die Grabstätten sind äußerst unterschiedlich. Von der erdrückenden Schwere des 19. Jahrhunderts zu Leichterem späterer Tage ist alles bunt gemischt. Soiles Eltern ruhen in einem Grab mit schlichtem Stein. Kaarlo Kanerva und Kerttu Toivonen. Unweit befindet sich das Grab der Eltern Kaarlos. Der Vater starb einen Monat nach seinem Sohn. 

Nach dem Friedhofbesuch ist es etwa halb zehn. Wir begeben uns zum nahen Bungalow von Tauno und Sinikka. Sinikka ist Soiles ältere Schwester. Sie war Krankenschwester in der nahen Nervenklinik, bis sie vor Kurzem pensioniert wurde. Das Haus liegt in einer hübschen Siedlung aus Reihenhäusern und Bungalows, alle mit kleineren Gärten rundum. Sinikkas Garten ist zu einer kaum befahrenen Nebenstraße hin gerichtet, von der er durch keinen Zaun, aber wunderschöne Zierpflanzen getrennt ist, unter anderem ein herrlicher weißer doppelter Flieder. Das Haus ist innen sehr geräumig. Schon im Vorraum könnte ein Paar unbekümmert tanzen, ohne irgendwo anzustoßen. Es ist reichlich Platz für abgelegte Kleidung. In der Wohnküche steht ein großer Tisch für sechs Personen, die Gefrierschrankgruppe mit riesigem Frischhalteabteil ist wenigstens dreimal so groß wie gewöhnlich bei uns. Von der Küche oder an ihr vorbei durch einen Korridor gelangt man in den Wohnraum. Vor dem riesigen Fenster, das fast die ganze Wand zum Garten hin einnimmt, stehen zahlreiche Zimmerpflanzen, wie der Garten picco bello gepflegt. Ein großes Regal trägt zahlreiche Bücher, populäre Fachbücher, die meisten großformatig, vielbändige Lexika, und wahrscheinlich auch Belletristik. Auch im Wohnzimmer ist ein Esstisch, aber etwas kleiner als in der Küche. Gegenüber den zeitlosen Ledersitzmöbeln ein Drehstuhl, auch aus Leder, Taunos Stammplatz. Er ist ein eingefleischter Fernseher. Vom Vorraum gelangt man in Sinikkas Schlafzimmer, ganz in Weiß gehalten. Sie hat es uns schon oft während unserer Besuche überlassen. Auch hier ein großes Fenster zum Garten, aber öffnen kann man ohne Spezialschlüssel nur einen sehr schmalen Bereich an einer Seite und selbst diese enge Öffnung ist durch Holzlamellen und Fliegengitter unpassierbar. Solche Fenster sind in Finnland überall verbaut. Es hat den Anschein, es gebe nur diese. Tauno hat am anderen Ende des Vorraums ein eigenes Zimmer, in dem er auch schläft. Zwei Bäder sind vorhanden, ein kleineres und ein größeres, an das auch die unverzichtbare Sauna angeschlossen ist. Bleiben noch die beiden verschiedenen Zwecken dienenden kleineren Zimmer zu erwähnen, die vom Korridor aus zu begehen sind, wohl frühere Kinderzimmer.

 

Klar, dass Sinikka uns Kaffee und einen Imbiss anbietet und mit Soile Neuigkeiten austauscht. Zwar verstehe ich nicht viel von der Konversation, trotzdem ist es unterhaltsam, der Musik in den Stimmen zu lauschen, die je nach Thema variiert und mit Seufzern und Lachern gespickt ist. Auch hat mein Raten um den Inhalt des Gesprächs etwas Spannendes. Das Wesentliche erfahre ich durch gelegentliche Erklärungen Soiles während des Gesprächs oder später.

 

Tauno war Jahre und Jahrzehnte im Gemeinderat in Uusi Vertreter der Sozialisten. Jetzt soll Sinikka ihm nachfolgen. Mit 75 wird Tauno sein Mandat nicht mehr erneuern. Sinikka ist erst 62 und wird an seiner Stelle kandidieren. Die Wahl ist am 26. Oktober. Man darf gespannt sein.

In Sinikkas Begleitung besuchen wir nun Sirkku, Soiles jüngere Schwester. Sie arbeitet im Zentrum bei einer Bank, Osuuspankki, und wir suchen sie dort auf. Die Begrüßung im Foyer ist wie immer warm und herzlich und von vielen Umarmungen und Streicheln begleitet. Natürlich kann die Begrüßung während der Arbeitszeit nicht in die Länge gezogen werden, aber Sirkku stellt uns noch dem Immobilienagenten der Bank vor, der uns einige Objekte anbietet, die zum Verkauf stehen, darunter eine Wohnung in dem Apartmenthaus, in das gerade die Seppos einziehen.

 

Mit Sinikka begeben wir uns auf Besichtigungstour. Zuerst in das Penthouse der Seppos. Sehr geräumig, gehobene Qualität. Dennoch kostet diese Dachterrasse die Hälfte des Betrages, den die beiden für das Apartment am Strand von Helsinki erwarten (fast 500.000 Euro), vor allem wegen der Lage. Das neue Domizil überblickt die Westbucht eines Sees, wo ein paar Wasserstrahlen in den Himmel schießen, die nachts bunt beleuchtet sind. (Ein Miniatur- Genfer See.) Der See diente früher als Trinkwasserreservoir für die Stadt. Immer noch liegen die Wasserwerke an seinem Ufer, Seppos neuem Wohnhaus benachbart. Schwimmen ist verboten, aber das Leitungswasser kommt schon lange nicht mehr aus diesem See.

 

Seppos sind eben dabei, die Räume zu tapezieren. Esquisites Papier haben sie dafür ausgesucht. Zentrum ist ein sehr großer Wohnraum, teils als Salotto und teils als Essraum bestimmt. Davor die riesige Terrasse mit Blick auf den See und den östlichen Stadtrand. Wie die meisten Terrassen im Land ist sie völlig verglast, aber die Glasteile können ganz einfach zusammengeschoben werden. Neben dem Wohnraum liegt die Küche, die bereits mit allen wesentlichen Geräten ausgestattet ist. Das Schlafzimmer ist eher klein, weist aber sehr geräumige Einbauschränke auf. Es gibt weiters ein Arbeitszimmer, den geräumigen Flur, Bad, WC und – erraten - Sauna, insgesamt etwas über 100 Quadratmeter.

 

Zu haben sind in diesem Haus noch zwei Wohnungen, eine davon im ersten Stock, etwa 55 Quadratmeter. Die Ausstattungsqualität entspricht dem Dachapartment, aber die Aussicht ist nicht auf den See, sondern auf den Parkplatz. No Go. Die andere Wohnung, im Erdgeschoss, macht mir folglich noch weniger Hoffnung. Es sind etwa 85 Quadratmeter, aber dem See zugewandt. Die Terrasse liegt auf dem Rasen nicht weit vom Strand, verläuft um die Ecke des Gebäudes. Ein kleiner weißer Bretterverschlag trennt den Privatbereich nur andeutungsweise vom öffentlichen Grund. Wollte es jemand, hätte er ungehinderten Zutritt zur privaten Terrasse. Das ist aber ohnedies nicht zu erwarten, weil man im Norden eben Privatbereiche respektiert. Dafür vermittelt die Terrasse ein Gefühl von Weite und Freiheit. Das ist etwas für mich, aber nicht für Soile. Ein rein rhetorisches Problem, denn der Preis von 180.000 Euro ist sowieso prohibitiv.

 

Wir überlassen die Seppot dem Kleister und machen uns auf die Suche nach den weiteren Angeboten. Es handelt sich um diverse Reihenhäuser. Sie sind aber allesamt in schlechtem Zustand oder schlechter Lage. Am Samstag werden wir Sannas und Outis neue Sommerhütte besuchen.

 

Abend mit Seppot bei Sirkku. Auch die Seppot haben bei Sirkku Quartier bezogen. Sie schlafen in der umgebauten Garage. Die ehemalige Garage ist noch immer durch das bestehen gebliebene Einfahrtstor zugänglich, sie wird aber kaum benützt. Man erreicht die Kellerräume auch über eine Stiege aus dem Vorraum im Erdgeschoss. Der hintere Teil der Garage wurde (dauerhaft) zum Schlafen hergerichtet, der vordere als Aufenthalts- und Arbeitsraum. Ein weiterer Teil des Kellers ist modern ausgebaut zu WC, Bad und – erraten - Sauna.

 

Kari ist auf See, oder besser auf dem See. Seit er als Lotse für große Schiffe in den Schären vor Uusikaupunki pensioniert ist, hat er den Dienst auf einem kleinen Touristenschiff als Offizier, zuletzt auch als Kapitän angenommen, welches im Sommer in den Schären unterwegs ist und im Winter auf dem riesigen Saimaasee zwischen Kuopio und Savonlinna. Manchmal geht die Tour von dort auch noch durch einen Kanal, der auf russischem Territorium liegt, in die Ostsee und nach Helsinki, Turku und Uusikaupunki. Kari, der immer noch von jahrelangen Seeweltreisen träumt, hat damit einen Job gefunden, der ihm Freude und Erfüllung bringt, aber Haus und Garten leiden wie Sirkku. Ich erinnere mich, wie früher hier alles gepflegt war, trotz der vielen Arbeit, die der riesige Obstgarten macht. Jetzt ist die wohlgeordnete Sauberkeit schon mehr Erinnerung als Realität, alles ist nur notdürftig hergerichtet und vieles liegt im Argen. Auf den Obstbäumen hängen die reifen Früchte ungepflückt, ein Apfelbaum ist unter der Last entzweigebrochen und selbst der alte weiße Kater Jörö, Namensgeber für meinen früheren weißen Mazda, ist mürrisch, kaum ansprechbar und sucht lieber das Weite. Sirkku arbeitet ganztags in der Bank. Was sie an den Abenden und Wochenenden allein tun kann, ist einfach nicht genug, um das Anwesen zu hegen, denn auch die drei Töchter sind längst ausgeflogen. So ist das einst so lebhafte Haus ernst und still geworden und aus der lebhaften Sirkku ist eine zeitweise einsame Frau geworden. Zum Glück ist die kleine Gestalt mit einer riesen Portion Geselligkeit ausgestattet. Alle Feste und Familienfeiern, und davon gibt es nicht zu wenige, richtet sie tatkräftig und ideenreich aus. Da kommen dann schon einmal vierzig, fünfzig Personen zusammen. Im kurzen Sommer lässt sich das im Freien abwickeln, da werden Tische und Zelte aufgestellt. Wenn es nur zwanzig oder fünfundzwanzig sind, schafft sie das auch in der kleinen Hütte, was niemand, der es nicht mit eigenen Augen gesehen hat, für möglich halten würde. Immer braucht einer der zahlreichen Verwandten irgendetwas. Sirkku nimmt das in die Hand. Fad wird ihr nicht.

 

Jetzt, beispielsweise, kümmert sie sich um die Einrichtung des neuen Apartments der Seppos. Sie wird die schönen Vorhangstoffe, die in Plastiktaschen auf ihrem Tisch liegen, in langen Nachtstunden nähen, wie sie früher die Kleider für ihre Töchter nachts genäht hatte, aber die Pflaumen und Äpfel werden ungenützt von den Ästen fallen und unter den Bäumen vermodern.

 

Die Sauna ist angeheizt. Zuerst gehen Soile und ich, danach die Seppot. Zum Abendessen hat Sirkku Knackwürste und Salat bereitet. Gesprächsthemen sind natürlich alle neuen Wohn- und Haus-situationen, auch unsere noch schwebenden. Soile und ich schlafen im ehemaligen Mädchenzimmer, wo eine Couch zum Doppelbett wird, die Seppos in der Garage. Sirkku wie gewöhnlich im Wohnzimmer auf der Couch.



Freitag, 19. September

Turku

 


Schönes Wetter, auch etwas wärmer. Blauer Himmel.




Wir fahren wieder nach Turku zu Sanna und Outi, nachdem wir Waltteri und Julianna in Mynämäki abgeholt haben. Den Nachmittag verbringen die Kinder mit dem PC. Vilma und Prissi, die beiden Siamkatzen, die einmal so turbulent waren, sind auch sehr ruhig geworden. Zwar springen sie noch immer auf allen Möbeln umher, aber die verrückte Jagd von einst ist es nicht mehr. Lange werden sie sich dieses Zuhauses nicht mehr erfreuen können, aber das wissen sie nicht. Juliannas Katzenallergie zwingt Sanna und Outi, die Tiere wegzugeben. Ein neues Quartier für sie wird noch gesucht. So sitzen mal Vilma, mal Prissi, oder gelegentlich auch beide auf ihrem Aussichtsstand vor dem großen Wohnzimmerfenster und starren hinaus in die Wipfel der Föhren, Birken und Tannen, auf die Meisen und die Eichhörnchen und träumen sich voller Sehnsucht auch dort hinaus in die Natur. Besonders Prissi gibt dann lange schmervolle Miaus von sich, nicht ahnend, dass nicht mindere Sehnsucht sie bald ergreifen könnte nach dieser vergangenen Wirklichkeit, wenn ihr neues Leben ein ganz anderes sein wird. Die Sehnsucht nach draußen aber verwandelt sich in Mordlust, wenn etwa ein Fink die Katzen hinter dem Fenster erkennt und sie durch Herumgehopse und Kurvendrehen knapp an der trennenden Glasscheibe provoziert.

 



Sannas und Outis Wohnung ist in demselben Haus, wo sich auch unsere befindet, aber im vierten Stock. Wenn es manchmal den Katzen gelingt, durch die Wohnungstür in das Stiegenhaus zu entkommen, laufen sie seltsamer Weise nie die Treppe hinunter zum Haustor, sondern immer hinauf in die höheren Stockwerke. Das erleichtert die Rückholaktionen.

 

Nacheinander kommen Sanna und Outi von der Arbeit. Es gibt Nudeln, die Julianna sich gewünscht hat. Danach wird Uno gespielt. Daneben läuft der Fernseher. ‘Idols’. Junge Leute, die glauben, sie wären trotz mangelnder Ausbildung prädestiniert, sofort eine goldene CD zu produzieren, gebärden sich vor einer Jury. Danach eine Reality Show. Ein paar Leute, für ein paar Wochen in der Wildnis zusammenlebend, ab und zu wird einer oder eine von seinen Mitstreitern hinausgewählt. Wer übrig bleibt, wird eine Million Dollar gewinnen. Wieso nennt man sowas Reality?

 

Zurück in unsere leere Wohnung. Ich beginne, Einzelheiten genauer anzusehen. Mein grundlegendes Missfallen ist gemildert. Die Umgebung aus Wald und Felsen ist doch sehr ansprechend und letztlich nicht anders, als würden Wald und Felsen nicht diese Wohnung, sondern ein kleines Haus oder eine Hütte umgeben. Die Einsamkeit ist relativ ähnlich. Nur, hier sind alle Einrichtungen nahe, die man besonders als älterer Mensch brauchen mag. Überlegenswert.



Samstag, 20.September

Mynämäki



worin vorkommen: Mynämäki, Vehmaa, Uittamo   




Die Tage werden wärmer. Wieder blauer Himmel.

 

Sanna und Outi sind schon frühzeitig aufgebrochen, um in ihrer neuen Hütte den Fußboden zu streichen. Wir werden mit den Zwillingen später nachfolgen.

 

Wir fahren nach Mynämäki, von da Richtung Vehmaa. Nach kurzer Strecke führt ein Sträßchen in die Gegend hinein, wird bald zur Schotterpiste, die sich zwischen Hügeln, keiner mehr als zwanzig Meter hoch, dahin windet. Nach wenigen Kilometern endet der Weg an weißen Torflügeln, die offenstehen. Gleich dahinter ein skandinavischrotes Häuschen, vor dem wir anhalten. Sannas Auto steht schon da. Wir sind hier richtig. Das ist Sannas und Outis neue Traumheimat, Sanna hat sie Mökkerö genannt. Unser Wagen steht an der Rückseite des Häuschens, die dem Fahrweg zugewandt ist. Vor der Hütte breitet sich ein weiter Park aus. Jawohl, ein Naturpark, anders kann man
dieses Gelände nicht bezeichnen. Aus grünem, gepflegtem Rasen erheben sich hübsche Ziersträucher und Blumenbeete, eines davon kreisrund in einiger Entfernung vor der Terrasse.

Dahinter senkt der Boden sich zu einem Bachbett, das ein wenig Wasser führt und nur stellenweise den Blick darauf freigibt. Ansonsten verrät nur ein leises Gurgeln, dass unter der Vegetation ein Gerinnsel seinen Weg nimmt, um in dem zauberhaften Naturteich zu enden, der sich dort auftut.

Ein Steg in das kleine stehende Wasser, zwischen Wasserpflanzen und Schilf, zeigt an, dass dort nicht nur die Frösche und Wasserläufer zum Bad willkommen sind, sollte es einmal einen warmen Tag geben.

Ein Miniaturmäki, zweieinhalb Meter hoch, liegt jenseits des Teichs. Der hat die richtige Dimension, um sofort bestiegen zu werden. Um ihn herum führen märchenhaft Pfade vorbei an Pilzen und Blümchen zur nördlichen Grenze des Grundstücks, das ganz mit den verschiedensten schönen Bäumen umsäumt ist.

Brücken sind über den Bach gelegt, eine davon mit weiß gestrichenem Geländer.


Drüben setzt das weitläufige Grundstück sich fort, Wiesenflecken mit einzelnen Föhren und Fichten gehen über in einen Wald, der gegen einen steinigen Mäki hin ansteigt und zum Besteigen einlädt.

Das Ganze ist so unglaublich schön, dass einem das Herz vor Freude aufgeht.

 



Outi und Soile pflanzen einen Kirschbaum. Ob wir je noch Früchte davon kosten werden können?

Über die Terrasse aus Holz gelangt man in den kleinen Vorraum des Häuschens und weiter in den Wohnraum. Dort sind Sanna und Outi noch mit dem Fußbodenstreichen beschäftigt. Sie haben den Boden, der etwas abgewohnt war, mit einer Maschine abgeschliffen. Jetzt kommt ein natürlicher, wasserlöslicher Anstrich darauf. Der Raum mit seinen zum Teil ebenfalls bereits gestrichenen Holzwänden ist nicht groß, bietet aber genug Raum für trautes Zusammensein zweier oder weniger Personen. Links vorne geht es zum WC und – erraten - in die Sauna. Zentral im Raum steht links ein offener Kamin, daneben führt eine steile Treppe zum Dach hinauf. Zum Teil ist die Galerie offen, zum andern Schlafstätte. Wieder zu ebener Erde liegt hinter dem Kamin links eine kleine offene Küche, rechts ist Platz für den Esstisch und Sitzmöbel. Selbst noch ohne Möblierung ist die Atmosphäre wohlig anheimelnd.

 

Das ist genau, was ich suche, sage ich Sanna und Outi. Sie sind echte Glückspilze, das gefunden zu haben. Allerdings hatten sie auch sehr lange danach gesucht und dabei eine Enttäuschung nach der anderen erlebt, bis Outi eines Tages nach Hause kam mit den Worten "Ich hab's gefunden!". Aber, so märchenhaft dieses Paradies auch ist, für Soile und mich wäre es doch nicht ideal. Zuviel Pflege erforderte dieser Garten Eden, die wir bei kurzer Anwesenheit im Jahr nicht leisten könnten.

 

Sanna sticht Unkraut aus dem Rasen. Dieselbe Art, die wir auch in Kanervala haben, so grüne, stachelige Plätschen, die sich am Boden klebend ausbreiten. Büsche und Blumen werden gepflanzt, zu nahe aneinander, finde ich aus Erfahrung von Kanervala her. Damals schienen sie so weit auseinander, heute kommt man kaum mit dem Mäher durch diesen Dschungel.

Noch mehr Besuch bekommt Mökkerö an diesem Nachmittag. Sirkku trifft ein mit den beiden Seppot, gleichzeitig Sinikka und Tauno und Sarlotta und Karolina. Wie eine Völkerwanderung brechen die vielen Leute plötzlich in den stillen Ort herein. Auch sie sehen Sannas und Outis neue Errungenschaft zum ersten Mal. Die Herde läuft um die Grenzen der fünftausend Quadratmeter. Sarlotta telefoniert andauernd, wahrscheinlich mit ihrem Freund, und wird dabei von Karo so lange geneckt, bis sie in sichere Entfernung flüchtet.

Sarzi, meine geheime Liebe.


Vom Hyppy-Taas-Uudelleen ihrer frühesten Kindertage an war ich kurzzeitig und in langen Abständen immer wieder zugegen und habe ihre ganze Entwicklung zum kleinen Mädchen, zum Teen, zum jungen Fräulein miterlebt, und hatte sie lieb in jedem dieser Stadien. Als sie mit dem Freund ankam und mit ihm unter dem Tisch fußelte, war ich eifersüchtig. Und jetzt ist sie eine junge, eigenständige, schöne Frau. Tämä on vain elämää. So ist das Leben.

Hingegen Karolina, die raue Karo, halbwüchsig schon, als Sartsi noch im Schnee mit uns Hyppy machte, die Fallschirmspringerin, die Kampfjetpilotin werden wollte, sie machte mir immer ein wenig Angst mit ihrem burschikosen Auftreten. Sie wollte auch nie fotografiert werden, und daher haben wir auch kaum Fotos von ihr in unserer Sammlung. Vielleicht aber war gerade sie es, die mich besonders mochte, vielleicht seit ich ihre Lieblingsblume erriet, die Sonnenblume, und vielleicht ist es ihre Lieblingsblume seit ich damals vor dem Hyppy im Auto mit einer Sonnenblume schrecklich geblödelt habe?

 
Sie stand auch diesmal beim Abschied wie zufällig neben mir und küsste mich – ganz ohne dass eine von mir in die Wege geleitete Umarmung dies geboten hätte – auf die Wange. Dunkel war dabei der Blick aus ihren Augen und ich erinnere mich an keinen dunkleren Blick als jenen, beim Abschied davor, einige Jahre früher.

Genauso schnell wie aufgetaucht ist der Heuschreckenschwarm auch wieder verschwunden und die übernatürliche Stille eines allumfassenden Schweigens tritt wieder ein. Es hat doch nicht geregnet.

Der Abend, wieder in Turku, bringt neuerlich ‘Idols’. Obwohl das wunderschöne Kennenlernen Mökkerös einen ganz anderen Effekt erwarten ließe, gewinne ich unsere Wohnung in Uittamo lieber und lieber. Schon beäuge ich mit Interesse die nackten Einzelheiten, bekleide sie im Gedanken mit Zierrat und richte sie ein. Schön präsentiert sie sich schon meinem geistigen Auge und bereit bin ich, mich dieser in ihrer Nacktheit spröden Braut hinzugeben, um mich, einmal eingekleidet, in ihr wohlzufühlen.



Sonntag, 21. September

Turku

 

worin vorkommen: der Wiener Prater, die Bowlinghalle, Turku, die Bowlinghalle, Wolfgang A. Mozart, die 40. Symphonie KV 550




Weiterhin klar-frisches Herbstwetter. Am Morgen kühle 6 Grad, dann bei Sonnenschein an die achtzehn. Bei diesem Wetter ist es eigentlich schade, etwas zu unternehmen, was nicht im Freien stattfindet. Aber Sanna und Outi sind wieder zum Mökkrrö gefahren, um die Wände weiter zu streichen. Schon gestern hat Sanna für uns und die Kinder eine Bowlingbahn beim Stadion reserviert.

 

Als wir endlich den richtigen Eingang gefunden haben und in unsere Mietschuhe geschlüpft sind, erinnere ich mich an jene Tage in den Mittsechzigern, als ich mit meinen Freunden Bernd Kozlik, Heinz Zaczek und Ladislav Novacek (alle seit Generationen integriert!), alle junge Männer, die Bowlinghalle im Wiener Prater frequentierten. Das Kegeln gefiel uns auch rein sportlich, aber die Sensation damals war die Musikbeschallung der Klos. Eine Bearbeitung der 40. Mozart (KV 550) war damals aktuell.

 

Dafür, dass ich seither mein ganzes Leben nicht mehr gebowlt habe, geht es noch ganz gut. Leider finde ich keine Kugel mit für mich idealem Eingriff. Nach zwei Stunden lassen alle schon Ermüdungsmerkmale erkennen. Die Kugeln landen schon mehr senkrecht als vorwärts auf dem Parkett und Soile gelingt sogar ein Rückzieher. Die schweren Kugeln haben schon begonnen, ihr Handgelenk anzugreifen und manchen ihrer Fingernägel hat sie in den Löchern gelassen.



Montag, 22. September

Nousiainen


worin vorkommen: Nousiainen, Turku, Mynämäki, Vehmaa, Uittamo   




Unverändert schönes Herbstwetter. Wir machen Shopping in Turku, kaufen alles, was schwarz und weiß ist, für Seppots Apartment. In der Yliopistonkatu, also mitten in der betriebsamen Stadt, spielt ein Duo einen Tango. Mundharmonika und Bass. Ein betagtes Ehepaar tanzt dazu auf dem Gehsteig. Bedächtig und ernst sind ihre Bewegungen, als wäre es ihr letzter Tanz. Wir erinnern uns an unseren Tango bei Sannas Hochzeit, da haben wir die Hochzeitsgäste beeindruckt mit einem schmissigen Tanz und sehr professionellen Bewegungen, ohne vom richtigen Tangoschritt auch nur die geringste Ahnung zu haben. Ich fordere Soile auf, aber natürlich will sie nicht in der Yliopistonkatu. In einem Möbelgeschäft steht ein schönes weißes Bett und ein einladendes Sofa. Würden gut in unsere Wohnung passen.

 

Danach haben wir bei Nousiainen ein Mökki zu besichtigen. Outi hatte es einst, noch auf ihrer eigenen Suche, gesehen, aber nicht in Betracht gezogen. Nousiainen ist benachbart mit Mynämäki und Vehmaa. Unbegleitet finden wir die Hütte mitten im Wald, etliche Kilometer, auch auf Schotterstraße, von Nousiainen entfernt. Vorteil: Der Wald- und Felsboden erfordert keinerlei besondere Pflege. Es ist ein relativ neues Holzhäuschen in Skandinavischrot. Durch die Fenster erkennen wir Veranda, Küche, Wohnraum, Dachraum zum Schlafen; also Mökkerö ähnlich. Es steht auf Stelzen auf dem Felsengrund. Abseits ein kleiner Schuppen als Abstellraum und ein noch unfertiges Klo. Wir finden eine Leiter und blicken durch ein Fenster in die Sauna. Weiter den sanften Hang hinauf, aber nicht in direktem Sichtkontakt, steht ein größeres Haus, dazwischen ein Teich, der offenbar zu diesem Haus gehört. Auf dem angebotenen Grundstück liegt auf etlichen Haufen übriggebliebenes Baumaterial und Schutt umher, auch ein Erdtank ist dabei. Die Lage ist schön. Stille, Stille und wiederum Stille. aber Soile fehlt das Meer und über die Hütte sind wir uns noch nicht klar.

 

Auch ein Stück unterhalb des Mökki ist ein Teich mit einem Badesteg und Sitzmöbeln davor. Hier könnte man vermutlich baden. Es ist ein Schotterteich, eine Förderanlage liegt am jenseitigen Ufer. Alles steht still, aber sollte die Anlage betrieben werden, müsste man ziemlichen Lärm in Kauf nehmen.

 

Vom Nachbarhaus nähert sich ein Mann mit einem Hund. Er warnt uns, das wäre ein schlechter Kauf. Die Hütte sei Jahre lang ohne Dach gestanden, innen sei alles verschimmelt. Der Verkäufer lebe im Streit mit allen, streite mit ihm selbst über das Zufahrtsrecht zu seinem Haus, das er auch von diesem Verkäufer habe. Klingt nicht gut, aber wir haben auch Zweifel, ob alles wahr sei. Vielleicht will er nur verhindern, Nachbarn zu bekommen, oder auch nur dem Verkäufer schaden.

Wir holen die Zwillinge aus dem nahen Mynämäki ab und bringen sie nach Uittamo. Die Erfahrung in Nousiainen bringt uns die Wohnung wieder ein Stück näher. Jetzt gewinnt die Einrichtung schon sehr an Details.



Dienstag, 23. September

Uusikaupunki


worin vorkommen: Uusikaupunki, Mynämäki, der Golfplatz, Helsinki   




Bei weiterhin ruhigem und sonnigem Herbstwetter bringen wir die Zwillinge nach Mynämäki. Abschied von den beiden. Anschließend besichtigen wir das Objekt in Nousiainen zusammen mit dem Makler. Der Schlüssel hing ohnehin am Ast eines der Bäume. Die Innenbesichtigung zeigt, dass die ganze Wasserinstallation noch fehlt. Die Küchenmöbel sind ziemlich alt und schäbig. Keine Spur von Schimmel. Der Makler meint, der Nachbar betreibe Obstruktion. Wir streichen das Objekt aus unserer Agenda. Zuviel Aufwand wäre nötig, um es für unsere Zwecke herzurichten und wer weiß, wieviel Streit es geben würde.

 

Dann nach Uusi in die Välskärintie. Ich möchte Sirkku wenigstens ein wenig unter die Arme greifen und etwas auf dem Grundstück tun. Wir pflücken für Sirkku die Zwetschken, die überall an den Bäumen hängen wie Weintrauben. Es ist eine rosafarbene Sorte, mehr süß als sauer, ähnlich Ringlotten. Die Äste stöhnen förmlich unter der schweren Last, einige sind abgebrochen, sogar ganz dicke, und liegen traurig auf dem Boden. Wir bekommen zwei Wäschekörbe voll.

 

Jetzt geht's an die Äpfel. Was in Reichweite ist, wird leicht abgenommen. Für die oberen Ränge steige ich auf eine alte Leiter und werfe die gepflückten Früchte Soile zu. Einem der Bäume ist unter der Last der Stamm gebrochen. Ich muss den halben Baum wegsägen. Am Ende stehen fünf große Körbe Äpfel neben den Zwetschken in der goldenen Herbstsonne.

 

Sirkku kommt nach der Arbeit aus der Bank. Wir machen einen Abendspaziergang über den Golfplatz, der ansprechend in die bestehende Landschaft eingebettet ist. Riesige Erdbewegungen haben neue Seen entstehen lassen. Fürs Auge sind die kurz geschorenen saftig grünen Rasenflächen ja schön anzusehen, aus denen hie und da die rund und glatt geschliffenen Eiszeitfelsen ragen. Dennoch halte ich die ganze Anlage – nicht nur diese, sondern Golfplätze im Allgemeinen – für eine schreckliche Verschwendung von Ressourcen. Aus dem großen See steigen zwei Schwäne in den Abendhimmel und ziehen hintereinander mit kräftigen Flügelschlägen über uns hinweg in Richtung Meer. Erstau8nlich, was für ein starkes Geräusch die Schwingen machen!

 

Es sind etliche Golfer auf dem Kurs unterwegs. Hie und da gibt es vor einem Loch sogar Stau. Stau auf dem Golfplatz. Verheerend!

 

Zum Abendessen gibt es Piirakka. Diesmal schlafen wir unten in der Garage. Die Seppot sind nach Helsinki gefahren, um die Übersiedlung voranzubringen. Talvisota (‘Winterkrieg’). 1939 griffen die Sowjets Finnland an, um es der Union einzuverleiben. Die Finnen wehrten sich tapfer, die Russen konnten ihre Ziele nicht durchsetzen. Der Krieg im Winter war grausam. Heute Abend ist Talvisota ein Gerstenbrand mit Minzegeschmack. Na ja.

 

Abschied von Sirkku noch an diesem Abend, weil sie morgen früh wieder zur Arbeit muss.



Mittwoch, 24. September

Masku, Turku   

 

worin vorkommen: Masku, Europa, Rivolto, die USA, Südafrika, Uittamo   



Es sind die Tage der Abschiede. Sirkku ist schon in der Bank. Hinüber zu Sinikka. Good bye, Sinikka. Danach weiter nach Masku zu Pirjo und Pentti. Pirjo ist Soiles Jugendfreundin. Vor ihrer Pensionierung war Pirjo in einer Zuckerfabrik tätig. Sie war aber schon vorher recht süß. Das hatte auch Pentti, der HTL-Lehrer so gesehen und sie folgerichtig geheiratet. Das ist lange her. Seit ein paar Jahren sind sie ein Pensionistenehepaar. So wie Soile und ich seit Jänner.

 

Kurz sehen wir auch die Tochter Anu mit Baby. Vili, der Sohn ist nicht da. Es ist der nämliche Vili, der einst mit seinem Freund durch Europa trampte und uns dabei in Rivolto besuchte, wo sie im baufälligen Turm bei den Gelsen und Skorpionen nächtigten. Sein Beruf lässt ihn durch die ganze Welt reisen, aber nicht von Finnland aus, sondern mit den USA als Basis, wo er mit seiner finnischen Frau lebt.

 

Sesse, die Schäferhündin freut sich wie eine Wahnsinnige. Endlich ist wieder etwas los in Masku. Das Grundstück liegt auf einem Mäki in der luftigen Höhe von etwa fünfundzwanzig Meter. Es gibt Nachbarn, doch die sieht man nicht im dichten Wald. Das Haus ist ein großer Bungalow im Stil der Siebzigerjahre mit weiten Räumen und unendlich großen Glasflächen, dem das hügelige Gelände ein großzügiges Untergeschoss aufgedrängt hat. Jetzt, wo die Kinder ausgeflogen sind, ist das Haus wohl zu groß für die zwei Leutchen. Pirjo muss ganz schön zu tun haben, um die riesigen Flächen in Schuss zu halten. Es gibt wieder etwas Neues auf dem schönen Grundstück mit dem von Pentti selbst geschaffenen Teich, nämlich einen kleinen Bach zwischen zwei Brunnen. Aber das wirklich Faszinierende ist eben der Teich zwischen den Felsenufern. Ich sehe Fotos von der Entstehung. Unglaublich, was aus so einem gatschigen Sumpfterrain werden kann. Pentti reicht uns Eigenbauwein aus Beeren (oder aus den Merlottrauben (!), die sie angebaut haben?), und Pirjo ein Schwammerlpiirakka. Die Pilze finden wir später bei unserem Spaziergang durch den Wald. Sie sehen aus wie Eierschwammerln, aber dunkelbraun.






Pirjo und Pentti werden demnächst einen Urlaub in Südafrika konsumieren. Als Abenteuerreise mit Rafting und Bunjeespringen ist die Reise in den Prospekten dargestellt. Aber Pirjo und Pentti am Bungeeseil kann ich mir wirklich nicht vorstellen.

Wir verabschieden uns und fahren weiter nach Turku, besuchen Sanna in der Buchhandlung. Es ist ein altehrwürdiges Geschäft im Zentrum, verstaubt jedenfalls, was den Stil anlangt. Sanna und Kolleginnen in schwarzen Arbeitskitteln. Wir machen Einkäufe und beschaffen eine Vergrößerung von einem meiner Fotos von Mökkerö und einen Rahmen als Erinnerung für Sanna und Outi für ihre Wohnung. In dem schönen Möbelgeschäft, wo das Bett für unsere Wohnung in Uittamo steht, erkundigen wir uns nach den Maßen und dem Preis. Hui! Es wird wohl eher Ikea. Wir sind jetzt fest entschlossen, die Wohnung zu behalten und einzurichten. Eigentlich freue ich mich schon darauf. In Uittamo messen wir alles ab, damit wir zuhause einen Plan anfertigen können. Sollte sich die Möglichkeit für ein Mökki ergeben, werden wir auch das in Erwägung ziehen. Wäre ja auch eine Geldanlage.

 

Fürs Abendessen haben wir Steaks gekauft, für Sanna und Outi nur sehr kleine Stücke, weil Soile meint, die beiden mögen kein Fleisch. Beim Braten wird alles noch kleiner. Beim Essen fühle ich mich gar nicht wohl mit meinem Riesenstück.

 

Abschied nun auch von Sanna und Outi. Wir ziehen uns in unsere leere Wohnung zurück. Beim üblichen Gutenachtdrink ist es noch taghell. Wir schauen hinaus auf die bemoosten Felsen in dem finnischen Wald.



Donnerstag, 25. September

Helsinki

 

worin vorkommen: Helsinki, Muurla, Tommy Tabermann




Weiterhin Schönwetter, aber nicht mehr völlig wolkenlos. Autofahrt nach Helsinki. In Muurla (Glasmanufaktur) Mitbringsel eingekauft. Dessertteller mit einem Spruch von Tommy Tabermann. Dann in Helsinki in der Hafengegend ein Café gesucht. Was wir finden, ist auch Speiselokal mit sehr lebhaftem Betrieb. Mehrheitlich junge Leute. Es handelt sich um eine Gastronomieschule mit angeschlossenem Hotel und Gastbetrieb. Echte Gäste sind hier sozusagen Versuchskaninchen. Wird hier der Beginn eines neuen Schuljahres gefeiert? Die Schüler und Schülerinnen machen Fotos voneinander. An einem langen Tisch sitzen offenbar ein paar Lehrer. Auch sie lassen sich knipsen und halten ihre eigenen Kameras hoch. Ein junger Mann bedient uns manierlich und stilistisch perfekt, bringt uns die Kaffeetassen, gießt uns aus einem Kännchen ein, kommt nach einiger Zeit wieder, um nachzugießen. Der tollste Gastronomieservice seit sehr, sehr Langem.

 

Dann in den Hafen. Wir stellen uns an zum Einschiffen. Da noch viel Zeit ist, sind wir unter den ersten in der Kolonne. Es kommen auch später nicht sehr viele Personenwagen. Die Saison ist schon vorüber. Durchs offene Autofenster füttere ich die Krähen und Möwen. Eine Möwe nimmt mein Keks im Flug aus der Hand, zwickt mich dabei in den Finger. Gfraßt! Einen Apfelputzen würgt sie im Ganzen hinunter. Es ist Abend, als wir nach einer Anzahl Lastwagen an Bord fahren – terve Suomi – parken und die Kabine beziehen. Wir sind wieder auf der Superfast 7. Wieder ist das Wasser so ruhig, dass man nicht glauben will, keinen festen Boden unter sich zu haben.

 

Wir nehmen einen Aperitif an der Bar und vergessen darüber fast das

Abendessen. So bleibt uns nicht mehr viel Zeit, um das reichhaltige Buffet in Ruhe auszukosten. Da es bald geschlossen wird, holen wir uns alle möglichen Gänge auf einmal und sind zur Verzweiflung des Personals noch lange nach Sperrstunde an unseren Tellern tätig.



Freitag, 26. September

Auf See


worin vorkommen: Bornholm, Rostock, das Hotel Hasenheide   

 



Als wir an Bord erscheinen, ist das Wetter grau und unfreundlich. Den goldenen Herbst haben wir wohl in Finnland zurückgelassen. Trotzdem ist das Meer sehr ruhig. Wir verzichten auf das Frühstück vom Buffet, holen uns eine Kleinigkeit von der Selbstbedienungsbar. Sind noch voll von gestern Abend.

 

Ruhig vergeht die Zeit, wir beobachten die anderen Schiffe, denen wir begegnen, oder die wir überholen. Vorüber an Bornholm, bald erscheint die schwedische Küste. Es ist jetzt wolkig mit sonnigen Episoden. Ich arbeite am Tagebuch, das ich mir zu Mittag aus dem Auto geholt habe. Damit ich bei der Gelegenheit nicht ein paar fremde Wagen ausraube, werde ich von einem Matrosen begleitet.

 

Zum Abschluss unserer Reise gönnen wir uns ein Abendessen im Restaurant a la carte. Ich freue mich über eine exquisite Morchelsuppe. Soile hat Fisch.


Noch eineinhalb Stunden bis zur Landung. Der beschauliche Tag und mit ihm die ganze Reise versinken in einem prächtigen Abendrot, dem wir nachhängen, bis auch die letzte Spur davon erloschen ist.

Zu den Autos. Der SUV hinter mir, spanisches Kennzeichen, aber russische Passagiere, will nicht anspringen und erhält Starthilfe. Schön, dass der nicht vor uns steht.

 

Wieder auf deutschem Boden. Es ist bald 23 Uhr, ein dichter Nebel hüllt Rostock ein. Wir suchen das gebuchte Hotel Hasenheide. Das dauert etwas länger und erfordert einige Umwege, weil ich den Ratschlägen Soiles nicht nachkomme. Meine Orientierung ist doch die eindeutig bessere. Ich halte an einer Tankstelle. Drinnen trinken einige Polizisten, die zu dem draußen abgestellten Streifenwagen gehören, einen Steifen. Wir sind nicht von hier, sagen sie. Wir kommen aus ner ganz anderen Ecke. Der Tankwart aber weiß immerhin, dass man vorne an der Ampel abbiegen muss. Welche Ampel? Die sind alle außer Betrieb! Endlich finden wir trotz allem das Hotel. Die Zimmer sind nicht im Hauptgebäude, sondern stehen um einen Innenhof wie bei einem Motel. Angenehm ist die Anlage, vor allem, weil wir sie gefunden haben.

Beim Ausladen des Gepäcks kommt es zum Unfall. Soile will noch den Kleidersack im Kofferraum zurechtrücken. Als ich denke, dass sie damit nun fertig ist und schon den Kofferdeckel senke, will sie mit dem Kopf noch einmal in den Kofferraum und stößt mit der Wange unter dem Auge gegen den Deckel. Es schmerzt natürlich, aber mehr noch fürchtet Soile, sie werde ein blaues Auge bekommen. Im Zimmer suchen wir zuerst nach kalten Gegenständen zum Auflegen. Wozu gibt es eine Minibar? Zum Glück ist die Verletzung nicht so schlimm und wir gehen noch ein Bier trinken in die Gaststube, wo schon unser Frühstück hergerichtet wird. Das schöne Weizenbier habe ich sehr nötig. Im Fernsehen hören wir bruchstückhaft von der heraufziehenden Finanzkrise in den USA und ihr beginnendes Überschwappen nach Europa.



Samstag, 27. September

Heimreise


worin vorkommen: Rostock, die Hasenheide, Polen, Berlin, Potsdam, Leipzig, München, Hof, der Böhmerwald, Regensburg, der Inn, Wels, Jochberg, Kitzbühel, der Pyhrn, Salzburg, die Tauerntunnel, St. Michael, Knittelfeld, Judenburg, die Rottenmanner Tauern, St. Peter ob Judenburg, Klagenfurt, Hohenthurn   

 


Letzter Tag unserer Urlaubsreise. Heimreisetag.

 

Am Morgen liegt immer noch dicker Nebel über Rostock und der Hasenheide. Nicht leichter als gestern das Finden ist heute das Verlassen dieser Einöde. Eigentlich wollen wir nicht nach Rostock zurück und fahren daher auf unterrangigen Bezirksstraßen in Richtung Autobahn, wie ich meine, aber die Sträßchen enden immer in der falschen Richtung und wir bewegen uns offenbar im Kreis. Immerhin sehen wir eine interessante Gegend, soweit sie unmittelbar an die Straße grenzt. Restaurierte und verfallende und verfallene Backsteinhäuser mit Fachwerk, gepflegte und ungepflegte Grundstücke, riesige alte Bäume, verwunschene Parks, Alleen an bewässerten und trockenen Gräben. Die Straßen sind teils gut, teils sehr schlecht. Ich kämpfe mit dem Autoatlas und den Wegweisern. Sind wir schon in Polen? Nach mehr als einer Stunde sind wir doch wieder nahe an Rostock und biegen auf die Autobahn ein. Soviel zu meinen Shortcuts.

 

Wir haben vor, an diesem Tag nach Möglichkeit bis nach Hause zu fahren und von daher war die Spazierfahrt in der Ex-DDR nicht hilfreich. Jetzt geht es aber flott voran in Richtung Berlin. Der Nebel war wohl auf den Küstenstreifen konzentriert. Über der nord-deutschen Ebene macht er bald blauem Himmel Platz. Überall die Windräder. Nur wenige drehen sich langsam, die meisten stehen still. Der Verkehr ist aufgelockert und es gibt wieder hörbares Radio. Schon knapp an Berlin passieren wir einige Autobahnkreuze und vorüber an Potsdam geht es jetzt Richtung Leipzig. Der Verkehr wird langsam dichter, wohl wegen des Ausflugsverkehrs an dem schönen Wochenendtag.

 

Soile will bei Leipzig tanken. Ach was, ist noch genug Saft im Tank. Es geht jetzt Richtung München. Soile fährt ziemlich rasch. Man genießt das fehlen einer allgemeinen Geschwindigkeitsbeschränkung. Die Nadel der Benzinuhr neigt sich ziemlich rasch Richtung Null, aber keine Tankstelle zeigt sich. Ich sehe auf der Karte nach, als das Warnlicht aufleuchtet. Nach gut dreißig Kilometern müsste eine Raststätte kommen. Soile fährt nun langsamer, um den Verbrauch zu drosseln. Mächtiges Matschkern. Die Raststätte ist da, aber weit und breit keine Tankstelle. Ach ja richtig, die Karte unterscheidet wohl zwischen Rastplätzen und Tankstellen. Bis zu einer solchen sollten es nur noch weitere zwanzig Kilometer sein. Weiter zu fahren erscheint uns beiden zu riskant. Die Raststätte ist überfüllt mit Ausflüglern. Einer wird wohl einen gefüllten Benzinkanister mithaben? Ich frage den Erstbesten und es klappt. Der nette Schwabe verkauft mir zehn Liter Sprit und der Tank hat wieder einen unbedrohlichen Stand. Wir setzen die Reise fort und schon nach wenigen Kilometern zeigt sich eine Tankstelle. Jetzt gleich zu tanken wäre eigentlich nicht notwendig, aber Soile wäre weg gewesen, hätte ich es nicht getan.

 

Die Autobahnecke nach Hof ist auch überaus belebt, aber landschaftlich sehr schön. Grüne Hügel sonnen sich unter dem Seidenblau des schon abendlichen Herbsthimmels. Der Böhmerwald grüßt uns wie alte Bekannte. Richtung Regensburg lässt der Verkehr schlagartig nach. Die Straße ist gut wie das Wetter, der Verkehr schwach, der Tacho steht bei 180. Auf Soiles W-w-wunsch reduziere ich auf 160. Das Tempo fördert Kisus Durst und bald ist wieder eine Tankstelle erwünscht. Es dauert bis knapp an die österreichische Grenze, bis es Nachschub gibt. Wir nehmen auch einen Kaffee, nachdem wir uns bisher aus dem Einkaufssack mit Äpfeln (von Sirkku), Schokolade (von Fazer – die gute dunkle) und Zuckerln versorgt hatten.

 

Kurz danach queren wir die Innbrücke und sind wieder in Österreich. Das Radio spielt Ö1, also daheim. Was freut den Wiener, wenn er aus dem Urlaub kommt? Hochquellenwasser und – Ö1. Aber was wir da in den Nachrichten hören… Das Wiederkehren in die Heimat nach längerer Reise weckt immer gemischte Gefühle. Frohe, weil alles wieder da ist, was man an ihr liebt, aber auch beklommene, weil man weiß, dass auch alles andere unvermeidbar da ist. Das Rasen ist nun auch vorüber und man hat zu tun, den Tacho zu zähmen.

 

Bei Wels drehen wir wieder Richtung Süd. Bei der Planung dieser Reise hatte ich überlegt, die Fußwanderung meines Vaters bei Kriegsende von Wels nach Jochberg bei Kitzbühel nachzuvollziehen, aber das bleibt nun doch einem nächsten Mal vorbehalten. Wir zuckeln die Pyhrnautobahn hinunter und es wird ziemlich rasch ganz dunkel, anders als die unendlich langen Dämmerungen im Norden. Von der Mauteinhebung bin ich überrascht. Zwar habe ich den Pyhrn nicht gewählt, um der Maut zu entgehen, sondern um Salzburg und die Tauerntunnel zu vermeiden.

 

Eigentlich wollte ich der Autobahn bis St. Michael folgen und dann der alten Südroute über Knittelfeld und Judenburg. Bei Trieben ist auf dem Ausfahrtswegweiser Judenburg genannt. Deshalb verlasse ich die Autobahn und folge den Schildern Richtung Judenburg. Die führen natürlich schnurstracks über die Rottenmanner Tauern, die wir auf der Hinfahrt genossen haben, dessen Kurven und Steigungen aber jetzt in der Dunkelheit Soile beängstigen. Ich nehme die Bergstraße so rasch es in der Finsternis sicher möglich ist, aber Soile sitzt mit angstvoll geweiteten Augen neben mir und starrt in den Scheinwerferkegel wie auf eine Giftschlange.

 

Auf der ganzen Reise hat Mama regelmäßig angerufen und wollte wissen, wo wir sind. Auch jetzt läutet wieder das Handy. Soile: „Wir sind irgendwo in den Bergen (klingt wie Himalaja) und falls wir je aus diesen wieder rauskommen und nach Hause, werden wir uns wieder melden.“ Jetzt hat auch Mama gehörig Angst.

 

Wir erreichen die alte Südroute bei St. Peter ob Judenburg. Es muss ein Italien-Tief geben, denn auf der Passhöhe hat es zu regnen angefangen, was das Unsicherheitsgefühl bei Soile noch beträchtlich erhöht. Ich versuche, einen brauchbaren Kompromiss zu finden zwischen Vorsicht und Weiterkommen, werde dabei mehrfach überholt als hätte ich den Retourgang erwischt, aber Soile hätte unter diesen Umständen auch Angst gehabt, wenn ich gestanden wäre. Endlich kommen wir bei Klagenfurt in bekanntere Gefilde und auch die letzten paar Kilometer bis nach Hohenthurn gelingen unfallfrei. Es ist weit über Mitternacht. Das Haus ist einsam und kalt, keine Katze erwartet uns, das Bett wird unsere heimelige Zuflucht.



Résumé


 

31 Reisetage. Keine längere zusammenhängende Reise konnte ich in meinem Leben machen, abgesehen von den goldenen Jugendtagen in England. Jetzt hat die Pensionierung diesen Luxus ermöglicht und ich bin dankbar für die späte Freiheit, die das Leben mir noch gönnt.

 

Durch die Jugendtage, gleich anschließend an die Englandfahrt, führte uns der Reiseabschnitt in der Obersteiermark. Zeltweg (Militär), Judenburg (Familie Rehm), Knittelfeld (Fahrschule), Seckau (Wanderromantik). Franz Rehm war einer meiner Militärkameraden. Er hatte ein Puch-Moped und mit diesem glühten wir abends manchmal nach Judenburg, obwohl wir uns eigentlich nicht so weit von der Kaserne entfernen hätten dürfen, gelegentlich sogar bis nach Unzmarkt. In Judenburg war seine Familie zuhause. Der Vater war bei den Nazis ein Wichtiger gewesen und suchte in der nazifreundlichen Kleinstadt Unauffälligkeit. Die Mutter liebte populäre klassische Musik. Immer wenn ich dort war, spielte sie die Platte mit Mozarts Kleiner Nachtmusik. Das passte gut zu meiner Frühromanze mit der Tochter Uschi.

Wieder in die Zeit vor dem Markstein England fallen die Erinnerungen an das Zusammentreffen mit John Coneybeare, dem angehenden Stromfernleitungsingenieur aus Bristol, der 1959 durch Europa trampte. In diesem Jahr gab es in Oberösterreich ein verheerendes Hochwasser. Die Zeitung Kurier organisierte private Hilfskonvois in die Katastrophengebiete. Ich fuhr mit einem Helfer in seinem Kombi als Beifahrer mit. Wir brachten gespendete Sachen nach Enns. Auf der Rückfahrt nahm er zwei Autostopper mit. Einer davon war John Coneybeare. Tags darauf lagen John und ich auf dem Boden in unserer Wohnung in Ottakring und spielten mit der Modelleisenbahn. Ich führte die beiden Tramper durch Wien und erhielt von John die Einladung für den nächsten Sommer nach Bristol.

 

Auch zu meinen Jugenderinnerungen gehört die Lektüre des Hochwalds. Es war die erste Dichtung, deren Sprache mich mit ihrer ruhig fließenden Schönheit bis ins Innerste berührt hat. Ich besitze noch das Reclam-Heftchen, in dem ich die Worte unterstrichen habe: Möchte es uns gelingen, nur zum tausendsten Teile jenes schwermütig schöne Bild dieser Waldtale wiederzugeben, wie wir es selbst im Herzen tragen seit der Zeit, als es uns gegönnt war, dort zu wandeln und einen Teil jenes Doppeltraumes dort zu träumen, den der Himmel jedem Menschen einmal und gewöhnlich vereint gibt, den Traum der Jugend und der ersten Liebe. Er ist es, der eines Tages aus den tausend Herzen eines hervorhebt und es als unser Eigentum für alle Zukunft als einzigstes und schönstes in unsere Seele prägt und dazu die Fluren, wo es wandelte, als ewig schwebende Gärten in die dunkle warme Zauberphantasie hängt.

 

Wenn auch nun die heutige Wirklichkeit, die wir im Böhmerwald angetroffen, enttäuscht, weil sie mit der Dichtung nicht mehr viel gemein hat und wenn auch inzwischen angesammelte Erkenntnisse hinsichtlich Stifters Lebensumstände desillusionierend wirken, so bleibt doch der Jugendtraum unauslöschlich eingeprägt.

 

Die Welt des Vaters während meiner Entstehung: 1. Musiktheater, 2. meine Mutter, 3. Not und Krieg. Und die Welt meiner Mutter? 1. Tino, 2. Tino, 3. Tino, 4. Operette. Not und Krieg waren auch irgendwo, aber sehr peripher. Schickte doch ihre Mutter Pakete mit Erdäpfeln und Kohle von Ottakring nach Sachsen. Dort irgendwo am Fuße des Erzgebirges ist jene Bank gestanden, wo ich im Märzschnee gezeugt worden bin. Für Tino, den Musikdirektor ist es eine Liaison gewesen, die möglichst nicht an die Öffentlichkeit dringen, schon gar nicht zum Gerede werden sollte innerhalb der Theater, denn die Moral war damals noch nicht die heutige. Alles hingegen tat meine Mutter, das Springinkerl aus Wien, Erfahrung sammelndes Mädchen für alles, Soubrette, Tänzerin und wenn es sein musste auch Komische Alte, um diesen Mann zu kriegen, und es war ihr nur recht, wenn alle Welt es wisse. Da sie es gewollt hat, ist es letztlich auch an die Öffentlichkeit gekommen (was heißt es – ich!), aber da hatte Goebbels bereits alle Theater geschlossen und die Schauspieler und Musiker und Tänzer mussten an die Front. Witzige Truppen waren das. Meine Mutter war zurück bei ihrer Mama in Wien, wo ich während eines Bombenalarms zur Welt gekommen bin. Auch theatralisch.

 

Ich habe also nun mit eigenen, schon erfahrenen Augen die Städtchen meiner allerersten Zellen gesehen. Noch tief in DDR-Zeiten hinein mögen diese Gässchen jenen der letzten Kriegsmonate geglichen haben, aber bald nach der Wende hat das große Herausputzen angefangen, das heute immer noch andauert. Nur der Bahnhof in Nossen, auf halber Bahnstrecke zwischen Freiberg und Döbeln und daher geheimer Treffpunkt der Liebenden aus diesen Orten, ist in jenem verkommenen Zustand geblieben, den er auch bei Kriegsende aufwies. Vielleicht gibt es ja jetzt anlässlich der Kriseninvestitionen (Weltwirtschaftskrise) eine Renovierung?

 

Gegen den Uhrzeigersinn ist diese Reise bisher verlaufen. Von meinen Jugendträumen zurück zu meiner Entstehung. Da ist es nicht verwunderlich, wenn wir jetzt einen Riesensatz machen noch weiter zurück an den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit.

 

Die Kriege waren Hauptthemen in Dresden. Die Sachsen hatten ja während des ganzen Dreißigjährigen Krieges wichtige Rollen in diesem europäischen Drama. Wenn auch in dem unglaublichen Gemetzel bestimmt alle Seiten es nicht an Unmenschlichkeit fehlen haben lassen, so ist es mir doch Genugtuung, dass mein Vater Nachkomme jener Seite war, welche die Welt humaner und vernünftiger gestalten wollte, welche an dieser Schwelle zwischen dunklem Mittelalter und fortschrittlicherer Neuzeit auf der Seite der Menschen stand, Vorreiter der Demokratie, der Überwindung des Absolutismus und engstirniger Nationalismen, wo in manchen Köpfen schon die Idee einer weiträumigen Union spukte, und einer Haltung zu Gott ohne Unterdrückung, Bedrohung und Angst.

 

Leider ist nicht viel aus all diesen Bestrebungen geworden. Zu viele Hunde gieren jederzeit nach der Wurst. Und wenn sie eine ergattert haben, geben sie sie nicht mehr her. Nein, es muss noch eine, besser noch viele müssen her. Was? Da sind Hunde, die wollen keine Schweinewurst fressen? Na, die müssen weg! Die Mächtigen lassen nicht locker und Macht gibt es immer und überall zu errichten und zu verteidigen. So wurde Dresden im österreichischen Erbfolgekrieg und auch im Siebenjährigen Krieg von den Preußen erobert und teilweise zerstört, aber das war alles nichts gegen die Luftangriffe der Amerikaner und Briten im Zweiten Weltkrieg. Hitler hatte sich seinen Totalen Krieg von einigen Schreiern bestätigen lassen und Deutschland sollte ihn erhalten. Im Februar 1945 wurde Dresden weitgehend ausradiert. Zigtausende starben innerhalb weniger Stunden im Feuersturm. Eine konventionelle Katastrophe, aber durchaus vergleichbar mit Nagasaki. Bewundernswert der fortgeschrittene Wiederaufbau in unseren Tagen.

 

Leipzig hat für mich durch die Musik Wichtigkeit. Das Genie J.S. Bach, der Thomaner Chor, das Gewandhaus Orchester waren in meinem Leben seit frühester Jugend immer wiederkehrende Meteoriten.

 

Wittenberg. Martin Luther. Der kleine Kaplan, der durch die Macht seiner Überzeugung die Päpste zermürbte. Luther, die Lunte im Pulver des neuen Denkens. Die unbeabsichtigte Explosion. Ihre Langzeitfolgen bis in die heutigen Tage.

 

Hansestadt Rostock und Shakespeare, auch so ein Grundlegender.

 

Die Finnlandreise ist im Wesentlichen von Soiles Verwandten geprägt. Ich habe das schon ausführlich in den Tagesabschnitten beschrieben.


Die Reise 2008 steht am Ende meines Sommers, steht am Anfang meines Herbstes. Warme Tage werden auch jetzt noch kommen, aber sie werden voller sein mit Rückblick als mit Ausblick. Für diese Rückblicke werde ich dem Leben immer dankbar sein. Es hat es gut mit mir gemeint.

Share by: