Die tun nur so

Die tun nur so

worin vorkommen: Udine, Villach, Klagenfurt, Nürnberg, Berlin, Helsinki, Zürich, Amstetten, Salzburg, Arnoldstein, Spittal an der Drau, die 

Nockberge, Papst Franziskus, Karl Lagerfeld, Günther Platter (LH), David Alaba, sowie eine Notlandung in Salzburg

Der Sommer ist heiß. Ein schmales Band leitet Schwachstrom durch die wackelige Abgrenzung unseres Grundstücks zur anschließenden Weide. Drüben kauen träge Kühe im Liegen. Jedenfalls die meisten. Mama, zu Besuch bei uns, bemerkt, wie es einer der Kühe gefällt, unter dem Elektrozaun zu uns herüber zu grasen. Zwischen zweien von den Stehern ist der Draht recht weit vom Boden entfernt. Daher kann es der Kuh gelingen, auf unsere verlockende Wiese zu gelangen. Mamas aufgeregte Schreie alarmieren Soile und mich im Büro. Ich erfasse die Lage, ergreife ein daliegendes Tuch und stapfe den Abhang hinauf, um die Kuh zurück auf das ihr zugedachte Territorium zu jagen. Ich wachle mit dem Tuch und rede ihr zu, sie möge sich vertschüssen. Sie ist nicht der erste ungebetene Gast bei uns. Auf gleiche Weise habe ich schon ein Pferd verscheucht. Dieses ist dann aber nicht zurück auf die Weide geflüchtet, sondern in Richtung Dorf. Ich habe den Bauern angerufen, der es dann eingefangen hat. Die Kuh schreckt mich nicht. Ebenso wenig ich die Kuh. Sie kaut und schaut mich mit gesenktem Schädel neugierig an. Mein Wacheln gefällt ihr nicht. Sie muht laut und tief. Soile und Mama schauen von der Terrasse aus zu. Mama bekommt Angst um ihr Bubi. Verzweifelt schreit sie, ich soll aufhören mit dieser Gladiatorennummer. Ich habe keineswegs das Gefühl, das hier sei gefährlich und gehe wachelnd auf die Kuh zu. Statt zu weichen, brüllt sie wieder. Mama gerät in Panik. Schreiend beginnt sie zu zappeln. Also Mama, nicht die Kuh. Sie hüpft auf der Stelle und befiehlt mir, sofort von da oben runterzukommen und die blöde Kuh Kuh sein zu lassen. Ich wachle weiter, mache noch einen Schritt vorwärts, aber das Vieh macht keine Anstalten sich zu entfernen. Da höre ich von der Terrasse her einen entsetzten Aufschrei. Das ist nicht Mama, das ist Soile. Gleichzeitig sehe ich aus dem Augenwinkel, wie Mama sich rasch umwenden will, dabei aber vergisst, das andere Bein zu bewegen. In weitem Bogen stürzt sie mit dem Kopf voran auf die Pflastersteine. Ich lasse die Kuh Kuh sein und renne hinunter zur Terrasse. Noch etwas benommen versucht Mama gerade, sich aufzurappeln. Ich helfe ihr dabei, so gut es geht. Sie ist nicht mehr die schlanke Operettensoubrette, eher schon eine Walküre. Wir setzen sie auf einen Sessel. Soile bringt Wasser. Nach der Stuntnummer bin ich ebenso erleichtert, Mama lebend zu sehen wie sie mich. Wir versuchen festzustellen, was alles an Mama kaputt sei. Sie versichert, es wäre alles in Ordnung. Ich helfe ihr in ihr Zimmer hinauf und sie legt sich zu Bett. Am nächsten Morgen muss ich meine Udine-Tour canceln. Mama hat doch starke Schmerzen im Arm bekommen. Ich setze sie ins Auto und fahre sie ins Krankenhaus nach Villach. Später stellte ich fest, dass es besser ist, sich mit der Rettung einliefern zu lassen, denn diese Patienten werden sofort versorgt. Die privat erschienenen müssen hingegen stundenlang warten. Nicht so Mama. Warten ist nicht ihre Stärke. Je nach Situation wendet sie verschiedene Techniken an, um vor allen anderen zum Zug zu kommen. Diesmal beginnt sie auf dem Sessel im Warteraum laut zu stöhnen. Sie schickt mich zu der Aufnahmeschwester am Schalter, um auf ihre Schmerzen hinzuweisen. Das wäre gar nicht nötig, die Schwester hört ja ihr Jammern. Bestimmt tut Mama der geschwollene und blutunterlaufene Arm weh, die vielen anderen über Nacht sichtbar gewordenen Hämatome nicht weniger, dennoch bin ich überzeugt, dass die Schmerzen ihr lediglich dabei helfen, ihre Rolle überzeugend und mitreißend zu gestalten. Ich schäme mich vor den anderen Verletzten, die bestimmt auch nicht schmerzfrei sind und Mamas Auftritt mit gemischten Gefühlen folgen. Frau Richter, Behandlungsraum zwei, tönt es aus dem Lautsprecher. Erhobenen Hauptes schreitet Mama an den früher eingetroffenen Patienten vorbei. Sie hat es wieder einmal geschafft.


Ich bin froh, als die übrigen Wartenden in relativ rascher Folge aufgerufen werden. Sie alle kommen nach ihrer Behandlung an mir vorbei, bandagiert, eingegipst, humpelnd. Ich warte immer noch auf Mama. Neue Unfallopfer kommen an, allein, oder begleitet von Angehörigen, Freunden oder Arbeitskollegen, oder von Sanitätern, auf rollenden Liegen. Endlich erscheint durch die automatische Tür Mama. Sie trägt einen Gipsverband vom Handgelenk den ganzen Arm hinauf bis über die Schulter. Fünf Wochen, sagt sie. Toll, bei dieser Hitze. Sie ist fest entschlossen, nach Wien zurückzufahren, gleich morgen früh. Ich brauch doch jemanden, der mir hilft, sagt sie. Wir können eine Pflegekraft aufnehmen, stundenweise, wende ich ein. Nein, sie brauche jemanden ständig. In Wien würden sich Maxi und Massi um sie kümmern. Sie lässt es sich nicht ausreden. Sie besteht darauf, gleich jetzt zum Bahnhof zu fahren, um eine Fahrkarte zu kaufen. Am nächsten Tag bringe ich sie an den Zug.


Mama besuchte uns öfters in Hohenthurn. Meistens kam sie mit der Bahn. Ein- oder zweimal mit dem Flugzeug nach Klagenfurt. Sie erinnerte sich an ihre einzigen sonstigen Flüge, von Nürnberg nach Berlin und zurück, vor mehr als vierzig Jahren, und fürchtete, sie würde wie damals tagelang darnieder liegen. Ich versicherte ihr, das Fliegen heute sei mit damals nicht zu vergleichen. Das von ihr gefürchtete Absacken komme praktisch nicht mehr vor. Es wäre wie im Bus. Im Bus wird mir doch auch schlecht, sagte sie. Trotzdem probierte sie es. Sie genoss die Flüge. Auf der Strecke setzte die Tyrolean ihre Bombardier Propellermaschinen ein. Ich nannte sie Besenstanglflieger, denn wenn das Fahrwerk aus den obenliegenden Tragflächen ausgefahren wurde, sah es aus, als hänge es an Besenstielen. Die Motoren machten einen Höllenlärm. Da half es wenig, dass die Maschinen mit ‘Sound of Silence’ bemalt waren. Unser haarsträubendstes Flugerlebnis hatten Soile und ich auch an Bord einer Bombardier. Es war Winter. Wir kehrten von einem kurzen Finnlandbesuch zurück. Vorgesehen war die Route Helsinki-Zürich-Klagenfurt. Der Abflug von Zürich nach Klagenfurt war auf 20 Uhr 30 angesetzt, doch war der Flug eine gute Stunde verspätet. Schon auf den Rollbahnen zur Startposition in Zürich fanden wir, dass diesmal das Motorengeräusch noch aggressiver dröhnte als sonst. Es schneite stark, man sah gerade bis zu den Besenstangln. Der Start schien normal abzulaufen, wenngleich bei sprödem Motorengedröhn, als hätte man vergessen, Öl nachzufüllen. Das war nicht normal. Mein Volvo 121 hatte so ähnlich geklungen, bevor er bei Amstetten mit Motorschaden sanft auf der Autobahn ausrollte. Der Schneefall ließ auch in der Höhe nicht nach. Sehr hoch können wir nicht sein, vermutete ich, als die Neigung der Maschine ins Horizontale überging. Das „Bing“ ertönte, die Flugbegleiterinnen schnallten sich los und bereiteten den Servierwagen vor. Es waren einige kleinere Kinder an Bord. Sie erhielten Zeichenblätter und Buntstifte. Das Motorengeräusch blieb seltsam. Die Flugbegleiterin stellte ein kleines Glas Rotwein auf mein heruntergeklapptes Esstableau, doch der Wein blieb nicht drinnen. Die Vibrationen waren so stark, dass der Wein überschwappte. Die Stewardess gab keinen Kommentar ab, sondern verschwand geflissentlich zur nächsten Sitzreihe. Ich nahm rasch das Glas und leerte es zur Hälfte. Soile wischte inzwischen mit der Serviette das Übergelaufene ab. Das war nicht normal. Wir waren vielleicht dreißig Minuten unterwegs. Die Kinder malten oder spielten lautstark miteinander. Der Blechvogel zitterte, dass ich befürchtete, er würde demnächst alle seine Nieten verlieren. Das war nicht normal. Ich schaute gerade aus dem Fenster. Es schneite unentwegt. Da gab es einen ohrenbetäubenden Knall und gleich danach einen zweiten. Aus dem Motor schossen Blitze, ein größerer zuerst, dann einige wenige kleinere. Frauen schrien auf. Die Kinder hörten auf zu spielen, flüchteten zu den Plätzen ihrer Eltern. Manche weinten laut. Das war nicht normal. Der Motor wurde nun von einem Scheinwerfer beleuchtet. Das Blitzen hatte aufgehört. Der Propeller drehte sich normal. Der Vogel schien, soweit das in dem Schneetreiben feststellbar war, normal in der Luft zu liegen. Das beruhigte mich und ich wies die erschrockene Soile darauf hin. Es vergingen einige Minuten, in denen beklommenes Schweigen in der Kabine herrschte. Erst danach meldete sich die Stimme des Kapitäns. „Meine Damen und Herren, es tut mir leid, wenn Sie erschrocken sind. Wir haben kleinere Probleme durch Propellervereisung. Wenn es knallt, fliegen kleine Eispartikel von den Propellerblättern gegen die Seitenwand. Da kann aber nichts passieren, denn die Wände sind in dem Bereich eigens dafür verstärkt. Sie müssen sich also keine Sorgen machen. Trotzdem haben wir uns entschlossen, die Tauern nicht zu überqueren. Stress haben wir heute schon genug gehabt. Wir werden in Salzburg landen, in etwa zwanzig Minuten. Danke für Ihr Verständnis.“ Gemurmel ging durch die Kabine. Niemand wollte nach Salzburg. Dennoch hofften alle, sicheren Boden unter den Füßen zu haben, egal wo. Die Erklärung mit dem Eis überzeugte mich nicht. Und die Blitze? Und das Vibrieren? Vielleicht durch die eisbedingte Unwucht der Rotorblätter? Und das seltsame Motorgeräusch? Die sagen uns nur die halbe Wahrheit, mutmaßte ich, aber Soile sagte ich das nicht. In Helsinki wurden die Maschinen vor dem Abflug gründlich enteist. In Zürich war das offenbar nicht für erforderlich gehalten worden. Der auf den Motor gerichtete Scheinwerfer war nun wieder aus. Es schneite wie zuvor. Wir befanden uns spürbar im Sinkflug, aber nicht geradlinig, sondern in lauter weiteren und engeren Kurven und auf und ab. Meiner Ansicht nach wurde die Bombardier händisch gesteuert. Vergeblich versuchte ich die Berge zu erkennen, die sich unter uns – oder, Himmel! neben uns? – befinden mussten. Die Schneeflocken rasten am Fenster vorbei. Das Hüpfen durch die Kurven erweckte in mir die Vorstellung, der Pilot versuchte, die Maschine durch enge, verwinkelte Täler zu steuern, ohne dessen Ränder zu touchieren. Das war nicht normal. Es rumpelte und an den Besenstielen hängend erschien das Laufrad. Kurz vor dem Aufsetzen wird bei einem modernen Düsenflugzeug noch einmal Gas gegeben. Nicht bei der Bombardier. Die fliegt mit gleichbleibender Drehzahl an die Piste heran und platscht auf sie auf wie eine Stockente bei der Wasserung. Das ist normal. Während der Bremsung, die wahrscheinlich wegen der Schneelage sachte ausfiel, stellte ich fest, dass der Flughafen abgesehen von der Befeuerung der Piste und der Taxiways in völligem Dunkel lag. Keine Vorfeldbeleuchtung, das Gebäude ganz ohne Licht. Das war nicht normal. War das überhaupt Salzburg? Auf der Fahrt über die Rollbahnen meldete sich der Captain nochmals. Er forderte uns auf, sitzen zu bleiben, bis das Bordpersonal die Tür öffnen würde. Die Bombardier hielt unweit des Gebäudes mit der Aufschrift ‘Salzburg Airport’. Die Bordtür blieb geschlossen. Man wartete, holte Oberbekleidung und kleine Gepäckstücke aus den Ablagen. Die Tür blieb zu. Dafür konnte man sehen, wie hinter der halb offenen Cockpittür die Piloten geschäftig die nach dem Ende des Fluges vorgesehenen Tätigkeiten verrichteten. Bald gewann die Ungeduld Oberhand über die Genugtuung, noch zu leben. Das Bordpersonal konnte die ungehaltenen Fragen der Passagiere nicht beantworten, mahnte in strengem Ton zu Geduld. Nach einer Viertelstunde kam ein gelbes Flughafenauto daher und hielt vor dem Gebäude. Ein winterlich gekleideter Mann stieg aus, hantierte an der Gebäudetür, die sich darauf öffnete. Er verschwand im Gebäude und machte das Licht an. Wenig später gingen auch an einigen Masten der Vorfeldbeleuchtung die Scheinwerfer an. Kurz darauf kam ein Shuttlebus um die Gebäudeecke und hielt neben der Bombardier. Jetzt endlich öffnete die Flugbegleiterin die Bordtür, um uns aussteigen zu lassen. Die Bombardier benötigt keine extra Gangway, in der Tür sind ein paar Stufen eingebaut, die, umgeklappt bis zum Boden reichen. Wir stiegen aus. Die dichten Schneeflocken bewogen uns zu raschen Schritten durch den zehn Zentimeter hohen Schnee hinüber in den Bus. Dabei machte uns die Steifheit nach dem vielen langen Sitzen an diesem Tag zu schaffen. Der Bus drehte eine enge Kurve und hielt nach lächerlich kurzer Fahrstrecke so weit vom Gebäude entfernt, dass der Weg dorthin immer noch recht lang war. Kaum war der letzte Passagier ausgestiegen, fuhr der Bus wieder weg. Wir stapften durch den Schnee.


Die weite Halle war menschenleer. Man forderte uns auf, die Wartestühle zu benutzen. In einer Ecke befand sich ein kleines Café. Geschlossen. Es gab nichts. Keine Stärkung. Wenigstens war eine Toilette offen. Die Piloten befanden sich noch im Cockpit. Ich konnte gut erkennen, dass einer von ihnen ein lebhaftes Gespräch führte, offenbar über das Funkgerät. Etwas später, es fehlte nicht viel auf Mitternacht, kam eine kleine Zugmaschine mit angehängtem Gepäckwagen. Die Zugmaschine war ein uralter Traktor, der auf jedem Bauernhof als Oldtimer angesehen worden wäre. Das seltsame Gefährt hielt an der Bombardier. Der Traktorlenker lud zuerst das Handgepäck aus, das mehrere Passagiere nicht in die Kabine mitnehmen hatten wollen. Unser Gepäck war von Helsinki bis Klagenfurt durchgecheckt und befand sich – hoffentlich – im Laderaum. Der Gepäckwagen brachte das Handgepäck zur Gebäudetür, wo die Eigentümer es entgegennahmen. In dem Traktorfahrer erkannte ich denselben zivil gekleideten Mann, der zuvor den Shuttlebus gefahren hatte. Eine schwarze Wolke ausstoßend kehrte der Traktor zum Flugzeug zurück. Der Fahrer begann, das eingecheckte Gepäck auszuladen. Die Passagiere fragten sich, was nun geschehen sollte. Einige hofften auf einen Bus zum Weitertransport, andere auf ein Hotelzimmer zum Übernachten. Die Piloten hatten inzwischen die Bombardier verlassen und waren ebenfalls in die Abfertigungshalle gekommen. Der Captain erklärte, wir würden sehr bald den Flug mit einer anderen Maschine, die sich hier befände, fortsetzen können. Bis dahin möchten wir uns gedulden. Wieder nach einiger Zeit erschien ein Kleinbus mit einigen Arbeitern vor der Halle. Die Piloten stiegen zu und der Wagen kurvte über das Rollfeld zu einer von zwei anderen Tyrolean Bombardiers, die in größerer Entfernung parkten. Die Piloten stiegen ein. Im Flugzeug ging Licht an. Die Arbeiter kletterten über mitgebrachte Leitern mit Besen bewaffnet auf die Maschine und kehrten den Schnee ab. Indessen umkreiste einer der Piloten die Bombardier, inspizierte verschiedene ihrer Vorrichtungen und drehte an den Propellern. Der Gepäckwagen fuhr mit den ausgeladenen Koffern um eine Gebäudeecke und war damit außer Sicht. Einige Zeit später tauchte er immer noch beladen wieder auf. Jetzt zog er hinter dem Gepäckwagen noch ein kleineres Vehikel nach, einen fahrbaren Kasten ähnlich einem Druckluftkompressor. Der Zug bewegte sich auf die entferntere Maschine zu, die inzwischen abgekehrt war. Die Arbeiter legten ein Kabel vom fahrbaren Kasten, offenbar einem Startaggregat, zum Flugzeug, während der Traktorfahrer das Gepäck verlud. Wahrscheinlich, jedenfalls aber hoffentlich, war die Maschine ausreichend betankt, denn ein Tankvorgang fand nicht statt. Ich fand das alles nicht normal, denn ich hatte immer gehört, dass die Treibstoffmenge für jeden Flug eigens berechnet und aufgenommen wird und dass jeder Flug im Detail mit der Flugbetriebsleitung abgestimmt sein muss. Das hier kam mir vor, als würde man einen Ersatzbus aus der Remise holen, um einen defekten zu ersetzen. Ich konnte sehen, wie der eine Propeller langsam begann such zu drehen, dann auch der zweite. Die Drehzahl stieg rasch und mit ihr das typische Brummgeräusch der Bombardier. Die Bodenfahrzeuge entfernten sich. An dem Flieger gingen Scheinwerfer und Positionslichter an. Er begann zu rollen und kurvte auf die Abfertigungshalle zu. Unweit der alten Maschine hielt er an. Die eine Flugbegleiterin stelzte in ihren Stöckelschuhen durch den Schnee dorthin. Die Tür öffnete sich und die kleine Stiege wurde heruntergeklappt. Indessen war der Gepäckzug von der Szene gefahren. Dafür erschien wieder der Shuttlebus, um uns Passagiere und die andere Flugbegleiterin die kurze Strecke zum Boarding zu fahren. Diesmal wurde kein Handgepäck in den Frachtraum aufgenommen. Es musste alles in die Kabine. Zum Glück gab es etliche freie Plätze. Bevor sie die Tür schlossen, zählten die uniformierten Damen die Passagiere ab und der Besenstangler rollte über das Flugfeld. Es war unangenehm kalt in der Kabine. Wenigstens waren die Motorengeräusche solche, die mir normal vorkamen, im Vergleich zu dem, was ich heute schon gehört hatte, fast geschmeidig. Wenn hier etwas über Gebühr zitterte, war das der eine oder andere Passagier. Ich fragte mich, ob man bei einer Schneelage von zehn Zentimeter starten konnte, ohne die Räder durch Snowboards zu ersetzen. Offenbar ging das. Wir flogen.


Mama ging es gut in ihrer Bombardier. Sie weimberlte sich sofort bei der Flugbegleiterin ein. Sie durfte sogar für ein paar Minuten ins Cockpit. Das hätte mir einmal passieren sollen! Trotzdem flog sie nur zwei, drei Mal. Es zahlte sich nicht aus. Die ganze Reise mit Anfahrt zum Flughafen, die Wartezeiten, die Abholung aus Klagenfurt, dauerte gleich lang wie die Fahrt mit der Bahn. Sie fuhr mit Seniorenrabatt, aber erster Klasse. Und es gab immer irgendwelches Publikum für die eine oder die andere Rolle.


Mamas Stürze in Hohenthurn gehörten zum Programm. Sie stürzte in ihrem Zimmer über ‘Drahtgitter’, auf einsamen Spaziergängen über vereiste Dorfstraßen, im Garten über hinterhältige Unebenheiten. Jedes Mal behauptete sie zuerst, es sei ihr sicher nichts Ernstes passiert und jedes Mal brachte ich sie schließlich doch nach Villach ins Krankenhaus. Und jedes Mal kehrten wir mit einem mehr oder weniger großen Verband zurück. Bei den vielen Nachbehandlungen hätten wir stundenlang im Wartesaal sitzen müssen. Da lernte ich, wie man es schafft, solches zu vermeiden. Schon bei der Ankunft in der Ambulanz musste ich für sie einen der Rollstühle nehmen, die für Gehbehinderte bereitstanden. Sie setzte sich hinein und ließ sich von mir in die Nähe der Tür schieben, wo in kurzen Abständen medizinisches Personal auftauchte. Den Erstbesten oder die Erstbeste, die vorbeikam, redete sie an. Es gelang ihr immer, die Person in ein Gespräch zu verwickeln, aus dem er oder sie nicht mehr so leicht herauskam. Sie ließ die Person nicht weitergehen, bevor er oder sie versprochen hatte, sich für Mama um bevorzugte Reihung einzusetzen. Was mich am meisten wunderte: Es klappte. Immer. Natürlich hatte Mama die Person um ihren Namen gefragt. Bei der nächsten Nachbehandlung fragte sie gezielt nach dieser Person. Mit etwas Glück hatte diese Dienst und erschien alsbald. Mama steckte ihr ein kleines Mitbringsel zu, in dem Schokolade und ein kleiner Geldbetrag verborgen war. Und wieder war die Wartezeit kurz. Ich erinnerte mich an Tinos Chanson, das Mama oft gesungen hatte. Es hatte die kleine, alltägliche Korruption zum Thema. „…wer gut schmiert, der gut fährt…“ Tino hatte es geschrieben als Gesellschaftskritik. Für Mama aber war es angewandte Kunst. Sie begnügte sich nicht mit der Fürsprache durch die kleinen Fische. Während der Behandlung weimberlte sie sich bei den Ärzten ein, insbesondere bei einem von ihnen, und gewann damit seine besondere Aufmerksamkeit ebenso wie bevorzugtes Drankommen. Mama musste nur dafür sorgen, dass jemand diesen Arzt über ihre Anwesenheit informierte. Schon ging alles wie geschmiert.


Die Methode funktionierte nicht in den Wartezimmern der niedergelassenen Ärzte. Die Patienten in den vollen Wartezimmern passten auf wie die Luchse, dass keiner sich vorschwindle. Die Assistentinnen konnten es sich nicht erlauben, Mamas Versuchen Vorschub zu leisten. Man hätte sie gelyncht. Daher ging Mama dazu über, die Ärzte ins Haus kommen zu lassen. Auf diese Weise lernte ich alle Ärzte der näheren und weiteren Umgebung kennen. Sie hatte endlich einen gefunden, der bereit war, ihr Oxycodin zu verschreiben. Ich holte von Zeit zu Zeit das Rezept aus der Ordination. Es war mit einem fälschungssicheren Siegel versehen. Mama brauchte auch mehrere andere Medikamente, die zu ganz unterschiedlichen Zeiten zur Neige gingen, sodass ich die Ordination ziemlich oft besuchen musste. Dabei wartete ich immer geduldig, bis die Reihe an mir war. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass die Assistentinnen mich schief anschauten.


Mama war eine schwierige Patientin bei uns zuhause und im Krankenhaus. Nach der Übergabe von Claims an Michaela nutzte diese wie vereinbart unser Untergeschoß weiter als Büro. Hanna blieb noch eine Weile, bis Michaela mitbekam, dass Hanna ihr nicht die wertvolle Hilfe war, die sie benötigte. Hanna, die unerschütterlich Positive, orientierte sich noch einmal vollständig um und absolvierte Kurse in Richtung Krankenpflege. Nachdem sie ihre Prüfungen bestanden hatte, arbeitete sie als ambulante Heimhilfe für das Hilfswerk. Inzwischen wurde klar, dass Mama trotz Mohammeds Hilfe unmöglich länger allein in ihrer Wiener Wohnung bleiben konnte. Michaela stand jetzt mit Claims auf stabilen Beinen und fand ein sehr schönes und repräsentatives Büro für ihren Betrieb in Villach. Wir bauten die Büroräume im Untergeschoß um zu einer hübschen Wohnung mit Bad und Küche und holten Mama zu uns nach Hohenthurn. Es kostete uns einige Mühe, sie dazu zu bewegen, nur das Nötigste mitzunehmen. Was sie mitnahm, bestand im Wesentlichen aus alten Fotos und Kritiken aus ihrer Theaterzeit. Den restlichen Inhalt der Wiener Wohnung überließen wir Mohammed zur Verwertung nach seinem Gutdünken.


Für Mamas Pflege ließen wir Heimhilfen vom Hilfswerk kommen. Eine der Helferinnen war Hanna. Sie bemühte sich besonders um Mama, wusch sie in der Dusche und brachte zuhause Gekochtes mit, stieß dabei aber auf wenig Gegenliebe. Zu grob das Essen, zu grob die Körperpflege. Wahrscheinlich hatte Hanna zu wenig Interesse an Mamas Doku aus der Theaterzeit bekundet. Wie die anderen Helferinnen musste sie jede Tätigkeit in einem Protokollbuch genau dokumentieren. Hanna hielt nur den offiziellen Teil ihrer Verrichtungen fest, was darüber hinausging fand keine Erwähnung. Die anderen jungen Frauen bereiteten Mama ihr Käsebrot und protokollierten, während Mama aß, “nettes Gespräch gehabt”. Einmal die Woche kam eine diplomierte Krankenschwester vorbei und ordnete Mamas Pillen für die nächsten sieben Tage ein in einen Dispenser. Die Medikamente hätte sie zuvor vom Hausarzt beschaffen sollen. Das gelang selten fehlerlos. Ich erklärte mich bereit, Fehlendes nachzubeschaffen. Außerdem musste ich Mama bei der Einnahme der Tabletten überwachen, weil sie sich versehentlich oder auch absichtlich nicht an die Verschreibungen hielt. Insbesondere ihre Oxycodin verschwanden auf unerklärliche Weise in Überzahl, wenn ihre Schmerzen danach verlangten oder in tausend geheimen Verstecken, um im Notfall auf Vorrat zurückgreifen zu können. Nach einiger Zeit fand ich die Zweigleisigkeit zwischen Tätigkeit der Diplomschwester und mir selbst unsinnig und machte das hinfort alleine.


Mama liebte es, auf der Terrasse in der frischen Luft zu sitzen. Es war ihr egal, ob es heiß war, eher kühl oder auch schon recht kalt. Jedenfalls wickelte sie sich in dicke Decken ein gegen die eisige Luft oder gegen die Sonne. Der alte Strohhut durfte niemals fehlen. Den Liegestuhl konnte sie weder einstellen, noch seine Position verändern, wenn das nötig war, bedurfte es immer unseres Einschreitens, desgleichen wenn die Lage des Sonnenschirms verändert werden musste. Wir hatten ein Modell gekauft, welches mit einer Handkurbel eingestellt werden konnte. Es stellte sich aber heraus, dass das Kurbeln zu schwergängig für Mama war. Kein Wunder, wenn sie selber kurbelte, war sie nicht in Gesellschaft. Um Mama etwas Bewegung zu verschaffen, marschierte ich mit ihr am Arm den Richterweg auf und ab. Anfangs schritt sie tapfer aus und wir schafften mehrere Distanzen am Stück. Später waren wir froh, es einmal hin und her zu schaffen, wobei Mama begann, das Nachbarhaus mit unserem zu verwechseln.


Es ließ sich nicht vermeiden, dass Mama hin und wieder ins Krankenhaus musste. Die Erfahrung zeigte, dass sich ihre Auftritte zur Wartezeitvermeidung erübrigten, wenn sie mit dem Krankenwagen eingeliefert wurde. Diese Patienten kamen sofort zur Behandlung. Wenn das Team mit dem Rollstuhl oder der Bahre sie von zuhause abholte und vorschriftsgemäß Mamas Blutdruck oder Sauerstoffsättigung messen wollte, musste es sich Mamas in Bühnendeutsch forsch deklamierte Frage gefallen lassen: “Sind Sie Arzt?” Wenn ich sie im Krankenhaus besuchte, fragte sie mich, was für eine Bahnlinie das wäre, deren Geleise da vor der Station vorbeiführten. Selbstverständlich gab es da keinen Gleiskörper. Mamas Venen waren schwach ausgebildet. Es war für das Personal äußerst schwierig, einen Venenweg zu legen. Daher fragte sie jedes Mal vorher nach: “Können Sie stechen?” Oder sie deutete mir, mich zu ihr zu beugen, damit sie mir ein Geheimnis anvertraue: “Weißt, Rainer,“ flüsterte sie, „das hier ist gar kein Krankenhaus, die tun nur so!” Damit meinte sie, die spielen da ein Stück, das in einer Klinik angesiedelt ist. Und sie spielte mit.


Das Finale der Opera comique erlebten Soile und ich, als wir in einem Geschäft in Arnoldstein einkaufen waren. Das Krankenhaus rief an. „Es tut mir leid, Herr Richter, aber wir müssen Ihnen mitteilen, dass Ihre Mutter vor zwei Stunden verstorben ist.“ Wir fuhren eilig nach Villach, obwohl für Eile keine Veranlassung mehr gegeben war. Auf der Station schienen die Schwestern erschrocken, dass wir schon da waren. Wir müssten uns etwas gedulden. Nach einer halben Stunde wies man uns in eines der Zimmer. Mama lag friedlich in einem Krankenbett, die Decke bis an den Hals, die Augen geschlossen. Für diesen Abgang hatte man sie noch einmal frisch aufgeschminkt. Mama spielte mit. Sie hielt den Atem an und zuckte mit keiner Wimper. 

***

Was für eine Vorstellung haben Sie von einem Krankenzimmer der Allgemeinen Klasse in einem öffentlichen Krankenhaus? Abgesehen von ein paar Tagen in Udine habe ich keinerlei persönliche Erfahrungen mit einem stationären Aufenthalt. Meine Vorstellungen beruhen daher auf den häufigen Besuchen bei meiner Mutter im Krankenhaus Villach. Sie lag auf der geriatrischen Station wegen ihrer allgemeinen Altersschwäche. Die Ärztin machte mir nichts vor über ihren besorgniserregenden Zustand. Das Krankenzimmer beherbergte vier Betten, die alle belegt waren. Durch ein Fenster blickte man auf die Wände des benachbarten Gebäudes. Neben den Betten je ein Nachtkästchen. Vor dem Fenster ein kleines Tischchen mit drei Stühlen.


Mit solchen Erwartungen folge ich Jahre später einer Krankenschwester durch einen Flur, der genauso aussieht wie seinerzeit jener vor dem Krankenzimmer meiner Mutter. Ich gehe auf eigenen Beinen, müde von einem ganzen Tag, den ich zunächst noch ambulant in der Neurologie C zugebracht habe mit diversen Untersuchungen und langen Wartezeiten dazwischen. Mein Zustand ist schlecht. Es ist der vierte Tag, an dem ich nichts gegessen habe, weil allein der Gedanke an Essen mir Übelkeit bereitet. Gegen Abend endlich die Entscheidung mich stationär aufzunehmen. Im Zuge der Aufnahme werden manche der Untersuchungen, denen ich schon ambulant unterzogen worden bin, wiederholt. Dann endlich bringt man mich auf die Station. Das Zimmer ist geräumig. Von den fünf weit auseinander stehenden Betten ist nur eines belegt, das von der Gangtür am weitesten entfernte. Es steht vor einem der beiden Fenster, zwischen ihnen eine offene Tür. Ich entscheide mich für das Bett vor dem zweiten Fenster. Bei meinem Eintreffen wird gerade das Tablett mit dem Abendessen meines Zimmerkameraden abgeräumt. Ich mache mich mit ihm bekannt. Der rundliche ältere Herr Boder ist ein freundlicher Typ. Neben den Betten die erwarteten Nachtkästchen, aber anscheinend keine Sitzmöbel zum Essen oder für Besuche. Weshalb die fehlen, wird mir klar, als ich einen Blick durch die offene Tür zwischen den Fenstern werfe. Sie führt zu einem weitläufigen Wintergarten mit vier Esstischen. Zwei davon gehören zum Nebenzimmer, das durch eine weitere Tür zugänglich ist. Der Wintergarten ist begrünt mit Topfpflanzen und einer bequemen Sitzgarnitur versehen. Durch raumhohe Schiebetüren kann man ins gartenähnliche Freie treten, wo grobe Holzbänke an ebensolchen Tischen zum Verweilen einladen. Refugium für die Raucher. Wir haben Hochsommer. Es ist sehr warm. Die Türen stehen alle offen. In meinem übermüdeten und geschwächten Zustand nehme ich nur am Rande wahr, was das hier für eine Luxusklinik ist. Kein übliches Sonderklassezimmer kann damit konkurrieren. Richtig bewusst wird es mir erst in den nächsten Tagen werden, sobald Hunger und Schlafbedürfnis einigermaßen gestillt sein werden.


Im Lauf des Abends füllt sich mein Krankenzimmer doch noch. Kurz nacheinander treffen zwei weitere ältere Herren ein. Herr Hanke wählt das Bett neben der Tür und Herr Kandulf jenes neben Boder. Beiden Neuankömmlingen bin ich während meiner ambulanten Odyssee tagsüber mehrmals begegnet. Offenbar haben sie mein Schicksal geteilt. Ich belege mein Kleiderschränkchen und schlüpfe in mein Bett. Eine hübsche junge Krankenschwester legt mir einen Venenweg und verpasst mir zwei Infusionen. Als danach die Flaschen abgehängt werden, bin ich schon eingeschlafen.


Mein Schlaf währt nicht lange. Meine Krankheit bedingt oftmaliges Aufstehen in der Nacht. Durch die Fenster und die Tür fällt von draußen schwaches indirektes Licht. Mit starken Rückenschmerzen schleppe ich mich jedes Mal zum Bad, bemüht, keinen Zimmergenossen zu wecken. Die stöhnen und schnarchen um die Wette. Concerto grosso. 


Das Wecken kurz vor sechs Uhr ist mir nicht zu früh. Eine Pille zum Magenschutz. Neuerlich Infusionen. Antibiotikum, Schmerzmittel und Kochsalz Die Schwestern haben alle Schwierigkeiten, meine Venen anzuzapfen. Ich verbeiße mir die Frage, ob sie stechen können. Danach kommt das Frühstück. Semmel, Mürbteigkipferl, Hotelportionen Butter und Marmelade, Kaffee. Man fragt uns, ob wir das Tablett ans Bett haben wollen oder hinaus in den Wintergarten. Meine Kochsalzlösung ist noch nicht durch, also bleibe ich im Bett. Zu meinem Erstaunen habe ich Appetit. Kein Übelkeitsgefühl. Im Gegenteil, die Buttersemmel schmeckt vorzüglich. Auch der Kaffee ist nicht schlecht. Schon bin ich konvertiert vom notorischen Nichtfrühstücker zum Buttersemmelliebhaber. Es geht Schlag auf Schlag. Die Frühstückstabletts werden abserviert. Das Pflegepersonal kommt Blutdruck und Temperatur messen, gibt Medikamente aus. Ärztliche Visite. Die Neuankömmlinge werden nur nach dem Befinden und nach allfälligen Schmerzen befragt. Boder hingegen ist reif zur Entlassung. 


Erste Szene

Ich, Hanke, Kandulf, Boder, Schwester Tanja, Pfleger Stefan, Pflegerin.

Das Krankenzimmer aus meiner Sicht. Im Vordergrund das Fußende meines Bettes. Dort die zusammengeschobene Bettdecke, wegen der Hitze nicht verwendet. Auf dem Nachttischchen eine Plastikflasche mit Wasser und ein Plastikbecher mit Strohhalm. Mein Handy. Links neben mir in reichlichem Abstand zwei weitere Betten. Das unmittelbar benachbarte ist leer und frisch gemacht. An der Wand mit der offenstehenden Eingangstür steht das Bett mit Hanke. Ihm gegenüber die Reihe schmaler Schränke für die Sachen der Patienten. Daneben die Tür zum Bad. An der Wand mir gegenüber zwei Betten. Auf dem linken sitzt Kandulf und liest ein Buch. Auf dem Umschlag ein Portrait von Papst Franziskus. Daneben auf dem Bett an der Fensterwand, also gegenüber dem meinigen, steht die Reisetasche Boders, der ein paar Utensilien darin verstaut. An der Fensterwand zwischen meinem und Boders Bett die offenstehende Tür zum Wintergarten.


Schwester Tanja: Nur nix vergessen. Alles schön einpacken! Und lassen Sie den Schirm nicht stehn. Haha. Da, die Brille!


Boder: Die setz ich auf. Sonst sag ich noch Herr Doktor zu ihnen. Alle lachen.


Boder: Setzt die Brille auf und nimmt die Tasche. So, das wär’s dann. Ich wünsch euch allen weiterhin einen schönen Urlaub und lasst mir meine Tanja in Ruh! Geht zur Eingangstür.


Alle durcheinander: Alles Gute, Boder! Mach’s gut, Boder! Hals- und Beinbruch!


Boder und Tanja ab.


Kandulf: legt das Papst-Buch auf das Nachtkästchen und beginnt zwischen den Betten auf und ab zu gehen. Sein Rücken ist gekrümmt, der Schritt rastlos. Er geht hinüber zu Boders leerem Bett und starrt einen Augenblick auf den Kopfpolster, so als würde Boder noch dort liegen. Dann geht er auf mich zu und starrt mich an, darauf hinüber zu Hanke und starrt ihn kurz an. Schließlich kehrt er zu seinem Bett zurück, setzt sich und liest weiter.


Pfleger Stefan: tritt ein, aus der Tasche seiner weißen Jacke hängt der Schlauch eines Stethoskops. Er tritt an Hankes Bett. Bitte Blutdruck messen, Herr Hanke. Misst Hankes Blutdruck. Hundertfünfzig zu fünfundsiebzig. Notiert die Ziffern auf einem Zettel. Und die Temperatur. Hält Hanke das Messgerät vor die Stirn. 38,2 – zu hoch. Notiert.


Pflegerin: tritt ein mit einem Servierwagen. Kaffeeee! Ans Bett oder draußen? Serviert allen ans Bett.


Pfleger Stefan: misst Blutdruck und Temperatur auch an mir und Kandulf.


Pflegerin und Pfleger Stefan ab.

 

Zweite Szene

Ich, Hanke, Kandulf, Juham, Schwester Tanja, Pflegerin

 

Pflegerin: schiebt Juham auf einem Rollstuhl sitzend herein zu Boders ehemaligem Bett.


Schwester Tanja: folgt den beiden. So, Herr Juham, da haben Sie ein schönes Platzerl. Dort das Kästchen mit der Nummer 4 gehört Ihnen. Da ist das Bad und dort geht’s zum Wintergarten. Da haben Sie Handtücher und unseren berühmten Pyjama von Lagerfeld. Brauchen Sie Hilfe beim Auskleiden oder im Bad? Wenn Sie irgendwas brauchen, läuten Sie nur, da ist der Knopf. Will abgehen.


Juham beginnt sich umzuziehen.


Hanke: wendet sich an Schwester Tanja, als diese an seinem Bett vorbeikommt. Schwester, könnt ich einen Rollator kriegen? Ich tu mir so schwer zum Bad. Die Schmerzen…


Schwester Tanja: Werd schauen.


Hanke: Und bitte was zum Abführn. Hab schon drei Tage keinen Stuhl ghabt.


Schwester Tanja: Heute Abend gibt’s Bananenmilch. Ab.


Hanke zu mir über das leere Bett hinweg: Man muss aufpassen, dass man keinen Darmverschluss kriegt.


Ich: Versprich dir nicht zu viel von der Affenmilch. Hab ich auch bekommen. Wirkung gleich Null. Ist aber kein Wunder, ist ja nix drin. Außerdem, bei mir war’s nie regelmäßig. Ein paar Tage ohne, keine Seltenheit.


Schwester Tanja kommt mit einem Rollator an Hankes Bett: Schauen S‘, Herr Hanke, Ihr neues Auto. Komplett emissionsfrei! Führerschein haben S‘ ja wohl?


Hanke schaut das Vehikel skeptisch an. Es dürfte ein Vorkriegsmodell sein (vor dem 1. Weltkrieg). Vorne zwei kleine Räder, hinten keine Räder, nur Stützrohre mit Gummifüßen. Danke, werd schon zurechtkommen. Setzt sich auf an den Bettrand, ergreift die Handgriffe des Rollators, zieht sich stöhnend hoch, stellt sich in Position, macht einige Schritte. Die Gummifüße schleifen über den Boden, machen ein quiekendes Geräusch.


Schwester Tanja: Na also, geht ja.


Hanke: Wenigstens braucht man keine Bremse. Er beschreibt einen Kreis, kehrt an sein Bett zurück, legt sich neuerlich stöhnend hin.


Juham aufgeregt zu Kandulf: Jessas, Nachbar!


Kandulf: Kandulf mein Name. Servus im Club.


Juham: Ich hab mein Handy net mit. Das liegt in meinem Auto. Brauch ich aber ganz dringend. Muss ein paar Verständigungen tätigen. Kannst mir deines borgen?


Kandulf nimmt sein Handy vom Nachtkästchen und hält es Juham hin. Kannst du haben. Bis es leer ist. Laden kann ich net. Ist ganz neu. Kenn mich noch net aus.


Juham nimmt das Handy. Aha, ein Seniorenhandy. Sehr gut. Du hast net zufällig die Nummer von meinem Bruder gespeichert?


Kandulf: Naa, wieso?


Juham: Na ja, ich muss ganz dringend mit ihm reden. Ma, woher krieg ich jetzt die Nummer vom Franzl? Schaut verzweifelt auf das Display des Handys.


Kandulf: Ich glaub, da kann dir keiner helfen.


Juham: Ich habs! Der Franzl ist angegeben als mein nächster Angehöriger. Auf meiner Akte muss die Nummer stehen. Läutet nach der Schwester. – Wartet eine Weile, läutet dann aufs Neue.


Hanke schlüpft aus dem Bett, klemmt sich hinter den Rollator. Mir scheint, jetzt geht’s. Bewegt sich quiekend aufs Bad zu.


Juham zu Kandulf: Muss dringend aufs Klo. Wenn die Schwester kommt, frag bitte nach der Nummer vom Franzl. Verschwindet im Bad.


Hanke mit dem Rollator vor der versperrten Tür zum Bad. Kehrt um, quiekt zurück zu seinem Bett und legt sich hinein.


Ich: Wird ja gleich fertig sein, der Juham.


Hanke: Naa, jetzt hat er mir’s verscheucht.


Schwester Tanja tritt auf. Wer hat geläutet?


Kandulf: Der Juham. Er braucht die Nummer vom Franzl. Steht auf seiner Krankenakte.


Schwester Tanja: Wo ist denn der Juham?


Kandulf: Klo.


Juham kommt aus dem Bad. Jö, Schwester, ich brauch ganz dringend die Nummer von meinem Bruder. Muss auf meiner Akte stehen. Ich hab mein Handy net mit und der Kandulf hat die Nummer vom Franzl in seinem net gespeichert.


Schwester Tanja: Das ist aber jetzt blöd. Die Nummer darf ich nur dem Juham geben.


Juham: Ja, eh. Ich telefonier eh selber mit dem Franzl.


Schwester Tanja: Ja, aber dann hat der Kandulf die Nummer auf seinem Handy. Und die darf er net haben.


Juham: Schau Madl, das ist ein Notfall. Und der Kandulf kann alle meine Nummern haben. Ist mir wurscht.


Schwester Tanja: Habts es alle gehört. Das war eine Einverständniserklärung. – Zu Hanke: Da ist übrigens Ihre Bananenmilch, Herr Hanke. Gleich einnehmen und viel Wasser hinterher. Reicht Hanke einen kleinen Becher mit weißer Flüssigkeit und geht ab.


Kandulf zu Juham: Was brauchst denn so dringend vom Franzl?


Juham äußerst erregt: Der Franzl muss mir die Nummern von sämtlichen Nachbarn daheim durchgeben. Die muss ich alle anrufen nach der Reih‘.


Kandulf: Ja wieso denn? Kann ihnen doch der Franzl sagen, dass du im Krankenhaus bist.


Juham: Das ist nämlich so: Heute Früh bin ich ins Auto eingestiegen. Wollte zum Lagerhaus, Zucker kaufen für meine Bienen. Die kriegen heuer viel zu wenig zum Sammeln bei dieser Trockenheit. Also muss ich zufüttern. Der Zucker im Lagerhaus ist viel günstiger als beim Lidl.


Kandulf: Du bist Imker? Ich auch.


Juham: Und? Bringen deine genug? Wie viele Völker?


Kandulf: Elf. Eines ist mir ausgebüchst. Zufüttern brauch ich net. Ist feucht genug bei uns am See. Und deine? Wo stehn die?


Juham: Spittaler Gegend. Die Nock nauf. Also ich fahr los, da krieg ich so ein komisches Gfühl, wie wenn ich angsoffen wär. War ich aber net. Hab echt nix getrunken. Aber gfahrn bin ich wie im Vollrausch. Hab echt Glück ghabt, dass ich in der Spitzkehre beim Koller-Bauern net den Steilhang nuntergrasselt bin. Ist net breit der Weg, aber den hab ich gebraucht von ganz rechts bis ganz links. Dann im Ort hab ich komische Geräusche ghört, wie ich den Zaun vom Zabuschnig gstreift hab und gleich vis-à-vis das Tor vom Engelke. Irgendwie hab ich die frisch gsetzten Stauden vom Lübke ausgegraben, dem Berliner Pensionisten, der was immer sagt, er ist ein Rentner, bevor mich der alte Traktor vom Nehiba gstoppt hat, der was auf dem Parkplatz vorm Friedhof gstanden ist. Zufällig ist der Bersch vom Weißhappl mit seinem Moped vorbeikommen und hat mich mitgnommen am Sozius zum Dokter. Der hat mir in die Augen gschaut und gleich die Rettung grufen. Jetzt muss ich die alle anrufen, den Zabuschnig und den Engelke und den Lübke und den Nehiba. Damit die keine Anzeige machen wegen Fahrerflucht. Meine Güte, hoffentlich haben die das noch net gmacht! Sonst bin ich gliefert. Hab meinen Führerschein erst vor drei Wochen von der BH zurückgekriegt. Und alles wegen dem bissl Honig!


Dritte Szene

Ich, Juham


Juham im Bett liegend telefoniert. Servas, Nehiba, alter Freind. Hast dich gwundert, wieso ich so patschert park vor dein Traktor. Na, wirklich net. Es war net in der Nacht. Es war a net zeitlich in der Fruah. Es war Vormittag. Mir ist auf amol so schwindlich wordn. Der Weißhappl-Bersch hat mi zum Dokter mitgnommen und der Dokter hat mi einliefern lassen. Jetzt untersuchens mi im Spital. Na, alles klar, wenn i hamkumm, kumm i bei dir vorbei und wir machen uns das aus wegn dem Kotflügel.

 

Was? Wegen de zwa altn Brettln machst dir jetzt in die Hosn? Die zwa morschn Planken san a Gfahr für die Passanten. Wenn aner straft, braucht er a Tetanus oder kriegt a Bluatvagiftung. Nächste Wochn kumm i und häng sie dir wieder auf. Lass mir deine Alte schön grüaßn und meine Kinda.

 

Engelke, mein Engerle. Ist mir vors Auto ghupft, der Steher von dein Türl. Hörst, wieso glauben alle, i war angsoffn? War euch no nia schwindlig? Nur wanns angsoffn warts? Hörts, das geht a ohne Saufn. Das waß i seit heute in der Fruah. Ja, wenns mi da außelassn, trink ma a Bier mitsammen. Sicha.

 

Bemüht sich um einwandfreies Hochdeutsch: Nein, nein, Herr Lübke, ich schwör Ihnen, ich bin nicht betrunken. Ich liege im Spital. Was? Also im Krankenhaus. Nein, nicht zur Ausnüchterung. Nein, verletzt bin ich auch nicht. Es war wegen dem Zucker. Nein, Herr Lübke, habe keinen Diabetes. Obwohl, bei diesem Schwindelanfall – man weiß es noch nicht. Herr Lübke – ja, Herr Lübke, ich weiß, es waren bei dreißig Setzlinge – was? Aha, vierundvierzig. Wie auch immer, Herr Lübke, ich komme – sobald ich hier fertig bin komme ich und zahle Ihnen die dreißig Setzlinge – ach ja, von mir aus vierundvierzig. Sie können mich beim Wort nehmen. Ich komme und zahle. Nein, Sie brauchen nicht die Polizei rufen. Sie kennen mich doch. Ich bin der, der mit meinem Bruder Franzl bei Ihnen die dreißig Kirschlorbeer gesetzt hat. Was? Ach ja, vierundvierzig. Mein Bruder kommt und setzt neue. Ja, ganz bestimmt. Da fahrt die Eisenbahn drüber. Ich meine, Sie können sich darauf verlassen. Aber sicher, Herr Lübke. Ich wünsche Ihnen viele schöne Tage im schönen Kärnten. 


Vierte Szene

Ich, Kandulf, Juham, Hanke, Schwester Tanja, Pflegerinnen, Pfleger Stefan


Schwester Tanja hat sich zu Kandulf auf den Bettrand gesetzt. Also, ich find das wirklich hochinteressant. In der Näh brauch ich sie ja nicht, die Viecher. Zum Schluss stechen sie mich noch. Aber das so zu hören von den Königinnen und den Bienen und den Männchen…


Kandulf: Drohnen. Die Männchen sind Drohnen.


Juham: Die Königin wählt sich einige Drohnen aus, die sie befruchten. Im Flug. Das war’s dann für die Drohnen. Sie überleben den Akt nicht. Aber auch die restlichen Drohnen haben’s nicht lustig. Sie werden von den Arbeiterinnen kurzerhand aus dem Stock geworfen. Die Königin aber beginnt mit dem Eierlegen.


Kandulf: Wenn du willst, zeig ich dir meine Bienenstöcke.


Schwester Tanja: Aus sicherer Entfernung, ja. Stechen euch die Bienen nicht, wenn ihr den Stock aufmacht?


Juham: Na ja, einen Imker, der noch nicht gestochen worden ist, gibt’s bestimmt net. Aber die Bienen kennen ihren Imker schon und tun ihm nichts.


Hanke läuft hinter seinem Rollator her zum Bad. Uije, Schwester, ich glaub, jetzt ist es sich nicht ausgegangen. Tut mir leid.


Schwester Tanja: Weil Sie außer der Bananenmilch unbedingt auch noch das Bittersalz nehmen haben müssen. Jetzt haben wir die Bescherung.


Ich: Wir wollen Stuhl! Wir wollen Stuhl!


Schwester Tanja: Ruhe! Sehn S‘ eh, wie das endet!


Zwei Pflegerinnen erscheinen, wechseln Hankes Bettwäsche.


Schwester Tanja verschwindet mit Hanke im Bad. Als beide zurückkommen, trägt Hanke eine Windel. Ja net ausziehn, die Pampers, sonst gibt’s kein Nachtmahl!


Pfleger Stefan: Abendessen! Kalter Schweinsbraten und Tee! Serviert Hanke und Juham die Tablette ans Bett, mir und Kandulf in den Wintergarten. Blutdruck messen, die Herren, und Temperatur. Wie schaut’s aus mit dem Stuhl?


Kandulf ignoriert sein Abendessen, dreht stattdessen wieder eine seiner seltsamen Runden. Schlurft an Hankes Bett und starrt ihn an, dann zu Juham, mit dem er gerade noch über die Bienen doziert hat, starrt auch diesen an wie einen Fremden. Dann weiterhin gebückt und schlurfenden Schritts und leeren Blicks durch die Tür zum Wintergarten.

 

Fünfte Szene

Ich, Al Khalif Nehib, Dr. Walder, Schwester Tanja, Pflegerin, Juham, Hanke


Pflegerin begleitet Khalif dessen Tasche tragend ins Zimmer, stellt Khalifs Tasche vor dem freien Kästchen ab, weist den kleinwüchsigen nahöstlich aussehenden Mann mit schwarzem Haar und schwarzem Bart an das freie Bett neben mir.


Al Khalif Nehib setzt sich an den Bettrand, schaut unglücklich umher.


Pflegerin versucht, Khalif die Örtlichkeit zu erklären. Das Handtuch. Dort Bad. Hier Glocke. Du drücken, ich kommen. Gibt den Versuch auf, weil Khalif verständnislos dreinschaut. Geht ab.


Ich bin erleichtert, weil ich an Khalif auf den ersten Blick keinen Sprengstoffgürtel feststellen kann, halte ihm den aufrechten Daumen entgegen. Rainer.


Khalif lächelt müde. Er setzt sich angezogen auf sein Bett.


Dr. Walder und Schwester Tanja erscheinen.


Dr. Walder zu Khalif: Do you have pain?


Khalif glotzt verständnislos.


Dr. Walder: Do you speak English?


Ich denke, hat man doch schon gesehen, dass nicht. Das Gespräch LH Platter – Alaba fällt mir ein.


Schwester Tanja zückt ihr Handy. Englisch-Arabisch-Übersetzer, wie komm ich da jetzt ran?


Ich denke, Deutsch-Arabisch wär ja leichter.


Schwester Tanja: Ah ja, da ist es ja. Tippt etwas ein und hält das Handy Khalif hin.


Khalif schaut auf das Display. Versteht nicht.


Dr. Walder und Schwester Tanja versuchen es noch ein paar Mal. Vergeblich. Beide ab.


Ich überlege, woher der Murl wohl herkommen mag. Das Personal müsste es doch eigentlich wissen. Ich schieße ins Blaue. Marocco? Khalif versteht nicht. Tunisia?


Khalif begreift, dass ich nach seiner Herkunft frage. Schüttelt den Kopf. Styria.


Jetzt verstehe ich nicht. Was? Steiermark?


Khalif undeutlich: Styria.


Ich habe einen Geistesblitz: Oh, Syria! Of course!


Khalif lächelt zustimmend.


Ich muss sofort an Gharibeh denken, den syrischen Teppichhändler. Irgendwie habe ich im Hinterkopf gespeichert, dass Frankreich bei der Entstehung des modernen Staates Syrien eine (unrühmliche?) Rolle gespielt habe. Parlez-vous francais?


Khalif: Un peu. Deutet mit einem kleinen Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger an, wie wenig. Immerhin. Der Mann spricht etwas Französich.


Ich: Vous devez dir ça aux le personnel.


(Auf welche Weise die Nachricht bis zu Dr. Walder gelangt ist, weiß ich nicht, doch plötzlich stehen Dr. Walder und Schwester Tanja vor unseren Betten)


Dr. Walder: Ich habe gehört, Al Khalif spricht etwas Französisch. Dürften wir Ihre Hilfe in Anspruch nehmen, um dem Patienten eine wichtige Frage zu stellen?


Ich: Mein Französisch ist auch nicht das Beste, aber, ja, versuchen wir es.


Dr. Walder: Hat er Bauchschmerzen?


Ich finde das Problem nicht allzu schwierig, zumal ich mich stark am Italienischen orientieren kann. -  Khalif!


Al Khalif zuckt zusammen. Habe ich ihn zu scharf angesprochen? Oder habe ich den falschen Namen verwendet? Hätte ich Nehib rufen sollen? Immerhin hört er mir aufmerksam zu.


Ich: Fait mal votre ventre?


Khalif deutet Zustimmung an.


Dr. Walder: Hat er erbrochen?


Ich: Vous avez vomiture?


Khalif stimmt neuerlich zu.


Dr Walder: Danke, das genügt. Verlässt mit Schwester Tanja eilig das Zimmer.


Ich: fühle mich unterbeschäftigt.


Pflegerin tritt ein und schiebt Khalif samt Bett aus dem Zimmer.

 

Sechste Szene

Ich, Pfleger Stefan, Juham, Kandulf, Schwester Tanja, vier Polizisten, drei Sanitäter, Hanke


Pfleger Stefan misst allen Patienten Blutdruck und Temperatur. Zu Kandulf: 38,8. A bissl hoch. Gibt einige Medikamente aus, die für die Einnahme vor der Nacht gedacht sind. So, dann gute Nacht allerseits.


Kandulf macht wieder seinen seltsamen Rundgang. Zuerst zu Hanke. Starrt auf das Namensschild an dessen Bett, dann Hanke ins Gesicht. Schlurft dann zu mir herüber, liest auch mein Namensschild und starrt mir mit leerem Blick ins Gesicht. Mit einem Ruck wendet er sich ab und schlurft zu Juham hinüber. Herrscht


Juham an: Das ist Versicherungsbetrug!


Juham: Was?


Kandulf erregt: Jawohl, Versicherungsbetrug. Gib’s zu!


Juham: Was für eine Versicherung? Was für ein Betrug?


Kandulf brüllt: Ihr habt mir mein neues Handy gestohlen!


Juham: Das hast du mir doch geborgt und ich hab’s dir zurückgegeben wie’s leer war.


Kandulf schlurft zu seinem Kasten, nimmt seine Tasche heraus, stopft den ganzen Inhalt des Kästchens achtlos in die Tasche, schlurft zu seinem Bett und leert den Inhalt der Tasche aus. Ich werd jetzt entlassen. Brüllt: Versicherungsbetrug!


Schwester Tanja eilt herbei. Was ist denn da los? Geht’s auch leiser? Die Leut wollen schlafen. Bemerkt den Haufen auf Kandulfs Bett. Ja mei, Kandulf, suchst was?


Juham: Der Kandulf geht ham.


Schwester Tanja: Ja, Kandulf, morgen gehen wir ham zu die Bienen. Ist aber noch a bissl Zeit bis dahin.


Kandulf brüllt: Diebstahl! Betrug! Versicherungsbetrug!


Schwester Tanja: Pscht! Leise! Was ist denn los, Kandulf?


Kandulf erregt: Sie haben mir mein neues Handy gestohlen. Beginnt wieder, im Zimmer umherzuschlurfen.


Schwester Tanja: Jetzt setz dich einmal da hin auf dein Bett, Kandulf. Dann schauen wir nach, wo dein Handy ist. Ok?


Kandulf brüllt: Versicherungsbetrug!


Juham: Es muss in seiner Tasche sein. Ich hab’s ihm zurückgegeben, wie’s leer war.


Schwester Tanja: So setz dich halt einmal nieder, Kandulf. Dann schaun wir gemeinsam nach, ob’s nicht in deiner Tasche ist.


Kandulf weinerlich: Vielleicht ist es in meinem Auto. Aber das haben sie auch gestohlen!


Schwester Tanja: Papperlapapp! Handy gestohlen, Auto gestohlen, von wo haben sie denn dein Auto gestohlen?


Kandulf: Wir sind alle in der Nacht in Villach gewesen in einem Nachtlokal mit ein paar Frauen. Dann war mein Auto weg.


S

chwester Tanja: Wer, wir alle?


Kandulf: Der Juham und die anderen zwei da. Und ein paar Frauen. Sein Schlurfen wird schneller.


Schwester Tanja: Jetzt setz dich halt einmal da her auf dein Bett. Betont: Zu mir!


Kandulf schaut die Schwester überrascht an, setzt sich zu ihr auf das Bett. Weint tonlos, aber tränenreich.


Schwester Tanja: Aber geh, Kandulf! Brauchst doch net weinen. Wirst sehn, ist alles noch da, dein Handy und das Auto. Nimmt seine Hand und streichelt ihm die Wange.


Kandulf scheint sich zu beruhigen.


Schwester Tanja: Und jetzt räumen wir alles wieder schön in den Kasten und gehen schlafen. Packt Kandolfs Utensilien in die Tasche und stellt diese in den

Kasten. So, Kandulf, und jetzt die Füße aufs Bett und schön schlafen. Morgen ist alles wieder gut.


Kandulf gehorcht.


Schwester Tanja streicht ihm übers Haar wie einem Kind, überzeugt sich, dass Kandulf ruhig atmet und verlässt die Szene.


Nach kurzem Schlaf wecken mich Stimmen.

Juham: Auweh! Hörst, Kandulf hör auf! Schleich dich! Oder willst mich umbringen?


Kandulf, der sich offenbar am schlafenden Juham zu schaffen gemacht hat, lässt von diesem ab. Verschwindet wortlos durch die Tür zum Gang.


Juham: Pfui Teufel, der hat mich gewürgt!


Schwester Tanja kommt eilig zur Tür herein. Sieht Kandulfs leeres Bett. Wo ist der Kandulf?


Juham: Dort hinaus. Deutet auf die Gangtür.


Schwester Tanja: ab.


Ich höre Tumult draußen auf dem Gang. Der Kandulf ist weg! Helft mir suchen! Er wird doch net schon draußen sein? Getrappel von eiligen Schritten. Wir müssen die Polizei verständigen! Hab ich schon gemacht!

Vom Nebenzimmer höre ich aufgeregte Stimmen. Da ist einer aus dem Fenster g‘sprungen! Oh, ah! Bewunderndes Entsetzen wie im Zirkus.

Ich bleibe im Bett und verfolge das Geschehen als Hörspiel. Vielleicht ist Kandulf in den dritten Stock geflüchtet und von dort aus dem Fenster gesprungen?

Dort ist er! Schaut’s, dort! Ich stelle mir vor, wie Kandulf in kurzer Entfernung von der Fassade auf dem Boden liegt, verletzt oder tot.

Schwester Tanjas Stimme: Kandulf, so komm doch her da! Da komm her, aber gleich!

Wenn sie meint, er könne herkommen, dürfte ihm nicht viel passiert sein, denke ich.

Eine andere Stimme: Lasst ihn! Die Polizei wird gleich da sein.


Schwester Tanja kommt vom Gang herein. Hinter ihr ein junger Polizist, ziemlich schmächtig, dahinter ein zweiter Polizist, auch spindeldürr, aber beide in Uniform, in ihren Halftern schlabbern die Glocks. Im Gänsemarsch durchqueren sie das Zimmer und marschieren durch die Tür zum Wintergarten wieder hinaus.


Stimmen: Dort ist er! Dort hinten im Dunkel des Parks neben dem Baum!


Die dürren Polizisten haben Kandulf offenbar festgenommen und befinden sich mit ihm im Wintergarten. Da setzen S‘ Ihna jetzt her! Stühle rücken. Also was genau ist jetzt Ihna Problem?


Kandulfs Stimme: Sie haben mir mein Auto gestohlen, während wir im Nachtlokal waren. So gegen zehn sind wir mit meinem Auto hingefahren, ein paar Frauen waren auch dabei. Und jetzt ist das Auto weg. Wenn es nicht gestohlen ist, ist es wenigstens ein Versicherungsbetrug. Mein neues Handy haben sie auch gestohlen.


Durch die Gangtür kommen zwei weitere Polizisten herein. Die schauen etwas kräftiger aus. Im Gänsemarsch durchqueren sie das Zimmer und verschwinden zum Wintergarten. Kurz darauf kommen die zwei schmächtigen Polizisten vom Wintergarten und verschwinden in Richtung Gang. Ich überlege, wozu die Ablöse gut sein könnte. Haben die Schichtwechsel?


Stimmen vom Wintergarten: Da ist er beim Fenster hinausgesprungen. Also ebenerdig. Wozu, die Tür zum Park war ja offen?


Die Polizisten bemühen sich, von Kandulf genauere Angaben zu erhalten, sehen aber, dass es aufgrund seiner Verwirrtheit nicht möglich sein wird.


Nach einer Weile durchqueren andere Uniformierte unser Zimmer. Die Besatzung eines Krankentransportwagens. Sie schieben einen kleinen Rollstuhl. Im Wintergarten werden offenbar Formalitäten erledigt. Ich höre Worte wie Anhaltezentrum und Klagenfurt. Schließlich kommt eine Prozession aus dem Wintergarten und durchquert unser Zimmer in der Gegenrichtung. Die Sanitäter, Kandulf auf dem viel zu kleinen Rollstuhl hockend wie ein zu großes Kind auf einem Spielzeugauto. Im Vorüberrollen wirft er mir einen starren Blick zu. Gerne hätte er noch einmal das Namensschild an meinem Bett angeschaut. Dann die beiden Polizisten. Schließlich Schwester Tanja. Täusche ich mich, oder hat sie eine Träne im Auge?


Krankenhaus ist das keines. Die tun nur so.


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