Nachtbarn

Nachtbarn

worin vorkommen: der Wienerwald, Neustift am Walde, der Spittelberg, Wien, die Maroltingergasse, der Wechsel, Hartberg, Graz, die Pack, Griffen, Wolfsberg, Völkermarkt, Klagenfurt, Velden, Villach, Udine, Santa Caterina, die Schauspieler Ewald Balser, Willi Forst, Boy Gobert, Helene Thimig, Rudolf Steinboeck, der Regisseur Hans Krendlesberger, die Sänger Heinz Holecek, Irmgard Seefried, Josef Greindl, 

Elisabeth Höngen und Otto Wiener, der Violinvirtuose Wolfgang Schneiderhan, , der Dirigent Josef Krips, der Staatsoperndirektor Egon Seefehlner, die Musiker Norbert Pawlicki und Heinz Sandauer, der Komponist Ivan Eröd, der Journalistendoyen Otto Schulmeister und der Nationalökonom Friedrich August von Hayek, sowie was für ideale Konzepte die A2 entlang sprießen können

Was haben die Schauspieler Ewald Balser, Willi Forst, Boy Gobert, Helene Thimig und Rudolf Steinboeck, der Regisseur Hans Krendlesberger, die Sänger Heinz Holecek, Irmgard Seefried, Josef Greindl, Elisabeth Höngen und Otto Wiener, der Violinvirtuose Wolfgang Schneiderhan , der Dirigent Josef Krips, der Staatsoperndirektor Egon Seefehlner, die Musiker Norbert Pawlicki und Heinz Sandauer, der Komponist Ivan Eröd, der Journalistendoyen Otto Schulmeister und der Nationalökonom Friedrich August von Hayek gemeinsam?


Sie alle sind Nachbarn. Keiner von ihnen hat sich seine Nachbarn ausgesucht. Man hat sie nicht gefragt. Ich glaube nicht, dass einer von ihnen Einwände erhoben hätte. Lange Zeit sind sie nicht Nachbarn gewesen. Aber es ist ein Tag gekommen, da ist ihnen Nacht geworden. Seither sind sie Nachtbarn. Sie bewohnen einen Höhenzug an den Ausläufern des östlichen Wienerwalds, der zur ehemals selbständigen Gemeinde Neustift am Walde gehört. Das expandierende Wien hat seine Vororte gegen Ende des 19. Jahrhunderts verschluckt.


Seit Jänner 2007 wohnt dort auch Robert Kammerhofer. Genau, der Gruppenleiter des Schadensachbearbeiters namens Getreuer. Wie seine jetzigen Nachbarn hat auch Kammerhofer sich den Aufenthaltsort nicht ausgesucht. Mit nur dreiundfünfzig Jahren ist Kammerhofer gestorben. Herzinfarkt. Sein Grab befindet sich am Neustifter Friedhof, benachtbart rund fünfzehntausend anderen, darunter die berühmten Nachtbarn.


 Kammerhofers Tod hat uns einigermaßen erschüttert. Noch kurz vor Weihnachten hatten Soile und ich mit ihm und seiner Frau in einem urigen Lokal am Spittelberg zu Abend gegessen. Das Treffen war beschwingt und fröhlich. Keinerlei Anzeichen einer Erkrankung. Und jetzt, so kurz danach, diese Meldung. Es stand für uns außer Zweifel, dass wir zum Begräbnis nach Wien fahren würden.


 Dazu müssen wir früh aufstehen. Ich rechne mit gut vier Stunden Fahrzeit. Soile ist selbstverständlich dabei und Michaela, die inzwischen zum unverzichtbaren Inventar von Claims gehört und die meisten Kontakte hat mit unseren Auftraggebern. Es ist ein kalter Februartag. Ein lebhafter Wind fährt über die Hügel und uns um die Ohren. Es ist kaum Platz für die Menschenmenge, die sich versammelt hat. Die Leute stehen schweigsam zwischen den Grabreihen. Ich erkenne niemanden außer Frau Kammerhofer, Dieter Pscheidl und Sepp Schörghuber, inzwischen Prokurist bei Avus. Ein langer Atem zahlt sich aus. Das Begräbnis endet wienerisch. Wir werden zu einem der zahlreichen umliegenden Heurigen gebeten. Die Menschenmenge teilt sich auf verschiedene Gasträume auf. Wir nehmen an einem Tisch bei Verwandten der Witwe Platz. Die Avus-Leute sind in einem anderen Raum. Es kommt zu einer kurzen Begrüßung zwischen mir und Sepp. Offenbar haben wir beide keine Lust auf ein längeres Gespräch. Die zurückhaltende Konversation am Tisch steigert sich nach dem Essen bald zu regem Austausch. Der Geräuschpegel steigt ständig an. Hie und da schlagen einzelne Lacher hoch, bald brodelt in allen Räumen des Lokals fröhliches Durcheinander. So ist das bei einem Leichenschmaus. Die Freude am eigenen Dasein überwiegt die Betroffenheit durch den Verlust.


Der lange Heimweg, den wir vor uns haben ist eine plausible Rechtfertigung für unseren baldigen Aufbruch. Ich nehme einen Umweg durchs westliche Wien. Der kostet uns in der anbrechenden Rushhour mindestens eine halbe Stunde. Soile und Michaela wissen das nicht so genau, weil sie sich in Wien nicht gut auskennen. Ich möchte an dem Haus in der Maroltingergasse, wo Mama wohnt, wenigstens vorbeifahren. Später auf der Autobahn reden wir natürlich über unsere Erlebnisse mit Kammerhofer und kommen darüber ins Sinnieren über die Zukunft von Claims. Ich bin jetzt zweiundsechzig und Soile wird es bald. Wenn wir unsere Tätigkeit auch immer mit Hingebung ausgeübt haben, so haben sich Gedanken an mehr Freizeit, mehr Freiheit in letzter Zeit doch vermehrt breitgemacht. Zeit für Tennis. Zeit für Finnland. Wir haben uns bei der Wirtschaftskammer über die Möglichkeiten der Pensionierung beraten lassen. Sie haben gesagt, es wäre jederzeit möglich. Es stellt sich allerdings die ungeheure Frage, was mit dem Betrieb geschehen soll. Weiterführen mit Michaela als Geschäftsführerin und zusätzlichem Personal? Da würden wir unsere Hintern nicht wirklich aus dem Geschäft heraushalten können. Einstellen und Michaela nur die anhängigen Sachen zu Ende bringen lassen? Das halte ich für besonders unfair unseren Auftraggebern gegenüber. Ihr Vertrauen wäre schlecht vergolten, würden wir sagen, danke, das war’s. Verkaufen? Wem? Avus? Van Ameyde? Gott behüte. Ich habe schon einmal unser Aichhörnchen gebeten, eine Bewertung des Betriebes abzugeben. Die komplizierten Berechnungen ergaben eine mittlere sechsstellige Summe. Aber würde ein Käufer Hanna und vor allem Michaela übernehmen? Keiner von ihnen würde den Sitz in Kärnten belassen.


Das Gespräch über solche Gedanken verlagert sich weg von den Lippen hinein in die Köpfe, jedenfalls in meinen, aber ich spüre, dass es auch in den Gehirnen Soiles und Michaelas rattert. Über den kurvigen Wechsel… Michaela… Na ja, an sie würde ich schon verkaufen. Aber den errechneten Kaufpreis aufzubringen wäre sie nicht imstande. Einen Kredit in dieser Höhe aufzunehmen wäre ganz und gar unvernünftig, falls er überhaupt gewährt werden würde. Hartberg. Aber Michaela wäre ganz klar imstande, dieses Geschäft anständig und erfolgreich weiterzuführen. Und mir will scheinen, sie möchte es auch… Graz … Zum Teufel mit allen Kalkulationen über vergangene und zukünftige Umsätze, Gewinne, Betriebskosten, bestehende Anlagen… Unser wichtigstes Portefeuille sind doch die Geschäftsfälle. Da sind jene, die bis zu einem Übergabezeitpunkt fertig und abgerechnet werden. Die gehören uns. Dann sind da die anderen, die in unserer Zeit begonnen, aber nicht fertig wurden. Die müssten abgelöst werden. Schließlich die neuen, die nach unserer Zeit begonnen werden. Die gehören eindeutig dem Neuen… Pack… Die Gedanken verlegen sich vom Kopf zurück auf die Lippen. Man müsste alle bestehenden Akte durcharbeiten und feststellen, welcher Umsatz aus ihnen nach einem Übergabezeitpunkt zu erwarten ist. Keine kleine Aufgabe. Doch das wäre die gerechte Ablösesumme, denn diese Beträge würden mit großer Sicherheit später auch hereinkommen… Griffen… Damit haben Aichhorns Berechnungen sich beträchtlich reduziert. Diesen Betrag zum Teil mit Kredit finanzieren sollte möglich sein, weil die Kosten mit den ständig neu erledigten Fällen abgedeckt werden können… Wolfsberg… Die Anlagen? Die paar Büromöbel sind fast abgeschrieben, die IT-Anlage ist zum Teil gemietet. Ein neues Büro? Michaela könnte durchaus vorläufig in unserem bleiben. Ohne Miete, nur Energiekostenersatz… Völkermarkt… In sehr vielen bestehenden Akten ist Ivo involviert. Aus solchen, die bis zur Übergabe abgeschlossen werden, sind dann seine Kosten fällig. Wenn er sich entschließen könnte, diese Kosten zu stunden, würde sich das nötige Kreditvolumen noch einmal verringern… Klagenfurt… Das Firmenlogo ‚Claims Service International‘ hat in Aichhorns Berechnungen eine gewisse Rolle gespielt. In unseren nicht. Michaela könnte es behalten. Das würde den Auftraggebern Kontinuität vermitteln. Soile und mir wäre es auch recht, das Aufgebaute weiterleben zu sehen… Velden… Soile und Michaela sind schweigsam. Wahrscheinlich überlegen beide, wieviel Unsicherheiten in einem solchen Plan stecken. Je mehr ich aber darüber nachdenke, desto fester wird meine Stimme. Ich bin überzeugt, dass es so klappen kann. Die beiden Damen bringen diesen Einwand und jenen, vorwiegend Soile. Ich kann aber jeden widerlegen… Villach… Überlegen wir halt einmal jeder für sich…


Auch Michaela holt Beratungen und Informationen ein. Schon nach kurzer Bedenkzeit lässt sie ihr grundsätzliches Interesse erkennen. Beim nächsten Udine-Termin bespreche ich die Sache mit Ivo. Andeutungen hatte ich schon früher gemacht. Du bist jung, du musst arbeiten, hat er scherzhaft gemahnt. Die Lage der Rechtsanwälte in Italien und in Udine wird immer prekärer. Sie werden immer zahlreicher und der Kuchen wird kleiner. Es stimmt schon, Claims war ein Glücksfall für Ivo. Und er für uns. Er macht sich Sorgen um den Fortbestand der lukrativen Zusammenarbeit. Mein Modell gibt ihm Hoffnung. Nach kurzer Bedenkzeit gibt er seine Zustimmung. Auch zur Stundung seiner Honorare für die Fälle, die ab Betriebsübergabe für einen bestimmten Zeitraum abgeschlossen werden. Ivo war schon immer großzügig. Der vorübergehende Ausfall eines Teils der Honorare wird ihn nicht besonders tangieren. Der Familie geht es gut. Orianas Position als Gymnasialprofessorin ist fortgeschritten, der Sohn steht kurz vor der Matura. In Udine reitet Ivo zwischen Gerichten, Kanzlei und seinem Bungalow in Santa Caterina auf seinem alten Drahtesel. Weil es vernünftig ist und sportlich. Und weil schon sein Vater es so gehalten hat. Doch seinen alten Traum vom schicken, neuen Mercedes Cabrio hat Ivo sich auch erfüllt. Der begrenzte Aufschub von Einkünften ist eine Investition, um den Auftragsstrom nicht versiegen zu lassen.


Binnen kürzester Zeit steht fest, alle Beteiligten wollen den Plan durchziehen. Soile ist anfangs ein wenig skeptisch. Ob das alles so funktionieren wird? Und Ablöse wird auch viel weniger fließen als Aichhorn ausgerechnet hat. Das stimmt, aber für unsere wichtigsten Partner, Ivo, Michaela und auch die Auftraggeber ist es die ideale Lösung. Als Übergabetermin vereinbaren wir den 1. Jänner 2008.


Unsere wechselseitigen Abmachungen, Claims mit Ivo, Claims mit Michaela, Michaela mit Ivo, laufen alle auf Vertrauensbasis ohne schriftliche Absicherung. Das verursacht Soile ein mulmiges Gefühl. Ich sehe es so: Hier sind drei Menschen, die gute Erfahrungen miteinander gemacht haben, die einander vertrauen, die dasselbe wollen. Alle drei wollen einen Plan verwirklichen, dessen Grundzüge feststehen. Wozu sich mit Dokumenten fesseln? Das sage ich, der so gerne Verträge stipuliert! Andererseits ist mir schon klar: Wenn das alles reibungslos abläuft, ist es ein erstaunlicher Einzelfall. Ein Glücksfall, wie er nicht oft vorkommt. Ich aber glaube an das Gelingen, weil ich an die beteiligten Menschen glaube.

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