Hiller

Hiller

worin vorkommen: der Mangart, der Podludnik, Hermagor, die Egger Alm, der Pressegger See, der Spitzegel, der Dobratsch, Gurk, der 

Oisternig, Mallorca, London, Barcelona, Udine, Bruck an der Mur, Mariazell, Sankt Pölten, Krems, Wilhelmsburg, die Wachau, Göttweig, Spanien, Niederösterreich, San Doná di Piave, Casas de la Caba, Andalucia, Berrocal, Huelva, Udine, Triest, Sevilla, Venedig, der Flughafen 'Marco Polo', Mestre, Székkutas, Hódmezövásárhely, Oberthörl, das Rosental, Villach, Wien, Tarvisio, Jörg Hider, das MS Austria, die Hypo-Alpe-Adria Bank, sowie ein Herz aus Stein

Ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag im Büro bahnt sich an. Für mich stehen keinerlei Auswärtstermine an. Wie gewöhnlich betreten Soile und ich um neun das Büro. Michaela und Hanna seit einer Stunde an der Arbeit. Um zehn hat Hanna Kaffee und Kuchen fertig. Wir nehmen ihn vor dem Büro auf der Südterrasse ein. Es ist einer der wunderschönen Spätherbsttage, mit denen die Natur in unserer Gegend so freizügig umgeht. Makelloses Seidenblau über die ganze Himmelskuppel. Absolute Windstille. Eine mild wärmende Sonne strahlt auf die bunte Welt. Weiß glänzt früher Schnee vom Kegel des Mangart. Besonders wenn angeschneit, schaut er treuherzig herüber wie der Kopf eines Spaniels mit faltiger Stirn und langen hängenden Ohren. 


„Das ist kein Tag fürs Büro“, denke ich und habe es auch schon ausgesprochen. Seufzend pflichten mir alle Damen bei, außer Soile, die Pflichtbewusste. Es gärt in mir. Das wäre ein Tag für die Berge. Ich überlege kurz, ob etwas absolut Unaufschiebbares vorliegt. Das scheint nicht der Fall zu sein. Ein paar kurze Augenblicke rattert es in mir, dann höre ich mich sagen: „Madln, sperrts zu. Wir machen einen Ausflug.“ Ich schaue Soile an, denn von ihr erwarte ich Widerspruch. So spontane Aktionen sind nichts für sie. Gleich wird sie sagen, „Dafür habe ich nicht die richtigen Schuhe.“ Ich überlege, wie mein unerwarteter Entschluss bei Michi ankommt. Egal ist es mir nicht. Ein bisschen verwundert hat sie mich angeschaut. ‚Verrückter Hund‘, mag sie gedacht haben.


Hanna ist Feuer und Flamme. Sie und Michi fahren rasch nach Hause, die Schuhe wechseln. „Wir sind in zehn Minuten wieder da.“ Ihr Casual Outfit kann für einen Ausflug durchgehen. Das trifft ebenso auf mich zu. Am wenigsten leger ist Soile gekleidet. Sie ist immer bürotauglich angezogen. Sie verdreht die Augen. Da sie aber miterlebt hat, wie die anderen Frauen rasch verschwunden sind, um das Nötigste zu wechseln, verzichtet sie aufs Jammern und geht ihrerseits hinauf, ihren Aufzug alpingerechter zu gestalten. Bei dieser Gelegenheit wird sie die Walking Sticks ausprobieren, die uns jemand überlassen hat, der sie nicht mehr wollte.


Michi und Hanni haben wirklich nicht lange gebraucht und auch wir sind bereit. Ausflug ist gut und schön. Aber wohin? Am besten kennt Hanni sich aus. Podludnig, schlägt sie vor. Niemand hat etwas dagegen. Hauptsache, hinaus- Wir steigen in meinen Jörrö und Hanna dirigiert unsere gut gelaunte Bande nach Hermagor und dort zu dem Sträßchen, das auf die Egger Alm führt. In unzähligen Kurven und Kehren folgen wir der engen Straße immer steil bergan. Wo die Steigung nachlässt und die Abhänge einem Almboden Platz machen, ist ein Parkplatz angelegt. Hier lassen wir Jörrö zurück. Unsere eigenen Beine werden uns weitertragen. Die Blicke über Hermagor und den Pressegger See hinweg zur gegenüber aufragenden Kette mit dem Spitzegel begeistern uns und mehr östlich in Richtung unseres Zuhauses der Dobratsch, zwar weiter entfernt und doch ganz nahe in der klaren Herbstluft. Die Sonne steht mittlerweile hoch über uns. Wir begehen die ausgetretenen Kuhpfade, die zum Podludnik hinaufführen und kommen dabei ins Schwitzen. Der Gipfel hat recht nahe ausgesehen, aber jetzt zieht sich der Aufstieg. Michi zieht zügig dahin, ich würde gerne in ihrer Nähe mithalten, aber Soile ist nicht so flink beim Steigen. Die Egger Alm liegt auf 1400 Meter. Zum Gipfel sind es an die 600 Höhenmeter. Unter dem Gipfelkreuz treffen wir Michi und Hanna wieder. Wir stehen wieder einmal an der italienischen Grenze. Eine Weile ergötzen wir uns am Anblick der nahen und fernen Spitzen und Ketten, den herbstlich gilbenden Flecken im Dunkelgrün der Wälder, den hellgrünen Talböden. Hier oben weht aber ein frisches Lüftchen, sodass wir es vorziehen, bald mit dem Abstieg zu beginnen. Auch macht sich langsam ein gehöriger Appetit bemerkbar. Unterwegs auf den Trampelpfaden fällt mir ein etwa fußballgroßer Schieferstein ins Auge. Die liegen hier in Massen herum. Doch dieser hier ist herzförmig. Das wäre das richtige Souvenir vom Ausflug auf den Podludnig. Ich probiere, ob der Stein sich bewegen lässt. Er wackelt ein wenig. Mit etwas Anstrengung und Hartnäckigkeit gelingt es mir, ihn aus dem Erdreich zu lösen. Ich klemme die Naturskulptur unter den Arm. Wir ziehen an den urigen Hütten der Egger Alm vorbei, der Jausenstation zustrebend. Vor der Tür einer der Hütten sitzt ein Jogl und amüsiert sich über Soile mit den Walking Sticks. „Willst Schi fahrn?“, nimmt er sie auf die Schaufel.



Die Jausenstation ist recht gut besucht, obwohl es ein Arbeitstag ist. Hauptsächlich Herbsturlauber. Wie immer nach einer Wanderung schmecken Trunk und Jause dann am besten. Die Wirtin bemerkt mein steinernes Herz und rügt mich. „Von der Alm derf man nix mitnehman.“ Das finde ich angesichts der Masse des Schiefergesteins übertrieben. Um nichts in der Welt würde ich mein soeben gefundenes und ausgebaggertes Herz hergeben. „Wissen S‘ was“, vertraue ich ihr an geheimnisvoll flüsternd, „mein Herz ist so schwer, aber ich kann’s doch net zuhaus lassen, es könnt ja glatt eine stehlen!“


Das Schieferherz habe ich daheim neben dem unteren Ende der Freitreppe zur Haustür im Rasen eingebettet. Möge jede der Damen, die bei der Bergung dabei waren, es dem eigenen Herzen gewidmet meinen. Sie haben alle recht, nicht wahr?



***

Nicht alle Italiener sind uns grün. Manche Infortunistiche haben uns zum Gegner, wenn wir Gesellschaften repräsentieren, gegen die sich Forderungen ihrer Klienten richten. Meistens sind das Einzelfälle. Doch eine dieser Infortunistiche tritt des Öfteren gegen uns auf. Wie gewöhnlich vertreten wir die Interessen unserer Auftraggeber ohne Wenn und Aber mit gesunder Härte. Die genannte Infortunistica ist bei der Durchsetzung der Forderungen ihrer Klienten gegen unsere Abwehr meistens nicht besonders erfolgreich. Wir zahlen, was rechtens ist, alles andere lehnen wir ab. Da hilft kein Schleimen, ist jeder Schmäh vergebens, nützt kein Kuhhandel. Claims verhält sich auch in der Defensive ganz unitalienisch. Klagen sie, wehrt Ivo brillant ab. Kein Wunder, dass der Chef dieser Infortunistica mit der Zeit einen heiligen Zorn auf uns entwickelt.


Zwischen den vielen Routinebriefen vom UCI lauert eines Tages die Bombe. Wir hätten auf eine Forderung jener Infortunistica nicht innerhalb der gesetzlichen Frist reagiert. Die Strafe für dieses Vergehen betrage zwölftausend Euro.


Zwölftausend Euro. Die zahlt jede auch kleinere Versicherung aus der Portokasse und zwar mehrmals die Woche. Für uns ist diese eine Strafe eine Phosphorbombe. Ich überprüfe, ob der Vorwurf stichhaltig ist. Ist er. Wir haben tatsächlich die Frist um wenige Tage versäumt. Da haben alle Sicherungen, die wir in unser System eingebaut haben, versagt. Einmal die Terminakte um ein Weniges zu lange liegengelassen, vielleicht weil wir auf dem Podludnik waren, und schon ist es passiert. Darauf hat unser ‚Freund‘ nur gewartet. Auch wir benutzen, wenn nötig, die rigorosen Strafen von der Aufsichtsbehörde für Androhungen einer Beschwerde, damit unsere Gegner aufwachen. Es mag in seltenen Fällen vorgekommen sein, dass wir auch tatsächlich eine eingereicht haben, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft waren. Doch immer nur gegen mächtige Gesellschaften, die jeden Monat mit einer Vielzahl von solchen Beschwerden konfrontiert sind. Sicher nicht als primitiven Akt der Rache für zu viele Niederlagen auf dem juristischen Feld.


Lovetti hat meinen Anruf schon erwartet. Wir besprechen den Fall. Da ist alles klar. Es ist eine Frage von nackten Tatsachen. Das Datum des Einlangens des Forderungsschreibens. Die gesetzliche Frist. Das Datum unserer Antwort. Drei Tage zu spät. Die Beschwerde. Die Strafe unvermeidlich. Die Höhe gesetzlich festgelegt. Ich höre die Genugtuung in Lovettis Stimme. Er denkt an seine Dienstreise nach Rivolto. „Machen Sie sich nichts draus. Habe schon darauf gewartet. An sich hätte ich schon viel früher damit gerechnet. Es hat uns schon gewundert, dass ihr so lange ohne Strafe durchgekommen seid. Wie macht ihr das eigentlich? So eine Frist ist bald einmal übersehen. Ihr solltet eine gewisse Anzahl von Sanktionen in eure Kostenkalkulation einfließen lassen.“


Ivo sieht auch keine reelle Chance, da rauszukommen. Lovetti und der Infortunistica-Kollege schließen schon Wetten ab, ob Claims das überstehen wird oder nicht. Mein Entschluss ist schnell gefasst. Wir zahlen. Unsere wirtschaftliche Situation ist gesund. Wenn die Zahlung auch ein hässliches Loch ins Jahresergebnis reißen wird, wir können sie aus eigener Kraft stemmen, brauchen keine Fremdfinanzierung dazu. Die Strafe wird in die betrieblichen Aufwendungen aufgenommen. Unserem Villacher Aichhörnchen ist nicht ganz wohl dabei. Man kann darüber streiten, ob es rechtens ist. Der Betrag ist jedenfalls auffällig hoch. Man muss damit rechnen, dass die Abschreibung in einer Prüfung beanstandet wird. Dazu wird es Gott sei Dank nicht kommen.

***

Zehn Jahre Claims Service International. Das gehört gefeiert. Ganz besonders gefeiert. Die Betriebsausflüge auf den Podludnik, nach Gurk, auf den Oisternig waren ja recht schön und haben unser Team zusammengeschweißt. Umso mehr verlangt das zehnjährige Jubiläum nach etwas Besonderem. Leser, die Betriebsausflüge über ein paar Tage nach Mallorca oder London gewohnt sind, mögen sich das vor Augen halten: Wenn in unserem Büro auch Großes geleistet wird, so bleibt es doch ein Minibetrieb im Vergleich zu einer dicken Aktiengesellschaft mit Betriebsausflug nach Barcelona. So sind unsere Ziele - selbst im Jubiläumsfall - ein bisschen bescheidener. Mehrtägig jedoch allemal. Denn wir werden zwei Tage unterwegs sein. Wir, das Claims-Team, verstärkt mit den nächsten Angehörigen, also Michaelas Walter und Hannas Loisl, sowie der am engsten mit uns verbundene Partnerbetrieb, die Rechtsanwaltskanzlei Marian aus Udine, also Ivo mit Oriana.


Für diese beiden beginnt der Betriebsausflug eine Stunde früher, damit sie rechtzeitig in Hohenthurn zu uns stoßen können. Rasch einen Caffé für alle. Nicht einmal eine solche Gelegenheit kann vorbeigehen, ohne dass Ivo mir noch schnell einen Packen Dokumente übergibt mit ein paar erklärenden Worten zu dem einen oder anderen. Die anderen scharren schon mit den Füßen, daher machen wir es wirklich kurz und sind gleich darauf unterwegs, mit zwei Autos. Diesmal muss ich nicht selber lenken. Eine noble Reisegesellschaft hat einen Chauffeur. Das ist Walter, als professioneller Busfahrer dafür prädestiniert. Er hat auch einen siebensitzigen PKW, der uns allen Platz bietet, außer Ivo und Oriana, die uns in ihrem eigenen Wagen folgen.


Es geht die alte Bundesstraße hinauf Richtung Bruck an der Mur, dann weiter nach Mariazell. Schönes Frühlingswetter macht aus der Landschaft ein Bilderbuch. Kurz vor Mariazell stoppt uns ein einsamer Gendarm. Verkehrskontrolle, Führerschein, Zulassungsschein! Ivo fährt mit seinem Wagen an uns vorbei, hält weiter vorne. Die Durchsicht der Dokumente hat offenbar nichts Auffälliges ergeben. Aber jetzt geht es los: „Sie wissen, dass hier 50 Kmh erlaubt sind?“ Walter nickt. „Sie waren aber schon schneller, oder?“ – „Unwesentlich“, sagt Walter. - „Wesentlich. - Das kostet fünfzig Euro.“


Ich sitze hinter Walter. Ich fühle, dass ich mich jetzt einschalten sollte als Reiseleiter, den Grauspecht darauf aufmerksam machen, dass das ein Betriebsausflug ist. Was heißt Betriebsausflug, nein, eine Wallfahrt nach Mariazell, dass unser Chauffeur professioneller Buslenker ist und immer alle Regeln genau beachtet, dass der blöde Italiener hinter uns, der jetzt dort vorne steht und sich eines grinst, uns seit längerer Zeit gehetzt hat, mit der Lichthupe geblinkt und sogar laut gehupt hat, weil wir ihm zu langsam gefahren sind, dass Walter deshalb ein kleines bisschen beschleunigt hat, in Sorge, ob der blöde Hund uns vielleicht noch auffahren würde… Dass es doch im Ermessen seiner Amtsgewalt steht, anstatt einer Geldstrafe eine Verwarnung auszusprechen…


Was mich daran hindert, all dies zu sagen, ist mir heute noch ein Rätsel. Ich sage kein Wort. Wir alle schweigen, als hätten wir etwas ausgefressen und die Geldstrafe wäre noch das kleinere Übel als überführt zu werden. Walter nimmt seine Brieftasche und gibt dem Wegelagerer das Geld. Kurz darauf besichtigen wir die Basilika mit der Magna Mater Austriae, der Statue der Madonna, deren Antlitz ganz schwarz ist. Wahrscheinlich ärgert sie sich auch über den Grauspecht, der draußen sein Unwesen mit ihren Besuchern treibt. Oder vielleicht doch über meinen Schmiss?


Es ist schon weit über Mittag, als wir den kleinen Ort mit seinen bunt bemalten Hausfassaden durchstreifen, vorbei an den verlockenden Auslagen der Konditoreien. Wir bewegen uns plaudernd in lockeren Zweier- und Dreiergrüppchen. Am liebsten halte ich mich in der Nähe von Michaela auf. Um kein Gerede aufkommen zu lassen, wechsle ich unstet zwischen den Gruppen hin und her. In eines der Lokale kehren wir ein, um einen Imbiss zu nehmen. Dann setzen wir unsere Reise fort in Richtung Sankt Pölten. Walter achtet nun streng auf die Geschwindigkeit. Auch hindert uns jetzt der starke Verkehr am zügigen Weiterkommen. Die Strecke zieht sich. Es wird später und später. Zu spät, um unseren Plan einhalten zu können. Um sieben sollen wir uns bei Krems mit Eitzenberger und noch ein paar Leuten von der Wiener Allianz treffen. Die haben für sich und uns alle die nötige Anzahl Plätze im Garten eines Heurigenlokals reserviert. Ich telefoniere mit Eitzenberger. Er ist besorgt, weiß nicht, ob es ihm gelingen wird, die Plätze im Freien reserviert zu halten. Wir sind eine große Gruppe und der Ansturm auf die Gartenplätze ist enorm. Eine halbe Stunde noch, verspreche ich viel zu optimistisch. Wir befinden uns gerade bei Wilhelmsburg.


Nach weiteren zermürbenden Kilometern und Telefonaten haben wir es geschafft. Eitzenberger empfängt uns vor dem Heurigen, führt uns durch den übervollen Gastgarten an unseren Tisch. Die laue Aprilluft des milden Donautals lässt uns erahnen, wieso die Trauben der Wachau zu so edlen Weinen reifen wie dieser Neue, der uns bei dem üppigen Heurigenessen begleitet. Vielleicht weil Frauen anwesend sind, führen Eitzenberger und seine Kollegen sich diesmal besser auf als bei jenem anderen Abend, den ich mit ihnen anlässlich des sechzigsten Geburtstages eines unserer Sachverständigen hier erlebt habe. Da haben sie dem Jubilar die niederösterreichische Variante von ‚Happy Birthday to You‘ gesungen, die so geht: „Du altes Arschloch, ja Du lebst auch noch…“


Etwas später wird es aber doch recht kühl und wir verlegen unsere Stellung ins Innere des Lokals. Wir sind nicht die Einzigen mit dieser Idee. Obwohl weite Räume viel Platz bieten, ist der Heurige rappelvoll. Wie sich die Horizonte verschieben können im Leben: Früher habe ich von vielen Einladungen der alten Arschlöcher profitiert, jetzt bin ich auf die Seite der Zahler gewechselt. Mit Genugtuung. Bevor Eitzenberger und sein Chor sich verabschieden, begleitet er uns zu der Pension, wo für uns Zimmer bereitstehen. Es sind nur ein paar Schritte dorthin. Ein altes Winzerhaus mitten in den Obstgärten.


Die Nacht ist kurz. Ein frühes Frühstück wartet. Die Abfahrt unseres heutigen Verkehrsmittels steht mit zehn Uhr auf dem Plan. Mit den bereits bepackten Autos begeben wir uns zur Ablegestelle in Krems. Wir sind pünktlich, aber das MS Austria ist noch nicht da. Das gibt uns Gelegenheit, uns umzuschauen.

Mit geringfügiger Verspätung legt das MS Austria an, uns abzuholen. Unter weiterhin herrlichem Frühlingshimmel schaukeln wir auf dem gut ausgelasteten Schiff den Strom hinauf. Für die Wachau in Blüte sind wir um ein, zwei Wochen zu früh dran. Nur die Kirschen haben schon begonnen.

Zu Fuß ziehen wir los durch das Städtchen hinauf Richtung Stift, das wir soweit es möglich ist ohne Führung besichtigen. Wir haben drei Stunden bis zum nächsten Ablegen für die Rückfahrt nach Krems. Stromabwärts nehmen wir im gedeckten Teil des Decks Platz. Die Schönheiten die Uferszenerien in den Fenstern und die Köstlichkeiten eines sehr guten Mittagessens auf den Tellern, dazu die Schubkraft des fließenden Wassers, so sind wir rascher wieder in Krems als erwartet.

***

Mein Gott, schon wieder einer von den lästigen Außendienstlern, die keine Ahnung haben von irgendwas und doch glauben, ihren Kunden helfen zu können, indem sie uns fertigmachen, denke ich während jenes Telefonats. Unsere Kollegen in den Schadenabteilungen wissen ganz genau, wie schwierig es sein kann, die Forderungen der Kunden durchzusetzen und dass es dazu keine bessere Alternative gibt als Claims. Die Außendienstler hingegen, die Kundenkeiler, die Betreuer, die keine Ahnung haben von Recht, keine Ahnung von internationalem Recht, nicht die geringste Ahnung von den Realitäten bei der Rechtsverfolgung im Ausland, diese Ahnungslosen glauben, sie hülfen den Kunden, indem sie uns beflegeln, weil ihrer ahnungslosen Meinung nach nichts weitergeht. Genau so einen Betreuer habe ich am Rohr. Meine Selbstbeherrschung schwindet dahin. Ich sage ihm unumwunden, was ich von seinem ahnungslosen Geschwafel halte und lege auf.


Eine gute halbe Stunde später reicht Michi mir einen Anruf weiter. Der Kammerhofer, sagt sie. Kammerhofer war der Rechtsschutzchef der Uniqa in Wien. Ein ausgesprochen freundlicher Mann und uns sehr gewogen. Ich merke gleich, dass er diesmal etwas auf dem Herzen hat. „Mein Mitarbeiter, der Getreuer, behauptet da, Sie haben ihn beschimpft und sogar aufgelegt? So kennen wir euch ja gar nicht.“


Ein eisiger Schreck durchzuckt mich. Der Ahnungslose von vorhin war kein Vertreter. Er war einer von Kammerhofers Leuten, der Getreuer hieß. Was ich dem an den Kopf geworfen, bevor ich aufgelegt habe, stimmt zwar alles, war aber weit entfernt von dem Umgangston, der dem Mitarbeiter einer Schadenabteilung zukommt. Ich beginne zu stottern. Der Vorfall ist mir umso peinlicher, als ich nicht aufhöre, meinen Frauen zu predigen, wie wichtig ein freundlicher, verbindlicher Umgangston mit unseren Auftraggebern sei. Tolle Vorbildlichkeit.


Kammerhofer reagiert verständnisvoll. „Ist ein Neuer, der Getreuer“, sagt er. „Wahrscheinlich hat er selber Blödsinn geredet, weil sonst kann ich mir wirklich net vorstellen… Sagen S‘, Richter, wie ist denn der letzte Stand bei dem Hiller?“


Getreuer hatte sich auch auf die Sache Hiller bezogen. Es sei nicht einzusehen, weshalb da nach sechs Monaten immer noch kein Geld geflossen sei.


Hiller, das war ein Spezialfall. Hiller hatte sich in den Kopf gesetzt, nach Spanien auszuwandern. Er hatte seinen ganzen Haushalt in Niederösterreich aufgelöst und sich vom Erlös einen alten Kastenwagen gekauft. In den hatte er alles hineingepackt, was er glaubte, in seiner neuen Heimat brauchen zu können. Dann fuhr er los. Er kam leider nur bis San Donà di Piave, denn dort fuhr ihm im Nebel ein Feuerwehrauto auf. Hiller unverletzt. Sein Vehikel Totalschaden. Im Heck alles hin. Weiter vorne, was nicht durch die aufgesprungene Seitentür hinausgefallen war, auch nicht mehr viel wert. Die Polizia Stradale protokollierte den Unfall. Nähere Angaben über die zerstörten Sachen ins Protokoll aufzunehmen war nicht üblich. Hiller musste eine Strafe zahlen. Er verstand nicht, weshalb, zahlte aber trotzdem. Er wollte nur weg von dort. Eine Bergefirma schleppte das Wrack und den Schrott ab und lagerte alles auf ihrem Firmengelände. Am Tag darauf mietete er einen anderen, kleineren Kastenwagen, lud alles auf, was augenscheinlich noch zu brauchen war, zahlte ein Akonto für die Lagerung des Wracks, trat die Rechte an seinen Sachen an die Bergefirma ab und setzte seine Reise fort.


Die Uniqa erhielt einen Brief aus Casas de la Caba, Andalucía, in dem Hiller das Vorgefallene schilderte. Eventuelle Antworten wären postlagernd nach 21647 Berrocal, Huelva, zu richten. Das Stück Land, das er gekauft habe, besitze keine Postadresse. Es gäbe keinen Strom und kein Telefon. Er käme ungefähr alle drei Wochen nach Berrocal. Genau das richtige für Claims, dachte Kammerhofer.


Na servas, dachte ich. Wir schrieben Hiller nach Berrocal, baten um eine Aufstellung der beschädigten Sachen mit Angabe des Werts, wann und wo er sie angeschafft hat. Dazu eine Auflistung der zusätzlichen Kosten, die der Unfall ihm verursacht hat. Alles nach Möglichkeit mit den entsprechenden Belegen. Uns war völlig klar, dass Hiller diese Unterlagen nicht liefern würde können. Sie waren aber Voraussetzung für den Nachweis der Schadenhöhe. Bei nächster Gelegenheit beschaffte ich eine Kopie des Polizeiprotokolls aus San Donà. Der Unfall passierte am frühen Morgen im dichten Nebel bei einer Sichtweite von 30 Meter. Die Feuerwehr war im Einsatz unterwegs zu einem anderen Unfall, der sich ein paar Kilometer weiter ereignet hatte. Hillers Kastenwagen war der letzte in der Kolonne, die sich auf dem rechten Fahrstreifen aufgestaut hatte. Der Feuerwehrlenker gab an, er wäre mit 60 Km/h gefahren und hätte vor dem Aufprall noch stark gebremst. Die mitfahrenden Feuerwehrleute stimmten darin überein, dass am Kastenwagen keine Decklichter geleuchtet hätten. Das bestätigten auch die Polizisten. Die beiden Heckleuchten seien zerbrochen gewesen. Deshalb hätten sie Hiller eine Strafverfügung ausgestellt, die er auf der Dienststelle bezahlt hätte.


Na servas, dachte ich. Gut schaut das nicht aus. Vier Zeugen, die Strafe bezahlt, Verschuldensfrage prekär, Ablehnung so gut wie sicher. Trotzdem meldeten wir die Forderung formell beim Lloyd Adriatico an.


Vier Wochen später erhielten wir einen Brief von Hiller. Vier Seiten beidseitig bekritzelt, schwer leserlich, teils durchgestrichen und die Korrekturen darüber eingefügt, eine lange Liste von Hausrat. Keine weiteren Details. Waren das die Sachen, die er nach Spanien mitgenommen hat oder solche, die er in San Donà zurücklassen musste? Wie sollte man den Wert bestimmen? Am Ende teilte Hiller noch mit, dass er seit dem Unfall Schmerzen ‚am Buckel‘ hätte, die ihm den Ausbau der Bretterhütte zu einer zivilisierten Behausung fast unmöglich machten.


In unserer Antwort stellten wir die nötigen Rückfragen, auch was die angeblich fehlende Heckbeleuchtung anlangt, und empfahlen ihm, einen Arzt aufzusuchen und ein Attest über seine Rückenbeschwerden einzuholen.


Vom Lloyd Adriatico in Triest kam die erwartete Ablehnung. Ich bat um Abtretung der Akte nach Udine. Dort hatte ich fast alle zwei Wochen zu verhandeln und es bestand ein gutes Gesprächsklima. Nachdem die Akte aus Triest eingelangt war, brachte ich die Sache zur Sprache. Cantarutti war der Referent. Mit ihm war gut zu reden. Natürlich hielt er an der Ablehnung fest. Alleinverschulden Hillers. Ich führte ins Treffen, dass der Feuerwehrwagen aus 60 Km/h auf keinen Fall kontaktfrei hätte anhalten können, ganz egal, ob der Kastenwagen beleuchtet war oder nicht. Eine Gefahrenbremsung hätte einen Anhalteweg nicht unter 40 Meter erfordert. Die Sichtweite lag aber bei 30 Meter. Und wieso fuhr die Feuerwehr im Einsatz, wenn schon zu schnell für die Sichtweite, nicht auf dem linken Fahrstreifen? Wir kamen überein, die Sache offen zu lassen, bis man Näheres über die Schadenhöhe wissen würde. Immerhin erklärte Cantarutti sich bereit, einen Sachverständigen nach San Donà zu schicken, um den Schaden am Kastenwagen festzustellen. Ich bat ihn, der Sachverständige möge bei der Gelegenheit auch Feststellungen über die anderen dort eingelagerten Sachen treffen. Cantarutti versprach es.


Wieder vier, fünf Wochen später der nächste Brief aus Andalusien. Hiller regte sich zwei Seiten lang auf über die Behauptung der fehlenden Beleuchtung. Die Sachen wären alle ziemlich neu gewesen, aber Rechnungen könnte er keine vorlegen. Einen Arztbesuch würde er bezahlen müssen und das könnte er sich in seiner Lage nicht leisten. Er hätte aber gleichzeitig an die Uniqa geschrieben, weil er zweifelte, ob wir die Richtigen wären, seine Sache zu vertreten.


Das alles schildere ich Kammerhofer in allen Einzelheiten. Kurz zusammengefasst ist es auch der Sachstandsmeldung auf unserer Homepage zu entnehmen. Kammerhofer, der Profi, nimmt es zur Kenntnis. „Na gratuliere. Aber wie ich euch kenn, ihr machts das schon.“


Hillers Beteuerungen über die Heckleuchten erscheinen mir stichhältig, jedenfalls glaubwürdiger als die Behauptungen der Feuerwehrleute. Hätte der Kastenwagen keine Beleuchtung gehabt, wie hätte er die ganze Nacht ohne Scheinwerfer unterwegs sein können. Dass nur die Hecklichter allein ausgefallen wären, ist doch recht unwahrscheinlich. Einige Zeit später liegt bei Cantarutti in Udine das Gutachten über den Fahrzeugschaden auf. Wie erwartet, Totalschaden. Zeitwert 12.000 Euro, Restwert 2.500. Wie üblich hat der Sachverständige das Fahrzeug fotografiert, wie erbeten auch die auf einem Haufen liegenden sonstigen Gegenstände. Bewertet hat er sie nicht. Doch etwas Anderes erregt mein Interesse: die Fotos vom Fahrzeugheck zeigen ganz deutlich, dass die Heckleuchtenabdeckungen zwar zersprungen sind, aber nicht zerstört. Die dahinter befindlichen Glühbirnen können durchaus noch ganz sein. Das heißt, man könnte ganz einfach ausprobieren, ob sie bei eingeschaltetem Licht brennen oder nicht. Ich kann Cantarutti dazu bewegen, den Sachverständigen anzurufen und zu ersuchen, die nötigen Feststellungen zu treffen. Cantarutti lässt mich mit dem Sachverständigen reden und wir machen uns einen Termin für die gemeinsame Begutachtung aus.


Unterwegs zur Bergefirma überlege ich, was man noch machen kann, wenn die Heckleuchten nicht funktionieren. Die Lampen ausbauen und prüfen, ob sie in einer unbeschädigten Fassung brennen. Dann müsste man noch feststellen, aus welchem Grund genau sie in den beschädigten Fassungen nicht leuchten. Wenn das nur auf den Anprall zurückgeführt werden kann, ist Hiller aus dem Schneider.


Als ich bei der Bergefirma ankomme, ist der Sachverständige mit seiner Untersuchung schon fertig. Die Heckleuchten funktionieren, sagt er und schaltet zur Demonstration das Licht ein. Das ist eindeutig die einfachste und überzeugendste Lösung. Tolle Arbeit von der Polizia Stradale. Es liegt auf der Hand, dass sie den Pompieri (Feuerwehrleuten) einen Gefallen tun wollten. Der Sachverständige wird ein Ergänzungsgutachten nachliefern. Meinen Vorschlag, die beschädigten Sachen mit mir zu protokollieren, lehnt er entrüstet ab. Ich begutachte Kraftfahrzeuge, brummt er, keine Fetzen. Selbstverständlich hat er noch Zeit für einen Caffè, den ebenso selbstverständlich er bezahlt. Danach fahre ich noch einmal zur Bergefirma und lege also allein ein Protokoll an über die Gegenstände, die ich einzeln fotografiere.


Wir schreiben an Hiller, berichten über die Einschätzung des Fahrzeugschadens und die von mir protokollierten und fotografierten Sachschäden und bitten, ob er Ähnliches mit den bei ihm verbliebenen beschädigten Sachen machen kann. Von den Heckleuchten sage ich lieber nichts. Sicherlich würde Hiller es so auffassen, dass dieses Problem damit gelöst wäre, was es keineswegs ist. Stattdessen informiere ich Kumhofer und empfehle ihm, in der Haftpflichtabteilung der Uniqa zu intervenieren, damit diese die Generali in Italien über die geänderte Sachlage informieren möge. Die Generali wird sich für die Uniqa mit der Regulierung der Forderungen der Feuerwehr befassen. Es steht zu hoffen, dass diese Forderungen nun weitgehend abgewehrt werden können. Die Korrespondenzgesellschaften in Italien sehen es gar nicht gern, wenn sich die Partnergesellschaft aus dem Ausland in ihre Regulierungstätigkeit einmischt. De facto steht der Uniqa auch kein Weisungsrecht zu. Die Generali kann ganz autonom über die Regulierung entscheiden. Deshalb nehme auch ich direkt Kontakt auf mit der Generali und übermittle ihr das Zusatzgutachten. Die weitgehende Ablehnung des Schadens der Feuerwehr ist uns aus zwei Gründen wichtig. Einerseits würde der Uniqa eine ungerechtfertigte Zahlung erspart bleiben. Andererseits könnte eine weitgehende Zahlung der Generali an die Feuerwehr dem Lloyd ein Argument gegen eine Zahlung an Hiller in die Hand geben. Kein bindendes Argument zwar, aber rhetorisch allemal. Schauen Sie, die Generali hat die Feuerwehr entschädigt, wieso sollten wir den Hiller zahlen?


Hinsichtlich der Schadenhöhe stellt sich das neue Problem der Körperverletzung Hillers. Wäre er in Italien, würden wir Hiller von einem unfallmedizinischen Sachverständigen untersuchen lassen, eventuell gemeinsam mit einem Sachverständigen, den der Lloyd beauftragt. Hiller aber sitzt irgendwo in der andalusischen Sierra ohne Adresse, ohne Geld, ohne Strom und ohne Telefon und der Buckel tut ihm weh. Selbst, wenn er irgendwie ein Gutachten in Spanien einholen könnte, wobei wir ihm helfen könnten, es würde wenig nützen. Der Sachverständige würde es auf der Basis des spanischen Schadenersatzrechts erstellen. Die Übertragung ins italienische Rechtssystem, auf dessen Basis Hiller zu entschädigen ist, wäre schwierig und würde Tür und Tor öffnen für endlose Streitereien. Die Entschädigungen nach italienischem Recht sind die höchsten in Europa. Wir müssen Hiller irgendwie zurück nach Italien bringen, um ihn hier untersuchen zu lassen.


Kammerhofer, mit dem Problem konfrontiert, erklärt sich einverstanden, Hillers Flüge von Sevilla nach Venedig und retour vorzuleisten. Meine Erwartungen an Hillers Bereitschaft nach Italien zu reisen halten sich in Grenzen. Zu meiner Überraschung meldet er sich bald, nachdem wir ihm den Vorschlag geschrieben haben, bei uns per Telefon. Er habe jetzt ein Handy und habe auf einem Hügel in der Nähe seines Grundstücks sogar Empfang. Zur Untersuchung würde er nach Venedig anreisen. Das Problem ist nur, wie kommt er von Cabas de la Caba nach Sevilla? Michaela will scheinen, Hiller sei jetzt richtig reiselustig. Wohl verständlich nach den Monaten auf einsamer Scholle. Da bleibt nur der Bus, fürchtet sie. Immerhin, er braucht ja kaum Gepäck. Hiller schluckt es. Wir können ihm eine Textnachricht schicken, dann würde er bald darauf bei uns anrufen. Er gehe zwei, drei Mal die Woche auf seinen Telefonhügel. Das beschleunigt die Kommunikation mit ihm gewaltig.


Ich schlage Cantarutti das gemeinsame Sachverständigenverfahren zwischen unserem Mediziner und einem des Lloyd vor. Natürlich versucht er es abzulehnen. Laut Polizei ist Hiller nicht verletzt gewesen. Laut Polizei hat auch kein Decklicht geleuchtet, gebe ich zu bedenken. Und Schleudertraumata machen sich oft erst nach Tagen bemerkbar. In beiden Punkten werden wir den Beweis erbringen. Aber bitte, wenn er nicht will, dann untersucht unser SV eben alleine und sie haben keine Möglichkeit zu verifizieren. Cantarutti nennt uns den SV, den er beauftragen wird.


Unser Auftrag zur Untersuchung geht an juramed, Failoni. Den Termin möge er mit dem SV des Lloyd abstimmen. Der Termin kommt zustande. Wir buchen für Hiller ein Hotelzimmer in der Nähe des Flughafens Marco Polo auf unsere Rechnung. Unsere SMS an Hiller. Nach ein paar Tagen ruft er an und bestätigt. Wir buchen bei der Iberia ein Retourticket von Sevilla nach Venezia mit der Auflage, es für Hiller am Iberia-Schalter zur Abholung bereitzuhalten. Hiller benachrichtigen wir telefonisch.


Zu meiner Überraschung klappt alles wie am Schnürchen. Failoni holt Hiller im Hotel ab. Die Untersuchung findet in der Ordination des Kollegen vom Lloyd in Mestre statt. Aus Erfahrung weiß ich, wie solche Untersuchungen auf Colpo di Frusta (Schleudertrauma) ablaufen. Der Arzt stellt die einschlägigen Fragen zu allfälligen Vorerkrankungen und nach den Symptomen, wirft einen Blick auf die Wirbelsäule, was sinnlos ist, weil man diese Art der Verletzung nicht sehen kann, nimmt den Kopf zwischen die Hände und führt ein paar leichte passive Bewegungen aus, studiert die bisher vorliegenden ärztlichen Atteste. Hiller hat jedoch keine, also ist man auf seine Angaben angewiesen. Danach setzt Failoni Hiller wieder im Hotel ab.


Einige Wochen später langt Failonis Gutachten ein. Mittleres Schleudertrauma. Ich vergleiche mit Cantaruttis Gutachten aus Mestre: leichtes bis mittleres Schleudertrauma. Alles wie erwartet. Ich versuche, Cantautti zu einem Vorschlag zu provozieren. Was machen wir also? Die Sache ist ihm heikel. Er will die Sache mit Balestra besprechen. Dott. Balestra ist der Schadenleiter in Udine.


Zwei Wochen darauf sitze ich zusammen mit Cantarutti in Balestras Büro. Wir plaudern zwanglos und amüsiert über den Hypo Alpe Adria-Skandal und Haider. Für Balestra bin ich einer mit Insider-Wissen. Nach vierzig Minuten sagt Balestra, er müsse jetzt dringend weg. Ach so, ja, und der Hiller?


„Also hören Sie, Richter, wir haben kein Verschulden, die Schadenhöhe ist weitgehend unbewiesen, die Verletzungen sind, wenn es sie gibt, nicht kausal. Die Generali hat die Feuerwehr voll entschädigt.“ (Das weiß ich noch nicht.) „Was wollen Sie eigentlich? Ich hab keine Zeit, muss meine Frau vom Zahnarzt abholen. Gehen 15.000 in Ordnung?“


„Wenn Sie 20.000 sagen, empfehle ich die Annahme.“


„Einverstanden. 17.500. Ciao.“


In Anbetracht aller Unwägbarkeiten vor Gericht, wo wir tatsächlich beweismäßig schlechte Karten haben, ein blendendes Angebot. Die Flüge und die Kosten Failonis sowie unsere abgezogen, bleiben Hiller rund 14.000 Euro.


Ich rufe Getreuer an, teile ihm das Ergebnis mit, entschuldige mich nochmals für meinen anfänglichen Fauxpas. Er ist mit der Erledigung zufrieden. „Machen Sie sich keine Sorgen“, sagt er, „dieses Resultat macht jede Entschuldigung unnötig. Inzwischen hab ich ja schon andere Husarenstückerln von euch gesehen.“ Getreuer wird ein treuer - Auftraggeber.


Michaela gibt Hiller das Ergebnis telefonisch bekannt. „Hätt ich nicht gedacht“, sagt er. „Nein, schicken sie mir die Abfindungserklärung nicht nach Berrocal. Ich geb Ihnen die neue Adresse noch durch. Ich bin jetzt in Székkutas.“


„Wo, bitte?“


„Székkutas bei Hódmezövásárhely. Ungarische Puszta.“

***

Für einen zusätzlichen Schreibtisch war noch Platz in unserem kleinen Büro. Das war gut so, denn noch einmal vergrößerten wir unser Team. Petra, eine junge Mutter aus Oberthörl, gab eine Zeitlang Halbtagsgastspiele, sofern nicht eines der Kinder krank war oder sie selbst. Carola kam aus dem Rosental angereist. Eine ziemlich lange Anreise für einen halben Tag. Wir vereinbarten eine Zwanzig-Stunden-Woche, die sie in drei Tagen die Woche absolvieren konnte. Trotzdem scheiterte eine dauerhafte Anstellung am langen Anfahrtsweg. Brigitte war noch am längsten bei uns. Sie kam aus Villach. Zuvor hatte sie dort in einer Anwaltskanzlei gearbeitet, die Abläufe bei uns waren ihr also nicht neu. Sie gehörte der vorgeschrittenen Altersgeneration an, gleichbedeutend mit zuverlässig, willig, respektvoll, gepflegt. Wir verloren sie, als ihr Freund nach Wien übersiedelte.


Noch vor Brigitte bewarb sich bei uns Ivan aus Tarvisio. Es war uns klar, dass unser erster Versuch mit einem Mann ein Experiment sein würde. Schon unter den früheren Bewerbungen waren solche von jungen Männern gewesen. Von denen war keiner in Frage gekommen. Selbst jene, die ein paar Schulklassen Italienisch vorweisen konnten, waren nicht imstande, einfachen Gesprächen zu folgen oder Texte zu verstehen. Ivan schon. Obwohl, Ivan war Serbe! Seine Muttersprache stellte einen Riesenvorzug dar bei unserer Auswahl. Endlich hatten wir einen Mitarbeiter, der Serbokroatisch konnte. Bislang hatten wir vieles zum Übersetzen außer Haus geben müssen. Allerdings, Serbokroatisch ist de facto den Feindschaften der jugoslawischen Nachfolgekriege zum Opfer gefallen. Von da an sprachen die Serben serbisch, die Kroaten kroatisch. Dazu kamen mit der Zeit noch Bosnisch und Montenegrinisch. Im Zuge unserer Arbeit mussten wir oft feststellen, dass die Kroaten plötzlich behaupteten, die Serben nicht verstehen zu können und umgekehrt. Es war wohl eher so, mit einem Mal weigerten sich die, die zuvor Tür an Tür gewohnt hatten, einander zu verstehen. Soweit kann es kommen, wenn die Dummheit des Hasses überhandnimmt. Für unseren Ivan war das kein Problem. Serbisch oder Kroatisch, er verweigerte keines. Vermutlich ist er durch die Wirren der Jugoslawienkriege in Italien gestrandet. Hier hatte Ivan sich als Übersetzer und Dolmetsch bei Gericht und anderen Ämtern durchgeschlagen. Er kannte also nicht nur die Sprachen, sondern auch deren amtliche Ausformungen und dazu die Praxis bei den Gerichten. Fast hätte ich es vergessen, sein Deutsch konnte sich auch sehen lassen. Gleich am Anfang gab ich ihm einen komplizierten Text zu übersetzen deutsch-italienisch oder umgekehrt, ich weiß es nicht mehr. Aber ich weiß noch, dass die Übersetzung im Nu fertig war und makellos.


Ivan war kräftig und ein Riese. Zu seinem Straßenanzug mit etwas zerfledderter schwarzer Krawatte trug er immer Goiserer der Größe Minimum 47. Die waren manchmal so schmutzig, als wäre er von Tarvisio herauf durchs Feld spaziert. Er passte kaum auf den Drehstuhl an seinem Schreibtisch. Ivan war immer frohgemut. Am Morgen zur Tür hereinkommend pfiff er ein Liedchen. Wenn er nicht pfiff, sang er. Er sang oder pfiff, bis Michaela ihn aufforderte, damit aufzuhören. Dann war sein Tag gelaufen. Er sprach mit niemandem mehr ein Wort. Ich freute mich, in Ivan einen so exzellenten Individualisten gefunden zu haben. Sein Pfeifen oder Singen störte mich nicht. Wenn er mit etwas fertig war, erkundigte er sich mit breit lachendem Gesicht, wie er das gemacht hätte. Das wunderte mich, denn meistens war es in Ordnung, aber keines besonderen Lobes wert. Da er flink war, dauerte es nicht lange, bis er nach der nächsten Belobigung lechzte. Nach dem fünften Mal ging es mir bereits auf die Nerven. Trotzdem hörte er bis zum Abend nicht auf damit. Ich begriff, dass sein Selbstwertgefühl im Kinderzimmer oder auf einem Erziehungsinstitut oder auf irgendeinem Kriegsschauplatz verlorengegangen war. Den Verlust musste er durch Sucht nach Anerkennung ausgleichen. Es war eine Manie.


Bald bemerkte ich, dass Ivans Gier nach Lob sich immer in meine Richtung erstreckte. Lag es daran, dass es außer mir nur Frauen in diesem Büro gab? Gut möglich, denn an seine Kolleginnen richtete er das Wort nur im äußersten Notfall. Sogar Soile strafte er mit Nichtbeachtung. Frauen zählten nicht für ihn. Ihre Anwesenheit schien ihn zu beleidigen. Liedchen hin, Pfeifen her, nach wenigen Tagen war die Stimmung im Büro auf einem nie zuvor erreichten Tiefpunkt. Meine Frauen sprachen nicht mehr, starrten von früh bis spät auf ihre Bildschirme und verschwanden bei Dienstende fast grußlos.


Ich zog die Reißleine nach vierzehn Tagen. Ivan geriet in Weißglut. Ich sah mich schon als Opfer im ‚Tatort‘ verbluten, den serbischen Dolch in der Gurgel, doch Ivan rannte nur wild schreiend und gestikulierend aus dem Büro und durch die angrenzende Kuhweide davon. Soile saß bleich und starr an ihrem Platz. Michaela schien erleichtert, ich fürchte, weniger weil ich überlebt habe und auch nicht, weil sie Ivans Liedchen vermissen würde. „Na, das hab ich doch wieder blendend gemacht, nicht wahr?“, fragte ich in den Raum.

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