Kuah hin, Kalbl hin

Kuah hin, Kaibl hin

worin vorkommen: Kenia, Turku, der Aurajoki, Nairobi, Helsinki, Uusikaupunki, Codroipo, die Urantia Foundation, sowie 'Hans im Glück' - modern

„Sisu [ˈsisu] ist ein finnischer Begriff, der eine angeblich nur den Finnen eigene mentale Eigenschaft bezeichnet. Das Wort gilt als unübersetzbar, kann aber mit „Kraft“, „Ausdauer“ oder „Beharrlichkeit“, auch „Unnachgiebigkeit“ oder „Kampfgeist“ besonders in anscheinend aussichtslosen Situationen wiedergegeben werden. Als kulturelles Konzept ist Sisu für Finnland in hohem Maße identitätsstiftend.


Anfang des 20. Jahrhunderts begann man Sisu als spezifisch finnische mentale Eigenschaft zu verstehen, das Konzept entwickelte sich zu einem nationalen Mythos. Die Bedeutung des Begriffes für das finnische Selbstverständnis wird im vielzitierten Dreiklang „Sisu, SaunaSibelius“ deutlich. Insbesondere wird der Begriff Sisu gerne im Zusammenhang mit der finnischen Geschichte, besonders im Winterkrieg, aber auch im Sport, vor allem bei Eishockey-Länderspielen, bemüht.


Wegen seiner kulturellen Bedeutung wird das Wort Sisu gerne und oft zur Namensgebung herangezogen. So gibt es einen Hersteller schwerer Lastkraftwagen, einen vom Rüstungskonzern Patria hergestellten Panzer, eine Pastillenmarke und einen Eisbrecher namens Sisu. Mehr als zweitausend finnische Männer tragen den Vornamen „Sisu“.

Wikipedia

Ob das Lastwagen der Marke Sisu waren, die die Seppot nach Kenia exportieren wollten, weiß ich nicht. Sicher ist, dass so ein moderner neuer LKW ein Heidengeld kostet. Es wird Job gewesen sein, der den Seppot erzählte, dass man in Kenia neue Lastwagen noch viel teurer verkaufen kann als in Finnland. Zum Glück hat Job nur von LKW gesprochen und die auch immer gesuchten Panzer nicht erwähnt. Die Eisbrecher wären eher nicht in Frage gekommen. Lakritzenbonbons schon eher. Job war ein kenianischer Student, der zeitweise bei den Seppot wohnte und von ihnen unterstützt wurde. Ich sage ‚war‘, denn Job ist eines Tages in Turku in den Aurajoki gefallen und ertrunken. Davor hat er den  Seppot immer wieder erhebliche Sorgen bereitet. Soweit ich verstanden habe, sind Alkohol und Drogen im Spiel gewesen. Das größte Ding war aber das mit den Lastwagen.


Die Seppot dürften sich damals in der Phase ihres größten Wohlstands befunden haben. Unser Seppo, Chairman der wohlhabenden Urantia Foundation, der andere pensionierter Controller bei Teboil, einem großen finnischen Mineralölunternehmen mit ausgedehntem Tankstellennetz. Sicherlich haben sie überlegt, wie sie ihr Geld für sich arbeiten lassen können. Das Luxusappartement am Strand von Helsinki und das Motorboot davor war vermutlich auch diesem Aspekt geschuldet. Da war aber noch Luft nach oben und so sind die Seppot auf die Idee gekommen, Lastwagen nach Kenia zu exportieren. Job konnte ihnen dabei behilflich sein. Sie begannen mit zwei Stück, die sie in Finnland kauften und nach Kenia verschifften. Dort nahm Job sie in Empfang und suchte Käufer für die Fahrzeuge. Er musste nicht lange suchen, denn die LKW waren binnen Kurzem weg. Nicht verkauft. Gestohlen. Auf diese Weise waren sie viel billiger für die neuen Besitzer.


Damit hatten die Seppot nicht gerechnet. Wie konnte sowas geschehen in einem Rechtsstaat! Sie reisten nach Nairobi, um festzustellen, ob das wahr wäre. „Macht nix“, sagte Job. Ich werde die LKW wiederfinden.“ Sie zeigten den Diebstahl bei der Polizei an und warteten einige Tage ab, in der Hoffnung, die Polizei würde die Transporter finden. Niedergeschlagen flogen sie zurück nach Helsinki. Das Problem war, ein gewisses Kapital war wohl vorhanden gewesen, aber einen guten Teil der Kosten des Projekts hatten sie doch mit einem Kredit finanzieren müssen. Dem Finanzierungszweck entsprechend handelte es sich um ein kurzfristiges Fälligkeitsdarlehen. Das Luxusappartement diente als Sicherstellung.


Das heißt, es war Feuer am Dach. Die Bank verlangte die Einlösung des Wechsels. Es blieb den Seppot nichts übrig, das Appartement musste verkauft werden. Es der Bank zu überlassen wäre noch unvorteilhafter gewesen. Der Schlag hatte Wucht. Von einem Moment auf den anderen hatte sich ihre wirtschaftliche Lage tief ins Negative verschoben. Man könnte meinen, wegen einer weltfremden Naivität. Sie selbst hingegen sahen vor allem das unverfrorene Verbrechen, welches sie schwer beleidigte. Sie beschlossen, den Herbst ihres Lebens in Uusikaupunki zuzubringen, wo der größere Teil von Seppos Familie lebte und die Lebenshaltungskosten geringer sein würden. Sirkku als Immobilienreferentin bei der Bank half bei der Suche nach einer Wohnung. Dabei bot sich die schöne neue Dachwohnung am Trinkwassersee an.

Da meldete sich Job aus Kenia mit der unglaublichen Nachricht, dass die beiden Lastwagen gefunden waren. Das half allerdings wenig, denn sie waren gerichtlich beschlagnahmt. Um die Rückgabe an die rechtmäßigen Besitzer zu erreichen, musste ein Rechtsanwalt das Verfahren betreiben.


Die Seppot verkauften auch das Motorboot und anderes Entbehrliche, aber für den Kaufpreis der Dachwohnung reichte es nicht. Da schlug ich Soile vor, den Seppot den Fehlbetrag zu leihen. Wir hatten früher schon Sanna bisweilen aus Verlegenheiten geholfen. Sie hatte immer alles auf Punkt und Beistrich geregelt. Seppo kennend war ich sicher, dass es bei Soiles Bruder nicht anders sein würde. Etwas verstörend empfand ich, dass Sirkku, als sie davon erfuhr, keine zustimmende Reaktion zeigte. Sie sagte nichts, verzog aber missbilligend die Mundwinkel. Die Seppot hingegen waren glücklich über ihre Rettung durch Soiles unerwartetes Angebot.


Nun bin ich zwar kein Kenner der kenianischen Justiz, aber nach meiner Einschätzung würde das Verfahren endlos sein und teuer, das Ergebnis daher alles andere als lukrativ. Unser Commercialista aus Codroipo fiel mir ein, der alles abschöpfte, was am Ende des Geschäftsjahres auf der Habenseite stand. Genauso würde es der kenianische Anwalt machen. Vielleicht würde er aber auch denken, die reichen Leute in Europa könnten es sich durchaus leisten, mehr als das aufzubringen. Angenommen, die Seppot würden ihre Lastwagen zurückbekommen, dann nur nach so langer Zeit, dass sie dann nicht mehr viel wert sein würden. Nach meiner Beurteilung war es sinnlos, dem verlorenen Geld weiteres nachzuwerfen. Die nervliche Belastung durch all die Jahre könnte leicht auch noch ihre Gesundheit angreifen. Nein, Kuah hin, Kalbl hin. Schlussstrich darunter und neu aufbauen. So würde ich das machen.


Das alles hielt ich Seppo vor. „Wir borgen euch das Geld zur Anschaffung der neuen Wohnung, aber ausdrücklich nicht zur Finanzierung des Gerichtsverfahrens in Kenia.“ Es schien mir angezeigt, diese Bedingung klarzustellen. Er sagte dazu nicht viel mehr als „Ja, ja“ und die beiden Seppot unterschrieben rasch den Darlehensvertrag, den ich aufgesetzt hatte. Es handelte sich um einen mittleren fünfstelligen Eurobetrag, zinsenlos, aber wertgesichert, rückzahlbar in kleinen monatlichen Raten beginnend nach einem längeren Respiro. Soile überwies das Geld.


Es war mir klar, dass die Einhaltung der Bedingung nicht durchsetzbar und auch nicht kontrollierbar war. Ich hoffte nur auf die Vernunft der beiden, waren sie doch erwachsen, erfahren und geimpft. Es zeigte sich, dass die stille Vernunft nicht schritthielt mit dem Schreien des verletzten Gerechtigkeitssinns. Natürlich zahlten die Seppot die Gerichtskosten in Kenia, dem Anwalt einen angemessenen Vorschuss, die Kosten der Lagerung, Jobs Reisen nach Kenia und seine Aufenthalte dort und Spesen und sie mussten auch zu persönlichen Anhörungen dorthin fliegen. Job meinte, es könnte rascher gehen, wenn auch der Richter etwas davon hätte. Vielleicht widerstrebte solches Vorgehen ihren finnischen Ehrbegriffen, denn der erste Teil des Verfahrens ging glatt schief. Der Richter hielt die Eigentümereigenschaft der Seppot nicht für hinreichend nachgewiesen und wies den Ausfolgungsantrag ab.


Da waren auch schon einige Jährchen in die Länder gezogen. Der Respiro war vorbei, die ersten paar Raten langten ein, die folgenden schon nicht mehr. Wir hörten von den Verwandten, wie schlecht es den Seppot ging, sie kämen kaum über die Runden. Trotzdem ließen sie nicht ab, die Sache in Kenia zu betreiben. Sie beriefen gegen die richterliche Entscheidung. Ich versuchte herauszufinden, weshalb die Seppot auf diese unvernünftige Weise handelten. In manchen persönlichen Gesprächen mit Soiles Verwandten schnitt ich das Thema an, doch keiner von ihnen wollte darauf eingehen. Sie schwiegen eisig. Ich gewann den Eindruck, sie empfanden die Erwähnung der Sache als ungehörige Zumutung. Was ging sie das Ganze an? Darin hatten sie zweifellos recht.


Ich begann, die Seppot bei unserem Zusammentreffen in Finnland zu schneiden, redete kein Wort mit ihnen und vermied die Nähe. Es schmerzte mich mehr als sie, vor allem aber schmerzte es Soile. Es schmerzte Soile, dass ich mich weigerte, unter die Glückwünsche auf den vielen     Weihnachts-, Oster-, Valentins-, Geburtstags- und Namenstagskarten an die Seppot neben Soiles Unterschrift mein ‚Alppi‘ zu setzen, also tat ich es doch. Soile gegenüber fühlte ich mich schuldig, weil ich ihr das Darlehen eingeredet hatte. Es lag mir daran, den Schaden gering zu halten. Nach den Buchstaben des Vertrages kam das Darlehen von Soile allein. Doch de facto war es unser gemeinsames Geld. Entgegen meinen Erfahrungen mit Annamaria hatte ich auch mit Soile immer nur gemeinsame Gebarung. Für mich war es die normalste Sache der Welt. Und ich hatte nie Grund zu Beunruhigung.


Der Prozess in Kenia zog sich noch lange hin. Zu meiner Überraschung stand am Ende die Rückgabe der Lastwagen in den Besitz der Seppot. Ob der anschließende Verkauf die Kosten deckte, ist mir nicht bekannt. Ich habe stärkste Zweifel. Tatsächlich gaben die Seppot auch das Dachappartement auf und bezogen den Teil eines betagten Reihenhauses ganz in der Nähe von unseres Seppos Elternhaus, das jetzt Sirkku und Kari beherbergt. Sporadisch langte von den beiden noch eine der kleinen Raten ein, dann gingen die Zahlungen schlafen. Das Abstandhalten von den Seppot hatte ich nach einiger Zeit aufgegeben. Es belastete Soile zu sehr. Die Seppot akzeptierten meine Wiederannäherung, ohne die ganze Sache in irgendeiner Weise zu erwähnen. Ich hörte auf, Zahlungen einzufordern, denn ich sah, dass Soile damit abgeschlossen hatte und am liebsten vergessen würde. Unser tägliches Leben wurde von dem Ausfall kaum berührt. Vor allem traf er Soiles Töchter, deren Erbe schrumpfen würde. Wie man so sagt, Kuah hin, Kalbl hin.

Share by: