Almkätzchen

Almkätzchen

worin vorkommen: Rivolto, Saak, Finnland, der Dobratsch, der Mangart, der Oisternig, Castelfranco Veneto, Muscletto, das Ristorante 

'Al Ripi', die Villa Manin, das Ristorante 'Macor', Namibia, Maltahöhe, Lappland, Arnoldstein, Rosemarie Pilcher, Inga Lindström, Maybritt Illner, Markus Lanz, Dreyfus, 'Wer wird Millionär', 'Millionenshow', 'Wer weiß denn sowas', 'Rosenheimcops', 'Um Himmels Willen', sowie mehrere Abschiede auf immer

Noch in meinem Versteck, der geschlossenen Schachtel, ich abe es bemerkt. Plötzlich wir sind gewesen ganz woanders. Das nicht war die gewohnte Industrieluft von Rivolto. Obwohl eingepackt, abe ich gespürt einen kühleren Auch, der ist eingedrungen in meinen Unterschlupf. Düfte, nie gewitterte, sind gewesen, die ich nicht abe können zuordnen. Und dünner ist gewesen die Luft, reiner.


Gleich nach der Ankunft meine Schlepper aben geöffnet die Schachtel. Wir sind gewesen in eine Art Keller. Es war feucht, feuchte Wäsche ist da geangen. Licht ist gefallen durch eine Oberlichte, das Fenster geschlossen. Sie aben mir ingestellt eine Schale mit Wasser und ein Tellerchen mit Wurst. Wasser abe ich genommen sofort. Ein bisschen. Für mehr und für die Wurst bin ich gewesen zu nervös. Ich abe zuerst müssen erkunden den Raum. Regale sind gestanden da. Da ist geangen die Wäsche. Ich abe versucht zu springen auf so ein Emd, aber Soile at geschrien. Es ist mir eh gewesen zu nass. Stattdessen bin ich gelaufen oben den Schrank entlang, wo ist der Auslass für das Wasser. Wie in Rivolto. Auch den Blechkasten daneben abe ich gekannt, der brummt so blöd und zittert, bevor die nasse Wäsche kommt raus bei seinem Maul. Sie aben mich gestreichelt und ich abe geschnurrt, abe vermutet, sie meinen es gut mit mir. Da abe ich gefressen von der Wurst. Ein bisschen. Für mehr bin ich gewesen zu nervös. Sie aben mich dann gelassen allein. Bevor es geworden ist dunkel, aben gesungen draußen die Amseln. In Rivolto aben gegurrt die Tauben. Die Amseln singen viel schöner. In Rivolto ich war frei. Ier ich bin gefangen.


Die Amseln aben wieder gesungen, als es geworden ist ell. Immer noch ich war gefangen. Sie aben mir gebracht Wasser und zu essen. Soile at mich gestreichelt und ich abe geschnurrt. Aber sie aben mich nicht gelassen frei. Soile at genommen die Wäsche und ist damit fortgegangen. Ich abe geabt Zorn, weil ich bin gewesen ier eingesperrt und abe geabt Schmerz, weil ich nicht abe sein können in Rivolto bei meinen Freunden und Freundinnen. Dort abe ich sie gealten für eine blöde Bande, abe vermieden zu begegnen ihnen. Und wie jetzt ich sie vermisse!


Die Amseln aben gesungen am Abend und am Morgen und wieder am Abend und am Morgen. Dann endlich abe ich dürfen aus dem Keller kommen. Da gibt es zu entdecken wieder sehr viel Neues. Das Aus at viele Zimmer wie in Rivolto. Es ist wunderbar chaotisch. Überall stehen erum Schachteln, volle und leere. In jede einzelne steige ich inein und schlafe darin, sodass Soile und Rainer mich nicht können finden. Man ruft mich, aber ich zeige mich nicht. Mehrere Gegenstände abe ich gekannt aus Rivolto, beispielsweise die bequemen englischen Sitzmöbel, in denen auch so errlich schlafen ist. Errlicher sind nur Schachteln. Das Tollste aber ist, an der Terrassentür stehen und inausschauen ins Freie. Zuerst abe ich erblickt das viele Grün und die ohen Berge in der Nähe und noch öhere dainter. Aber dann, ich schaudere immer noch, wenn ich daran denke, ich erstarre wie ein Denkmal, als ich sehe eine Anzahl fürchterlicher Ungeeuer, riesig wie Lieferwagen, aber lebendig! Sie sind ganz nah, nur zwei Katzensprünge weg auf der Wiese nebenan. Es sind gut zwei Dutzend dieser Monster. In lockerer Gruppierung stehen sie da, die Riesenschädel gesenkt zu Boden, malmend Gras, während ihre Lider zucken über die bulligen Glasaugen, um zu verscheuchen die Eerscharen von Fliegen, von denen noch viel mehrere umschwirren das andere Ende. Regelmäßige Peitscheniebe von einer grässlichen Schlange verindern, dass die Fliegen in Ruhe sich können niederlassen, doch diese nützen unerschrocken jede der kurzen Pausen zwischen den Ieben dazu aus. Jetzt ich bin froh, nicht zu sein da draußen nahe solchen Ungeeuern. Allerdings, die dünne Glastür zwischen ihnen und mir, was könnte sie elfen, wenn einer der Kolosse sie durchstieße. So ich stehe reglos, um nicht erauszufordern das Schicksal.


Soile und Rainer aben nicht Angst. Ohne Sorge sie gehen auf die Terrasse, nahe an die Ungetüme. Keiner nimmt Notiz vom anderen. So ich wage auch, einen Tag später, mich auf die Terrasse. Zur Sicherheit ich mache einen großen Katzenbuckel. Jetzt erst ich sehe noch andere Bestien etwas weiter weg inter dem Zaun am Ügel oben. Moment, die kenne ich. Solche es at gegeben auch in Rivolto. ‚Mus‘ aben genannt die Leute sie. Soile und Rainer aben sie genannt ‚Asini‘. Ier sie nennen sie ‚Esel‘. Warum nur? Sind doch die gleichen Viecher.


At gedauert eine ganze Weile, bis ich mich abe gewöhnt an diese neue Welt. Angst abe ich geabt nicht mehr, aber Respekt immer. Eine Menge Stare ganz nah an den Monstern auf dem Boden aben dürfen äsen, an den Fladen picken, die gefallen sind aus dem Loch unter den wedelnden Schlangen, von den Staren ich ätte gern mir einen geolt. Wenn aber ich bin gekommen nahe, die Monster aben gesenkt den Schädel und getrampelt mit den Axen. Die Vögel aben dürfen nahe, ich nicht.


Im ganzen Aus ich abe dürfen spazieren, außer in dem einen Zimmer, wo Soile und Rainer selber aben geschlafen. Überall ich abe geabt eine Schachtel, sogar unten, wo sie gesessen sind den ganzen Tag und aben gespielt mit Papier und komischen Sachen, wie früher in Rivolto. 

Auch in die Küche ich abe dürfen. Bin niemals dort gesprungen auf die Möbel. Seit einmal in Rivolto ich bin worden fast erschlagen von einem eingefrorenen Uhn, das vom Küchenschrank ist gefallen, als ich abe daran geleckt, ich werde das bestimmt nicht mehr machen. Abe ich auch nicht nötig. Soile gibt mir zweimal am Tag zu essen. Und bei Tisch fällt auch immer etwas ab für mich. Schlimm sind nur die Tage, wenn Soile und Rainer ein paar Tage nicht kommen eim. Ich schon weiß, was los ist, wenn ich eine Unmenge Trockenfutter sehe und meine Lieblingsschachtel neben der Terrassentür. Dann sie schleppen ihre Trageschachteln zum Auto und verschwinden. Ob sie fahren nach Rivolto? Warum darf ich nicht mit? Gern ich gehe streunen durch die Gegend um das Aus. Es gibt einige Katzen, aber weniger als in Rivolto. Keine Plage. Mit den Kätzinnen ich komme gut zurecht. Aber die Kater! Viele von ihnen sind ja kleiner und nicht gut ernährt, die gehen mir aus dem Weg. Es gibt aber auch große, kräftige, richtige Dorframbos. Natürlich sie aben bemerkt, dass ich bin neu im Dorf. Zum Glück sie sind etwas langsam. Ich bin kleiner, aber ausgebildet im italienischen Nahkampf, also sehr schnell. Im Zubeißen wie auf der Flucht.

***

Ugolino, der Klebetrottel vulgo Globetrotter, war uns ein lieber Illegaler für ein paar Jahre. Ein Nierenleiden konnte zuletzt nicht mehr beherrscht werden und ein Tierarzt in Saak gab ihm die letzte Spritze. Ugolino ruht seither am Fuß der Trauerweide.


Lange dachte ich, nach Ugolino würde mir kein Tier mehr ins Haus kommen. Ein Hund sowieso nicht. Den kann man nicht längere Zeit allein lassen. Mitnehmen auf Reisen, die zu einem großen Teil anders sind als Urlaubsfahrten, geht auch nicht gut. Aber auch keine Katze mehr. Sie würde nur den Schmerz um Ugolino nähren, der jetzt tief unter der Trauerweide schnurrt.


Es gibt Hundemenschen und Katzenmenschen.


Hunde sind ergeben. Sie folgen. Die Liebe zu Frauchen und Herrchen ist unbedingt und sie zeigen sie überdeutlich, sogar wenn es Tyrannen sind. Hunde mögen ihr Rudel und ihre Rolle darin. Du kannst ihnen Kunststücke beibringen. Sie werden sie jederzeit bereitwillig vorführen.


Katzen sind stolz. Sie machen, was sie wollen. Manchmal machen sie auch, was du willst. Aber nur, wenn sie wollen. Und wenn sie sich nicht gerade putzen. Denn dann sind sie komplett abgemeldet. Katzen sind Individualisten. Auch sie lieben Frauchen und Herrchen, vorausgesetzt, sie werden von diesen geliebt. Dann kann es sein, dass sie schnurren, weil diese Liebe ihnen guttut. Dressieren kann man Katzen schlecht. Du kannst ihnen dies oder jenes ab- oder angewöhnen. Doch der Augenblick ist nicht fern, da haben sie keine Lust mehr dazu.


Ich war immer ein Hundemensch gewesen. In Finnland hatten wir nacheinander zwei Spanielhündinnen, Nelli und Milla. Es waren die Mädchen, die unbedingt einen Hund wollten. Ihn betreuen musste immer ich. Vor der Fahrt ins Büro um halbsieben Uhr früh, als die anderen gerade erst verschlafen zum Frühstück taumelten, mit Milla durch den finnischen Winter stapfen, hoffen, dass sie endlich macht, während sie doch nur schnüffeln will... Geliebt habe ich die beiden trotzdem.


Durch Ugolino bin ich zum Katzenmenschen geworden. Er hat gemacht, was er wollte. Manchmal auch, was ich wollte, aber nur, wenn er wollte. Niemals, wenn er sich gerade putzte. Er hat geschnurrt, weil meine Liebe ihm guttat. Und meine Liebe wurde größer und größer bis zum letzten Augenblick und weit darüber hinaus.


 Wenn wir auf der Terrasse saßen, kamen manchmal die Katzen aus der Nachbarschaft vorbei. Wir lockten sie mit Wurst heran. Anfangs waren sie scheu, aber mit der Zeit kamen sie näher. Die Sicherheitsabstände wurden immer kleiner. Beim ersten Versuch einer Berührung wichen sie ein paar Meter zurück, später begannen sie, ein Streicheln zu akzeptieren und die Wurst direkt aus der Hand. Es lag uns ferne, die Katzen besitzen zu wollen. Unsere Absicht war nicht, sie von anderswo wegzulocken. Es genügte uns, mit ihnen befreundet zu sein. Einem von ihnen, ein getigerter Kater, fehlte der Unterschenkel an einem Bein. Die Verletzung war offensichtlich unbehandelt. Der nackte Knochen ragte aus der Wunde. Es war ein erbarmenswürdiger Anblick, wenn er durch die Gegend humpelte. Wir nannten ihn Dreyfus. Er besuchte uns regelmäßig ein paar Jahre hindurch.


Eine Katze beschloss, bei uns zu bleiben. Das heißt, in der Nähe des Hauses. Ins Innere durfte keine von ihnen. Wir stellten ihr das Essen auf die Terrasse. Sie war weiß und grau getigert. Wir nannten sie Lilli. Wir mochten sie und Lilli mochte uns. Ab und zu blieb sie weg, aber nach ein paar Tagen war sie wieder da. Wenn sie wegging, lief sie den Hügel hinauf. Irgendwo dort oben musste ihr ursprüngliches Zuhause sein. Als sie im Frühjahr einmal fort war, ging Rainer in den Schuppen hinterm Haus und fand dort Lilli. Sie konnte in den Schuppen gelangen, weil Rainer eine Öffnung für Ugolino in die Tür geschnitten hatte. Lilli war nicht allein. Sie lag da in einer Kiste mit vier kleinen Babykätzchen. So war das: Nie wieder eine Katze. Nicht eine. Fünf!


Ich versorgte die Bande mit gewässerter Milch und bettete sie in der Kiste auf ein weiches Tuch. Wir nannten die Kleinen Musta, Mirri, Murre, alles finnische Katzennamen, den vierten weiß ich nicht mehr. Nach ein paar Tagen trug Lilli ein Baby nach dem anderen den Hügel hinauf. Sie hielt die Kleinen im Maul und sprang so mit ihnen über den Zaun. Als das Letzte fort war, waren wir ziemlich traurig. Ging es Lilli besser dort, woher sie gekommen war? So war das: Nie wieder eine Katze.


Zwei Wochen später tauchte Lilli wieder auf. Sie kam den Hügel herunter. Vier kleine Kätzchen bemühten sich vergeblich, mit ihr Schritt zu halten. Die Abstände zwischen ihnen waren lang. Die Kleinen miauten verzweifelt. Lilli kümmerte das wenig. Letztlich waren alle fünf bei uns angekommen. Über lange Zeit blieben sie bei uns, machten aber zwischendurch immer wieder Heimatbesuche im Oberdorf.


Auf unseren Rundgängen um das Dorf, die nach und nach nicht mehr nur nächtens stattfanden, sondern auch im sommerlichen Abendlicht, genossen wir die unglaubliche Schönheit dieses Fleckens zwischen Dobratsch, Mangart und Oisternig und das Fehlen nennenswerten Straßenverkehrs. Hauptzweck unseres Rundendrehens war aber, dem vielen Sitzen im Büro ein wenig körperliche Bewegung entgegenzusetzen. Wir gingen grundsätzlich jeden Tag, an dem es nicht ohnehin Tennis gab und das Wetter nicht gar zu garstig. Die Runde begann mit einem steilen Anstieg hinauf ins Oberdorf und zog sich dann in sanften Bögen um ganz Hohenthurn, nicht ganz vier Kilometer. Wir schritten zügig aus, sodass wir nach gut vierzig Minuten wieder zuhause ankamen, leicht verschwitzt. Auf einer dieser Runden, wir waren gerade am weitesten von daheim weg, erblickte Rainer in weiterer Entfernung eine Katze, die auf einem Weidezaun saß und offenbar auf eine Maus wartete. Rainer dachte, es könnte Lilli sein und rief ihren Namen. Die Katze blickte zu uns herüber. Rainer rief nochmals. Da ließ die Katze Maus Maus sein, sprang vom Zaun und kam auf uns zugelaufen. Es war tatsächlich Lilli. Nach freudiger Begrüßung setzten wir unseren Weg fort und Lilli verschwand im Dickicht Richtung Oberdorf. Als wir daheim ankamen, war Lilli schon da und erwartete uns. Für sie war der Weg direkt über die Grundstücke eine Abkürzung. Der Vorgang verdeutlichte uns Lillis Intelligenz.


Mit schwarzen Katern hatten wir kein Glück. Sie verschwanden immer sehr bald. Obwohl der Verkehr auf den Ortsstraßen gering war, verdächtigten wir ihn als Ursache. So ging es auch mit Musta, das ist finnisch für schwarz. Aber auch Mirri und Murre blieben uns nicht lang erhalten. Lilli glich die Verluste im Herbst wieder aus. Noora und Nero waren das Ergebnis. Nach Lilli und Musta hielten wir fortan an der alphabetischen Tradition fest, daher war nun die N-Generation an der Reihe. Nero war natürlich ein schwarzer Kater, Noora wie Lilli weiß und getigert. Die Freude an Nero währte nicht lang. Schwarzer Kater. Noora aber entwickelte sich zu einer lebhaften, starken Katze. Ihr verdankten wir Otello (schwarzer Kater!), Ophelia und später Puma und andere aus der O- und P-Generation, schließlich auch Queeny.

Queeny wurde nicht bei uns geboren, sondern vermutlich im Oberort. Eines Tages hörten wir von der Terrasse aus verzweifeltes Miauen. Rainer ging nachschauen und brachte aus der Weide eine Handvoll Katzenbaby mit. Es folgten ihr nach und nach Quarz, Quark und Quasimodo. Dass Noora ihre Mutter war, konnten wir aus dem Interesse ableiten, das Noora bisweilen an den Babys zeigte. Dieses Interesse aber war keineswegs konstant. Noora ließ sich nicht von ihren oft tagelangen Jagdausflügen abhalten. Um die Kleinen kümmerte sich dann ihre Oma Lilli.


Alle Namen unserer Katzen sind mir nicht mehr erinnerlich, aber schon die hier erwähnten lassen verstehen, dass unser Haus von einer beträchtlichen Anzahl Katzen bevölkert war. Zu manchen Zeiten war es sicherlich ein Dutzend gleichzeitig. Unser Grundsatz, keine Katze im Haus bröckelte. Besonders die Kleinen flutschten immer wieder durch, etwa beim Öffnen einer Tür, einzeln oder mehrere. Es bedeutete immer eine wilde Jagd durchs ganze Haus, bis man sie wieder expediert hatte. Schließlich gaben wir den Abwehrkampf auf und ließen sie kurzzeitig herein, auch weil ihre Reize uns entzückten. So war das: Nie wieder eine Katze.


Queeny bekam Ruby, Rogna (italienisch für Ärger), Roger (nach Federer) und noch ein R., das Jahr darauf Sirikit, Soraya, Seppi (nach dem Südtiroler Tennisspieler) und noch ein S., während Noora sich mit Scheich und Sharapova einstellte. Im Herbst steuerte Ruby die Zwillinge Striezl und Strankale (kärntnerisch für grüne Bohne) bei. Die S-Generation trug am meisten von allen zu unserer Unterhaltung bei. Es war die verspielteste Bande, die man sich vorstellen kann. Ohne Unterlass jagten die kleinen Kätzchen einander über die Terrasse in wechselnden Komplizenschaften. Sie überfielen einander in Wellen. Während eines sich an ein anderes anschlich, bereiteten gleichzeitig drei andere den gemeinsamen Überfall auf das eine vor. Der Angriff endete in einer allgemeinen Rauferei, dem so manches Haarbüschel zum Opfer fiel. Die Jagd ging quer über die Terrasse und alle Bäume hinauf und hinunter und unter die Holzdielen der Terrasse. Weil einmal eines nicht mehr unter der Terrasse hervorkonnte, löste Rainer ein Brett daraus, sodass eine ständige Öffnung entstand. Jetzt endeten viele der Hetzjagden mit einem unerwarteten Sturz in diese Öffnung. Das machte ihnen gar nichts, es erhöhte noch die Lust an dem Toben. Selbstverständlich konnte es nicht ausbleiben, dass Rainer oder ich selber in diese Falle plumpsten und ich wundere mich, dass dabei nie ein Knochen zu Bruch ging, nur manche Kaffeetasse im Bogen davonflog. Scheich wurde ein schöner grauer Kater, verschwand aber im Ungewissen ebenso wie Seppi. Verschwunden war eines Tages auch Lilli, die Stammmutter von allen. Sie ist nicht gegangen, ohne nach Katzenart Lebewohl zu sagen. Zärtlich ist sie um meine Füße gestrichen und wie sie mich so von unten herauf angeschaut hat, darin ist die ganze Bitterkeit des endgültigen Abschieds gelegen. Rainer hat es mir nie erzählt. Aber er hat viele Jahre später beim Wegräumen des Brennholzes hinter dem Windfang, dort, wo das Holz gegen die Wand gelehnt war, einen Fund gemacht. Zuerst hat er geglaubt, es wäre ein Brett gewesen mit einer seltsamen Maserung. Aber dann hat er gesehen, es war ein Stück Fell, zerfressen wie ein Teppich von Motten. Der Balg war doppelt, Fell auf beiden Seiten. Was einmal dazwischen gewesen sein mag, war nicht mehr da. Die Überreste einer Katze. Lillis letzter Rückzugsort.


Mit Striezl und Strankale, von Ruby, bekam unser Katzenclan noch einmal eine neue Qualität. Sie waren Herbstkatzen und daher noch ziemlich klein, als der Spätherbst mit nassem und kaltem Wetter hereinbrach. Es zeigte sich, dass die beiden Kleinen Nässe und Kälte nicht vertrugen. Sie waren ständig erkältet. Die Tierärztin gab Antibiotika. Gegen alle Grundsätze beschlossen wir, die beiden im Haus zu lassen. Sie gingen dann nur ab und zu bei sonnigem Wetter hinaus. Ein weiterer Grundsatz fiel: Ein Katzenklo musste her. Der Liebreiz der beiden erleichterte die Entscheidung. Striezl war sowas von schlauer Katze und Strankale sowas von ein bisschen tollpatschigem Kater, sie passten perfekt zu uns. Striezl schaute gern Fußball. Oder Tierfilme. Strankale überfiel gerne Rainer und auch mich, indem er auf unsere Schultern sprang. Anfangs waren wir darauf nicht gefasst und bekamen einen tüchtigen Schreck, wenn er seine Krallen in unsere Rücken schlug. Da war er noch jung und leicht. Später erkannten wir an seinem die Sprungbahn berechnenden Blick, was er vorhatte, und das war gut so, denn er war inzwischen ausgewachsen und sein ganzes fülliges Gewicht hing an seinen Krallen in unserem Fleisch.

Rainer genoss das jeden Abend, bevor er zu Bett ging. Strankale folgte ihm ins Bad und während Rainer begann, seine Zähne zu putzen, sprang Strankale ihn von hinten an. Dann blieb er schnurrend auf Rainers Schultern sitzen. Er verfolgte Rainers ebenfalls schnurrende Elektrozahnbürste. Wenn diese ihre Richtung änderte, musste auch Strankale seine Position wechseln. Unter Einsatz seiner Spikes drehte er sich in die andere Richtung. Seit Rainer ihn mit dieser vibrierenden Zahnbürste einmal durchmassiert hatte, liebte er das Gerät. Vielleicht konnte er es ja jetzt beim Zähneputzen erhaschen, wenn er im richtigen Moment wendete. Warum bloß Rainer immer so schrie, wenn er sich umdrehte? Die Zahnseide, die darauf folgte, war auch hoch interessant. Rainer wickelte die Enden um zwei Finger und zog den Faden zwischen den Zähnen durch. Dabei streckte er den Daumen von sich. Für Strankale war es eine Einladung, den Daumen zu liebkosen, indem er seinen Kopf an ihm rieb und ihn zärtlich beknabberte, so wie auch das Ohr. Sobald die Zähne fertig geputzt waren, öffnete Rainer den Wasserhahn und spülte aus. Dabei bespritzte er auch den Kater, nicht ganz ohne Absicht. Strankale begann sofort, sich das Wasser abzulecken, da kam auch schon das Handtuch, das Rainers Mund und des Katers Kopf trocknete. Danach ging Rainer zum Abfalleimer, um die Zahnseide zu entsorgen. Während er sich dabei bückte, war die beste Gelegenheit für Strankale seine beherrschende Position aufzugeben, weil er dabei nicht so tief hinunterspringen musste. Rainer quittierte den Wegfall von Schmerz und Gewicht auf seinem Rücken mit einem erleichterten Seufzer. Er warf nun das Badetuch über Strankale, der gerne und offenbar mit Genuss in dieser dunklen, weichen, warmen Höhle blieb. Indessen machte Rainer einen Blick ins Vorzimmer und richtig! Striezel hatte bereits geliefert. Striezl hätte leicht ihrerseits ins Bad kommen können, die Tür stand immer einen Spalt offen. Das tat sie aber höchst selten. Das Bad war maskulines Terrain. Die Dinge, die dort geschahen, waren zu seltsam, um ihre Weiblichkeit dort einzubringen. Stattdessen schlich Striezl über die Treppe hinunter ins untere Vorzimmer. Da hing immer irgendein Pulli auf dem Sessel oder, an Tennistagen, ein Tennishemd, das trocknen sollte, bevor es zur Wäsche ging. Striezl packte es mit dem Maul und schleppte es die Treppe hinauf, wo sie es unter lautem Miauen vor der Badezimmertür ablegte. Eine Liebesbezeugung: das Überlassen der Beute an Rainer. Wenn Striezl die Wahl hatte zwischen Wäsche von mir und von Rainer, wählte sie immer Rainers. Nur wenn nichts anderes da war, brachte sie auch etwas von mir. Rainer stellte also fest, dass die Lieferung eingelangt war. Er verließ kurz das Bad, streichelte Striezl und bedankte sich für das Geschenk. Allzulange durfte er sich damit nicht aufhalten, denn er war müde und wollte zu Bett, aber da drinnen im Bad wartete noch eine unerlässliche Aufgabe auf ihn. Er ging hinein, klappte den Klodeckel zu, setzte sich darauf und zog das Badetuch von Strankale ab. Der hatte schon auf die Freiheit gewartet, um auf Rainers Oberschenkel zu hüpfen. Rainer musste schnell sein, um das Badetuch rechtzeitig davor dort unterzubringen, dann waren Strankales Krallen nicht so scharf. Schnurrend genoss nun Strankale Rainers teils zartes, teils gröberes Streicheln und Rainers kleinen Finger, der sich so weit es ging in Strankales Ohren bohrte, und damit einen angenehmen Juckreiz gleichzeitig auslöste und linderte. Ab und zu gab es eine Sonderbehandlung. Die erwähnte Massage mit der vibrierenden Zahnbürste etwa, oder die Bürste mit den Metallborsten, mit dem Strich und dagegen. Das viele Haar, das dabei in der Bürste blieb, sammelte Rainer in einer Lade. Es ist schon ein großer Knäuel. Niemand weiß, auch Rainer nicht, wozu er es sammelt, aber weggeschmissen wird es doch nicht. Eines Tages wird es die einzige greifbare Erinnerung sein an dieses liebe Tier, das imstande war, sogar einem Ugolino den Rang abzulaufen. Nie wieder eine Katze.


Solche Rituale haben sich nach und nach in unser Leben eingenistet. Rituale erleichtern Abläufe. Für spannende Entwicklungen sind sie Gift. Rituale regulieren. Sie sind das Lineal, das der reizvollen Kurve den Pfiff nimmt. Tennis dienstags, donnerstags und samstags, da braucht man schon einmal die halbe Woche nicht mehr überlegen, was geschehen soll. Da ich früher zu Bett gegangen bin als Rainer, stehe ich auch früher auf. Striezl schläft noch zusammengerollt auf der Couch im Vorzimmer. Strankale ist im Lauf der Nacht unter die Decke auf der Couch gekrochen. Ohne sich zu rühren, warten die Katzen, bis ich aus dem Bad komme. Die Katzen füttern um acht und um drei. Frühstückstee ohne irgendwas dazu. Danach gemeinsam Zähne putzen und das Bett tagesfit machen. Jeder Schritt, jeder Handgriff ist tausendmal ein- und ausgeübt. Das Ephraim-Orakel. Ephraim ist ein kleiner Stoffelefant, den ich einmal von meinen Töchtern bekommen habe. Ich halte Ephraim, Rainer wirft ein Taschentuch nach ihm, dessen vier Zipfel zu je einem Knoten geschlungen sind. Auf den so entstandenen vier Seiten der Kopfbedeckung sind vier Gemütszustände abzulesen. Von gut gelaunt bis myrsky, also stürmisch. Das Tuch rotiert rasch auf seinem Flug durch die Luft. Wenn es auf Ephraims Kopf landet, zeigt sein Rüssel Ephraims Stimmung an und das lässt Rückschlüsse zu auf unsere eigenen Befindlichkeiten im Verlauf dieses Tages. Ausführlich die Zeitung lesen. Unsere ist nicht kleinformatig. Dazu beziehe ich den Turun Sanomat, der ein paar Tage alt ist, wenn er im Briefkasten liegt, in Krisenzeiten auch einmal zwei Wochen. Zwischendurch Vormittagskaffee mit einem Keks. Alles steht an seinem Platz und wird auch wieder genau dorthin zurück gestellt. Man findet die Sachen blind. Das Mittagessen beim Mittagsjournal ist relativ neu. Früher aßen wir, arbeitsbedingt, auch rituell, nur abends. Das Alltagsgeschirr montags bis freitags. Samstags das rosa bedruckte. Nur sonntags das irdene, skandinavisch pastellbunte, das Rainer vor fünfundvierzig Jahren bei einer seiner Autorückholungen aus Dänemark seinen Eltern mitgebracht hat. Wie durch ein Wunder ist es immer noch ganz. Das Tischgedeck täglich sorgfältig, immer gleich. Stofftischtuch. Zwischen unseren Plätzen, die von Mahl zu Mahl getauscht werden (weil so die Kleckser nicht so eindeutig dem Verursacher zugeordnet werden können), die Position der Saliera, Salz- und Pfeffermühlen, der Olivenölkaraffe, die Zahnstocher im Pfefferstreuer mit dem silbernen Streukopf, gestohlen aus einem Restaurant in Castelfranco Veneto, die Stoffservietten in den Serviettenringen, an die Kirsi Bären-Figurinen aus Backteig gemodelt hat. Unter den Wassergläsern die Keramikuntersetzer aus dem Ristorante Al Ripi nahe Muscletto, unter dem Kerzenständer von Iittala der Untersetzer aus dem Ristorante Macor in der Villa Manin und unter der Wasserflasche der Untersetzer aus der Lodge in Maltahöhe, Namibia. Sonntags hingegen die Korkuntersetzer aus Lappland mit den primitiven Darstellungen von Jagd, Krieg und früher Seefahrt. Sonntags ausnahmsweise das Frühstück mit Wurst- und Käse-Aufschnitt, Brot, Rainer auch Butter, ich unbedingt Gurke und Tomaten, und Kaffee. Der Dorfrundgang an tennisfreien Tagen. Die Strecke ist wunderschön, aber immer dieselbe. Wir kennen jede Zaunlatte, alle Kanaldeckel auswendig. Auf die darf man nicht treten, sagte schon Rainers Vater. Sogar das Loch im Asphalt, in das Rainer hineinsteigt, ist immer wieder dasselbe. Nachmittags meine Sudokus und finnischen Kreuzworträtsel, oder einen der dicken Wälzer, die ich vorsorglich für ein ganzes Jahr in Finnland gekauft habe, Rainer arbeitend am PC oder im Garten, oder wir faulenzen beide unter dem Sonnenschirm auf der Terrasse, holen den Schlaf nach, den wir beim Ausleben unserer vielen Rituale versäumt haben. Die Abende seit der Umstellung kein Essen mehr, vielleicht ein paar Salznüsse zum einfachen Wein und billigen Schnaps. Im Fernsehen meistens unsere bevorzugten Programme. Wer wird Millionär, Millionenshow, Wer weiß denn sowas, Rosenheimcops, Um Himmels Willen. Wenn’s nach mir geht, Rosemarie Pilcher oder Inga Lindström, oder Tennis, wenn’s nach Rainer geht, klassisches Konzert oder Oper, meistens aber geht’s nach dem ORF. Nach den Nachrichten gehe ich zu Bett. Rainer schaut noch Maybritt Illner oder Markus Lanz, meistens beides. Ich weiß ja wohl, dass er früher manchmal Pornos geschaut hat. Aber auch das ist vorbei. Jedenfalls hat er noch sein nächtliches Ritualprogramm: Alle Katzen bekommen ein Wurstleckerli. Queeny und Ruby draußen, Striezl und Strankale drinnen. Ruby kommt außerdem noch am Küchenfenster vorbei um ein Extra. Die immer gleichen Lichtquellen müssen nacheinander ausgeschaltet werden. Das auf MDR geschaltete Klassikradio wird so programmiert, dass es sich gegen ein Uhr ausschaltet. Man kann es bis dahin im Bad hören. Der Mitteldeutsche Rundfunk spielt durchgehend Klassik, darunter oftmals Komponisten aus der zweiten Reihe. Leider wird das Programm nie angesagt. Man kann es aber mit der Info-Taste blockweise anzeigen lassen. Dann macht es Spaß zu erraten, welche Info zu dem gerade gespielten Stück gehört. Rainer nimmt noch einen Gin oder Wodka mit, sonntags einen Whisky. Dorthin, wo der Strankale-Ritus den Tag beschließt.


Es wurlte ums Haus. Die Vorstellung, wie viele Katzen in einem halben Jahr wurln würden, ließ uns die Haare zu Berge stehen. Kein Zweifel, es musste etwas geschehen. Was die Natur selbst dazu beitragen konnte, reichte nicht aus. Es war die Zeit, in der wir in näheren Kontakt mit der Tierärztin in Arnoldstein kamen und plötzlich auch ein Transportkäfig zu unserem Hausrat gehörte. Rogna starb, während sie bei der Tierärztin in stationärer Behandlung war. Sharapova kam aus stationärer Behandlung zwar noch zurück, ging aber bei uns daheim in meinen Händen unter Schmerzen qualvoll zugrunde. So war das: Nie wieder eine Katze, das ging nicht, es waren ja so viele noch da. Trotzdem beschlossen wir, Queeny, Ruby, Sirikit, Sharapova und Striezl sterilisieren zu lassen. Soraya nicht. Sie schien uns von allen die Prächtigste und Gesündeste, und das Bevölkerungswachstum sollte ja nur gebremst werden, nicht völlig abgestellt. Kaum war das Unumkehrbare geschehen, verloren wir Soraya durch Krankheit. Damit stand fest, der von Lilli begründete Ast des Stammbaums würde nicht mehr austreiben. 

Wenn die rollige Zeit kam, war Strankale wild auf jede Katze, insbesondere auf Noora. Er war wild, aber nicht besonders geschickt. Noora bekam er nicht, dafür aber jede Menge Verletzungen von Konkurrenten und von Noora selbst. Die Tierarztrechnungen summierten sich.


In einer der folgenden Saisons de l’Amour. Wer in diesen Schmissen auf Saisons de l’Amour gestoßen ist, kann dabei nur an Rainer und mich gedacht haben. Wie sich die Zeiten ändern! Jetzt geht es dabei um Katzen. Wir befinden uns in Finnland. Ein WhatsApp von Karin, die zuhause unsere Katzen füttert. Zwei Fotos von Strankale. Wir sehen, dass er arg verletzt ist. Am Hals klafft eine offene Wunde und das Fell hängt in Fetzen. Karin meint, das sei nicht so schlimm, es werde von selber heilen. Als wir nach ein paar Tagen heimkommen, sehen wir die Bescherung. Die Verletzung ist fürchterlich. Die zerfetzte Haut beginnt schon nekrotisch zu werden. Rainer ruft die Tierärztin an. Sie wohnt im Raum Villach, kommt aber eigens für uns sofort in die Praxis nach Arnoldstein. 


Wir haben das Gefühl einer schweren Schuld, mit einer so grässlichen Verletzung erst nach so langer Zeit zu kommen. Strankale sitzt auf dem Behandlungstisch und schnurrt. Die Ärztin schneidet die Nekrosen weg. Sie überlegt, wie sie die Wunde decken könnte. Es gebe zwei Möglichkeiten, sagt sie. Operation oder die Wunde langsam von selber heilen lassen. Das würde aber viele Monate dauern und man müsste jeden Tag behandeln und frisch verbinden, anfangs auch zweimal täglich. Wir entscheiden uns für die Operation. Wieder müssen wir ein geliebtes Familienmitglied in der Obhut der Ärztin lassen. Nach unseren bisherigen Erfahrungen ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass es der Anfang vom Ende sein könnte. Die Ärztin schlägt vor, gleichzeitig die Kastration vorzunehmen. Rainer ist diesbezüglich immer skeptisch gewesen. Es würde sehr tief in die Persönlichkeit des Wesens eingreifen. Strankale würde ruhiger werden, aber um welchen Preis! Um den Preis eines Lebens, das gefährlich war, aber doch auch so herrlich wild. Die Freiheit der gefährlichen Wildnis eintauschen gegen die sichere Öde des Altersheims. Der Blick auf die Verletzung überzeugt Rainer. Er stimmt zu. 


Die nächsten Wochen sahen uns täglich bei der Tierärztin zum Verbandswechsel. Die Wunde war kunstvoll zusammengeflickt, aber das vorhandene Hautmaterial reichte nicht, um sie spannungsfrei zu verschließen. Die Nähte hielten nicht. Die Wunde war wieder offen. Die Veterinärin operierte ein weiteres Mal, wieder ohne bleibenden Erfolg. Jetzt bliebe nur die langwierige Methode, sagte sie, warten auf das langsame Zuwachsen des Defekts. Damit hatten wir zusätzlich zur langwierigen Behandlung auch die Kosten der Operationen. Um nicht täglich in die Praxis kommen zu müssen und uns wenigstens diese Kosten zu ersparen, schulte sie uns zum Verbandwechseln ein. Nachdem wir darüber eine kleine Prüfung bestanden hatten, wurden die Intervalle der Praxisbesuche wöchentlich. Unser Küchentisch war jetzt Operationstisch. In dem Regal im Windfang leerte sich das Verbandsmaterial schneller als wir es verstaut hatten. Desinfektionsmittel, Wundauflagen, Honiggel, Zellstoffauflagen, hunderte Meter elastische Binde, hunderte Meter medizinisches Klebeband. Strankale war ein wunderbarer Patient. Er versteckte sich nicht, wenn wir ihn zur Behandlung riefen. Wir stellten ihn auf den OP-Tisch und er schnurrte. Kooperativ hob er sein Bein, wenn das gefragt war, oder drehte sich um. Fast schien er die Behandlungen zu genießen. Wenn da bloß nicht die dumme Halskrause wäre, die schalltrichterförmig Hals und Kopf davor bewahrte, dass er mit seinen Krallen den Verband vernichtete und sich selbst neue Verletzungen zufügte. Er konnte den Umfang dieses Fremdkörpers nicht richtig einschätzen und stieß damit gegen alles, was im Weg stand. Einmal fanden wir nur mehr Teile des Trichters, die um seinen Hals hingen. Wir wissen nicht, wie es ihm gelungen war, den Schutz zu zerfetzen. Wir behandelten Strankale meistens zu zweit. Nach kurzer Zeit waren wir ein eingespieltes Team. Jeder Handgriff saß. Strankale blieb auf dem Tisch sitzen, bis wir ihm bestätigten, dass wir fertig waren, dann sprang er auf den Boden und nahm zufrieden sein Stück Extrawurst entgegen. Als Belohnung für seine Geduld und als Trojanisches Pferd für die Pillen, die er schlucken musste.


Als wir aus Finnland zurückkamen, war es Ende Juni. Jetzt, Mitte August war immer noch kein nennenswerter Heilungsfortschritt festzustellen. Wir saßen im Wartezimmer. Die Praxis wurde von vielen Italienern frequentiert. Wahrscheinlich waren die Konditionen hier günstiger als jenseits der Grenze. Die Italiener unterhielten sich ungeniert über alles Mögliche. Sie dachten, wir verstünden sie nicht. Es wäre ihnen aber auch egal gewesen. Rainer bemerkte eine Ameise, die quer durch das Wartezimmer krabbelte. Als die Assistentin uns zum Eintreten aufrief, blieb Rainer sitzen. Die Ameise war vor uns da, sagte er. Die Tierärztin war ratlos. Die ersehnte Granulation wollte sich nicht einstellen. Sie nahm Blutproben und ließ sie in einem Institut analysieren. Sie beriet sich mit Spezialisten, ohne Ergebnis. Sie vermutete, irgendwelche Bakterien verhinderten die Heilung. Sie probierte verschiedene Antibiotika aus. Endlich schien eines davon anzusprechen. Wir hatten eine zaghafte Granulation. Zu Weihnachten ist alles wieder gut, meinte die Ärztin.


Weihnachten war nahe. Die Heilung machte Fortschritte, aber geschlossen war der Defekt nicht. Rainer bastelte einen kleinen Weihnachtsbaum aus grünen Fisolen, den Strankale der Ärztin schenkte. Das Verbandsmaterial hatte sich von einigen Hundert Meter auf etliche Kilometer summiert. Es war wie beim Flughafen BER: Als neuer Fertigstellungstermin wurde Ostern in Betracht gezogen. So zog sich die Behandlung weit ins neue Jahr hinein. Der Defekt wurde jetzt rasch kleiner. Das Aufatmen zu Ostern war allgemein und tief. Unsere nächste Finnlandreise war nicht mehr weit entfernt.


Noora wurde immer wilder. Ihre Ausflüge dauerten immer länger. Eines Tages waren wir überzeugt, die kommt nicht mehr. Doch plötzlich war sie wieder da. Nach, sage und schreibe, vier Jahren! Sie sah erbärmlich aus. Zerrupft und abgemagert, schmutzig. Schaumiger Schleim stand an ihrem Maul. Gierig stürzte sie sich auf das Fressen, hörte damit nur auf, weil ich nicht mehr gab. Ich erinnerte mich an Erzählungen über Menschen, die lange gehungert hatten und dann am Essen starben, weil es zu viel auf einmal war. Obwohl Noora wusste, dass sie von mir zu essen bekam, pfauchte sie mich an, ließ sich nicht berühren, oder erst nach vielen Versuchen. Die anderen Katzen gingen der wüsten Figur aus dem Weg, die über sie hereingebrochen war wie ein Unglück. Noora blieb ein paar Tage. Eines Morgens war sie wieder weg. Nooras nächste Reise dauerte wiederum lange. Nach weit mehr als einem Jahr tauchte sie unerwartet auf und blieb für ein paar Tage. Das wiederholte sich so noch ein oder zwei Mal. Vor dem letzten Abschied, so erzählte mir Rainer tags darauf, habe sie, die Kratzbürste, Rainer erlaubt, sich neben sie auf die Terrassenstufe zu setzen. Es war ein warmer Sommerabend. Die Sterne leuchteten groß und nah. Noora habe sich nicht gesträubt gegen die Berührung durch Rainers Hand. Er habe sie streicheln dürfen. Noora habe zu schnurren begonnen und ihren Kopf in Rainers hohle Handfläche gelegt. So seien sie eine Weile in der Dunkelheit gesessen. Dann habe Noora sich mit einem Ruck erhoben und mit der finsteren Nacht vereint.


Es fing an mit Queeny. Eines ihrer Ohren begann schwarz zu werden. Als es auch blutete und kleine Stückchen verlor, dachten wir zuerst an die Folgen einer Rauferei. Doch dann verfärbte sich auch das andere Ohr schwarz. Schwarz saß plötzlich auch an Rubys rosa Näschen. Zuerst nur ein Punkt, aber er wuchs und blutete. Die Tierärztin diagnostizierte Karzinome. Sie kämen von der immer aggressiver werdenden UV-Strahlung bei Sonnenschein, für die weiße Katzen besonders anfällig wären. Queenys Ohren wurden wegoperiert, das eine ganz, das andere halb. Eine Schönheit war sie danach nicht mehr. Den Defekt an Rubys Nase versuchte die Ärztin zu veröden. Queenys Ohren schienen stabil. Rubys Nase wenigstens für eine Weile. Bis der Krebs Oberhand behielt und weiter um sich griff. Zuerst fraß er die Lippen weg, dann legte er das Nasenbein frei, immer weiter hinauf. Sekret, das unweigerlich in die Luftwege geriet, reizte sie zu häufigem Niesen. Die Veterinärin riet zur Euthanasie. Ruby müsste starke Schmerzen leiden. Das mochte wohl sein, aber man merkte es Ruby nicht an. Sie war genauso vital wie eh und je, bei gutem Appetit und jagte ab und zu aus Spaß Queeny oder Striezl durch die Gegend. Sie kletterte auf alle Bäume und erwischte manchmal kleine Vögel. Je mehr der Krebs fortschritt, desto lebenslustiger schien sie zu werden. Rief ich sie zum Essen, kam sie im Galopp aus dem Schuppen gelaufen, stürzte sich auf das Futter und bediente sich danach an den Schüsseln ihrer Verwandten. Wie gewohnt, kam sie, bevor Rainer schlafen ging, ans Küchenfenster, ihr spezielles Leckerli abzuholen. Auf dieses Fensterbrett zu gelangen, war nicht leicht, nicht einmal für Katzen. Sie musste von der Holzstiege einen guten Meter in die Höhe springen und gleichzeitig ebenso weit vorwärts und dabei auf dem schmalen blechernen Fenstersims landen, ohne gleich wieder auf der anderen Seite abzustürzen. Das gelang nur Ruby. Sie setzte dazu ihre Krallen an einer Stelle der Hauswand ein. An dieser Stelle entstand mit der Zeit ein Loch im Verputz. Rainer öffnete dann das Fenster und hielt den Gutenachtbissen hin. Ruby schnappte ihn mit der gleichen Hast wie seinerzeit Loredana ihre Geschenke. Diese Ruby einschläfern zu lassen, brachten wir nicht übers Herz.


Später näherte sich der gefräßige Tumor die Wange hinauf dem linken Auge. Ruby hielt es geschlossen, öffnete es nur noch bei besonderer Anspannung. Da verstanden wir, dass der Liebe genuggetan werden musste, bedeutete das auch, unserer Ruby den Tod zu geben. An einem dieser Abende, erzählte mir Rainer, hätte Striezl wie üblich beim späten Fernsehen auf seinem Schoß geschlafen, als, völlig überraschend, Ruby hinzukam und, wie zum Abschied, eine Weile dort blieb. Dreimal, an verschiedenen Tagen, versuchten wir, sie in die Transportbox zu bekommen. Den Trick mit der ausgelegten Wurst durchschaute sie sofort. Ich versuchte es mit Gewalt, holte mir dabei aber nur einige unangenehme Kratzwunden, als Ruby, eigentlich schon im Käfig, sich daraus wieder befreite. Die liebliche Ruby konnte so wild sein wie ihre Großmutter Noora. Bei einem früheren Besuch in der Vet-Ordination war sie vom OP-Tisch gesprungen und in den entferntesten Winkel hinter dem Röntgengerät geflüchtet, sodass die blutende Assistentin zwanzig Minuten brauchte, um sie hervorzubekommen. Schließlich gelang es Rainer, nachdem er seine Arbeitshandschuhe angezogen hatte, Ruby vor die geöffnete Box zu schaffen und siehe da, diesmal schritt Ruby hinein. Freiwillig. Ich verschloss rasch die Klappe. Hätte Ruby sich befreien wollen, ich wäre vielleicht nicht schnell genug gewesen. Doch Ruby blieb im Käfig sitzen, als hätte sie begriffen, dass das jetzt notwendig war, sagte nur „Pju.“ Sie sagte es in regelmäßigen Abständen, „Pju“, leise und verhalten, „Pju“, wie gehauchte Seufzer, die aus dem schwersten Herzen kommen, das es gibt auf der ganzen Welt. Rubys regelmäßiges „Pju“ begleitete uns auf der ganzen kurzen Fahrt hinunter nach Arnoldstein zur Ordination. Und „Pju“ war wohl das Letzte, was Ruby zu uns sagte, das Letzte, was wir von ihr zu hören bekamen. Pju.


Nie wieder eine Katze. Da ich dieses erzähle, sind noch Queeny, Striezl und Strankale bei uns. Queenys Ohren scheinen ziemlich stabil, aber auch an ihrer Nase beginnt das Karzinom zu nagen. Strankale ist ein fetter und behäbiger alter Herr geworden. Striezl scheint noch am vitalsten. Doch mit Nachwuchs wird das nichts.


Nie wieder eine Katze. Neuerdings streicht oft eine schwarze Katze ums Haus. Oder ist es ein Kater? Erste Annäherungsversuche? Nie wieder eine Katze. Von Kater war keine Rede. 

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