L - Rivolto Claims Service

Rivolto Claims Service

worin vorkommen: Codroipo, Chiusaforte, Monteaperta, Nimis, Slowenien, die Julischen Alpen, Resiutta, Udine, Bozen, MIlano, Torino, Trieste, Bologna, Roma, Napoli, Friuli Venezia Giulia, Veneto, Amaro, Tolmezzo, Gemona, das Kanaltal, Sevilla, Copacabana, San Francesco, die Sowjetunion, der Zweite Golfkrieg, Jugoslawien, der Balkan, Ljubljana, Zagreb, Döbling, Johannesburg, Wien, die Villa Manin, Miramare, die Via Gatteri, Salzburg, der Parco delle Risorgive, Faedis, Nimis, Attimis, Serbien, die Karawanken, Klagenfurt, Nizza, München, Genova, Ventimiglia, die Morandibrücke, Afghanistan, Graz, Riva Tre Novembre, Zanoni am Lugeck, der Hohe Markt, die Anker-Uhr, der Ringturm, der Leupold in der Schottengasse, der Prilisauer, der Plachutta, der Weinheber-Platz, Kärnten, Villach, der Hauptplatz, Maria Gail, die Wallfahrtskirche, das Lavanttal, der Marienweg, das Gailtal, Maria Luggau, Vehmaa, der Mittagskogel, der Fujiyama, Drobollach, der Faakersee, Mittewald, Untergreuth, die Berta-Hütte, das Save-Tal, der Türkenkopf, Budapest, Spielfeld, MacDonald, Treviso, Palmanova, der Corno, Mestre, San Donà di Piave, der Fluss Stella, San Giorgio di Nogara, Latisana, Palazzolo dello Stella, Palazzolo, Tricesimo, Mortegliano, Pocenia, Teor, Pasian di Prato, Coccau, der Dobratsch, der Tunnel Spartiacque, Padova, das Ippodromo, die Alpen, die Piazza I° Maggio, Caorle, der Semmering, Ottakring, die Osteria da Toni, Bibione, Lignano, Iesolo, Grado, Aquileia, Campoformido, der Isonzo, Cervignano, Bristol, die Alte Donau, Oberlaa, Jedlesee, Götzendorf, Johannesburg, der Petersplatz, Venedig, der Flughafen Marco Polo, Tarvasjoki, Lieto, Turku, Kuopio, Lappland, Kuosku, Bozen, Mestre, Verona, Rivolto, Monaco (München), Carl Gustav Mannerheim, die Alpini, die Gebirgsjäger, die Sozialdemokratische Partei Österreichs, Ottorino Respighi, der Vatikan, Giuseppe Garibaldi. Filippino Lippi, Vorschmack, die ANEIS - Associazione Esperti Infortunistica Stradale, sowie eine Anleitung zum niederträchtigsten Sport aller Zeiten


Sechs Monate sind um. Eine Entscheidung ist fällig. Zum ersten Mal trage ich die Verantwortung eines Selbständigen. Wenn ich auch früher als Angestellter versucht habe, immer das ganze Unternehmen zu sehen, nicht nur den eigenen Vorteil, jetzt ist beides untrennbar miteinander verbunden. Wenigstens habe ich einen Kompagnon, der vernünftig ist, immer bedachtsam und sehr süß. Sie bemüht sich, meine Impulsivität zu glätten. Am dritten Juni haben wir den fünfzigsten Auftrag gefeiert. Den Sektkorken habe ich mit Datum und „50“ bemalt als Grundstein für eine hoffentlich wachsende Sammlung. Mit fünfzig Aufträgen in einem halben Jahr werden wir zwar viel Zeit für gewissenhafte Arbeit haben, aber absolut nicht genug Einkommen. Also aufgeben? Wir entscheiden uns für auf-schieben. Aufträge wie der Rocciatore und andere müssen sowieso noch abgeschlossen werden. Bis dahin wird man sehen.

Ich entsinne mich meiner Bekanntschaft mit Frau Locatelli vom Arbeitsamt in Codroipo und bitte sie um Informationen zur gesetzlichen Lage des Rocciatore hinsichtlich Arbeitsaufnahme. Was sie mir erzählt verblüfft mich. Die Arbeitsämter unterhalten ein Punktesystem, nach dem die Arbeitssuchenden eingeteilt werden. Entscheidend für die Anzahl der Punkte sind Geschlecht, Alter, Familienstand, Anzahl der Kinder, anderer abhängiger Personen, Einkommen des (Ehe-) Partners, andere Einkommen, Dauer der Arbeitslosigkeit. Meldet ein Arbeitgeber eine offene Stelle, kommt der Suchende mit den meisten Punkten zum Zug. Zwingend. Weder der Arbeitgeber noch der Suchende können das Dienstverhältnis ablehnen. Sehr viele Punkte kommen für unseren Rocciatore so nicht zusammen. Der Arbeitnehmerschutz ist sehr stark. Eine Kündigung durch den Arbeitgeber kommt nur unter speziellen Voraussetzungen in Betracht. Daher bemühen sich alle Arbeitgeber, möglichst ohne Bedienstete auszukommen oder sie schwarz zu beschäftigen. So bleibt die Arbeitslosenrate hoch. Eine Möglichkeit gibt es zwar, das Punktesystem zu umgehen. In Anbetracht der vielen kleinen Familienbetriebe ist es auf Dienstverhältnisse zwischen Verwandten nicht anzuwenden. Mir wird klar, Murnig wird dem Rocciatore die verlangte Rente zahlen müssen, wenn sich nicht ein Dienstgeber findet, der mit dem Rocciatore verwandt ist und bereit ihn anzustellen. Ein neuerlicher Besuch in Chiusaforte. Der Rocciatore ist nicht da. Seine Frau sagt, sie weiß nicht, wo er ist. Ich bin sicher, er ist irgendwo pfuschen. Macht nichts, sage ich, es geht nur um ein paar Auskünfte über seine Verwandtschaft, die zur Beurteilung der Höhe der Ansprüche benötigt werden. Die wird auch sie mir sicherlich geben können. Die Frau überlegt eine Weile, ob sie sich darauf einlassen soll. Anscheinend findet sie die Fragen nicht verfänglich und antwortet bereitwillig. Ich frage nach allen Verwandten des Rocciatore, Vater, Mutter, Großeltern, Onkel, Tanten, Cousins, vollständige Namen, Geburtsdaten, Adresse, Beruf. Die Frau weiß alles ganz genau und ich notiere. Keiner von ihnen ist selbständig, stelle ich fest. Doch, der eine Onkel hat eine kleine Landwirtschaft mit angeschlossenem Agriturismo (rustikale Herberge mit Verköstigung mit selbst hergestellten Produkten und Ab-Hof-Verkauf. Ob das Geschäft gut geht? Im Winter ist Ebbe, aber sonst schon. Da haben sie so viel zu tun, dass sie kaum klar kommen damit. Sie trauen sich aber nicht, jemanden aufzunehmen. Sie wissen ja nicht, was für ein Blindgänger ihnen vermittelt wird und loswerden würde man ihn oder sie nie wieder. Sie sind in Monteaperta, das ist von Nimis in die Berge hinauf, Richtung Slowenien.


Mit Soile mache ich einen wunderschönen Ausflug in den Frühsommer der Julischen Alpen. Nach vielem Suchen finden wir endlich den kleinen, abgelegenen Betrieb. Die Tante nimmt an, wir wollen Ferien machen und nennt uns gleich den Preis für die Vollpension. Nein, nein, stoppe ich sie, wir hätten nur Grüße zu überbringen von Franco aus Chiusaforte. Mein Gott, von Franco! Sie kann es gar nicht fassen, sie haben schon ewig nichts von ihm gehört. Sie ruft ihren Mann aus dem Stall. Giuseppe, die bringen Grüße von Franco aus Chiusaforte. Von Franco? Der als Bub manchen Sommer bei uns verbracht hat? Ja, wie es ihm denn ginge mit seiner jungen Frau, die sie gar nicht kennen. Die Beiden bieten uns Platz an an dem rohen Holztisch, der vor der Tür steht. Die Frau holt einen Krug mit Mosto und gießt uns ein. Wir erzählen von Franco und seiner Frau, so wenig wir auch wissen, von seinem Unfall mit dem Spider und dass er nicht mehr klettern kann. Dass er am Arbeitsamt an hoffnungsloser Stelle gereiht ist und sein Leben bis auf Weiteres mit verhohlenen Gelegenheitsjobs fristen würde müssen, es sei denn… Es sei denn? Es sei denn, er fände einen Job bei einem Verwandten. Den könne das Arbeitsamt nicht verwehren. Onkel und Tante schauen sich an. Für Franco lege ich meine Hand ins Feuer, sagt der Onkel. Du hast recht, pflichtet die Tante ihm bei. So ein guter Bub. Wir wären echt entlastet in unserem Hamsterrad. Aber eins versteh ich nicht, sagt die Tante. Wieso kommen da Ausländer, um uns darauf hinzuweisen? Wieso kommt er nicht selber? Eine heikle Frage. Ich erkläre, dass wir als italienisches Büro von der österreichischen Versicherung beauftragt sind, die Anspruchslage Francos zu klären, dass wir nach Feststellung seiner tristen Lage auf die Idee gekommen sind, ein Dienstverhältnis mit Verwandten könne seine Lage wesentlich verbessern, weil es auf gesunden, korrekten Beinen stünde, weil er nicht gezwungen wäre, von Tag zu Tag verborgen im Untergrund zu arbeiten in ständiger Gefahr aufzufliegen. Sicher, er könnte von der Rente leben, die ihm die Versicherung zahlt. Aber ist das ein Leben ohne richtige Arbeit, ohne Sinn, ohne Erfüllung? Hingegen, mit einer legalen Arbeit in einer Umgebung, die er von klein auf liebt, könnte er genau das finden, Sinn und Erfüllung. So abträglich der geheime Pfusch für das Aufwachsen seiner Kinder wäre, die er sich wünscht, so zuträglich wäre dem eine glückliche, weil korrekte Existenzgrundlage. Die Tante schaut mich zweifelnd an. Sie wollen uns das nur einreden, damit sich die Versicherung das Geld erspart, vermutet sie. Es wäre ein Vorteil für alle, sage ich. Ich suche den Augenkontakt mit der Tante. Franco hat gut verdient als Rocciatore. Die Versicherung müsste jedenfalls die Differenz ersetzen, wenn Franco jetzt weniger verdienen würde. Mein linkes Lid zieht sich zusammen in ein leichtes Zwinkern. Ich sehe, dass sie mich verstanden hat. Der Onkel schaut mich fragend an. Ich sehe, was er denkt, aber keiner von uns spricht es aus. Er denkt dasselbe, was die Tante schon verstanden hat. Wenn wir ihm also ziemlich wenig zahlen, denkt er, und vielleicht etwas dazu unter dem Tisch, kriegt er die ganze Differenz auf seinen Rocciatorelohn von der österreichischen Versicherung? Ich nicke. Na ja, denke ich, ganz ohne Chuzpe kann es nicht gehen in Italien. Aber alles in allem, die Ersparnis für die Allianz wird jedenfalls ganz beträchtlich sein. Und beim Schmerzengeld haben sie sich Unsummen erspart, denn wäre der Unfall ein paar Meter weiter in Italien passiert, wäre es vergleichsweise astronomisch gewesen. Ich setze fort. Nicht nur das, antworte ich, durch das geringere Einkommen wird Franco eines Tages eine niedrigere Pension beziehen. Auch diesen Schaden muss die Versicherung abdecken. Mit dieser unerwarteten Information habe ich das uneingeschränkte Vertrauen von Onkel und Tante gewonnen. Vielleicht auch, weil ich sie nicht weiter bedränge. Wir verbleiben so, dass sie mit Franco Kontakt aufnehmen und gemeinsam überlegen, ob die Lösung für sie in Frage kommt. Sie haben nicht lange überlegt. Ein paar Tage später ruft Franco mich zu sich nach Chiusaforte. Er überlässt mir die Kopie eines Dienstvertrags mit seinem Onkel, bestätigt vom Ufficio di Collocazione in Resiutta. Basta collocazione, scherze ich, da ora camera e collazione. Es kommt noch besser. Franco trägt sich mit dem Gedanken, das Haus in Chiusaforte zu verkaufen und zum Onkel nach Monteaperta zu ziehen. Es ist genug Platz dort, sogar für Familienzuwachs. Wenn langfristig alles gut geht, haben Onkel und Tante eine gute Option auf Altersversorgung.


Murnig ist begeistert. Ich schlage ihm vor, den ganzen Schaden mit dem Rocciatore fertig zu regulieren. Dem würde er sofort zustimmen, aber die kontrollierende vorgesetzte Schadenabteilung hat bereits die Weisung erteilt, Avus damit zu beauftragen. Es wäre mir ein Leichtes, jetzt die Vertretung des Rocciatore zu übernehmen. Franco vertraut mir blind. Es wäre eine lukrative Sache, verlockend in unserer Lage. Außerdem brennt es mir unter den Nägeln, mit Dellorusso oder Tamara diese Sache nach österreichischem Recht auszutragen. Trotzdem lasse ich das lieber. Ich will mir das Vertrauen der Allianz nicht verscherzen. Murnigs Mundpropaganda innerhalb der Allianz und bei befreundeten Sachbearbeitern anderer Gesellschaften ist auf lange Sicht mehr wert. Im Zuge meiner weiteren Kontakte mit Murnig werden wir immer wieder den aktuellen Stand der Rocciatore-Akte informell erörtern. Avus wird der Allianz berichten, sie werde den Aufwand niedrig halten können, weil sie den Rocciatore dazu bewegen konnte einen Job anzunehmen. Sie wird versuchen, den bislang unvertretenen Rocciatore zu übervorteilen, wovon ich abrate. Schließlich wird Franco die Geduld reißen. Er wird einen Anwalt in Udine beauftragen und dieser einen Kärntner Kollegen. Die Entschädigung wird letztlich beträchtlich höher sein als wenn man mit Fingerspitzengefühl vorgegangen wäre.

Das Stichwort ist gefallen. Anwälte. Wir können Vieles außergerichtlich erledigen. Das dürfen wir alles machen. Leider oft mit stumpfen Waffen. Manche Sachen erfordern mehr Nachdruck. Dafür und jedenfalls sobald es zu Gericht geht, müssen wir einen Anwalt beschäftigen. Centrone? Das fehlte noch. Einer mit Sprachkenntnissen wäre ratsam, damit wir ihm nicht alle Unterlagen übersetzen müssen. In Bozen gibt es solche. Manche der deutschen Gesellschaften, die wir besucht haben, beschäftigen sie. Für uns sind sie zu teuer und zu weit weg. Ein Name ist mir schon in Graz aufgefallen. Campeis. Sein Ruf ist so exzellent wie seine Honorarnoten. Eliteanwälte wie Campeis verachten uns Halbgebildete. Niemals würden sie ihr Ansehen durch Zusammenarbeit mit uns beflecken. Bei meinen Gesprächen mit den Agenten ist der Name Natis öfter gefallen. Ich schaue mir seine Kanzlei in Udine von außen an. Das alte Haus in der engen Altstadtgasse, das schlichte Messingschild. Ich mache einen Termin mit Natis. Die Kanzlei ist dunkel und konservativ. Ich sitze dem großen, schlanken Anwalt reifen Alters gegenüber an seinem schweren Schreibtisch. Er hat gedacht, er solle mich persönlich vertreten. Ich erkläre ihm, was wir machen und dass wir anwaltliche Unterstützung für unsere Kunden benötigen. Vorsorglich habe ich ein paar Akte mitgebracht, die Natis sich oberflächlich ansieht. Es sind Sachen mit geringem Streitwert. Natis will wissen, wieso man um so geringe Beträge bei Gericht streiten will. Da steht eine Rechtsschutzversicherung dahinter, die die Kosten abdeckt, erkläre ich ihm. Die Streitwerte sind manchmal auch ziemlich hoch. Wir können aber nicht nur die Bärenfelle annehmen. Wenn wir die haben wollen, müssen wir auch den Hühnermist erledigen. Ich hüte mich, einem mir noch völlig Unbekannten gleich einen größeren Schadenfall anzuvertrauen. Natis schaut sich einen Erstforderungsbrief an, den wir an eine italienische Versicherung geschrieben haben. Formal mangelhaft, findet er. Mit einer solchen Erstintervention schaffen Sie nicht die rechtliche Voraussetzung für gerichtliches Einschreiten. Womöglich laufen Sie mit solchen Formulierungen noch in die Verjährung. Ich kenne Gesetz und Judikatur, die ich zur Grundlage unseres Forderungsbriefs gemacht habe. Verlangt wird ein Einschreibebrief mit Rückschein, kein Fax, kein Telegramm, kein gewöhnlicher Einschreibebrief ohne Rückschein ist ausreichend, nein, einzig und allein ein Einschreibebrief mit Rückschein an den Sitz der betreffenden Gesellschaft innerhalb der Verjährungsfrist, die zwei Jahre beträgt. Das Schreiben hat den Grund der Forderung zu nennen. Bei Fahrzeugschäden ist eine angemessene Frist und ein Ort zu nennen, wo eine Besichtigung stattfinden kann. Unser Schreiben enthält alle notwendigen Informationen und erfüllt alle Formalitäten, die das Gesetz verlangt, glatt, klar, schnörkellos. Was es nicht enthält, sind umständliche, blumenreiche, sich wiederholende, nutzlose, barocke, ornamentale, endlos lange Formulierungen, die ich auch kenne, konstruiert von italienischen Anwälten, von denen jeder einzelne einzig und allein an sein eigenes Rezept glaubt zum Backen eines Kuchens, dessen Zutaten jedweder erdenklichen Unpässlichkeit von Anfang an vorbeugen soll. Vielleicht will Natis nur testen, was für ein Typ ich bin, wie ich auf seine Beanstandung reagiere. Ich gebe mich konziliant, ohne auf die Vorwürfe einzugehen. Wir brauchen diese Zusammenarbeit, sonst bleiben wir lahm. Die Zeiten für Anwälte in Italien beginnen sich einzutrüben. Immer mehr junge Menschen drängen in den Beruf. Die Anzahl der geprüften Anwärter steigt ständig. Eine gewisse Anzahl von Mandaten bei sicherem Honorar, wie immer die Sache ausgeht, das ist nicht ganz uninteressant. Um wie viele Fälle pro Jahr es ginge, will Natis wissen. Schwierige Frage. Wenn wir gut arbeiten, viele. Natis‘ Zusage, die mitgebrachten Fälle zu übernehmen, klingt herablassend. Wir sollen ihm die wesentlichen Unterlagen übersetzen und die Vollmachten von den Klienten beschaffen sowie ein Akonto auf sein Honorar. Schon wieder so ein wunder Punkt. Eine Anzahlung aufs Honorar mag bei einzelnen Privatklienten üblich sein, unsere Auftraggeber sind das nicht gewohnt. Es wäre in ihren Augen Ausdruck des Misstrauens einer seriösen und zahlungskräftigen Versicherungsgesellschaft gegenüber. Trotzdem werde ich mich für den Anfang nicht widersetzen. Als vertrauensbildende Handlung sozusagen. Um die Auftraggeber nicht vor den Kopf zu stoßen, werden wir die Vorauszahlungen selber aufbringen. Später werde ich Natis schon überzeugen, davon Abstand zu nehmen. Zur Vorgangsweise vereinbaren wir, dass sämtliche Kontakte mit den Klienten und Auftraggebern über uns erfolgen werden. Auch das sieht Natis problematisch, weil der Ehrenkodex der Anwälte den persönlichen Kontakt mit dem Klienten erfordert, wenigstens bei wichtigen Schritten. Mit dem Argument, er werde doch von den Klienten nicht verlangen wollen, sie sollen dafür nach Italien reisen, kann ich ihn davon abbringen. Ich glaube, Natis hat, als ich ihn verlasse, ein ebenso mulmiges Gefühl wie ich selbst.


Die Zusammenarbeit mit Natis funktioniert recht und schlecht. Das Gesetz räumt den Gesellschaften eine kurze Frist ein, um auf ein korrektes Forderungsschreiben zu reagieren. Früher haben die verpflichteten Gesellschaften die Regulierung durch mutwillige Untätigkeit und durch immer neue Verzögerungen endlos verschleppen können und nicht immer war die Klage für den Forderungssteller opportun. In Anbetracht der Prozessdauer von vielen Jahren würde die Klage das Anliegen auf einem vergessenen Abstellgleis verhungern lassen. Deshalb hat die Politik sich auf ein ziemlich rigoroses Gesetz geeinigt, das den Gesellschaften minutiös vorschreibt, was sie innerhalb welcher Fristen zu tun haben. Die Aufsichtsbehörde ISVAP hat die Tätigkeit der Gesellschaften zu überwachen und kann bei Regelwidrigkeiten hohe Strafen verhängen. Die Aufsichtsbehörde ist bei der Überwachung in der Regel auf Beschwerden seitens der Anspruchsteller angewiesen. Anwälte reichen solche Beschwerden selten ein. Einerseits fürchten sie um das Verhandlungsklima in anderen Causen und andererseits wollen sie das mögliche Auftragspotential bei der betreffenden Gesellschaft nicht gefährden. Denn hin und wieder oder sogar regelmäßig erhalten sie ja selber Aufträge von ihnen. So ist ihr Motto: Leben und leben lassen. Natis berücksichtigt nicht, dass die einer Klage vorausgehende außergerichtliche Tätigkeit bereits von uns erledigt wurde. Da kein zufriedenstellendes Ergebnis erzielt wurde, soll nun er gerichtlich vorgehen. Natis aber beginnt ganz von vorne. Er wartet auf die zögerlichen Reaktionen der Versicherungen, ohne zu urgieren. Meine Aufforderungen zu Mahnungen hält er für zu kurzfristig. Sie gehen ihm auf die Nerven. Klagen schreibt er auch nicht gerne. Im Versuch, etwas gegen die langen Prozesszeiten zu unternehmen, hat der Gesetzgeber die Zivilprozessordnung gestrafft. Der Klagsvertreter muss jetzt schon im Klagstext alle Argumente vorbringen. Im weiteren Verlauf des Verfahrens kann er nichts mehr hinzufügen. Übersieht er etwas und geht der Prozess dadurch verloren, kann es leicht sein, dass er dafür haften muss. Unsere Unzufriedenheit ist beidseitig. Ich beginne, mich um Alternativen umzusehen.

Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Der zweite Kork, für den Hunderter, ist schon am 20. Juli geflogen, einen Monat später der dritte und Ende September der vierte! Die Häufung ist wohl auf die Reisezeit zurückzuführen. Danach tröpfeln die Aufträge wieder langsamer. Den zweihundertfünfzigsten erhalten wir zu Faschingsbeginn, am 11. November. Die Anzahl der Aufträge ist noch immer überschaubar. Wir machen aber sehr viel Arbeit daraus. Die unverzüglichen Auftragsbestätigungen an die Auftraggeber mit detaillierten Hinweisen auf etwa fehlende Unterlagen, eine Erfolgseinschätzung, Reserveschätzung und Skizzierung der Vorgangsweise. Die regelmäßigen Zwischenberichte zu den schon anhängigen Fällen. Die Forderungsschreiben an die gegnerischen Versicherungen. Mahnschreiben danach. Die Schadendirektionen mit weitläufigem Filialnetz senden nach Erhalt der Forderung die Akte an die regionale Schadenabteilung in Udine zur mündlichen Abhandlung mit mir. Andere behalten die Akte am Sitz der Gesellschaft in Milano oder Torino oder Trieste oder Bologna oder Roma oder Napoli. Kleinere Sachen lassen sich per Telefon erledigen, für andere hilft nur hinfahren. Die Telefonate mit den zuständigen Abteilungen. Haben sie schon eine Akte angelegt? Schicken sie sie in die Filiale? Bearbeiten sie sie selber? Die telefonische Suche nach der Behörde, die den Unfall aufgenommen hat. In den seltensten Fällen wissen das die Kunden. Es kommen mehrere Behörden infrage. Carabinieri, Polizia Stradale, Polizia Autostradale, Polizia Municipale. Für einen bestimmten Unfallort ist nicht zwingend ein bestimmter Posten einer Behörde zuständig. Man muss alle Dienststellen in der Umgebung abklappern, um fündig zu werden. Im negativen Fall Rückfrage an den Kunden. Wie haben die Beamten ausgesehen? Blaue Jacke, graue Hose, aber entscheidend: rote Streifen an der Hose oder nicht? Das Einsatzauto, war es dunkelblau oder hellblau? Die Kunden können das selten beantworten. Aber das regt sie auf: keiner von den Polizisten sprach auch nur ein Wort Deutsch. Um das Unfallprotokoll zu bekommen, verlangen die Beamten unterschiedliche Vorgehensweisen. Einige schicken uns Kopien mit der Post, nachdem wir eine Anfrage hingeschickt haben mit einer Anzahl Stempelmarken, die sich nach der Seitenanzahl richtet. Andere schicken das Originalprotokoll an die Kollegen in Udine, die Carabinieri an den Posten in Codroipo oder an ein Kommando in Udine. Dann muss ich dorthin und bekomme gegen Stempelmarken Kopien oder ich kann das Protokoll abschreiben. Die Polizia Stradale verschickt gar nichts. Man muss immer persönlich hin. So lerne ich nach und nach die Verkehrsleute im ganzen Friuli Venezia Giulia, Trieste und Veneto kennen. Sie sind ohne Ausnahme freundlich und zuvorkommend, aber immer im Rahmen des Korrekten. Datenschutz ist noch kein Problem. Außer bei den Carabinieri muss ich mich auch nicht übertrieben streng ausweisen oder die Vollmacht zeigen. Man nimmt meistens an, dass ich berechtigt bin und nach ein paar Mal kennen sie mich schon. Am öftesten muss ich zur Polizia Stradale in Udine und zur Autobahnpolizei in Amaro (zwischen Tolmezzo und Gemona). Die ist für die ganze Autobahn durch das Kanaltal von der Grenze bis Udine zuständig. Amaro fahre ich automatisch und regelmäßig an. Die Dienststelle hat man an der Ausfahrt ins Industriegelände gebaut. Sie ist von einem wehrhaften Zaun umgeben. Das Tor ist vierzig Meter vom Gebäude entfernt, immer verschlossen und mit einer Gegensprechanlage ausgestattet. Sie müssen das Tor geschlossen halten, weil auf dem Grundstück ein scharfer Hund herumläuft, der jeden Eindringling zu zerfleischen droht. Wenn ein Besucher die Gegensprechanlage aktiviert, muss er zuerst den Zweck seines Besuchs angeben und wenn er nicht sofort wieder abgewiesen werden kann, kommt ein Polizist und sperrt das Ungeheuer in einen Verschlag. Dazu muss er einen luftleeren Fußball in den Kobel schießen – Tor!, sonst würde das Vieh nie und nimmer freiwillig hineinlaufen. Danach kann der Besucher zu Fuß den Hof durchqueren zu den Büros. Wenn ich anläute, sage ich nur noch Rickter. Es gibt dann keine Fragen mehr. Bei solchen Arbeitsbesuchen ist mir die Idee gekommen, die Unfälle der letzten Tage abzufragen, obwohl wir mit denen überhaupt noch nicht konfrontiert sind. Schau an, das klappt. Auf diese Weise bekomme ich alle Daten von den ganz frischen Unfällen mit Ausländerbeteiligung. Von denen haben die Versicherungen noch keine Ahnung. Zuhause analysiere ich die Protokolle. Die Versicherungen der unschuldigen oder teilschuldigen Ausländer schreiben wir an, bieten die Vertretung von deren Kunden an oder wenigstens die Lieferung des Polizeiprotokolls samt Übersetzung. Ersteres ist manchmal erfolgreich. Letzteres fast immer. Wie auch immer. Solches macht uns immer bekannter, überall. Weil das mit den Protokollen und den Übersetzungen so gut klappt, bekommen wir plötzlich Aufträge zur Übersetzung von Polizeiprotokollen aus den unwahrscheinlichsten Ländern. In Sevilla hat man eine auf dem Tisch vor dem Café abgelegte Filmkamera gestohlen. Auf der Copacabana hat ein fremder Hund der Frau des Versicherungsnehmers das Unterteil ihres Gucci-Bikinis abgebissen und ist damit getürmt. Auf diese Weise frischen wir unser Spanisch auf und bekommen einen Eindruck von Portugiesisch. Wenn es Personenschäden gab, ist das mit den Protokollen etwas komplizierter. Von der aufnehmenden Behörde gibt es keine Kopien. Wir müssen von der Procura (Staatsanwaltschaft) eine Strafaktabschrift beschaffen. Die Hauptkanzlei ist immer überlaufen. Kommt man endlich an die Reihe, wird anhand der Daten erst einmal die Strafakte identifiziert. Danach wartet man, bis sie aus dem Archiv herangeschafft wird. Man stellt sich mit der Akte an eines der Pulte und markiert jede Seite, die man zu kopieren wünscht, mit einem Kennzeichen, ich nehme immer ‚R‘. Dann gibt man die Akte an die Bedienstete zurück. Sie zählt die ‚R‘, verlangt die gebührende Anzahl Stempelmarken und geht die Seiten kopieren. Auf jeder vierten Kopie klebt eine Stempelmarke, manchmal leider über einem wichtigen Detail des Dokuments. Man merkt schon, Stempelmarken zählen zu einem meiner wichtigsten Utensilien. Ich verbrauche Unmengen davon, die ich zuvor im Tribunale gekauft habe. Auf meinen innerstädtischen Besuchen Udines ist das Tribunale gewöhnlich mein erstes Ziel. Es befindet sich hinter San Francesco, gleich daneben ist eine Tiefgarage. Die meisten anderen Ziele sind von hier aus bequem zu Fuß erreichbar. Im Tribunale befindet sich ein Caffè. Es wird von wartenden Parteien besucht, vor allem aber von deren Anwälten. Manche von ihnen treffe ich immer wieder. Sie haben sich an mich seltsamen Typ gewöhnt, haben schon herausgefunden, wer ich bin und was ungefähr ich mache, sehen, dass ich jedes Mal an der Theke des Caffè eine Unmenge Stempelmarken kaufe. So viele wie selten einer von ihnen. Das schafft Respekt. Manchmal auch Neid. Aber diesen Glauben nehme ich ihnen nicht. Zwischendurch immer wieder Gespräche mit den Agenten und ihren Kunden. So gering auch unser Auftragsaufkommen noch ist, unsere Tage sind lang. Wir arbeiten sieben Tage die Woche von neun Uhr Früh bis zehn Uhr Nacht oder länger. Wir frühstücken Müsli, das Mittagessen lassen wir weg. Von einem italienischen Versandhaus haben wir eine billige, aber hübsche und bequeme Sitzgarnitur für allfällige Besucher gekauft. Auf ihr fallen wir um die Mittagszeit regelmäßig in einen kurzen Gesundheitsschlaf. Das gibt Energie für den Rest des langen Tages. Mit dem Abendessen warten wir, bis alles erledigt ist, was erledigt werden kann. Das einfache Cena findet immer spät statt. Ugolinos Geduld wird aufs Äußerste beansprucht. Meine Grazer Zeit in der WG hat dafür gesorgt, dass ich recht schlank bin. Bei Soile könnte man fast Magersucht vermuten. Jetzt beginnen die späten ausgiebigen Mahlzeiten auf eine kompaktere Ummantelung unserer Knochen hinzuwirken.

An Brüchen mangelt es dem Beginn des neuen Jahrzehnts nicht. Beben in kurzen Abständen, alle in Abhängigkeit voneinander, bis es jetzt zu den logischen Eruptionen kommt. Der Zerfall der Sowjetunion, der Zweite Golfkrieg, die gewaltsame Pulverisierung Jugoslawiens, der Untergang meiner ersten Ehe, die Zerrüttung mit Avus. Was aus den politischen Händeln noch entstehen wird, wer weiß. Meine beendete Ehe ist schnurstracks in eine neue Liebesheirat gemündet und die berufliche Krise ins herausfordernde Projekt der Selbständigkeit.

Die Entwicklung in Jugoslawien bereitet uns anfangs Sorgen. Wird uns diese Entwicklungshoffnung durch die Kriege zerschlagen werden? Die Jugoslawienkriege haben für die europäischen Versicherungen auf dem Sektor der internationalen Schäden neue Probleme geschaffen. Die Dialogfähigkeit mit den (ex-)jugoslawischen Partnern ist noch weiter gesunken und kriegsbedingte Devisenbeschränkungen haben den Zahlungsverkehr zum Versiegen gebracht. Dazu ist in den neuen Teilstaaten ein übertriebenes Selbstbewusstsein aufgekommen. Plötzlich ist man stolz darauf, selbst über Dinge bestimmen zu können und die Entscheidungen geraten oft inadäquat. Das nützt Avus und uns. Als uns die ersten Balkanaufträge erreichen, fahren wir nach Ljubljana und Zagreb und errichten Kontakte mit den Schadenabteilungen der wenigen bestehenden Gesellschaften. Auch hier kommt uns eine gewisse Abneigung Avus gegenüber zupass. In Ljubljana eröffne ich ein Sparbuch. Das ermöglicht uns den Geldverkehr, wenn auch umständlich. Erfreulicherweise erhalten wir sogar Aufträge von slowenischen und kroatischen Gesellschaften in Richtung Italien und restliches Europa. Österreich betreffend sind die bestehenden Verbindungen mit Avus zu eng. In diesen Tagen erobern wir auch die Kaskosparte. Die Kaskoversicherer haben oft Regressansprüche gegen ausländische Versicherer oder auch Private. Die zu verfolgen halten sie oft für aussichtslos oder unwirtschaftlich. Bisher haben sie solche Forderungen einfach abgeschrieben. Indem wir zeigen, dass solche Forderungen durchaus hereingebracht werden können, überzeugen wir sie, uns zu beauftragen. Die großen Konzerne haben international miteinander Teilungsabkommen abgeschlossen, um kostspielige Streitigkeiten über Kaskoregressforderungen zu vermeiden. Die Regresse werden einfach zwischen den Haftpflicht- und Kaskoversicherern aufgeteilt. Das Dumme ist nur, manche italienische Gesellschaften halten sich einfach nicht an das Abkommen und zahlen nicht. Manche Sachbearbeiter in Italien haben noch nie von einem solchen Abkommen gehört und überhaupt nicht verstanden, worum es geht. Macht nichts, wir übernehmen die ‚Schulung‘. Einklagen kann man solche Forderungen eigentlich nicht. Das Abkommen selbst schließt es aus. In hartnäckigen Fällen werden wir später trotzdem klagen. Niemand wird je den vertraglichen Klagsverzicht einwenden. Auch die skandinavischen Gesellschaften kommen jetzt langsam in Fahrt. Ihre Aufträge richten sich gegen alle möglichen Länder. Das Schöne daran ist, in Fachkreisen werden wir immer bekannter. Ende 1992 stehen wir bei dreihundertfünfzig. Sieben Sektkorken. Auch damit hält sich die Suchtgefahr noch in Grenzen. Ich meine die Alkoholsucht. Die Sucht nach Aufträgen ist unstillbar. Die langen Tage können unsere Prinzipien des erstklassigen Service und der Gewissenhaftigkeit nicht aufweichen. Die ersten Erfolgsmeldungen gehen hinaus. In den meisten Fällen beginnt unser Abschlussbericht mit den Worten „Es ist uns gelungen, …“ In vielen Fällen müssen uns die Auftraggeber keine Kosten bezahlen, da wir sie der Gegenseite anlasten. Anfangs ist das gar nicht so leicht. Die gegnerischen Versicherungen weigern sich, unsere Vertretungskosten zu übernehmen. Wir sind ja keine Anwälte, die ein Recht darauf haben. Mit der Zeit gewöhnen sie sich aber daran, weil wir auch in diesem Punkt bescheiden, aber entschlossen auftreten. Wo es uns nicht möglich ist, die Auftraggeber kostenfrei zu halten, stellen wir nur den tatsächlichen Aufwand in Rechnung und nicht einen Prozentsatz vom Streitwert. Unsere Konkurrenten hingegen kassieren doppelt. Auch sie nehmen von der Gegenseite, was sie kriegen können. Trotzdem verlangen sie vom Auftraggeber das vereinbarte Honorar. Somit sind unsere Leistungen nicht nur viel effektiver, sondern auch noch günstiger, oft völlig kostenlos für den Auftraggeber. Das ist wahrscheinlich das überzeugendste Argument zu unseren Gunsten.

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Der Sommer war schwül. Auf die Hitze folgten Gewitter und Starkregen. Aufgeladen war auch die Atmosphäre zwischen uns. Die Nerven rührten aneinander ohne Isolation. Mehrmals täglich knisterte es, wenn Rainer im Haus war. Das Faxgerät mit Anrufbeantworter, unser wichtigster Trichter zum Einfangen des Lebenssaftes, gab den Geist auf. Die Firma, die es uns verkauft hatte, schickte es nach Triest zur Reparatur. Dort schien es zu vermodern. Rainer fuhr nach Triest und kam mit dem reparierten Ding zurück. Die erste Telefonrechnung kam. 2.700.000 Lire (rund 18.900 Schilling oder 1400 Euro). Rainer stritt mit der SIP (staatliche italienische Telefongesellschaft). Es musste sich um einen technischen Fehler handeln. Sie brachten einen Zähler. Der Verbrauch war echt. Danach telefonierten wir behutsamer. 


Viel Besuch brachte dieser Sommer. Mama verbrachte viel Zeit bei uns. Wir hatten wenig Zeit für sie. Rainer versuchte, sie dazu zu bringen, möglichst wenig unsere Arbeit zu beeinträchtigen. Sie berücksichtigte das, indem sie im oftmaligen Vorüberschleichen an der offenen Bürotür den Finger an ihre Lippen legte und zischte „Pscht, pscht, pscht!“ Ansonsten sparte sie nicht mit den unnötigsten Unterbrechungen. Sie betrafen den Hund oder den Fernseher. Mama war es gewohnt, viel Zeit mit Fernsehen zu verbringen. Einen ihrer alten Apparate hatte sie aus Wien mitgebracht. Hier aber gab es nur italienische Programme. Sie schaffte eine Satellitenanlage an. Rainer musste übersetzen. Mama hatte jetzt zwei Fernbedienungen. Sie merkte sich nie, welche sie gerade brauchte. Der alte Fernseher ging kaputt. Zwei Männer gingen an der offenen Bürotür vorbei, versuchten nebenan von Mama herauszubekommen, was nicht in Ordnung war, gingen wieder an der offenen Bürotür vorbei, diesmal in gebückter Haltung, das Gerät fortschleppend. Mama zischte „Pscht!“ Die Männer kehrten zurück, schleppten einen noch größeren Kasten in der Gegenrichtung an der offenen Bürotür vorbei. Die stand offen wegen der Hitze, damit die Luft durchziehen konnte. Die Männer versuchten, Mama die Funktionen zu erklären. Rainer ist das letztlich halbwegs gelungen. Nur das mit den Fernbedienungen war ihr zu schwierig. Sie drückte an der falschen, verstellte dadurch etwas Grundlegendes, nahm ärgerlich die andere und das Chaos war perfekt. „Rainer! - Es geht schon wieder net!“ Meistens, wenn Rainer unterwegs war, war ich dran. Geduld ist nicht meine wahre Stärke. Nach dem halben Sommer nahm Mama einen Job an in Döbling als Verkäuferin in einem Delikatessengeschäft. Eine neue Rolle. Sie war jetzt neunundsechzig.


Kirsi und Sanna kamen nacheinander in ihren Ferien. Heinz und Ulli aus Johannesburg, Hömmerl und Helga aus Wien. Neben dem erdrückenden Arbeitsanfall spulten wir das erwartete Sightseeing-Programm ab. Villa Manin, Venezia, Miramare. Rainer hatte einen gebrauchten Croma gekauft, damit ich mobil blieb, wenn er weg war. Neben Mamas blauem parkte Rainers alter roter Uno auf der Straße vor dem Haus. Er hatte sich angewöhnt, von Zeit zu Zeit wie eine Kuh zu muhen. Es dürfte an der Hitze gelegen haben und dadurch verursachten Druckveränderungen im Tank. Wir haben die Ursache nie richtig feststellen können. In der Via Gatteri kamen wenige Fußgänger vorbei. Diese aber wählten danach womöglich einen anderen Weg. Es wurde ihnen unheimlich, wenn sie an den leeren Unos vorbeigingen und der eine machte laut und deutlich „Muuuh!“ 

Zwei Sachbearbeiterinnen kamen aus Salzburg. Sie machten einen recht schrulligen Eindruck. Ihnen gefiel der schattige Parco delle Risorgive, bevor wir sie am Abend zum Cena ausführten. Rainer hatte die Idee, in die Berge hinaufzufahren oberhalb von Faedis, Nimis, Attimis. Er hatte davon gehört, dass es da gute Lokale gäbe. Der Croma schwebte elegant die kurvigen Bergstraßen hinauf. Sie waren feucht von gewittrigen Schauern. Die Gegend wurde immer verlassener, falls eine solche Steigerung überhaupt möglich war. In der einsetzenden Dunkelheit war nichts als finsterer Laubwald. Hinter einer Kurve wurden wir jäh von einer Militärpatrouille gestoppt. Zwei junge Soldaten mit MPs im Anschlag. Ein Stück bergan stand ein leichtes Militärfahrzeug. Die Salzburgerinnen waren zu Tode erschrocken. Ich auch, muss ich zugeben. Zum Glück hatten wir alle unsere Ausweise mit. Der eine Soldat fragte mich danach durchs abgesenkte Fahrerfenster, während der andere auf uns anlegte. Der Croma hatte ein Udineser Kennzeichen, aber wir sahen nicht aus wie Italiener und ich redete auch nicht genauso. Wir waren verdächtig. Der Soldat nahm unsere Papiere und latschte damit zum Militärfahrzeug. Der andere zielte weiterhin auf uns. Es sah ziemlich bedrohlich aus. Für eine ganze Weile sollte das so bleiben. Nichts passierte, außer dass ein Wagen in der Gegenrichtung anstandslos vorbeifuhr. Niemand im Croma sprach ein Wort. Nach einer Weile machte Rainer Anstalten auszusteigen. Der Soldat fuchtelte nervös mit seiner Waffe und verbot das Aussteigen. „Non scendere!“ Fermi dentro!“ Unsere Lage blieb unverändert für eine gefühlte Stunde. Es wird aber nicht mehr als ein Viertel davon gewesen sein. Dann kam der Kamerad mit den Ausweisen zurück. Er fragte Rainer, was wir hier wollen. Hier soll irgendwo ein Restaurant sein, antwortete er. Ein wenig weiter, direkt an der Grenze sei eine Osteria, aber kein Mensch, der sie nicht kennt, würde sie suchen, sagte der Soldat. An der Grenze? Es dämmerte mir, dass wir die ganze Zeit Richtung Jugoslawien gefahren waren. Das Sträßchen führte wohl über die Grenze, aber einen offiziellen Grenzübergang gab es hier nicht. Die Patrouille sicherte wohl die Staatsgrenze ab. Immerhin befand Slowenien sich im Kriegszustand mit Serbien. An der österreichischen Grenze war kürzlich noch geschossen worden und eine jugoslawische MIG im Tiefflug über die Karawanken geflogen und in Klagenfurt gelandet. Das alles besprachen wir im Weiterfahren. Rainer hatte vor, bei der Osteria zu wenden und nach Italien zurückzukehren. Wenn auch der Schreck uns noch in den Knochen steckte, ein gewisser Appetit ließ sich nicht verleugnen. Zu unserer Überraschung sahen wir vor der Osteria eine größere Anzahl Autos stehen. An einer dunklen Ecke sah ich zwei Männer in die Büsche urinieren. Durch die Fenster des niedrigen Bauernhauses kam helles Licht und das Lärmen einer größeren Gesellschaft. Rainer beschloss hineinzuschauen. Er kam zurück und sagte, es ist gerammelt voll, da drinnen ist die Hex los, aber es gibt zu Essen und wir haben vier Plätze. Den Salzburgerinnen war nicht ganz geheuer, aber sie folgten uns ins Lokal. Rainer hatte nicht übertrieben. In der gar nicht so kleinen Stube schienen alle Einzeltische voll besetzt. Eine lebhafte Gesellschaft feierte, was das Zeug hält. Man aß und trank und rief und sang und pfiff. An einem der vordersten Tische rückte man sofort wie selbstverständlich zusammen, um für uns Platz zu machen. Wir saßen kaum, da standen schon, ohne dass wir danach verlangt hatten, zwei Glaskrüge vor uns mit Rotwein und Wasser. Langsam wurde uns klar, das hier war eine Hochzeitsgesellschaft. Die Brautleute saßen wohl an jenem quergestellten längeren Tisch dort vorne, unterschieden sich aber in der Aufmachung kaum von den übrigen Gästen. Deren Kleidung war leger, aber mit Elementen bunter Trachten. Unsere Nachbarn wollten wissen, woher wir kommen. Sie fragten das auf Italienisch, aber mit einem harten slawischen Akzent. Mir fiel jetzt auf, dass sie auch untereinander ein seltsames Kauderwelsch aus Italienisch und Slowenisch sprachen. Salzburg, sagten unsere zwei Begleiterinnen, Wien, nein, Rivolto, sagte Rainer, Finnland, sagte ich. Und das musste erst einmal erklärt werden. Es sollte aber ganz und gar unerklärlich bleiben. Inzwischen spielte die Musik wieder auf. Eine Harmonika, eine Gitarre, zwei Geigen, ein Bass. Sie spielten gekonnt, aber nicht gekünstelt, ganz selbstverständlich. Einen volkstümlichen Schlager, dann wieder etwas wie ein slawisches Volkslied, dann einen italienischen Hit, dann einen Landler, darauf eine Polka. Den Salzburgerinnen begann es zu gefallen. Rainer auch. Für mich war es etwas zu lebhaft und laut. Ohne etwas bestellt zu haben brachte man uns Schweinebraten mit einer Art Letscho und Brot. Die Anderen hatten schon fertig gegessen. Sie tranken uns immer wieder zu. Die Salzburgerinnen begannen heiter zu werden. Ich versuchte, Rainer mehr ans Wasser zu halten. Für mich war das ohnehin klar. Die Musik spielte wieder italienische Schnulzen. Das liebten die Salzburgerinnen ganz besonders. Mit allen Anderen sangen sie mit, kannten alle Texte. Als die Musik das Genre wieder wechseln wollte, riefen sie immer wieder „Musica italiana!“ und sie bekamen, was sie wollten. Schließlich wurde getanzt. Ein älterer Mann von unserem Tisch mit Brille und Schnurrbart, in einem zu großen blauen Anzug könnte er der Dorflehrer gewesen sein, tanzte abwechselnd mit unseren Salzburgerinnen. Rainer tat das auch. Ich wurde auch aufgefordert, lehnte aber ab. Die Stimmung wurde immer ausgelassener und feuchter. „Musica italiana!“, forderten die Salzburgerinnen, als wir schon zum Auto wankten und plärrten auf den Rücksitzen „Azzurro“, als wir an der Stelle vorbeifuhren, wo wir vor Kurzem noch vor der Maschinenpistole gezittert hatten. Während die Beiden enthusiastisch „Una festa sui prati“ brüllten, fragte ich Rainer, was er bezahlt hat. Eine Spende an die Musik. Mehr wollten sie nicht annehmen.

***

Erinnerungen an die wilde Car Rental-Zeit kommen in mir auf. Ein makellos seidenblauer Himmel ist nur durch einen feinen Strich getrennt vom nur unmerklich weniger hellblauen Meer vor dem Strand. Ein paar kleine Boote und größere Jachten in Küstennähe. Weiter draußen etliche Frachter, die wie Baumstämme anscheinend bewegungslos auf der See treiben. Soile und ich stehen vor einem Peugeot 505 mit eingeschlagener Seitenscheibe und aufgebrochenem Lenkradschloss. Wir befinden uns etwas außerhalb von Nizza in Richtung Berge auf dem Autoabstellplatz einer renommierten Firma mit elegantem Verkaufslokal in der Stadt, aber dort ist wenig Platz. Alles, was gerade nicht verkauft werden soll, ist hier untergebracht, unter einfachen hölzernen Unterständen oder im Freien. Der Platz dient wohl auch zur Autopflege und für kleine Reparaturen. Hierhergekommen sind wir mit dem Croma, aber nicht wegen des Blicks aufs Meer, sondern eben wegen dieses Peugeot 505 mit Wiener Kennzeichen. Der Wagen war in München vor einem Jahr gestohlen und von der Police in Nice vor acht Monaten sichergestellt worden. Insgesamt hat es also gar nicht so lange gedauert, bis die Verständigung über die Sicherstellung von der Police über das Ministère de l’Intérieur in Paris und das Bundesministerium für Inneres in Wien den Zulassungsbesitzer in Salzburg erreicht, dieser seine Versicherung benachrichtigt, die, weil sie den Schaden ersetzt hatte, Eigentümerin geworden war, die Versicherung also von der Police in Nice die Adresse der Autofirma bekommen und danach mit dieser die Rückgabemodalitäten inklusive der Aufbewahrungsgebühr ausgehandelt und schließlich Rivolto Claims Service mit der Rückführung beauftragt hat. In Italien konnte das zum Vergleich durchaus auch ein paar Jahre dauern. Die Aufbewahrungsgebühr war dann oft so hoch, dass der Eigentümer oder die Versicherung auf die Rückholung verzichtete, weil sie den Wert des Fahrzeugs überstieg. Der Aufbewahrer hatte dann ein schönes Wrack und bekam die darüberhinausgehende Aufbewahrungsgebühr nach einigen weiteren Jahren vom italienischen Staat bezahlt. Die Aufbewahrer hatten also genau gar kein Interesse daran, dass der Eigentümer rasch gefunden und informiert wurde. An unserem Peugeot ist das Wiener Kennzeichen noch dran, aber nur vorne. Von dem Arbeiter auf dem Abstellplatz bekommen wir ein Stück Karton und einen Filzstift, und schon ist die Identifizierung des Autos auch von hinten wieder möglich, jedenfalls wenn man durch die Heckscheibe schaut, denn wir stellen das provisorische Nummernschild auf die Hutablage. Natürlich gibt es keinen Schlüssel. Das Zündschloss hängt traurig an einem Draht vom Armaturenbrett herab. Ich teste den Einschlag beiderseits. Die Lenkung blockiert anscheinend nicht. Daneben ein Gewusel von anderen Drähten. An dreien von ihnen fehlt, wo sie gekappt sind, die Isolation. Von diesen wieder sind zwei rot, der dritte ist schwarz. Ich biege die zwei roten Kabelenden zusammen. Es blitzt kurz auf. We have ignition. Die Instrumente zeigen an. Die Batterie ist ok. Ich stelle auf Leerlauf und halte den schwarzen Draht zu den beiden roten. Wieder blitzt es bedrohlich, aber der Starter arbeitet. Beim zweiten Versuch springt der Motor an. Schaut gut aus. Die Tankanzeige steht auf leer. Wahrscheinlich abgelassen. Die Formalitäten haben wir im Stadtbüro schon erledigt, die stattliche Aufbewahrungsgebühr bar bezahlt. Eine Unterschrift, den Peugeot unbeschädigt übernommen, ohne ihn gesehen zu haben. Ganz einfach, sonst bekomme ich ihn nicht. Die Sucherei im Gewirr der schmalen Bergstraßen, den Abstellplatz endlich gefunden. Ich überrede den Arbeiter, wenigstens noch einen Liter Sprit von dem abgelassenen wieder einzufüllen. Ölstand gecheckt. Beleuchtung und Scheibenwischer geprüft. Dann geht’s los. Soile hinter mir im Croma. Trotz vorgeschobenen Fahrersitzes ist sie sehr klein darin, erreicht kaum die Pedale. Die nächste Tankstelle lässt auf sich warten. Der Peugeot fährt sich recht sauber. Bremsen und Kupplung funktionieren normal. Nur die Schaltung hakt widerborstig. An der erstbesten Tankstelle volltanken. Bei laufendem Motor. Die Leute schauen uns misstrauisch an. Die Autobahn Richtung Genova ist überlastet wie immer. Ich bete, dass die Lenkradsperre nicht etwa überraschend blockiert. An der Grenze vor Ventimiglia werden wir durchgewunken. Vor Genova ist die Autobahn gesperrt. Die Morandibrücke wird saniert. Der Umweg durch die Vorstädte dauert zwei Stunden. Die Verkehrsampeln sind sinnlos. Jeder fährt, wie er kann. Soile muss alle Kunst aufwenden, um hinter mir zu bleiben. Nach einem Stillstand will ich weiterfahren. Ich bewege den Schalthebel in Richtung Erster. Kein Widerstand. Der Knüppel lässt sich in jede Richtung frei bewegen, schaltet gar nichts. Klar, das Schaltgestänge hat sich gelöst. Es bleibt mir nichts übrig, ich muss aussteigen. Soile hält hinter mir. Wir schalten die Warnblinker ein, bilden ein arges Hindernis in diesem Höllenverkehr. Die Vorbeifahrenden hupen und schimpfen. Cornuti! Kurz vor dieser Stelle, erinnere ich mich, habe ich noch zurückgeschaltet, da ging es noch. In dem infernalischen Lärm lege ich mich auf den Boden, suche mit der Hand das Schaltgestänge unter dem Auto, finde es wie durch ein Wunder, folge der Stange und entdecke die Stelle, wo sie offenbar von einer anderen getrennt ist. Dem Gefühl nach fehlt eine Schraube dazwischen. Nein, die Schraube steckt noch lose im anderen Teil der Verbindung. Was fehlt, ist die Mutter. Ohne viel Hoffnung suche ich die Fahrbahn vor der Anhaltestelle ab. Wenn die Mutter dort abgefallen ist, wer weiß wohin sie gerollt ist und wie viele Reifen sie schon weggeflippt haben. Aber siehe da, das Glück ist mir hold. Da liegt die Mutter. Wenigstens eine Mutter mitten auf der Fahrbahn. Wer weiß, ob es meine ist. Unter Lebensgefahr betrete ich die Fahrbahn unter Hupen und Flüchen, schnappe mir die Mutter. Jetzt wieder flachlegen und versuchen, zuerst die Schraube durch die Verbindung stecken und dann die Mutter ansetzen. Ersteres gelingt bald, aber natürlich läuft mir die Mutter davon. Ich muss wieder suchen. Das wiederholt sich einige Male. Jetzt bin ich es, der flucht. Nach etlichen Versuchen gelingt es tatsächlich. Die Mutter steckt. Der Kofferraum ist völlig leer. Kein Werkzeug. Mit den Fingern ziehe ich die Mutter an, so fest es geht. Ich probiere den Knüppel. Die Gänge schalten. Weit werde ich damit nicht kommen, ist mir bewusst. Trotzdem! Nur weg von da! An der nächsten Tankstelle frage ich nach einem Schraubschlüssel. Ich muss einen Satz kaufen. Dafür bekomme ich als Zugabe zwei Beilagscheiben und darf die Hebebühne benutzen. Nie hätte ich gedacht, wie bequem Autoschrauben sein kann.

***

Das Ufficio Centrale Italiano s.c.ar.l. (Italienisches Zentral-Büro, genossenschaftliche Gesellschaft mit beschränkter Haftung), kurz UCI, mit Sitz in Milano trägt einen unscheinbaren Namen. Er lässt an die italienische Zentrale eines x-beliebigen Vertriebsunternehmens denken. Tatsächlich verbirgt sich dahinter eine wichtige Körperschaft. Ihre Konstruktion ist privatrechtlich, von der Aufgabe her aber fast schon von öffentlichem Recht. Das UCI ermöglicht, dass ein Kraftfahrzeug, das außerhalb Italiens zugelassen ist, in Italien verkehren kann mit der Unterstellung, es sei den italienischen Normen entsprechend haftpflichtversichert. Verursacht dieses Fahrzeug in Italien einen Schaden, kann der Geschädigte seine Ersatzforderung direkt an das italienische ‚Bureau‘ richten, eben das UCI, anstatt mühevoll und hürdenreich den ausländischen Versicherer angehen zu müssen. Das UCI muss die Deckung übernehmen. Nach erfolgter Regulierung wird es vom ausländischen Versicherer den ganzen Aufwand zurückverlangen. Den Nachweis für die im Ausland bestehende gültige Versicherung des Fahrzeugs stellt die ‚Grüne Karte‘ dar, die im ausländischen Fahrzeug mitgeführt werden muss. Das Dokument erhält der ausländische Versicherte vor Reiseantritt von seiner Versicherung. Es ist vom ausländischen Bureau ausgestellt, dem ausländischen Pendent zum UCI. Der ausländische Verband haftet neben seinem ihm angehörenden Versicherungsunternehmen.


Dieser Gedanke führt uns direkt zur zweiten Aufgabe des UCI. Denn für in Italien versicherte Fahrzeuge, die außerhalb Italiens verkehren sollen, nehmen wir beispielsweise an, in Österreich, stellt das UCI die Grünen Karten aus. In Österreich weiß man dann beim Vorweis der Grünen Karte, dieses Fahrzeug ist in Italien den österreichischen Normen entsprechend haftpflichtversichert. Darauf beruhende Forderungen können dann direkt gegen das österreichische Bureau gerichtet werden. Als solches fungiert der Verband der Versicherungsunternehmen Österreichs, kurz Versicherungsverband. Die am engsten miteinander verbundenen europäischen Bureaux haben vereinbart, auf die Vorlage der Grünen Karte zu verzichten. Das jeweilige Fahrzeugkennzeichen gilt als Nachweis. 


Es gibt aber auch Kraftfahrzeuge, die in keinem dem Grüne Karte-System angeschlossenen Land versichert oder überhaupt nicht versichert sind. Für solche muss bei der Einreise eine sogenannte Grenzversicherung abgeschlossen werden. Solche Grenzpolizzen auszugeben ist die dritte Aufgabe des UCI. 


In Anbetracht des ständig zunehmenden Verkehrsaufkommens wird rasch klar, wie wichtig die Aufgaben des UCI sind, für einen reibungslosen Grenzübertritt ebenso wie, im Fall des Falles, für eine ordentliche Schadenregulierung. Dementsprechend tritt das UCI großspurig auf wie ein Ministerium. Den Präsidenten einem Minister gleichzusetzen ist nicht ganz treffend, schon eher einem ministeriellen Abteilungsleiter, denn er steht mit beiden Beinen mitten im täglichen Geschäft, das er mit dem Flair der Überlegenheit ausübt. Den Ministro dell’Economia e delle Finanze hat man ja ganz nah, um die Ecke, in Roma.

Seit ein paar Wochen ist der Presidente tief beunruhigt. Eine neue Organisation ist aufgetreten. Eine Organisation internationalen Formats offenbar. Niemand hat je von ihr gehört. Sie sitzt in Italien und arbeitet auf dem Sektor der Auslandschäden. Niemand von denen hat sich beim Signor Presidente vorgestellt. Nach italienischem Usus wäre das das Erste, was man erwarten würde. Dann wüsste man Bescheid, mit wem man es zu tun hat und was die vorhaben. Einfach so ins angestammte Revier einzufallen und offenkundig zu raubern, was für eine Unart! Ein Pamphlet hat man dem Presidente gezeigt. Das hat ihn noch mehr genervt. Es ist in der Sprache der Agenten abgefasst. Die sollen anscheinend bewogen werden, das UCI links liegen zu lassen. auszubooten, zu boykottieren! Dieses System ist so perfekt. Alle sind dankbar, dass es da ist. Wie es die berechtigten Interessen der Geschädigten erleichtert! Wie lange man für die europaweite Einführung gekämpft hat! Und jetzt kommt da irgendwer dahergelaufen und beginnt, all das ad absurdum zu führen? Wer sind denn die überhaupt? Finanzstarke Mächte müssen hinter ihnen stehen, sonst könnten sie das doch nicht durchstehen mehr als drei Monate. Und tatsächlich: Sie sind schon aufgefallen als Vertreter von Anspruchstellern uns gegenüber, Anspruchsteller aus Italien, öfter noch aus dem Ausland. Man könnte ja einmal vorsichtig nachfragen, etwa bei Avus. Aber was, wenn die selber hinter dem Projekt stehen? Zuzutrauen wäre es ihnen. Andererseits mit einer solchen Unhöflichkeit? Van Ameyde, die französischen Schadenregulierer, die auch einen Fuß nach Italien hineingesetzt haben, wissen von nichts. Sagen sie. Vertrauen habe ich wenig, seufzt der Presidente. Es hilft nichts. Wir werden uns selber ein Bild machen müssen über das neue bedrohliche Imperium. Codroipo, ausgerechnet. Irgendwo bei Udine.

Rainer ist in der Früh nach Udine gefahren. In seinem dicken Aktenkoffer die Mappen mit den Schadenfällen, die er am Nachmittag mit der RAS und mit dem Lloyd Adriatico verhandeln wird. Vormittag Protokollbeschaffungen bei der Polizia Stradale und der Municipale sowie die Besprechung einer Rechnungsprüfung mit einem Sachverständigen. Die Versicherungen lassen die österreichischen Reparaturrechnungen fast immer anhand der Fotos von italienischen Sachverständigen prüfen. Wenn man da nicht mitarbeitet, bekommt man Gutachten auf der Basis der italienischen Preise für Ersatzteile und Arbeit, die krass niedriger sind als in Österreich. Die Sachbearbeiter dann von der Richtigkeit der österreichischen Rechnung zu überzeugen, ist fast unmöglich. Dazu neigt man in Österreich dazu, beschädigte Teile nicht auszurichten, sondern zu tauschen. Die höheren Arbeitspreise rechtfertigen das. Bei den viel niedrigeren italienischen Arbeitspreisen wird entsprechend mehr ausgerichtet und geschliffen. Daher nehmen wir, wenn immer möglich, mit den Sachverständigen Kontakt auf. Rainer weist ihnen anhand von Statistiken der österreichischen Karosseriebauerinnung und Originalersatzteillisten der Generalimporteure die Richtigkeit der verrechneten Preise nach. Voraussetzung dafür ist die exakte Übersetzung der Rechnung und von Teilen der offiziellen Unterlagen. Rainer hält viel von den Sachverständigen, mit denen er zu tun hat. Als rationale Techniker sind die meisten aufgeschlossen für objektive Beweise, selbst wenn sie nach erstem Augenschein von einer weit überhöhten Rechnung ausgegangen sind. Es ist uns gelungen, …


Wenn ausnahmsweise kein Einvernehmen herzustellen ist, bleibt nur noch die Einschätzung offen, ob es sich lohnt, wegen der Differenz eine Klage zu riskieren. Wenn ja, wird der Richter einen Gerichtssachverständigen beauftragen. Dieser wird eine ‚Operazione‘ in seinem Büro ansetzen. Der Sachverständige der Versicherung und Rainer werden teilnehmen. Rainer wird unseren Standpunkt dort vertreten. Das Klima bei einer solchen Operazione beschreibt Rainer zumeist als sachlich, konstruktiv, respektvoll, heiter. Die Herren Technikerkollegen werden einander nicht wehtun wollen. Der Gerichtssachverständige wird ein paar Einwendungen des Kollegen übernehmen, grundsätzlich aber unsere Dokumentation anerkennen. Sein entscheidendes Gutachten fällt meistens akzeptabel aus und wird vom Richter übernommen. Ähnlich funktioniert das, wenn es um eine verkehrstechnische Streitigkeit geht, also welchen Beteiligten mehr oder weniger Schuld trifft. Solche Operazioni finden meistens an der Unfallstelle statt. Manchmal hilft die Exekutive mit, den Verkehr anzuhalten, während die Sachverständigen und Rainer auf der Fahrbahn umherlaufen, um die Unfallsituation zu vermessen oder zu veranschaulichen. Dem Lokaltermin folgt später eine Operazione im Büro zur Diskussion der Ergebnisse. Eines ist sicher: Jede Operazione endet stehend an einer Theke bei einem Espresso. Der Gerichtssachverständige zahlt. Er würde die Einladung eines der Parteiensachverständigen niemals akzeptieren. Es wäre Korruption. Als Rainer es mir so erzählte, dachte ich zuerst, das ist wieder einer von seinen Späßen. Aber nein, es musste wahr sein. Fällt in die Kategorie ‚Schillerndes Italien‘.

***

Die Frecce toben sich wieder einmal aus über den Dächern von Rivolto. Deshalb höre ich das Bimmeln der altmodischen Messingglocke, die wir an der Haustür aufgehängt haben, nicht beim ersten Läuten. Erst als die Luftakrobaten weg sind, schließe ich aus der Ungeduld des Geläuts, dass an der Kette schon mehrmals gezogen wurde. Ich trete vom Schreibtisch ans Fenster und schaue zur Straße hinunter. Zwei Männer in Trenchcoats mit Aktenkoffern stehen vor unserer Tür. Geheimdienst, ist mein erster Gedanke. Ich kann kein dazugehöriges Auto erkennen. „Si?“ frage ich. Sie schauen zu mir herauf. Von der Antwort verstehe ich nur „… UCI ---„. UCI ist mir ein Begriff. „Un attimo, ché vengo.“


Während ich die Treppe hinuntereile, versuche ich, meine Gedanken zu ordnen. Zwei Fußgänger, in Rivolto, vom UCI? Ist doch viel zu warm für Trenchcoats. Sicherheitshalber öffne ich nur den Glasflügel der Tür, der Holzraster bleibt trennend zwischen uns.


„Lovetti“, stellt sich der eine vor, „und das ist mein Kollege, dott. Santi. Ist das hier Rivolto Claims Service? Wir kommen vom UCI aus Milano und möchten Signor Rickter sprechen.“


„Mein Mann ist nicht da.“ Lovetti, Lovetti, den Namen habe ich schon gehört. War das im Zusammenhang mit UCI? Zu tun hatte ich mit ihm bestimmt noch nicht.


„Ah, dann sind Sie Signora Kanerva. Macht nichts.“ Zu seinen Gunsten nehme ich an, er meint, dass Rainer nicht da ist, nicht, dass nur seine Frau da ist. „Jemand von der Geschäftsleitung genügt vollkommen. Soweit wir informiert sind, sind Sie das doch?“


„Was wünschen Sie?“ frage ich. Der Türraster ist immer noch zu. Ich muss knappe Sätze sprechen und ich spreche sie leise. Wie immer schäme ich mich für mein Italienisch. Ja, wenn es ums Schreiben ginge, da bin ich gut. Reden ist noch nicht so perfekt.


„Wir hätten ein paar Fragen zu klären über Ihre Tätigkeit in Italien.“


Mein Gott, ich kann die doch nicht auf der Straße stehen lassen, dämmert mir. Ich öffne die Tür jetzt ganz, bitte die Herren herein und biete ihnen Platz gleich da im Esszimmer. Nichts würde hier auf ein Büro schließen lassen. Seltsam, dass die sich nicht angemeldet haben. „Bitte, legen Sie doch Ihre Mäntel ab.“ Ich nehme sie ihnen ab und hänge sie im Vorraum auf. „Gradite un caffè, signori?“


„Nein, danke, wir hatten gerade, vorne an der Piazza, wo wir mit dem Bus vom Bahnhof angekommen sind. Unser Gepäck steht übrigens noch dort.“


Gepäck? Mein Gott, was für ein Gepäck? Die werden doch nicht dableiben wollen? Für wie lange?


Erstmals meldet sich Santi zu Wort. „Das hier ist offenbar Ihre Wohnung, nicht wahr, wo befinden sich denn die Büros?“


„Ja, wir wohnen hier und arbeiten. Das Büro ist oben. Gleich neben dem Schlafzimmer.“ Ich beiße mir auf die Lippen. Was geht die das an?


Beide lächeln ein wenig unverschämt, scheint mir. „Ach, wie praktisch“, sagt Santi. „Wenn ich an die tägliche Marterstunde in Milano denke…“


Jetzt endlich lächle auch ich. Santi meint wohl die Fahrt ins Büro. Aber wenn gerade vom Schlafzimmer die Rede war…


„Ja, zweimal täglich“, sagt Lovetti. „Wir haben internationale Arbeitszeit beim UCI. Sonst wären es wohl viermal.“ Viele Italiener haben noch eine lange Mittagspause, in der sie nach Hause fahren zum Essen und für eine kurze Siesta.


„Sie sind also mit der Bahn gekommen?“ Erstaunlich in Anbetracht des Ziels abseits der Bahn bei mäßiger Verkehrsanbindung.


„Wir haben keinen Führerschein“, scherzt Lovetti „und unser Chauffeur auch nicht.“


Santi lacht. „Wie gefällt es Ihnen in Italien, Signora?“


„Und Ihnen?“ Die Lockerheit, die sich durch das Lachen bemerkbar gemacht hat, ist damit wieder dahin.


„Es tut uns leid, dass wir uns nicht angesagt haben, Signora, aber uns ist ein Auslandstermin überraschend ausgefallen und da haben wir uns spontan entschlossen… Wir haben schon seit längerer Zeit den Wunsch, Sie und Ihren Mann und Ihr Unternehmen kennenzulernen. Schließlich führt unser beider Tätigkeit uns ja eng zusammen…“


Lovetti lügt schamlos. Sie wollten uns überraschen, weil sie sich ein unverfälschtes Bild machen können, wenn wir unvorbereitet sind. „Stimmt,“ gebe ich zu, „vielleicht kann das ja unseren Eindruck einer gewissen Hostilität seitens des UCI zurechtrücken.“


„Aber, Signora! Hostilität! Was für ein böser Ausdruck!“ Santi sagt es mit übertriebener Entrüstung. „Und wie ungerechtfertigt! Wissen Sie, unsere Mitarbeiter sind oft gestresst, so ohne Mittagssiesta.“ Er lacht. „Sie haben aber auch für gerechtfertigte Interessen standhaft einzutreten. Das kann manchmal den Eindruck erwecken… Aber ich kann Ihnen versichern… Sollten Sie in Hinkunft ein Problem haben, wenden Sie sich einfach direkt an mich. Sie werden sehen…“ Wir tauschen unsere Karten.


Lovetti findet, es sei an der Zeit, das Gerede zu beenden und zur Sache zu kommen. „Wir kommen in der Absicht, Näheres über ein paar konkrete Akte zu erfahren. Würden Sie uns den Gefallen tun, uns darüber Auskünfte zu geben? Es handelt sich um diese Akte:“ Er überreicht mir eine Liste mit etwa dreißig Schadennummern.


Ich gehe hinauf die Akte holen. Während ich sie zusammensuche, läutet das Telefon. Rainer fragt, ob es etwas Neues gibt. Gottseidank ruft er an, denn ich hätte ihn nicht erreichen können. Als Technikfreak hat er eines der ersten D-Netz-Handys angeschafft. Es funktioniert nur in Österreich. Unglaublich, wie genau an der Grenze das Netz endet. Hundert Meter jenseits ist es aus.


„Gut, dass du anrufst.“ Ich seufze erleichtert. „Da sind zwei Männer. Sie behaupten, sie sind vom UCI. Lovetti und Santi. Sie wollen verschiedene Akte sehen. Sie sind mit dem Bus gekommen. Ihr Gepäck steht im Caffè an der Piazza.“


Rainer findet das äußerst seltsam. Ohne Anmeldung? Mit dem Bus? Das Gepäck im Caffè? Akte anschauen? Lovetti ist der Presidente des UCI. Der Presidente und sein Adlatus, ansonsten nur in den obersten Etagen der Assekuranz unterwegs, jetzt in Rivolto mit dem Bus und der Koffer im Caffè? Wenn sie echt sind, müssen sie sich vorkommen wie in Afghanistan. „Halt sie hin. Ich bin in zwanzig Minuten da.“


Ich suche die Akten zusammen, lasse sie aber im Büro liegen. Stattdessen gehe ich hinunter in die Küche, mache Kaffee, suche ein paar Kekse dazu und serviere nach nebenan. „Mein Mann hat angerufen. Wenn das UCI ruft, kommt er sofort. Er wird gleich da sein.“


Wir sind mit dem Caffè noch nicht fertig, da bremst draußen der Croma sich scharf ein. Rainer begrüßt die beiden Herren. Zu ihrem Erstaunen bekomme ich ein Küsschen.


„Was ist der Zweck Ihres Besuchs?“ fragt Rainer. „Handelt es sich um eine offizielle Inspektion? Wenn es das ist, sehe ich keinen Grund, sie unangemeldet durchzuführen. Wir können gern einen Termin dazu vereinbaren.“


„Kein Grund zur Aufregung“, beruhigt Santi verbindlich. „Wir haben uns schon bei der Signora entschuldigt und den Überfall begründet.“ Na ja, als Entschuldigung habe ich das nicht so richtig empfunden. Und die Begründung? Na ja. „Auch liegt es uns fern, Sie zu inspizieren. Es ist uns nur daran gelegen besser zu verstehen, welche Wege Sie für gewisse Vorgänge beschreiten…“


„… und ob diese legal zulässig sind.“ ergänzt Lovetti. Sein Ton ist plötzlich hart wie Stahl. „Natürlich können wir dafür auch einen Termin vereinbaren. Dann aber am besten gleich beim ISVAP in Rom.“


Da wir nichts Illegales machen, ist Drohung mit dem ISVAP nicht erschreckend. Aber der Gedanke, mit dem halben Büro nach Rom zu müssen… Der Zeitverlust und die Kosten… Am unangenehmsten würde die Prozedur selbst sein. Und sie würden mit allen Mitteln versuchen, uns am Zeug zu flicken. Ich kenne Rainer. Die Situation kann jetzt sehr leicht eskalieren.


„Wir haben nichts zu verbergen, Signori“, höre ich mich sagen. „Die Akten liegen bereit. Ich gehe sie holen.“


Der Stapel ist etwa einen halben Meter hoch. Ich habe gesehen, es sind lauter Fälle mit Unfallort in Italien und wir haben direkt bei den ausländischen Versicherungen gefordert. Das also stört sie. Ich bin froh, dass Rainer offenbar meiner Meinung ist und bei der Inspektion mitmacht. Wir fragen uns, ohne es auszusprechen, woher das UCI Kenntnis von diesen Fällen hat.


Ich öffne die erste Akte. Klarer Sachverhalt. Auffahrunfall. Wir haben für einen Österreicher direkt bei der Versicherung des deutschen Verursachers gefordert. Aha, da gibt es einen zweiten Geschädigten, einen Italiener. Der hat seine Forderung wie üblich an das UCI gerichtet. Sie haben sich also gewundert, wo bleibt die Forderung des zweiten Geschädigten, des Österreichers? Sie haben bei der deutschen Versicherung nachgefragt. Man hat dem UCI geantwortet, ist schon erledigt, über Claims Service. Dem UCI ist die Bearbeitungsgebühr entgangen. Es wären 15% gewesen, mit Nebenspesen gut 20. Uns haben die Deutschen etwa 8% Vertretungskosten bezahlt. Die Sache war in drei Wochen erledigt. Übers UCI hätte es acht Monate und länger gedauert.


„Sie wissen aber, dass der Österreicher aktiv forderungslegitimiert war gegen das UCI?“ Lovetti will das klarstellen.


„Sicherlich,“ sagt Rainer, „legitimiert, aber keineswegs verpflichtet. Wenn es bei der Regulierung durch die Deutschen auch nur das geringste Problem gegeben hätte, wären wir ohne zu zögern auf das UCI zugekommen.“


Santi: „Warum machen Sie das eigentlich? Das Grüne Karte-System soll doch dem Anspruchsteller die Regulierung erleichtern.“


„Der Fall zeigt es ganz klar.“ sagt Rainer. „Wir haben die Sache sehr rasch erledigen können. Wozu hätte der Österreicher viel länger als nötig auf sein Geld warten sollen? Das UCI hätte die italienische Korrespondenzgesellschaft der Deutschen, in diesem Fall die RAS in Milano, mit der Regulierung beauftragt. Wenn die endlich eine Akte in Udine verhandlungsbereit gehabt hätte, hätte sie mit uns über die Höhe der Reparaturkosten gestritten. Wir hätten ihren Sachverständigen mühsam und mit seitenweisen Übersetzungen davon überzeugen müssen, dass die Reparaturkosten stimmen. Vielleicht hätte die RAS behauptet, der Österreicher hätte in Italien reparieren lassen können und im Sinne der Schadenminderungspflicht auch müssen. Sie wissen, dass das vor Gericht nicht hält, aber sie versuchen es immer wieder. Jedenfalls hätte darüber gestritten werden müssen. Genauso wie über den Nutzungsausfall und die Wertminderung. Unsere Vertretungskosten versuchen sie auch immer abzulehnen…“


„Aha, das ist der springende Punkt, die Vertretungskosten von Claims Service.“ Lovetti spricht es genüsslich aus, als handelte es sich um eine anmaßende Forderung.


„Sicher, auch die Vertretungskosten“, gibt Rainer zu. „Es ist eben gängige Praxis der Gesellschaften hier, alles zu bestreiten, sei der Anspruch auch noch so klar. Sie rechnen damit, dass der Gegner nicht klagen wird, weil er dann jahrelang kein Geld sehen wird. Dabei liegt es gar nicht im Interesse der ausländischen Gesellschaft, dem Anspruchsteller gerechtfertigte Forderungen abzustreiten. Sicher, sie möchte nicht zu viel zahlen. Aber das Angemessene schon. Stattdessen sieht sie sich letzten Endes hohen Kosten gegenüber für Prozesse und Zinsen. Solange man hier auf diese Weise reguliert, werden wir versuchen, bessere Wege zu finden. Und wie man sieht, wir finden sie.“


„Vertretungskosten stehen Ihnen aber nicht zu. Sie verlangen sie ohnehin von Ihrem Auftraggeber.“ Santi glaubt sich auszukennen.


„Keineswegs.“ entgegnet Rainer. „Der Auftraggeber wird mit unseren Kosten nur insofern belastet, als sie nicht von der Gegenseite ersetzt werden. Ich weiß schon, dass in unserer Branche manche doppelt kassieren. Wir nicht. Wir brauchen kein Jagdschloss. Die Villa Manin hier genügt uns.“


Lovetti und Santi sind verdutzt. Sie glauben das nicht recht. Ich bin bereit, zur nächsten Akte überzugehen.


„Un attimo,“ wirft Lovetti ein, “wir müssen die grundlegenden Fakten protokollieren.“ Er wendet sich mir zu. „Riesce a fare lei.“ Das kann man mit Punkt sagen oder auch mit Fragezeichen. Können Sie das machen? Oder: Das können Sie machen. Er sagt es mit Punkt. Er erwartet es von mir, weil ich eine Frau bin. Gut genug für einen Sekretärinnen-Job. Da hat er bei mir die Richtige erwischt.


„Ich werde sicher kein Protokoll schreiben.“


Santi ist verblüfft. Nach kurzer Stille hört er Lovettis mürrisches „Dann machen Sie das halt.“


Wir gehen eine Akte nach der anderen durch. Die Sachverhalte ähneln einander. Die Ergebnisse geben uns recht. Wir haben in kürzerer Zeit bessere Ergebnisse als man es gegen eine italienische Schadenabteilung erwarten könnte.


Lovetti überlegt, wie er uns dazu bringen kann, von unserer Methode abzugehen. „Was würden Sie davon halten, wenn wir die von Claims betriebenen Schadenfälle nicht an die Korrespondenzgesellschaften zur Regulierung weitergeben, sondern bei uns behalten? Wie Sie wissen, sind wir nicht verpflichtet, die Korrespondenzverträge zu berücksichtigen. Wir können jederzeit ohne Begründung entscheiden, einen Schadenfall im eigenen Haus zu regulieren.“ Lovetti lässt durchblicken, er könnte seinen Sachbearbeitern Weisung geben, sich in bestimmten Punkten entgegenkommend zu verhalten. Er kämpft um die Bearbeitungsgebühren. Sympathischer Nebeneffekt, dass die höher sein werden, wenn mehr liquidiert wird.


Lovettis Vorschlag wird an unserer Praxis nichts ändern. Sein ‚Ministerium‘ arbeitet bedächtig. Flexibilität ist seine Stärke nicht. Wir hätten enorme Telefongebühren oder Spesen für regelmäßige Reisen nach Milano.


Die Akten durchzukauen nervt. Nach der Hälfte machen Lovetti und Santi Feierabend. Ich frage mich, ob sie das Gekritzel von Santis Protokoll je entziffern werden können. Sie tragen ihre Trenchcoats über den Arm, als sie loswandern Richtung Bar zum Koffer. Diese Dienstreise werden sie niemals vergessen.

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Die Österreichgeschäfte bringen es mit sich, dass wir uns oft dort für Erledigungen aufhalten. Meistens ist es Klagenfurt, manchmal auch Graz. In Salzburg ist es uns gelungen, die Porsche Bank und Porsche Versicherung als Auftraggeberin zu gewinnen. Die österreichweit tätige Leasing- und Versicherungsgesellschaft freut sich über unsere Unterstützung bei einer schönen Anzahl von Auslandsforderungen. Nach Wien verschlägt es uns seltener. Hauptsächlich in der Vorweihnachtszeit. Die zweitägige Ochsentour, auf der wir unseren Auftraggebern mit Wein und kleinen Werbegeschenken für ihre Treue danken. Es beginnt zeitig in der Früh. Die Erste Allgemeine hat sich zu einer verlässlichen Auftraggeberin entwickelt. Wie die Allianz ist sie im Umbruch. Beide Konzerne bereinigen ihre Aktienbestände. Die Erste Allgemeine kommt zur Generali-Gruppe, die Wiener Allianz zur deutschen Allianz. Man stelle sich vor: die Erste Allgemeine, bald auch in Österreich nur noch ‚Generali‘, mit ihrer mächtigen Mutter, den Assicurazioni Generali mit Sitz in dem vornehmen Ringstraßenpalazzo an der Riva Tre Novembre in Triest, diese Erste Allgemeine lässt sich helfen vom kleinen Richter bei Regulierungen in Italien, manchmal gegen die eigene Mutter, oder sonst wo im Generali-überfluteten Europa. Was würde der soignierte, kleine alte Herr mit der Rundglatze in seinem makellosen dunklen Anzug mit weißem Stecktuch und der silbernen Krawatte, von einer breiten silbernen Spange ans Hemd geklammert, dazu sagen? Sein Blick auf mich über die Antikbrille hinweg würde etwas entgeistert wirken, die Lippen hätten die Absicht etwas zu sagen wohl aufgegeben und stünden halb offen. Die Damen und Herren von der Ersten Allgemeinen laden wir zum Sektfrühstück ins Zanoni am Lugeck ein. Danach Besuch der Helvetia gleich daneben im Anker-Haus am Hohen Markt. Besuch der Städtischen im Ringturm. Zu Mittag speisen wir mit der Donau Versicherung im Leupold in der Schottengasse. Die Anglo Elementar konnten wir im Zuge ihrer Fusion mit der Wiener Allianz gewinnen. Der Abend ist reserviert für unsere wichtigsten Auftraggeber von der Allianz. Schon wieder essen, diesmal ganz draußen am Westend beim  Prilisauer. Haben die Allianzler ausgesucht. Die wissen schon, wo man gut isst. Vorher haben wir unsere Geschenke in der Allianz-Zentrale überreicht. Die ganze Rechtsschutzabteilung unter Abteilungsleiter Schindlauer ist fest in unserer Hand. Er und seine Mitarbeiter sind begeistert von unseren Leistungen. Der Rechtsschutz ist jetzt weitgehend unabhängig von den anderen Abteilungen. Dadurch sollen Interessenskonflikte vermieden werden, falls eine Streitigkeit gegen die eigene Gesellschaft anfällt. Schindlauer muss daher die Zusammenarbeit mit uns nicht von der obersten Schadenleitung genehmigen lassen wie etwa die Kaskoabteilung. Mit der tun wir uns noch etwas schwer. Vorstandsmitglied Cizek ist ein kleiner sportlicher Typ, hat einmal in der Unterliga Fußball gespielt. Ich vermute, in der Verteidigung, denn seine Härte ist evident trotz breiten Lächelns. Das matcht sich gut mit mir, denn mit Härte kann ich als Black&White-Verteidiger umgehen. Ciszek ist verantwortlich für die Integration der österreichischen Schadenabteilungen in den internationalen Konzern. Da teilt er natürlich die Meinung seiner deutschen Chefs. Was sollten wir können, was der eigene Riesenkonzern nicht kann. Sicher ist er sich nicht, dafür sorgt der ganze Buschfunk in seiner Umgebung. Die Kontakte mit Ciszek gehören zu den heikelsten Momenten unserer Promotiontour. Ein Federstrich von ihm und wir sind out, und zwar aus der gesamten Allianz. Ins Prilisauer zusammen mit dem gemeinen Fußvolk laden wir ihn nicht ein. Aber für den nächsten Mittag zum Plachutta. Da werden wir schon die Zürich, die Bundesländer und Wüstenrot besucht haben. Nach dem Plachutta holen wir Mama ab vom Weinheber Platz und nehmen sie mit nach Rivolto.


Eine ähnliche Tour mache ich auch in Italien. In den Agenturen, Schadenabteilungen, Werkstätten, Polizei- und Carabinieristationen und Gerichtssekretariaten schätzt man österreichisches Bier und Christstollen.

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In Kärnten bin ich einen Tag die Woche unterwegs, oft mit Soile. Wir machen verschiedene Besorgungen, die man besser in Österreich erledigen kann. Unseren ersten Computer kaufen wir in Villach. PC (Personal Computer) kann man ihn aus heutiger Sicht nicht nennen. Eine graue Blechkiste, die man mit Disketten füttern muss, damit etwas zustande kommen kann. Der Computer ist eine wesentliche Erleichterung für den Mitarbeiter. Das graue Kastl dazu zu bringen, des Bedieners Leben zu erleichtern, erfordert eine Menge Zeit zwischen Versuch und Irrtum. Besonders bei gutem Wetter in den schönen Jahreszeiten ist es besonders erbaulich in Villach. Hand in Hand durch die schmalen Gassen zu schlendern, über den alten Hauptplatz des kleinen, adretten Städtchens, eingebettet und durchzogen von frischem Grün, unter blühenden Obstbäumen oder Kastanien, es erfreut uns bis tief hinein in unsere verliebten Herzen. Es sind diese Ausflüge, während derer eine Idee sich in uns festsetzt. Ein zweites Standbein wäre nützlich. Eine Filiale oder Schwesterfirma in Österreich. Grundlage dafür wäre eine feste Adresse. In Maria Gail bietet sich eine möblierte Garçonniêre zur Miete an. Sie ist Teil eines stattlichen Einfamilienhauses aus den Sechzigern, das wiederum Teil ist einer in jenen Jahren entstandenen Wohnsiedlung am Rand des alten Dorfs mit der mittelalterlichen Wallfahrtskirche. Vor fünf Tagen sind die Pilger im Lavanttal aufgebrochen, wenn sie heute das Etappenziel etwa in der Mitte des Marienwegs erreichen. Weitere fünf Tage werden sie wandern das Gailtal hinauf bis nach Maria Luggau. Wir verwenden die Kleinstwohnung als Übernachtungsmöglichkeit während unserer Kärntentage und als Stützpunkt für erholsame Wochenenden in den Bergen. Selbstverständlich ist unser Frühstücks- und Lesetisch immer voll mit Aktenstapeln. Die Arbeit darf nicht zu kurz kommen.


Wir nehmen Sanna und Esa mit nach Maria Gail. Esa? Sannas Boyfriend heißt doch Pirkka? Nicht mehr. Das heißt, wahrscheinlich heißt der Poika immer noch Pirkka. Aber sie hat jetzt einen Esa. Sanna hat Pädagokik studiert. Soile konnte nie recht verstehen, weshalb Sanna ausgerechnet Kindergärtnerin werden wollte. Es passte nicht zu ihrer Unduldsamkeit. Irgendwann irgendwo hat sie Esa Heikkilä kennengelernt, männlicher, reifer als Pirkka. Regionaleinkäufer eines finnlandweiten Fleischproduktegroßhandels. Sohn einer alteingesessenen, stolzen und traditionsbewussten Farmerfamilie in Vehmaa, die Schweinezucht betreibt. Vielleicht ist daraus der Berufsweg entstanden. Sanna und Esa werden bald in Turku heiraten. Jetzt sind sie bei uns auf Urlaub. In Rivolto und Maria Gail.


Villach wird beherrscht von einer eindrucksvollen Berggestalt, dem Mittagskogel. In einiger Entfernung südöstlich der Stadt ragt er steinig in den Himmel. Gerade dort zieht sich der Felsenkamm der Karawanken etwas weiter in den Süden zurück und daher kann der Mittagskogel sich solitär in Szene setzen gegen die niedrigeren grünen Nachbarn. Er täuscht das Bild eines alles überragenden Vulkankegels vor. Das ist er keineswegs. Schmale Felswände, die sich zum Gipfel winden, aus der Ferne gesehen stellen sie eine Behauptung auf, die der Berg letztlich nicht einhalten kann. Trotzdem nennen wir den Mittagskogel deshalb Fuji.


Diesen Fuji will unsere finnisch-österreichische Seilschaft bezwingen. Zum Training wandern wir von Maria Gail nach Drobollach am Faakersee. Auf dem Rückweg entdecken wir die kleine Gaststätte auf dem Campingplatz von Mittewald mit ihren vorzüglichen Wiener Schnitzeln. Wiener Schnitzel sind nicht genau das Training, das man für den Fuji brauchen würde. Trotzdem gehen wir ihn tags darauf an. Wir nähern uns ihm mit dem Auto, das wir in Untergreuth zurücklassen. Hätten wir vorhergesehen, wie der Tag verlaufen würde, wir hätten unseren Stolz bezwungen und wären mit dem Croma bis hinauf zum Parkplatz nahe der Berta-Hütte knapp unterhalb der Baumgrenze gefahren, wie die meisten Ausflügler das machen. Auf diese Weise hätten wir uns die ersten drei Stunden steil hinauf durch den Wald erspart. Unsere jungen finnischen Expeditionsteilnehmer machen dabei gute Figur, wenn man die Höhe der Hügel in Suomi bedenkt. Sie sind aber auch knapp zwanzig Jahre jünger. Auf der Berta-Hütte herrscht lauter Trubel. Meinem Plan zufolge hätten wir hier nach dem Gipfelsturm übernachtet vor dem Abstieg am folgenden Tag. Daran ist nicht zu denken. Die Hütte ist übervoll von Pfadfindergruppen. Wir beschränken uns also auf etwas zu trinken zu den mitgebrachten Semmeln und setzen den Aufstieg fort. Bald wird das Gelände felsig. Große unförmige Gesteinsbrocken übersähen die Hänge zum Gipfel hinauf. Man muss über sie hinweg oder um sie herum, einmal so und einmal anders. Jedenfalls ist die Mühe damit enorm. Die Hitze auch. Unsere Flachlandgefährten sind uns weit voraus. Die Anstrengung ist also nicht unbedingt allgemein. An diesem Berg lernen Soile und ich, dass wir nicht mehr die Jüngsten sind. Wenn darüber noch Reste von Zweifel vorhanden sind, sie werden uns endgültig genommen von einer Gruppe von etwa zwanzig Mädchen und jungen Frauen in Sportkleidung, die hopp hopp an uns vorüber über die Steinbrocken gazellen, anscheinend völlig mühelos, während wir nicht mehr wissen, wie wir unsere Oberschenkel für den nächsten Schritt anheben können. Auf irgendeine Weise erfahren wir später, es handle sich um die österreichische Nationalmannschaft im Frauenhandball, die am Faakersee im Bundessportzentrum kaserniert sei. Während wir mit letzter Kraft Sannas Aufforderung endlich weiterzugehen nachkommen und weitere fünfzig Höhenmeter schaffen, kommen die Sportlerinnen von vorhin schon wieder vom Gipfel zurück und hopp hopp an uns vorübergegämst. Unsere Motivation, diesen steinigen Weg fortzusetzen, dürfte dabei kehrtgemacht haben und lieber dem fliegenden Haar der anmutigen Figuren hinterhergeeilt sein. Sanna dort oben lässt das nicht zu. Ihre großen Armbewegungen sind deutlicher Ansporn, es weiter zu versuchen. Dabei ertappe ich mich, wie ich tatsächlich versuche, mit den Händen meine Oberschenkel anzuheben für den Schritt hinauf auf den nächsten Felsbrocken. Unglaublich, aber wahr, letztendlich erreichen wir Sanna und Esa auf dem Gipfel. Unsere Handschläge sind das einzige, was professionell an uns aussieht. Der Wind bläst kalt auf unsere nassen Rücken. Trotz der prallen Sonne und den rasch übergezogenen Jacken bleibt es unangenehm kalt. Der Ausblick hinein ins Kärntner Land und auf der anderen Seite nach Slowenien hinunter ins Save-Tal entschädigt dafür nur bedingt. Lang bleiben wir nicht, auch weil wir wissen, dass wir wieder ganz hinunter müssen ins Tal. Ich selbst fühle mich jetzt wieder bereit, wie die Handballerinnen von Stein zu Stein zu flohen. Wahrscheinlich aber ist es gesünder, dass ich stattdessen Soile über die Felsbrocken hinweg stützen muss. Übermut und Selbstüberschätzung ist schon manches Sprunggelenk zum Opfer gefallen.


Wer mich kennt, weiß, dass ich es nicht mag, denselben Weg zurückzugehen, auf dem ich gekommen bin. Die Karte zeigt eine andere Abstiegsmöglichkeit von der Berta-Hütte zurück zum Auto. Etwas länger, dafür weniger steil. Die Höhenlinien zeigen es klar an. Steadily slightly down. Meine Diagnose ist vertrauenserweckend. Wir nehmen also diese Route. Eine kurze Hangquerung lang geht es tatsächlich bergab. Doch hinter der nächsten Biegung lauert wieder ein ansehnlicher Anstieg. „Steadily slightly down“, höre ich aus dem letzten Glied. Was wollen die? Ich hatte doch recht. Der Weg ist wirklich länger, aber nicht ohne bemerkenswerte Steigungen, wenn auch durchsetzt mit kurzen Gefällen. Bei jedem neuen Anstieg tönt es von hinten erbarmungslos „Steadily slightly down“. Im Wesentlichen führt er um den Türkenkopf herum, bis auch er in einem steilen Abstieg endet. Zuletzt müssen wir im Tal noch eine schöne Strecke eben bewältigen, bis wir endlich den Ausgangspunkt erreichen, die Buschenschank an der unser Croma wartet. Ein grober Holztisch im Freien unbesetzt. Wir okkupieren ihn nicht. Wankend visieren wir ihn an mit letzten Kräften. Ich möchte Bier bestellen für alle. Niemand kommt. Sanna entdeckt ein Schild: Selbstbedienung. Ich gehe mit Esa Bier holen. Das war das schwerste Bier, das ich je zu tragen hatte. Nicht aber das einzige. Die nächsten waren schon leichter.

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Zu dritt fahre ich mit ihnen nach Zagreb, um ein gestohlenes Golf Cabrio zurückzuholen. Soile bleibt daheim. Wir fahren am Morgen los, weil ich auf dem Zollamt in Zagreb die Formalitäten zu erledigen habe. Der VW soll dann auf einem Lagerplatz am Stadtrand ausgefolgt werden. Wir betreten das Zollamt kurz nach der Mittagspause um eins, finden das zuständige Büro. Die Beamtin ist nicht da. Ich warte. Sanna und Esa gehen einen Snack kaufen. Esa kommt nach einer knappen Stunde zurück. Vom Fenster aus sehen wir Sanna unten im Park Mineralwasser trinken. Die Beamtin ist immer noch nicht da. Ich frage mich durch zur vorgesetzten Dienststelle. Soviel ich verstehen kann, meint der unwirsche Wicht, sie werde schon kommen. Gegen halb drei werde ich nervös. Während ich in dem anderen Büro war, haben sich einige andere Wartende vor dem leeren Arbeitszimmer versammelt. Die glauben jetzt, sie waren vor mir da und werden auch vor mir drankommen wollen. Um fünf schließt der Lagerplatz. Ob sich das ausgehen wird? Ich rechne schon mit der Rückfahrt unverrichteter Dinge, denn ein Wochenende zu dritt wird die Spesenabrechnung nicht hergeben. Da erscheint gegen drei die ersehnte Dame. Weltvergessen, vielleicht in Erinnerungen an die vergangene Nacht schwelgend, schlendert sie auf ihre Bürotür zu. Da plötzlich ein paar Leute auf sie zustürmen, ändert sich ihre Miene auf Verdruss. Sie wehrt alle Angreifer ab, flüchtet in ihr Büro und schließt die Tür hinter sich. Pause. In einem Mix aus allen meinen Sprachen und Gebärden versuche ich den anderen Wartenden klar zu machen, dass der Lagerplatz um fünf schließt und dass ich schon seit eins da bin und dass ich doch nur einen klitzekleinen Ausfolgeschein brauche, der da drinnen sicher schon bereitliegt. Um halb vier öffnet die Beamtin die Tür zum Paradies. Ich erwarte, dass die Anderen sich jetzt erbarmungslos Einlass verschaffen werden. Da das nicht geschieht, wechseln wir einen zögerlichen Blick, dann verstehe ich, dass sie mir den Vortritt lassen. Die Beamtin begreift schon nach zehn Minuten, worum es geht. Sie beginnt, die wüsten Stapel auf ihrem Schreibtisch zu durchsuchen, vergeblich. Als sie die Frauenzeitschrift zornig auf die andere Seite des Tischs wirft, fallen zwischen den Seiten ein paar mit einer Büroklammer zusammengehaltene Dokumente heraus. Oh, evo ih! Das evo zieht sie eine ganze Oktav abwärts. Sie geht zu einem Regal und bringt von dort ein Formular. Sie beginnt es mit der Schreibmaschine auszufüllen. Ist nicht zufrieden, reißt das Papier aus dem Wagen, knüllt es zusammen, schmeißt es zu den anderen Knäueln neben dem übervollen Papierkorb, holt ein neues Blatt, tippt wieder. Bei jedem Anschlag ändern widerstreitende Gefühle ihre Züge. Es ist vier. Fertig. Nachdem sie zwei Stempel auf das Papier gehämmert hat, sammelt sie im Aufstehen ihre überquellenden Rundungen zusammen. Potpis. Direktor, sagt sie. Sie schaut auf die Uhr. Jetzt Direktor otišao. Sie mimt weg. Dođite u ponedjeljak. Sie nimmt den Tischkalender und zeigt auf Montag. Ich erkläre ihr verzweifelt, dass ich den Wisch jetzt brauche, weil um fünf der Lagerplatz sperrt. Sie zuckt bedauernd mit den Schultern. Trotz meiner Wut schaue ich sie so lieb an, wie es mir möglich ist. Autokamp, reime ich mir zusammen und mache die Handbewegung des Zusperrens. Ich angle mir den Tischkalender, deute auf das Wochenende. Tri persone! Tri persone, tri dana! Die Gute zieht die Augenbrauen in die Höhe, schaut mir tief in die Augen, spitzt die glutrot bemalten Lippen, zögert noch einen Augenblick, bevor sie das Formular mit einem Seufzer selber unterschreibt. Viertelfünf. Die Blicke von vier Personen durchbohren mich, als ich mit dem Zettel in der Hand an ihnen vorbeirenne als hätte ich ihn geraubt. Hätte ich auch bald. Esa mir nach. Im Park vor dem Zollamt keine Spur von Sanna. Ich wende mich an den Taxifahrer, der im Wagen Zeitung liest, zeige ihm die Adresse des Lagerplatzes. Ich zeige auf die Uhr und fünf Finger. „Hmmm. Brzo!“. Ich deute ihm, ich werde ihm mit meinem Auto folgen. „Brzo, brzo!“ Ich sage Esa, er soll hier auf Sanna warten, ich komme sie dann holen. Ich laufe zum Croma auf dem Parkplatz, reite ihn wie ein wildes Pferd zum Taxistandplatz. Da ist inzwischen auch Sanna. Sie und Esa steigen bei mir im Fond ein. Der Taxler gibt Gas. Ich auch. Der Mann da vorne fährt gut. Schneller geht es nicht ohne Unfall durch die Stadt. Dabei beobachtet er aufmerksam, ob ich auch folge. Das tue ich. Reifen quietschen beim Bremsen und in den Kurven, hoppeln über Straßenbahnschienen. Esa und Sanna krallen sich an den Haltegriffen fest. Ich am Lenkrad. Ein Teufelsritt. Wir erreichen die Stadtautobahn. Er fährt jetzt hundertzwanzig. Ich hinterher. Als hinge ich am Seil. Wie damals hinter Charly Katelbach von Budapest herauf. Hundertdreißig. Runter von der Autobahn. Mit sechzig über eine unbefestigte Straße. Ein Gittertor sperrt sie ab. Die bremsenden Räder blockieren auf dem Schotter. Es ist Punkt fünf. Sind wir zu spät? Haben die vielleicht früher Schluss gemacht? Dort schleicht ein Typ in einem dreckigen Overall übers Gelände. Das Tor ist unversperrt. Ich zahle das Taxi, mit dem Trinkgeld wird eine eventuelle Strafe leicht bezahlt sein. Wir betreten das Gelände. Überall Wracks und offenbar lange nicht bewegte Autos. Ich bemerke den schwarzen Golf mit dem Stoffdach. Es ist ein alter Kübel aus der ersten Baureihe. Ich gebe dem Typen den Wisch vom Zollamt, er mir die Wagenschlüssel. Der Golf ist ohne Kennzeichen. Das linke Hinterrad fehlt. Statt ihm ist das kleinere Notrad montiert. Das Wageninnere ist ein Saustall. Überall Dreck, Abfälle, Essensreste, leere Plastikflaschen, Bierdosen, abgerolltes Klopapier, benutzte Präservative, Zeitungspapier, eine beschissene Unterhose. Ein Eldorado für DNA-Analysten, das wird aber erst in ein paar Jahren kommen. Ich entsorge das Gröbste in einen Container. Wir fertigen ein Kennzeichen an aus Karton, befestigen es hinter der Heckscheibe. Die Tankuhr zeigt leer. Ganz leer. Ich kaufe dem Typen zwei Liter Benzin ab von dem, das er früher aus dem Golf abgelassen hat, für einen Preis wie für zwei Liter Remy Martin. Ich drehe den Schlüssel im Zündschloss. Yippie! Er springt an. Ölstand ist knapp. Ich fülle aber hier nichts ein. Würde mich noch eine Flasche Remy Martin kosten. Wir waschen eine dicke Dreckschicht von der Windschutzscheibe. Esa übernimmt den Croma mit Sanna, ich den Golf. Los geht’s.


Wir haben ein selbst bemaltes Pappschild als Kennzeichen, keinerlei Wagenpapiere, nur ein Fax mit dem Rückholauftrag von der österreichischen Versicherung. Könnte jeder selbst anfertigen. Esa ist Finne und mit Sanna als Ansteckblume geben wir nicht wirklich den Eindruck eines professionellen Rückholteams. Ich bin schon gespannt, wie es uns gehen wird an den vier Grenzkontrollen, die wir vor uns haben. Kroatien, Slowenien, dann Slowenien, Österreich. Kroatien und Slowenien kontrollieren auch bei der Ausreise. In Vor-EU-Zeiten ist die Einfuhr von allem und jedem ein zollrelevantes Thema. PKWs stehen da natürlich mit im Brennpunkt. Wir entschließen uns, Zagreb erst mit Einbruch der Dunkelheit zu verlassen, um weniger aufzufallen. Bis dahin warten wir in einem Kastaniengarten bei Ćevapčići und Bier. Bei der Fahrt über die Grenzen werde ich immer sehr knapp an den Croma vor mir auffahren, damit das fehlende Kennzeichen vorne möglichst nicht bemerkt wird. Mit den finnischen Pässen Esas und Sannas werden sie ohnehin ein wenig in Gedanken sein, vielleicht klappt das ja. Es Klappt. Keiner der Grenzer bemerkt das Fehlen des Schilds, es sei denn zu spät von hinten. Im Rückspiegel sehe ich einen mit den Armen fuchteln, aber ich halte nicht an. Bei der Einreise nach Slowenien macht mich der Grenzer darauf aufmerksam, dass mein Abblendlicht zu schwach ist. Stimmt, offenbar wird die Batterie nicht richtig geladen. Er lässt mich aber weiterfahren. Vom fehlenden Nummernschild ist keine Rede. Wir kommen zur Einreise nach Österreich bei Spielfeld. Das knappe Auffahren versagt die Wirkung. Mein Golf fällt schon durch die Scheinwerfer auf, die jetzt nur noch schwach blinzeln. Unter der starken Beleuchtung des gut ausgebauten Grenzübergangs ist die illegale Leere an meiner Stoßstange unübersehbar. Kurzes Palaver mit dem Grenzer, aus der Kolonne zur Seite fahren. Esa und Sanna im Chroma haben vor mir anstandslos passiert. Sie sind nach der Kontrolle zur Seite gefahren und warten. Meine Erklärungen im Innern des Abfertigungsgebäudes können nicht verifiziert werden. Immerhin stehen weder ich noch der Golf auf einer Fahndungsliste. Beim Golf wäre ich mir nicht so sicher gewesen. Die seinerzeitige Fahndung wurde aber offenbar schon gelöscht. Schließlich entscheiden die Beamten, der Golf bleibt da. Ich kann gehen. Sie heißen mich den Wagen auf einer der Abstellflächen zu parken, dann gebe ich die Schlüssel ab. Obwohl die Überstellung nicht ganz ausgeführt werden konnte, bin ich zufrieden, dass sie fast bis ans Ziel gelungen ist, das wäre VW in Graz gewesen. Für die wird es ein Leichtes sein, die Gurke bei Tageslicht mit Probefahrtkennzeichen von der Grenze abzuholen.


Es ist weit nach Mitternacht, als wir drei im Croma in Maria Gail ankommen, alle hungrig wie die Bären. Es stellt sich heraus, Soile hat kein Essen vorbereitet. Sie wusste ja nicht, wann wir kommen würden, sagt sie. Die Idee, etwas vorzukochen, was dann rasch fertiggestellt werden kann, ist ihr nicht gekommen. Auf Brot und Wurst und Käse haben wir nach den Abenteuern des Tages aber auch keine Lust. Das Einzige, was noch offen hat, ist MacDonald. Ich hasse MacDonald. Was du dort bekommst, ist ja auch nur ein Brötchen. Auf Pappe. Zuhause wär‘s wenigstens ein Keramikteller gewesen bei Musik und Kerzenlicht statt Pop und Neon. Dazu schmiert man sich Hände und Mund voll mit Mayonnaise und Ketchup. Was für einen Narren die Jungen an MacDonald gefressen haben, kann ich nicht verstehen. Sanna und Esa sind für MacDonald. Soile schließt sich an. Sie kann doch nicht gegen ihre Tochter auftreten. Also endet dieser erfolgreiche Tag in einem Kobel aus verschmierten Glasscheiben mit verschmiertem Gesicht und Händen, wo das Personal schon beginnt, im Neonlicht das Lokal zu entmüllen.

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Eines Morgens finden wir uns ohne unser wichtigstes Werkzeug wieder. Das Telefon macht keinen Mucks. Strom funktioniert einwandfrei. Das Radio verrät nichts über größere Telefonstörungen. Ich beschließe, nach Codroipo zu fahren. Vielleicht erfahre ich da etwas über das Problem. Ich wundere mich über zahlreiche kleine Zweige von den Bäumen der Gärten um die Wohnhäuser, die auf der Straße nach Codroipo liegen. In der Nacht hat es Gewitter gegeben. Unsere Fensterläden haben im Wind geräuschvoll gewackelt. Wenig weiter Richtung Codroipo fällt mir durch die Augenwinkel auf, dass die Gartenmauer, die da auf der rechten Seite gestern noch gestanden ist, fehlt. Umgefallen. Die Trümmer liegen überall. Im Garten, auf dem Radweg, bis heran zur Straße. Von der Fahrbahn hat sie offenbar jemand schon weggeräumt. Da man jetzt in diesen Garten hineinschauen kann, erblicke ich mit einiger Bestürzung entwurzelte Bäume, Bäume mit abgebrochener Krone und dazwischen überall die Ziegel vom offenen Dach. Nackt ragt ein Teil des Dachstuhls in den Himmel. Auf dem benachbarten Grundstück sieht es nicht besser aus. Eigenartig, an den Grundstücken links der Straße sind keine Beschädigungen erkennbar. Oder doch. Dort, wo rechts der Straße die Lage sich wieder normalisiert, liegt links davon alles in Trümmern. Mir wird klar, hier hat in der Nacht der Sturm eine Schneise der Zerstörung gezogen. Schmal, aber gründlich. Die Grenzen zwischen Zerstörung und Unversehrtheit sind scharf wie nach einem Zug mit der Rasierklinge durch den Bart. Der Sturm – war es ein kleiner Tornado? – ist an Codroipo im Süden vorbeigezogen, hat hier auf halbem Weg nach Rivolto die Straße gekreuzt und ist nordöstlich weitergerast. Der Abstand zu Rivolto kann nicht mehr als ein, zwei Kilometer betragen haben.


Mehr brauche ich nicht zu wissen. Ich kehre um und berichte Soile von der Ursache der Telefonstörung. Dabei stelle ich mir vor, wie das wäre, wenn wir jetzt ohne Dach dastünden. Eine Katastrophe hat uns knapp verschont. Danke, Schurli. Gut aufgepasst.

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Ein paar Hotspots sorgen für eine gewisse Beständigkeit in der Frequenz der Sektstoppel. Ganz in unserer Nähe ist der Kreisverkehr, der den Verkehr aufteilt zwischen der Staatsstraße Udine-Pordenone-Treviso-Venezia und der Provinciale, die hier südöstlich Richtung Palmanova abzweigt, sowie der Einfahrtsstraße nach Codroipo, dem Zubringer zur Villa Manin und einer Nebenstraße den Corno hinauf. Das ist noch nicht der weitläufige Kreisverkehr von heute. Irgendwann hat man der Unfallhäufigkeit zufolge die ganze Anlage von Grund auf neugestaltet. Ich bezweifle, ob sie nach dem Umbau sicherer geworden ist. In unseren Tagen gibt es auch einen Kreisverkehr, aber von recht zaghafter Konstruktion. Der starke Fernverkehr mischt sich mit den nervösen lokalen Bewegungen. Dazu mündet die Zufahrt zur Villa nicht direkt in den Verkehrskreisel, sondern bildet eine zusätzliche Kreuzung mit der Einfahrtsstraße nach Codroipo, die man als Ortsunkundiger nicht vermuten würde. Das Ergebnis ist ein kompliziertes System, das jeden Tag oftmals Unsicherheit schafft. Manchmal ist jemand damit überfordert, dann kracht es. Viele ausländische Fahrzeuge sind beteiligt. Dann wird einer der lokalen Agenten wieder etwas zu fluchen haben und sich an den kecken Flyer erinnern, der die Situation so gut geschildert hat. Aber wo ist der eigentlich geblieben? Vielleicht hat ihn ja einer der Kollegen griffbereit? Gut so. Auf diese Weise erfährt auch der Kollege, dass es uns gibt im Fall des Falles. Oder der Ausländer meldet den Schaden seiner Versicherung und hofft, von dort Hilfe zu erhalten. Wenn er Glück hat, kennt uns dort jemand und schon ist er auf dem besten Weg. Zuständig für diese Unfälle sind oft die Carabinieri von Codroipo. Daher habe ich von dort immer wieder Protokollablichtungen zu beschaffen. Carabinieri, das ist eigentlich Militär. Dort überwiegen stramme Töne und Verhaltensmuster. Die Posten sind alle militärisch gesichert, wollen das jedenfalls glauben machen mit Stacheldrahtzaun und drohenden Warntafeln. So auch der Posten in Codroipo, wenn auch in einer ruhigen Seitenstraße im Zentrum gelegen. Die massive Eingangstür ist immer verschlossen. Ein Guckloch darin ist der Vorgänger der noch seltenen Überwachungskameras. Man läutet, nach einiger Zeit öffnet sich das Guckloch. Man meldet seine Wünsche an. Die Tür öffnet sich. Ein korrekt adjustierter Carabiniere lässt dich eintreten. Während er dich auffordert, in einem mickrigen, fensterlosen Warteraum Platz zu nehmen, hängt er seine Kopfbedeckung, die weißen Brust- und Leibriemen und den abgestreiften Uniformrock an einen Haken. Die Wartekammer darf man unter keinen Umständen verlassen. Versucht man es, wird man sofort angeschrien. Man hat zu warten, weiß nicht worauf und wie lange. Der Unterhaltung dienen zwei eingerahmte Aufnahmen von einer Motorradformationsübung der Carabinieri in Rom. Durch die türlose Öffnung wird man beobachtet. Selbst beobachtet man vor allem Bewegungslosigkeit und Ruhe. Solange, bis auch der zuständige Carabiniere empfindet, dem Warten sei Genüge getan, und er dich auffordert, vor seinen Tisch zu treten und die Unfalldaten zu nennen, damit er die Akte aus einem Regal holen kann. Er zählt die Seiten, verlangt die Stempelmarken und befiehlt einem Untergebenen, die Kopien anzufertigen, sobald das in Einklang mit seinen sonstigen Verrichtungen zu bringen ist. Die Kopien darf er dir aber nicht ausfolgen. Das bleibt schon dem zuständigen Ranghöheren vorbehalten. Dafür hat er schließlich eine Ausbildung absolviert. Kann sein, dass du auf den neuerlich warten musst. Ob untergeordnet oder nicht, prinzipiell nennt man jeden Carabiniere Maresciallo. Wer es unterlässt, ist selber schuld.


Einmal hat sich das Guckloch in der Tür nach meinem Läuten so schnell geöffnet, dass ich erschrocken bin. Auch das Gesicht des Carabiniere dahinter schien überrascht. Er dürfte jemand anderen erwartet haben. Trotzdem hat er sofort die Tür geöffnet und mich in den Warteraum ungeduldig fast hineingeschubst. Die Tür hat er gleich wieder mit dem Schlüssel versperrt und mit zwei schweren Riegelbändern verrammelt. Es hat so ausgesehen, als würde man hier den Angriff einer Indianerhorde auf das Fort erwarten. Er hat seine Schirmkappe aufbehalten und die Ledergürtel nicht abgelegt, den Rock anbehalten. Auch seine Kameraden sind voll adjustiert. Steht hier etwas bevor wie vielleicht Trooping the Colours? Etwas fehlt in diesem Posten. Es ist die Ruhe. Alle wetzen geschäftig hin und her, fragen kurze aufgeregte Fragen und bekommen knappe aufgeregte Antworten. Jemand ist an der Tür. Es läutet aber nicht, sondern es wird an die Tür gehämmert. Der fürs Guckloch zuständige macht einen Satz an die Tür, reißt das Guckloch auf, knallt es wieder zu, entfernt die doppelte Verriegelung, will aufsperren, erwischt aber den falschen Schlüssel, sucht umständlich nach dem richtigen an dem Bund, sperrt endlich die Tür auf, öffnet, macht einen Schritt zur Seite, lässt die Hacken knallen, salutiert und brüllt etwas mir Unverständliches. Durch die Tür treten zwei andere Carabinieri, am anderen Ende des Raums haben sich sofort ein paar Mann der anwesenden Besatzung habt acht aufgestellt. Hinter den beiden Ankommenden betritt nun eine Lichtgestalt das Gebäude. Der große Mann, ein Vierziger mit edlen Zügen, wirkt überlegen und vergleichsweise kultiviert. Sein Uniformrock glitzert von mehr Silberschnüren als je ein Weihnachtsbaum gesehen hat. Zwei weitere Carabinieri hinter ihm decken ihm den Rücken. Der Postenkommandant salutiert und brüllt. „Compagnia Carabinieri di Codroipo, comandante Maresciallo Pietro Alberoni denunciasi adunato con dodici militari qui presenti, tutti attivi!” (“Carabinieri Kompanie Codroipo, Wachtmeister Pietro Alberoni meldet sich angetreten mit zwölf Mann, allesamt im Einsatz!“)


Der Offizier salutiert lässig und befiehlt weitermachen. Die Carabinieri vom Posten setzen ihre ebenso hektischen wie sinnlosen Umtriebe fort. Der Offizier mit seinen vier Gorillas ist im Begriff, dem Postenkommandanten in dessen Büro zu folgen. Er kommt dabei an dem Warteraum vorbei, aus welchem ich amüsiert hervorgrinse. Der Offizier hält inne und schaut mich prüfend an. „Und was will der da?“ fragt er den Stationschef. Während dieser eine Erklärung anfangen will, schlage ich die Hacken zusammen und salutiere. Das Geräusch und die Bewegung hat keiner erwartet. Die Überraschung lässt den Offizier ein kleines bisschen zusammenzucken. Ich melde mich zackig als Zivilist, der aus beruflichen Gründen auf die Erfüllung seines Ansuchens um Akteneinsicht in ein Verkehrsunfallprotokoll wartet. Der Postenkommandant erblasst. Ich weiß nicht, weshalb. Der Offizier ist jetzt so amüsiert wie zuvor ich. „Bekommt er die Einsicht?“ fragt er den Kommandanten. „Wir haben das noch nicht geprüft. Der Fritz ist knapp vor Ihnen eingetroffen.“ – „Gut, lassen Sie das erledigen. Ich mag keine Fremden auf dem Posten während der Inspektion.“ Damit wendet sich der Offizier von mir ab und folgt dem Kommandanten. Man mag sich fragen, weshalb der Kommandant mich Fritz nennt. Ich weiß es und es ist recht komisch. Beim Lesen manches Unfallprotokolls ist mir aufgefallen, dass darin deutschsprachige Ausländer als ‚Il Fritz‘ bezeichnet werden. „Der Fritz gab an…“, „Der Fritz bog ab…“, und so. Egal, wie sie heißen, sie sind immer der Fritz. Für Frauen habe ich hingegen eine derartige Kategorisierung nie gehört.


Bei einem anderen Besuch meinerseits auf demselben Posten, der in den Abendstunden stattfand, waren indessen sehr viele Fremde anwesend. Das Öffnen des Gucklochs dauerte wieder sehr lang. Ein ungewohntes Stimmengewirr drang zu mir heraus. Es waren erregte Frauenstimmen, ab und zu übertönt von männlichen Aufforderungen zur Ruhe. Diesmal fragte der Carabiniere nach dem Öffnen des Gucklochs gar nicht, was ich wolle. Er öffnete sofort die Tür und ließ mich ein. Sogleich umringten mich ungefähr zwanzig Frauen, von denen jede einzelne aufgeregt auf mich einredete. Es waren zum Teil hübsche Frauen, zum andern Teil abstoßende, weiße, schwarze, asiatische, lateinamerikanische, junge, ältere. Alle waren aufreizend gekleidet. Ihre Makeups wirkten gruselig im kalten Licht der Amtsräume. Kein Zweifel, die sind bei einer Razzia entlang der Staatsstraße eingefangen worden. ‚Luciole‘ (Glühwürmchen). Bald verstand ich, dass sie in mir den Strafverteidiger sahen, nach dem sie verlangt hatten. Das glaubten auch die Carabinieri. Einer von ihnen bot mir den Platz hinter seinem Schreibtisch an, wie es in solchen Fällen offenbar Usus war. Gern suchte ich hinter dem Schreibtisch Deckung. Ich setzte mich aber nicht, sondern brüllte so laut ich konnte „Silenzio!“ Und noch einmal „Zitte!“ Ich sah, wie sich die Gesichter der Frauen und der Carabinieri verfinsterten, als ich verkündete, ich wäre nicht der erwartete Anwalt, sondern hätten ganz andere Gründe mich auf diesen Posten geführt. Einer der Carabinieri stamperte mich sofort weg aus der halb offiziellen Position hinter dem Schreibtisch. Ich fand mich wieder in meiner mir schon so bekannten Wartekammer. Diesmal sollte es sehr lange dauern, bis ich wieder rausdurfte. Und keine der Schönen kam mich zu trösten.

Ein weiterer Unfallhotspot ist die Autobahn A4 zwischen Trieste und Mestre, besonders im Winter. Da gibt es oft tückischen Nebel. Tückisch, weil er sehr, sehr dicht sein kann und es schafft, dich auszutricksen. Du fährst in eine Nebelwand, gehst vom Gas, aber nur kurz, denn es war nur so eine Schwade über eine recht kurze Strecke. Das wiederholt sich mehrmals. Es macht dich sorglos. Du erwartest immer nur sehr kurze Sichteinschränkungen. Bis einmal die Nebelsuppe beständig bleibt. Wenn du das merkst, hast du schon ein paar Hundert Meter Blindflug hinter dir. In dieser Zeit kann viel passieren. Ein Anderer hat vielleicht früher darauf reagiert und zu schleichen begonnen. Dann kracht es. Sehr wahrscheinlich kracht es mehrmals. Manchmal kracht es immer wieder und es gibt eine gigantische Massenkarambolage. In eines dieser Blechchaos bei San Donà di Piave waren mehr als vierzig Fahrzeuge verwickelt. Einige davon ausgebrannt. Mehrere Menschen starben in dem Inferno, andere überlebten mit schwersten Verletzungen. Sogar Vermisste gab es, denn etliche Menschen irrten in Panik auf der Autobahn und in ihrer Umgebung umher. Wie die Polizia Stradale es geschafft hat, das höllische Geschehen zu analysieren und einen plausiblen Unfallablauf zu protokollieren, ist mir bis heute ein Rätsel geblieben. Ein Zeuge erzählte, er habe nur Wummm gehört und wieder Wummm und immer wieder Wummm. Er höre es noch heute. Das Wummm, Wummm, Wummm ginge nicht mehr aus seinem Kopf. Das Protokoll war ein dicker Ordner. Die Unfallskizze auf zwei Meter zusammengefaltetem Papier. Die Wracks auf den Fotos sahen grauenvoll aus. Manche Trümmerhaufen waren überhaupt nicht mehr als ehemalige Fahrzeuge zu erkennen. Aus dieser Katastrophe erwuchsen uns aus unterschiedlichen Quellen eine stattliche Anzahl von Aufträgen zur Regulierung und eine ganze Menge von Anfragen um das offizielle Protokoll mit Übersetzung. Es wäre ein Leichtes gewesen, jedem Antragsteller das vollständige Protokoll zu liefern und dazu eine Kopie des nur einmal übersetzten kompletten Textes. Es wäre ein Goldesel für uns geworden. Wir zogen es aber vor, jedem Auftraggeber nur jene Teile zu liefern, die für ihn interessant waren, was seine Kosten extrem minderte. Klar, dass wir dazu auch eine rechtliche Beurteilung vornehmen mussten, um festzustellen, welche Teile für den Auftraggeber von Belang sein könnten und welche gar nicht. Kein Wunder, dass manche Auftraggeber danach wissen wollten, wie wir das machten, dass unsere Protokolllieferungen einen Bruchteil von dem kosteten, was die Konkurrenz verlangte. Auch gönnten wir uns nicht, zwei Beteiligte zu vertreten, wenn sie in einem Interessenskonflikt standen. Wir wiesen dann strikt denjenigen ab, dessen Auftrag später eingelangt war, nicht etwa den mit dem geringeren, also weniger lukrativen Schaden. So gelang es uns, das Vertrauen der Auftraggeber zu erlangen.

***

Eines Tages erhielten wir den Anruf einer österreichischen Auftraggeberin, ob wir sofort zur Autobahnbrücke der A4 über den Fluss Stella eilen könnten. Ein österreichischer Tankzug sei von der Brücke in den Fluss gestürzt. Es sei Umweltalarm ausgelöst worden. Wahrscheinlich wären unverzügliche Entscheidungen an Ort und Stelle zu treffen. Dazu ermächtigte uns die Versicherung ausdrücklich. Ich nahm Soile mit. Die Sache konnte groß werden und mehrere Hände und Köpfe erfordern. Mein Gefühl unterwegs war mulmig. War der Stella, dieses wunderschöne Wasser mit seiner romantischen Uferlandschaft von einer Ölpest verwundet? Kurz nach San Giorgio di Nogara verläuft die Autobahn schnurgerade. Schon von Weitem sahen wir die blauen und gelben Drehlichter von Einsatzfahrzeugen auf der Gegenfahrbahn. Was da drüben genau los war, konnten wir im Vorbeifahren nicht erkennen. Bei der Ausfahrt Latisana wendeten wir in die Gegenrichtung. Es gab einen kolossalen Stau. Vor der Unfallstelle war die Fahrbahn auf den linken Fahrstreifen eingeschränkt. Auf dem rechten Fahrstreifen und dem Pannenstreifen war alles versammelt, was blaue oder gelbe Drehlichter hatte. Polizia Stradale, Feuerwehr, Rettung, der Autostrade-Einsatzdienst, Protezione Civile (Zivilschutz), Autokräne, Wasserrettung, die Provinz Udine, die Gemeinde Palazzolo dello Stella. Ich schwenkte den Croma auf den Parkstreifen und hielt hinter einem Wagen der Polizia. Eine Beamtin wollte uns vertreiben. Schaulustige konnte man hier nicht brauchen. Ich stellte mich als Sprecher der österreichischen Versicherung vor und sei befugt, für diese verbindliche Erklärungen abzugeben. Die Frau war perplex. So etwas kam in keinem Notfallplan vor. Und überhaupt, zwei Stunden nach dem Unfall?! Ich solle auf den Einsatzleiter warten. Der sei mit den Leuten von der Autostrade beschäftigt. Ich erkundigte mich nach dem Lenker. Sie haben ihn ins Krankenhaus in Palmanova gebracht. Der Rettungswagen hier stehe bereit für unvorhergesehene Notfälle. Nein, es habe keine Kollision mit einem anderen Fahrzeug gegeben. Ob ein anderes Fahrzeug irgendwie verwickelt gewesen wäre, könne man erst nach der abschließenden Befragung des Fahrers sagen. Sie würde später im Krankenhaus in Palmanova vorgenommen werden. An der Unfallstelle habe er nichts aussagen können. Wir gingen zur Brücke. Unterwegs machte ich Fotos von allem, was ich für bemerkenswert hielt. Es war sonnig und heiß. War der Mann eingeschlafen? Die Leitschienen waren seitlich weggebogen. Der Tankwagenauflieger stand auf seinen Rädern zehn Meter tiefer neben der Brücke im Sand des östlichen Flussufers. Die Feuerwehr hatte ihn schon aufgerichtet. Der Tankaufbau war zum Teil erheblich verworfen, doch schien aus keiner Kammer des Tanks irgendeine Flüssigkeit auszutreten. Der Sand unter dem Fahrzeug schaute trocken aus. Ich fotografierte unentwegt. Die Zugmaschine lag entgegen der ursprünglichen Fahrtrichtung auf der Seite halb im Wasser. Der Stella war hier sicher nicht tiefer als eineinhalb Meter. Die Tanks an der linken Unterseite der Zugmaschine ragten in die Höhe, augenscheinlich intakt. Es floss kein Treibstoff aus. Trotzdem sah man ölige Schlieren auf dem Wasser unterhalb der Unfallstelle, vermutlich vom Öl im Motor und von anderen kleineren Quellen. Taucher waren dabei, Ölsperren auf dem Wasser zu errichten. Die Feuerwehrmänner und Taucher befestigten gerade Drahtseile an der Zugmaschine. Die Speicherkarte in meiner Digitalkamera war aus. Sie reichte damals für kaum mehr als dreißig Fotos. Es war zu erwarten, dass gleich darauf der Akku leer sein würde. Wir hatten eines der ersten digitalen Geräte angeschafft. Die Technik war noch nicht ausgereift. Soile holte aus dem Croma die Kamera, die wir dort immer bereit hatten. Da war noch ein Film mit sechsunddreißig Aufnahmen drin. Der Stationskommandant von der Polizia Stradale in San Donà ging an mir vorbei, heftig debattierend mit einem Bediensteten der Autostrade. Wir kannten uns von meinen früheren Vorsprachen dort hinsichtlich Aktablichtungen. Er schaute mich verwundert an. Mich hätte er am wenigsten hier erwartet. Ich erklärte ihm, warum ich hier sei. Der Autostrademann eilte weiter. Der Polizeioffizier war hier Einsatzleiter. Er informierte mich kurz über die Lage. „Wir haben mächtig Schwein gehabt trotz allem“, sagte er. „Im Tank befindet sich der Gefahrentafel und dem Unfallmerkblatt zufolge Anilin, das ist giftig. Das Anilin wurde in Mestre entladen. Der Tank ist jetzt leer bis auf Restmengen. Etwas davon tröpfelt aus der hintersten Kammer auf der uns abgewandten Seite. Die Feuerwehr fängt es auf. Bis zum Eintreffen der Feuerwehr ist das Anilin in den Boden eingedrungen. Die Zugmaschine verliert Öl, Kühl- und Bremsflüssigkeit in den Stella. Einer der Treibstofftanks hat einen Riss. Eine unbekannte Menge Dieselöl ist ins Erdreich gelangt. Als die Feuerwehr kam, trat kein Treibstoff mehr aus. Sie werden die Zugmaschine jetzt aufstellen und ans Ufer ziehen. Dann schleppen sie die Wracks unter der Brücke durch. Drüben gibt es Feldwege zu einer Tenuta (Landgut). Dort stellen wir sie erst einmal ab bis zum Abtransport durch Sari (LKW-Bergedienst). Der große Umweltschaden ist ausgeblieben, aber mit einem begrenzten ist jedenfalls zu rechnen. Darum kümmert sich die Protezione Civile. Der Rest ist Routine.“ Ich bat den Beamten, mich mit den Leuten von der Protezione Civile bekanntzumachen. „Die sind unten beim Wrack“, sagte er und deutete auf die Strickleiter, die von der Brücke baumelte. Soile war mit der Kamera zurück. Ich nahm die Kamera und ging auf die Leiter zu. Soile war entsetzt. „Du kannst doch nicht…“ Ich konnte. Die Strickleiter schwankte mehr als ich gedacht hatte. Es war schwierig, den Fuß auf die nächste Sprosse zu setzen. Ich baumelte ziemlich umher beim Abstieg. Dann kam jemand zum unteren Ende und hielt es fest. Das half. Es waren drei Leute von der PC (Protezione Civile) aus Udine, dazu der Vizebürgermeister von Palazzolo. Die Bürgermeister sind die unterste Stufe im Organogramm der PC. In diesem Fall wäre Palazzolo auch die hauptbetroffene Gemeinde. Die Einsatzleute und der Vizebürgermeister waren natürlich nicht über die Strickleiter geklettert. Ihre Wagen standen unter der Brücke. Der Einsatzleiter von der PC war froh, dass der Umweltschaden überschaubar geblieben ist. Er zeigte mir, wo das Dieselöl ausgetreten war. Der Durchmesser des Ölflecks im Sand war in keiner Richtung größer als zwanzig Zentimeter. Allerdings befand sich die Stelle sehr nahe am Wasser. Dem Geometra (Ingenieur) gefiel es nicht, dass ich fotografierte. „Haben wir schon gemacht“, sagte er, „und werden wir weiterhin machen. Wenn nötig“, betonte er. Die Stelle mit dem ausgelaufenen Anilin war weiter entfernt vom Ufer und etwas umfangreicher, vielleicht einen Quadratmeter Fläche. Dennoch nahmen sie ihn sehr ernst. Es stank. Mit einem Anflug von Großspurigkeit stellte der Geometra fest, hier müsse das Erdreich abgetragen werden. Von den Weiden bis zum Ufer. Von unterhalb der Brücke bis zur Biegung des Stella. Das waren zirka zweitausendfünfhundert Quadratmeter. Danach wäre die Zone mit heranzuschaffendem Erdreich aufzufüllen und zu verdichten. Ich sah schon die Raupen fahren und die LKW. Wochenlang. Ein Millionenschaden.


Das schien mir weit übertrieben. Ich meinte, man müsste vor allem so rasch als möglich handeln, denn je mehr Zeit das Anilin hatte, sich im Boden zu verteilen, umso schlimmer würde die Lage werden. Wenn man die kontaminierte Stelle womöglich sofort ausgrub, konnte man womöglich verhindern, dass der Stoff das Grundwasser erreichte. Für Chemie hatte ich mich nie sonderlich interessiert. In der Schule hatten wir ein bisschen Chemie während des Physikunterrichts. Ein eigenes Fach wurde das erst ab der Siebenten. Da war ich schon weg. Von Anilin hatte ich keine Ahnung. Aber ich vertrat mein Argument mit einer Ersthaftigkeit, die den Geometra glauben machte, ich hätte wenigstens ein Doktorat in Chemie.


„Wie wollen Sie das anstellen?“ gab er zu Bedenken. „Unseren Dekontaminierungstrupp bekomme ich frühestens nächste Woche. – Nun ja,“ überlegte er, „eigentlich ist das ja Sache des Fahrzeughalters. Wir müssen sowieso eine angemessene Frist zur Wiederherstellung setzen und werden als Protezione erst nach Fristablauf tätig.“ In der Regel war die Frist schon verstrichen, wenn die Post dem Fahrzeughalter den Fristbescheid zustellte, zumal wenn der im Ausland saß und ihn erst einmal übersetzen lassen musste. Die Dekontaminierungen wurden daher nach Ablauf der kurzen Frist fast immer von der PC selbst vorgenommen oder von Unternehmen, die das PC beauftragte. Der Fahrzeugeigner oder dessen Versicherung konnte nur noch bezahlen. Alles was gut und teuer war. Ungeprüft. Unanfechtbar. Dass hier zwei Stunden nach dem Unfall einer von der Versicherung aufkreuzt, und sogar von einer ausländischen, das war dem Geometra noch nicht untergekommen. 


„Wenn Sie es also schaffen, bis sagen wir Montag 12 Uhr den Dreck rückstandslos zu entfernen, soll’s uns recht sein. Wenn nicht, sanieren wir ab Montagmittag das ganze Terrain.“ Wir hatten drei Tage und das Wochenende.


Im Einsatzwagen der PC protokollierten wir das Besprochene. Der Bescheid würde trotzdem an den Fahrzeughalter geschickt werden. Ihn zu vertreten hatte ich keine Ermächtigung. „Unsere Leute werden überwachen, was Sie da machen, und einschreiten, sollte es unsachgemäß sein“, warnte der Geometra. „Am Montag nehmen wir Erd- und Wasserproben, auch vom Grundwasser. Wenn die nicht einwandfrei sind, fangen wir mit Plan B an.“


Von der Unfallstelle weg fuhr ich mit Soile nach Tricesimo. Dort kannte ich ein größeres Unternehmen, das sich mit Ökologie beschäftigte, EcoFriul. Es war mir in Erinnerung, weil die Ökologie damals noch kein gängiges Geschäftsfeld war. Für einen seiner Techniker hatten wir einen persönlichen Schadenfall erfolgreich abschließen können. Ich wusste damals noch nicht, dass dott. Zampieri einer der Direktoren war. Ein vorbereitendes Telefonat aus einer Zelle erschien mir zu kompliziert, obwohl ich den Automaten nicht mit Münzen hätte füttern müssen, weil ich eine Telefonwertkarte für öffentliche Zellen besaß, und in den Bars war es immer laut. Wahrscheinlich wäre es schon am Auffinden der richtigen Nummer gescheitert. Die Telefonbücher waren fast immer verwüstet. Wir hatten Glück. Mein Exkunde war gerade im Begriff, die Firma zu verlassen. Ich skizzierte Zampieri unser Problem.


„Das kommt uns wie gerufen!“ freute er sich. Sie seien schon seit Längerem im Clinch mit der Protezione Civile, weil die immer überschießende Aktionen anordneten. Zampieri war sofort Feuer und Flamme für den Auftrag. Ab jetzt war er Herr des Geschehens. Er bestimmte, was zu geschehen hatte. Ich beschränkte mich aufs Zuschauen. Solange es Sinn machte, was er tat, wollte ich ihm nicht dreinreden. Er rief seine Frau an. Du, Amore, es wird heute wieder später. Hast du die Nachrichten gehört? Umweltschaden am Stella. Bis dann. Er rief im Labor an. „Ich brauche einen Chemiker unter der Autobahnbrücke über den Stella. Sofort. Wir sehen uns dort.“ Zampieri schickte Soile mit dem Croma nach Hause. Ich stieg in seinen Lancia. Er nahm die Provinciale über Mortegliano nach Pocenia und wusste, wie man von da über Feldwege unter die Stellabrücke gelangte. Der Tankzug war weg, stand wohl bei der Tenuta, wie der Polizist angekündigt hatte. Es war gespenstisch. Vor Kurzem war hier noch die Hölle los. Jetzt war der Platz leer. Außer der Wasserrettung, die gerade die Ölsperre zu überwachen hatte, waren alle weg. Auch das Team von der Protezione Civile. Die Strickleiter baumelte noch von der Brücke. Die hatte man wohl vergessen. Oben röhrte der Verkehr.


Kurz nach uns traf mit einem Firmenwagen der Chemiker ein. Er trug einen weißen Arbeitsmantel. Der Direktor hieß ihn Bodenproben von mehreren Stellen außerhalb und innerhalb der kontaminierten Stellen nehmen und auch vom Stellawasser vor und nach der Ölsperre. Dazu zogen der Direktor und der Chemiker Gummistiefel an, die sie in den Autos mithatten. Als ich meine Schuhe und Hosenbeine anschaute, wusste ich, warum. Der Direktor lachte und hatte auch für mich ein Paar Stiefel dabei. Grundausrüstung jedes Ökologen, dozierte er. Und an den Chemiker gerichtet: „Fahren Sie noch zum Tankwagen und nehmen Sie Proben vom Inhalt.“ Mir erklärte er: „Wenn da reines Anilin drinnen war, können sie uns andere Verunreinigungen im Erdreich nicht anhängen. - Die Analysen morgen früh auf meinen Tisch! Ciao Zucchi.“ wies er den Chemiker an. In unseren Ohren mag das etwas grob klingen. In italienischen Unternehmen war das der gepflogene Ton. Auf dem Wasser war kein Öl mehr sichtbar. Der Direktor forderte die Männer von der Wasserrettung auf, die Sperren abzubauen und die Aktion abzubrechen. „Jedes Motorboot verliert mehr Öl“, gab er ihnen zu bedenken. Obwohl Zampieri ihnen gegenüber keinerlei Weisungsbefugnis besaß, begannen die Leute einzupacken.


Auf dem Weg nach Rivolto nahmen wir einen Caffè in Teor. Jeder bezahlte selber. Alles andere konnte in jeder Richtung als Korruption ausgelegt werden. Zampieri schloss sich meiner laienhaften Ansicht an. „Hier müssen nur ein paar Kubikmeter Erdreich ausgetauscht werden. Außerdem ist da unten sowieso alles verseucht mit Schwermetallen. Das werden die Bodenanalysen zweifelsfrei ergeben. Das hilft wenig in der Frage des Schadenersatzes, weil man die Verursacher nicht benennen kann. Der Verursacher der Anilinverunreinigung hingegen ist bekannt. Die PC hätte gern eine größere Fläche von Umweltgiften befreit auf Kosten der Versicherung des Tankzuges. Wir aber werden nur das Anilin entfernen und damit basta.“ Ich fragte ihn nach den voraussichtlichen Kosten. „Nicht die Lire-Milliarden wie bei der Protezione. 8.834.880 Lire (rund 63.000 ATS), iva compresa.“ Ich musste lachen. „No, no, sul serio! Merken Sie sich den Betrag! 8.834.880.“ Später fiel mir auf, dass es Zampieris private Telefonnummer war. Er versprach, noch heute Abend die Erdbewegungsfirmen zu beauftragen, die sich auch um die Transporte kümmern würden. Er selbst werde alles beaufsichtigen und Kontakt mit der PC aufnehmen. Rivolto war kein großer Umweg für ihn. Er wohnte in Pasian di Prato bei Udine.


Noch an demselben Abend berichtete ich der Versicherung per Fax. Morgen Früh würde der Sachbearbeiter den Bericht samt Reserveschätzung vorfinden. Wie gerne hätte ich den ganzen Schaden reguliert. Das ging nicht. Die Voraussetzungen fehlten noch. Ich wusste, daran müssen wir arbeiten. Eine Deckungsgesellschaft muss her (eine Versicherungsgesellschaft, die die Haftung für unsere Tätigkeit dem UCI gegenüber trägt). Dann Korrespondenzverträge mit ausländischen Versicherungen (Verträge mit ausländischen Versicherungen, die uns die Regulierung ihrer Kfz-Haftpflichtschäden in Italien anvertrauen). Vorläufig würden die Schadenteile, die nicht die Dekontaminierung betrafen, über das UCI abgerechnet werden.


Der Umweltschaden wurde so behoben, wie Zampieri und ich es gedacht hatten. Die Protezione Civile führte die Endanalysen durch. Sie bestätigten, das Anilin war weg. Noch vorhanden war in den nicht abgegrabenen Zonen jede Menge Blei, Quecksilber, Kadmium und sogar etwas Zyankali. Der Direktor konnte auf eigene Endanalysen verzichten. Seine Abrechnung belief sich auf exakt L. 8.834.880. Ich lachte mich kaputt, als ich sie sah.

***

A23, km 119,6, direzione nord, comune di Tarvisio, frazione di Coccau. Das ist eine immer wiederkehrende Positionsangabe in unzähligen Polizeiprotokollen. Die letzte Kurve der Kanaltalautobahn vor der Grenze nach Österreich. Die Maut ist bezahlt. Noch ein paar Tunnel, in denen keine spezielle Geschwindigkeitsbegrenzung abgesehen von der allgemeinen für PKW, also 130 kmh, die Lust auf rasche Heimkehr bremst. Vielleicht fährt so Mancher noch etwas schneller, um früher anzukommen oder die rasche Kurvenfahrt zu genießen. Nach dem letzten Tunnel erscheinen in der Ferne die langen Felsenwände des Dobratsch. Gerne sieht man diesen Willkommensgruß der Heimat. Noch eine letzte Linkskurve, nur ein paar Hundert Meter dahinter wartet der Grenzübergang. Später, in Zeiten des Schengen-Abkommens, wird man in der Regel durchfahren mit hundert ohne anzuhalten. Heute wird noch jeder einzelne Pass kontrolliert. Bei sehr starkem Verkehrsaufkommen kann es sein, dass der Grenzer den aus dem Fenster gestreckten Pass nicht ergreift und passieren lässt. Einen Stau verursacht das langsame Vorbeifahren unweigerlich. Einen Stau, der weit hineinreichen kann nach Italien. Wenn das geschieht, werden auf italienischer Seite gelb blinkende Warnleuchten eingeschaltet, die unter einem Verkehrszeichen mit der Bedeutung ‚Stau‘ montiert sind. Diese Warnung ist aber eher unscheinbar und lässt sich leicht übersehen. Wenn der Stau kurz ist oder sehr lang, ist das nicht so schlimm. Man sieht ihn schon von Weitem. Wehe aber, wenn er gerade einmal so ein paar Hundert Meter lang ist und bis knapp an die letzte Linkskurve heranreicht. Dann ist es sehr wahrscheinlich, dass es ein weiteres Protokoll gibt mit ‚A23, km 119,6, direzione nord, comune di Tarvisio, frazione di Coccau‘. 130 sind einfach zu viel, um vor dem hinter der Linkskurve lauernden Stauende anzuhalten. Selbst mit 100 oder 80 ist das oft nicht zu schaffen. Die Wracks müssen zurück nach Amaro. Verletzte nach Udine oder, wenn es nicht so schlimm ist, nach Tolmezzo.

***

„Sono il Vicecomandante Di Ronco. Capisce Lei l’Italiano?“


„Un po‘.“ Die zwei kurzen Wörter kamen nach kurzem Schweigen stimmlos aus dem Mund des Alten. Langsam. Wie gehaucht. Er saß halb aufrecht in dem weiß gestrichenen Metallbett, in zwei dicke Polster gelehnt, hielt sich mit knöcherner Hand an dem hölzernen Trapez fest, das über dem Bett hing, als könnte er damit verhindern, dass eine mysteriöse Kraft ihn mit sich risse. Sein Schädel ragte schmal und unbehaart aus der Schanzkrawatte. Das weiße Spitalshemd darunter ließ mehr die Konturen eines dürren Holzpfahls vermuten als einen menschlichen Oberkörper. Sein anderer Arm war vollständig eingegipst, sodass der Unterarm zum Oberarm einen rechten Winkel bildete. Hüfte und Beine steckten unter einem Laken, dessen Saum über eine graue Felddecke mit der Aufschrift ‚Ospedale Udine‘ geschlagen war. Der Blick des Alten war auf nichts Bestimmtes gerichtet, verlor sich in einer ungewissen Ferne hinter der Wand des Zimmers.


„Verstehen Sie mich wirklich?“ fragte der Polizist an der Seite des Krankenbettes. „Wenn nötig, kann mein Kollege hier übersetzen. Er spricht Slowenisch.“


„Wird schon gehen“, hörte er, wieder nach kurzer Pause, den Alten hauchen.


„Sie heißen Svit Šuster, geboren am 14. November 1929 in Beljak, wohnhaft in Slovenia, Krajnska Gora, Zgorne Rute, 85?“


Der Patient nickte kaum merklich mit dem Kopf. Sein Blick blieb abwesend.


„Ich habe Sie zu vernehmen wegen des Verkehrsunfalls, an dem Sie am 28. August beteiligt waren um 14 Uhr 30 im Gemeindegebiet von Tarvisio, auf der Autostrada A23 Richtungsfahrbahn Nord, Km 109, im Innern des Tunnels Spartiacque.  – Verstehen Sie mich?“


 „Denis“, hauchte Šuster. „Was ist mit Denis?“ Sein Blick war jetzt auf Di Ronco fokussiert. Tiefe Verzweiflung schrie aus ihm.


„Denis Šuster? Der Bub ist Ihr Enkel?“


„Ja Denis. Io dedek, nonno. Wo Denis? Wie geht’s ihm? Hier keiner weiß!“


Di Ronco erlebte solche Szenen immer wieder. Es war am besten, auf die Fragen nicht einzugehen. Seine Aufgabe war, Angaben zu protokollieren, nicht Auskünfte zu geben. Die Verzweiflung dieses Mannes bewog ihn, die Taktik etwas zu verändern. „Ihrer Frau Neja geht es gut. Sie ist nahezu unverletzt und wartet zuhause auf Sie. – Können Sie sich an den Unfallhergang erinnern? Sie waren Lenker des Dacia 500 mit slowenischem Kennzeichen KR-ZU122?“


„Si, si. Frau gut. Sagt Doktor. Denis! Wo Denis?“


„Hören Sie, Signor Šuster, machen wir zuerst einmal das Amtliche, danach schauen wir, ob wir in Ihren privaten Anliegen etwas tun können. Also, Sie erinnern sich, sie haben den Dacia 500 gelenkt?“


Šusters Blick verlor sich wieder im Nichts. „Si. Si.“


„Von wo sind Sie gekommen? Wohin wollten Sie?“


„Mein Bruder in Austrija, Bistrica v Rožu. Haben Geburtstag. Wir ihn besuchen. Dann retour nach Krajnska Gora.“


Di Roncos Kollege notierte.


„Von Austria nach Krajnska wären Sie nicht zur Unfallstelle gekommen.“


„Nehmen Avtocesta nach Tarvis.“


„Die Unfallstelle ist in der Gegenrichtung, unterhalb von Tarvisio. Sie kamen also aus Richtung Pontebba.“


„Frau mit mir reden über Frau von Bruder. Ich rabiat. Verpassen Ausfahrt Tarvis.“


„Und dann?“


„Denis rabiat. Muss Fußballmatch drei Uhr Krajnska. Jetzt muss fahren Pontebba. Frau rabiat. Muss zahlen Pedaggio. Dann noch Pedaggio Pontebba Tarvis. Jetzt Casello Pedaggio immer Casino. Kolonne. Oder auf Straße. Langsam. Denis weinen. Spät zu Calcio.“


„Dunque?“


 Šuster schweigt.


„Dunque?“


„Neja schreien, Denis heulen. Ich im Tunnel einbiegen in Notübergang zu Gegenbahn.“


„Dio mio!“


 „Stehen vor Gegenbahn. Viel Auto. Nicht weit sehen rechts wegen Kurve in Tunnel. Stehen lang. Endlich Auto nur rechte Bahn. Linke Bahn frei. Ich einbiegen auf linke Bahn.“


„Porca miseria!“


 „Auto rechte Bahn erschrecken. Bremsen. Touchieren Wand von Tunnel. Drehen. Auto hinten krachen in Auto vorne. Dacia schwach. Nicht Kraft. Und Avtocesta voll Auto kaputt überall. Ich hören Quiiiii hinten. Auto kommen schnell. Ganz schnell! Dann wummm. Anders nicht wissen.“


„Welches Licht war eingeschaltet am Dacia?“


„No Licht. Tunnel gut Licht.“


„Haben Sie alles?“ fragt Di Ronco seinen Kollegen. „Dann können wir.“


„Denis,“ fragt Šuster, „wo Denis?“


Die beiden Polizisten erheben sich und gehen. „Buona sera, signor Šuster.“ Und schon fast aus dem Zimmer, „Cretino!“

 ***

Šuster hat nicht alles mitbekommen, wahrscheinlich zu seinem Glück. Der Dacia hat nach dem heftigen Heckanprall sofort zu brennen begonnen. Insgesamt waren mehr als dreißig Autos an der Massenkarambolage beteiligt. Ein österreichischer Bus mit fünfundvierzig Insassen war ursprünglich nur leicht beschädigt, kam aber direkt neben dem brennenden Dacia zu stehen. Der Buslenker öffnete die Türen für seine Passagiere, damit sie zu Fuß zum Tunnelausgang flüchten konnten. Es waren bis dorthin etwa dreihundert Meter. Dafür brauchte man vier bis acht Minuten. Der Rauch im Tunnel war heiß und beißend. Der Buslenker hat den bewusstlosen Šuster aus dem brennenden Wrack gezogen. Die Frau war fast unverletzt und konnte sich selber befreien. Zwei andere Männer haben ihm geholfen, den Verletzten aus dem Tunnel zu tragen. Schließlich hat auch der Bus Feuer gefangen und ist vollständig ausgebrannt. Die Menschen erreichten das Freie, aber viele hatten schwerere und leichtere Rauchgasvergiftungen erlitten. Viele Verletzte konnten nicht registriert werden, weil sie am Ende des Tunnels auf die nahe Staatsstraße flüchteten und chaotisch durch Tarvis irrten. Manche konnten später dort von Krankenwagenbesatzungen aufgegriffen werden. Man hat sie in verschiedene italienische Krankenhäuser gebracht. Andere haben auf eigene Faust diverse österreichische Krankenhäuser aufgesucht. Lange Zeit hat niemand gewusst, wer sich wo befindet. Es ist ein Wunder, dass niemand in den Flammen gestorben ist. Abgesehen von Denis.

***

Alle österreichischen Sozialversicherer wenden Unsummen auf für Folgen von Unfällen oder Krankheiten ihrer Versicherten. Selbstverständlich holen sie sich das Geld nach Möglichkeit zurück, wenn für den Unfall Dritte haften müssen. Das können Verursacher solcher Unfälle sein, aber auch Verkehrsbetriebe, Arbeitgeber, Hersteller von Produkten, um nur einige zu nennen. Die Möglichkeiten sind vielfältig wie das Leben. Hinter den meisten Haftpflichtigen stehen Versicherungen. Die Regressnahme funktioniert gut, solange die Forderung auf nationaler Ebene bleibt. Sie kann zum Problem werden, sobald Regresspflichtige im Ausland sitzen. Schon sie zu identifizieren und aufzufinden kann schwierig sein. Dann stellen sich einige Fragen: Ist der Regressanspruch auch international gültig? Ist der Regressnehmer befugt, seine Forderung direkt gegen den Haftpflichtigen zu richten? Innerhalb Österreichs stellt das eine Legalzession sicher, die im Sozialversicherungsgesetz verankert ist. Doch, ist die auch gegen ausländische Verpflichtete wirksam? Ist die Forderung reziprok? Das heißt, würde ein ausländischer Sozialversicherer eine gleichartige Forderung gegen einen österreichischen Haftpflichtigen durchsetzen können? Ist der Aufwand angemessen auch aus Sicht der ausländischen Rechtslage? Auf welche Weise muss dem ausländischen Verpflichteten die Forderung präsentiert werden, damit sie dort rechtsgültig ist? Muss die Forderung in der Sprache des Verpflichteten abgefasst sein? Müssen Unterlagen zur Dokumentierung der Aufwendungen beigelegt werden? Müssen auch diese übersetzt sein? Wenn sich einmal die Rechtsabteilung des Sozialversicherers über die Regressführung Gedanken zu machen beginnt, ist oft schon sehr viel Zeit seit dem grundgebenden Ereignis vergangen. Oft ist dann schon die Verjährung eingetreten, weil die Fristen in manchen Ländern kürzer sind. Das zu unterbinden, würde eine weitreichende Umstellung im System der Sozialversicherer erfordern. Die Rechtsabteilungen dürften die Akte nicht erst dann erhalten, wenn die Leistung – wenigstens in einer ersten Etappe – abgeschlossen ist, sondern viel früher mit einer ersten groben Einschätzung des zukünftigen Aufwands. Die Apparate sind aber schwerfällig. Daher ist das kaum umzusetzen.


Klar, dass die in Anspruch Genommenen versuchen, sich mit allen Mitteln zu wehren. Ihre Fantasie ist grenzenlos. Die häufigste Form der Gegenwehr ist die Vogel-Strauß-Methode. Man antwortet einfach nicht. Der Forderungssteller fragt sich, woran er ist. Hat die Gegenseite ein gültiges Argument zu ihren Gunsten in der Hand? Hat er etwas falsch gemacht? In solcher Ungewissheit muss er entscheiden, ob er gerichtlich vorgehen wird. Spätestens dann stellt sich wieder das Problem der Kommunikation mit dem ausländischen Klagsvertreter. Dazu noch einen inländischen Rechtsfreund zu engagieren, würde das Risiko weiter erhöhen. Viele blutige Köpfe haben die Sozialversicherer sich schon geholt auf diesem heimtückischen Terrain. Die meisten halten es daher für wirtschaftlicher, Regressansprüche gegen Ausländer gar nicht erst zu versuchen, sondern gleich abzuschreiben. Die Summen, die ihnen dadurch entgehen, sind unermesslich und gehen zulasten der Allgemeinheit.


Meine Versuche, einige Sozialversicherer von der Sinnhaftigkeit und Wirtschaftlichkeit der professionellen Regressführung im Ausland zu überzeugen, stießen nicht auf das erwartete Interesse. Die Leiter der Rechtsabteilungen befürchteten vermeidbare Kosten und weitere blutige Nasen. Auch begann man damals gerade, sich eingehender mit Datenschutz zu befassen. Es gab aber noch kein Gesetz. Die Lage war unübersichtlich. Man scheute sich, sensible Krankenakte außer Haus zu geben. Ein paar Rechtsabteilungsleiter probierten uns aus. Nach ersten Erfolgen folgten weitere Aufträge. Doch auf diese Abteilungsleiter folgten andere, die anders dachten. Es war viel einfacher, die Regresse einfach abzuschreiben. Uneinbringlich. Res mutua. Res mortua.


Wir waren jetzt schon ziemlich gut ausgelastet. Mir blieb wenig Zeit für aufwendige Reisen zu neuen Überzeugungsgesprächen mit fraglichen Ergebnissen. Wäre Wachstum im Vordergrund unserer Geschäftsphilosophie gestanden, dieses wäre ein vielversprechendes Thema gewesen. Da hätten wir aber an zusätzliches Personal denken müssen. Das wollten wir in Italien auf keinen Fall.

***

Es war der Abend, an dem wir wettsüchtig wurden. Wir hatten nie das Bedürfnis gehabt zu spielen. Glücksspiele öden uns an. Beim Lotto haben wir gewonnen, weil wir uns im Lauf der Jahre ein Vermögen an Einsätzen erspart haben. Mamma kaufte jahrzehntelang teure Klassenlose und gewann ein einziges Mal eine lächerliche Summe. Mama kaufte mir einmal ein Brieflos. Es gewann sofort, aber auch nur mickrig. Sie hätte Spielglück gehabt, aber sie spielte nicht. Schon gar nicht Tino. Soiles Schwester Sirkku spielte für sie in Finnland Lotto. Sie hätte sich gefreut, eines Tages Soile unermesslich reich zu machen. Mit dem Wetten, das war so eine Sache. In unseren früheren Tagen wettete ich einmal mit Soile um eine Flasche Whisky. Sie gewann. Als aber der Whisky nach längerer Zeit immer noch nicht eintrudelte, schwor sie, nie wieder mit mir zu wetten. Sie hält dieses Gelöbnis bis zum heutigen Tag. Viele Jahre später würde Soile ein T-Shirt tragen mit der Aufschrift ‚BROKEN – all my own rules – for you‘. Zweifellos hatte sie auf unserem gemeinsamen Weg eine Unzahl an Regeln gebrochen, besonders am Anfang, übernommene Regeln, selbst auferlegte Regeln. Gleichzeitig baute sie neue Regeln für uns auf. Nie hat sie eine der unausgesprochenen Regeln zwischen uns gebrochen. Das hatte ich getan, als ich den Whisky vergaß.


An diesem Abend ist alles anders. Wir wetten. Allerdings nicht gegeneinander. Soile hätte sich geweigert wegen des Whiskys. Nein, wir wetten gemeinsam gegen die Wettkasse. Wir sitzen bei Campari Soda auf der weitläufigen Terrasse eines Restaurants. Gelegentliche leichte Brisen schaffen angenehme Kühlung gegen die Hitze des Sommertages. Das Lokal liegt am höchsten Rang einer Tribüne. Über sie und die zahlreichen Zuschauer hinweg fällt unser Blick auf die ausgedehnte Grünfläche, umrundet von einer Aschenbahn. Dort ziehen gerade Pickups Schleppnetze hinter sich her, um die Piste zu glätten. Weiß gekleidete Männer betätigen sich an den Geräten, die wohl zur Zielkamera gehören. Auf die Autos folgen Pferde. Sie ziehen Sulkys, auf denen klein gewachsene Jockeys in bunter Reitkleidung die Zügel führen. Gegen den Uhrzeigersinn drehen sie einige Aufwärmrunden. Soile und ich diskutieren über die Gespanne. Die Pferde traben. Ich weiß, dass sie im Rennen nicht galoppieren dürfen. Disqualifikation wäre die Folge. Die aufwärmenden Pferde fallen immer wieder in Galopp. Die Jockeys fuhrwerken heftig mit Zügeln und Peitsche. Nur ein besonders eleganter Fuchs, hält seinen Trab beharrlich durch. Ein Jockey mit rotem Wams und silberner Hose hält die Zügel lässig. Soile und ich sind uns einig. Der wird gewinnen. Darauf wetten wir. Ich hole einen Wettschein von der Kasse. Die an vielen Stellen angebrachten Monitore melden ganz andere Prognosen. Macht nichts, erkläre ich Soile. Der Gewinn wird umso höher sein.


Die acht Gespanne sammeln sich jetzt hinter einem Startauto, an dessen Heck seitliche Barrieren montiert sind, die über die Breite der Aschenbahn reichen. Der Wagen setzt sich in Bewegung, die Pferdegespanne folgen. An einer bestimmten Stelle zieht das Startfahrzeug mit hoher Geschwindigkeit davon und klappt die Barrieren in die Höhe. Das Rennen ist eröffnet. Der Pulk der Gespanne zerfällt bald in eine lockere Reihe trabender Gäule. Unser Fuchs hält sich konstant – als Nachzügler. In der dritten Kurve beginnt er aber aufzuholen. Er schiebt sich vorbei am bis dahin Vorletzten und auf der anschließenden, der Tribüne fernen Geraden an zwei weiteren Konkurrenten. Schon aufgegebene Hoffnung steigt in uns wieder auf. Soile springt aus ihrem Sessel und zappelt. Als der Fuchs sich an die zweite Position setzt, hält auch mich nichts mehr auf dem Stuhl. Die Camparigläser wackeln bedenklich, weil ich beim Aufstehen gegen den Tisch stoße. Dafür, dass wir beide noch nie ein Pferderennen besucht haben, denke ich, bringen wir erstaunlichen Sachverstand mit. Die beiden Spitzengespanne befinden sich in der letzten Kurve vor der Zielgeraden. Unser Fuchs attackiert den Führenden. Beide Jockeys versuchen, das Letzte aus ihren Zugpferden herauszuholen. Sie lassen die Zügel auf die Pferderücken schlagen und helfen mit der Peitsche nach. Wahrscheinlich schreien sie dazu. Das hören wir aber nicht, weil die Menge johlt. Nur noch eine halbe Länge liegt unser Fuchs zurück. Wenn er so weitermacht, gewinnt er und wir beide auch. Noch fünfzig Meter, sisu, forza, come on! Ich traue meinen Augen nicht. Der Fuchs ist vorne! Aber, was ist das? Er galoppiert! Der Sieger-Jockey könnte sich sparen, seinen Braunen so zu schlagen bis über das Ziel. Sein einziger gefährlicher Konkurrent, unser Füchslein, ist disqualifiziert.


Die Menge johlte italienisch. Wir befanden uns in Padova. Tage zuvor hatte ich einen Anruf von einem Dott. Lodovico Molinari. Er erklärte mir, dass er seit mehreren Jahren an der Vereinigung der italienischen Infortunistiche arbeite, die jetzt kurz vor der Gründung stehe. Er stelle sich vor, dass wir Interesse daran haben könnten beizutreten und lud uns zur konstituierenden Versammlung ein. Das Treffen würde in Padova im Restaurant des Ippodromo (Pferderennbahn) stattfinden. Vorher könnten wir das eine oder andere Trabrennen verfolgen und das Geld für die Heimfahrt gewinnen oder für das anschließende Abendessen, das auf die Kosten der Teilnehmer gehe, aber nicht verpflichtend sei. Der geschäftliche Aspekt des Projekts kam mir nicht uninteressant vor. Auf internationalem Gebiet könnte eine Zusammenarbeit mit den Infortunistiche beiden Teilen einiges bringen. Die lockeren Begleitumstände schienen auch attraktiv und so kam es zur Entdeckung unserer unverhofften Expertise im Trabrennsport.

Die Versammlung fand in einem zweiten Saal des Restaurants statt. Vor Beginn umringte eine Anzahl von Teilnehmern eine Person, die ich erst wahrnehmen konnte, nachdem es Soile und mir gelang, durch eine Schneise im Kreis vorzudringen. Ein Mittsechziger in tadellosem schwarzem Anzug, etwas kleiner als ich, schüttelte die Hände der Teilnehmer. Ich stellte uns vor. Molinaris Freude über unser Erscheinen wirkte echt. Es waren ungefähr achtzig Damen und Herren anwesend, die mit uns in den Stuhlreihen vor einem Podium Platz nahmen. Die meisten um die Vierzig, jüngere und ältere waren Ausnahmen. Die Damen in Cocktailkleidern und abendlich geschminkt, die Herren teils in Straßenanzügen oder leger. Soile trug ihr Hochzeitskleid. Das passte zu jedem feierlichen Anlass. Ich hatte zur grauen Hose meinen schwarzen Blazer an. Wir nahmen etwa in der Mitte der Sitzreihen Platz und stellten uns den umliegenden Personen vor. Die Teilnehmer kamen aus ganz Italien. Da die regional benachbarten Firmenchefs einander kannten, saßen sie auch in diesem Saal beisammen. Wir waren in das Grätzel der Süditaliener geraten. Auf dem Podium hatte an einem langen Tisch in der Mitte Molinari Platz genommen, rechts und links flankiert von Kollegen. Den Namensschildern zufolge hießen sie Cipriano Luigi, Iannacone Salvatore und Bersani Alberto. Cipriani hatte offenbar die Rolle des Segretario eingenommen. Er hatte einige Mühe, sich gegen das Publikum durchzusetzen, das sein geräuschvolles Gesurre nur widerwillig einstellte. Molinari begrüßte die Teilnehmer allgemein und nannte einige von ihnen namentlich, zu meiner Überraschung auch mich und Soile, aus Österreich und Finnland, mit Sitz in Udine. Ich erhob mich, um mit knapper Verbeugung auf den Applaus zu reagieren, der unerwartet stark einsetzte. Soile war das peinlich. Ich war schon dabei, mich wieder zu setzen, als ich Molinaris Aufforderung vernahm, mit Soile in der ersten Reihe Platz zu beziehen, wo, zufällig oder nicht, noch ein paar Sessel leer geblieben waren. Wir wussten nicht recht, wie wir zu solcher Ehrung kamen. Molinari schilderte, welche Mühen und Mittel er in langen Jahren aufwenden musste, um die Voraussetzungen zur Gründung dieser Fachvertretung der Infortunistiche Italiens zu schaffen. Die Kollegen zu überzeugen, die politischen und administrativen Grundlagen zustande zu bringen, die Anerkennung als freier Berufsstand, die Gegenwehr der Anwaltskammer zu überwinden. Die zahlreiche Teilnahme an dieser Gründungsveranstaltung zeige, dass jetzt starke Zustimmung bestehe zur Zweckmäßigkeit der Fachvertretung und ihrer Vorhaben, wie die Hebung des Ansehens des neuen Berufsstands durch Beachtung eines Verhaltenskodex, ähnlich jenem der Anwälte, Überwachung durch eine Disziplinarkommission, Streitschlichtung zwischen den Mitgliedern, Abhaltung von Tagungen und Kursen zur Aus- und Fortbildung der Mitglieder und Mitarbeiter, Ausarbeitung von Tarifrichtlinien, Pressearbeit, und vieles mehr. 


Anschließend an Molinaris Rede hatten die Teilnehmer Gelegenheit zu Wortmeldungen. Man konnte deutlich sehen, welche von ihnen beabsichtigten, in der Führung der Organisation eine Rolle zu spielen. Sie kamen vorwiegend aus Rom und aus Süditalien. Es folgte eine Reihe von Abstimmungen. Zuerst der Beschluss zur Konstituierung. Danach wurden Zettel ausgegeben, auf denen Beitrittserklärungen gedruckt waren. Die Teilnehmer füllten sie aus und gaben sie wieder ab. Diejenigen, die nicht beitreten wollten, wurden gebeten, den Saal zu verlassen. Zum anschließenden Essen seien sie wieder willkommen. Nur wenige gingen. Es folgte die Wahl Molinaris zum Präsidenten und der von ihm vorgeschlagenen Kollegen in die wichtigsten Funktionen. Die Statuten waren in einem Folder abgedruckt. Sie wurden bestätigt, ebenso der vorgeschlagene Mitgliedsbeitrag. 


Die Versammlung drohte zu zerfleddern. Alle redeten durcheinander. Keiner verstand irgendjemanden. Cipriani bat die Teilnehmer hinüber ins Restaurant zum Abendessen. Da unser Pferd nicht gewonnen hatte, wären wir geneigt gewesen, die Heimfahrt anzutreten. Doch Molinari bat uns, an seinem Tisch Platz zu nehmen. Solche Ehre konnten wir nicht ausschlagen. Es waren runde Tische für acht Personen vorbereitet. Neben Molinari waren Cipriani, Iannacone und Bersani unsere Nachbarn. Ein typisch italienisches Essen in vier Gängen wurde aufgetragen, typisch italienisch war auch der Geräuschpegel im Saal. Molinari wollte von Soile möglichst alles über die finnische Küche wissen. Soiles Kochkünste beschränkten sich auf einige einfache Gerichte, die überall in Europa gängig sind. Mit Pasta kam sie mittlerweile gut zurecht. Molinari aber bohrte nach dem Besonderen, dem Urfinnischen. Er gab keine Ruhe, bis es passierte. Seither glaubte er, das Grundnahrungsmittel der Finnen wäre ‚Vorschmack‘. Er glaubte es fest. Das Grausen darob wurde er so leicht nicht wieder los. Schon das Wort ‚Vorschmack‘ roch übel nach Barbarei. Unaussprechbar für einen Latiner und unmemorierbar. Ohne Zweifel war es germanischen Ursprungs. Wahrscheinlich aber hatten es die Juden im Lauf der Jahrtausende überall hin mitgenommen. Nach Russland, nach Polen, in die Ukraine. Nicht nach Finnland, denn solange Finnland schwedisch war, durften sich dort keine Juden niederlassen. Mit der russischen Armee kamen einige wenige und durften mit Erlaubnis des Zaren bleiben, aber erst die finnische Unabhängigkeit beendete die Ausgrenzung. Nach Finnland kam ‚Vorschmack‘ angeblich, weil es ein Lieblingsgericht Carl Gustaf Mannerheims war, der es wohl während seiner Laufbahn in der russischen Armee kennengelernt hatte, bevor er nach der Oktoberrevolution im nun selbständigen Finnland zum Marschall aufstieg. So gesehen ist ‚Vorschmack‘ keineswegs urfinnisch. Jedenfalls nicht mehr als die Powidltatschkerln wienerisch sind. Wir sprachen Molinari das Wort ‚Vorschmack‘ vor und er versuchte tapfer es nachzusagen, aber erfolglos. Er hörte damit sofort auf, als Soile ihm erklärte, dass es sich um Rindfleisch handelte, oder auch Hering, oft aber auch beides zusammen, faschiert unter Zugabe von Zwiebeln und Äpfeln, Rahm oder Schlagobers und Rosinen, das ganze angebraten und serviert mit Kartoffeln und Salzgurken. Molinari machte ein Gesicht, teils ungläubig, teils angewidert, ließ seinen Sgombro al forno stehen und entfernte sich eilig mit einer knappen Entschuldigung. Ich glaube nicht, dass er jemals einen Fuß auf finnische Erde setzte.


Ich unterhielt mich mit Iannacone. Es stellte sich heraus, dass er Hobbyflieger war. Er sagte, er würde uns gern besuchen in Rivolto. Dann würde er mit seiner Maschine in Campoformido landen. Wir kamen auf die umständlichen Usancen bei den italienischen Banken zu sprechen. Dass man beispielsweise bei Einzahlungen aufs Konto eine Liste ausfüllen musste, auf der die genaue Anzahl der Noten und Münzen einzutragen war. Iannacone drückte seine Zuversicht aus, dass nach Österreichs Beitritt zur EU die Verhältnisse sich schon angleichen würden. Er ließ keinen Zweifel daran, er meinte, die italienischen Verhältnisse müssten sich früher oder später auch bei uns durchsetzen. Ganz unrecht sollte er ja nicht haben.


Beim Dessert ging es Molinari wieder gut. Er erzählte einen Witz. Es ging darum, wie es den Alpini gelang, die endlosen Stellungskämpfe in den Alpen gegen die Gebirgsjäger allmählich zu ihren Gunsten zu entscheiden. Das funktionierte so: Die feindlichen Stellungen lagen oft in Rufweite voneinander. In der Früh, als es hell wurde, rief einer der Alpini laut „Ans!“. Mir war klar, er meinte ‚Hans‘. Den Gebirgsjägern offenbar auch, denn sogleich erschien eine Reihe von Köpfen über der gegnerischen Schanze. Die Alpini konnten bequem zielen und schon gab es ein paar Probleme weniger. – Lustig. Denselben ‚Witz‘ hatte einmal mein Opa mir erzählt. Da riefen aber die Gebirgsjäger „Mario“. – Seltsam, so sehr Molinari sich über seinen eigenen Witz mit Ans amüsiert hatte, so wenig konnte er offenbar mit ‚Mario‘ anfangen. Und ich mit keinem der beiden.


Molinaris Baby war geboren. ANEIS – Associazione Esperti Infortunistica Stradale. Ob Molinari ahnte, dass diese Geburt nur eine Episode war in seiner Aeneis? Wenig später gab es in Rivolto Post aus Padova. Soile und ich erhielten je ein kleines Büchlein, so eines wie jenes, das Tino von der Sozialdemokratischen Partei Österreichs gehabt hatte, mit kleinen eingeklebten Marken für die Mitgliedsbeiträge. Er hatte es nicht, weil er es wollte. Man hatte es ihm eingeredet. Ohne das Büchl werde er nicht reüssieren. Dort, wo er reüssieren wollte, hat keiner ihn je nach dem Büchl gefragt. Und wo man ihn fragte, wollte er nicht reüssieren. Wenigstens entsprach es ungefähr seiner Haltung, sonst hätte er es abgelehnt. Unsere Büchlein waren nicht rot, sondern tiefdunkelblau und elegant. In meinem stand die Mitgliedsnummer 0003. 

***

„Du hast da eine Vorladung zu den Carabinieri in Udine.“ Soile schob mir die Postkarte herüber. Sie kam von einer Dienststelle, die ich noch nicht kannte. Akteneinsicht, vermutete ich. Dumm, dass wir nicht wussten, für welche Akte. Ich hätte mich besser auf die Sache vorbereiten können. Auf der Karte waren die allgemeinen Amtsstunden vermerkt. Ich nahm mir vor, bei meinem nächsten Udinebesuch dort vorbeizuschauen.


Schon das ist außergewöhnlich: Der Carabiniere verlangt von mir einen Ausweis. Ich gebe ihm meinen Reisepass. Er geht ihn zu fotokopieren, gibt mir aber das Dokument nicht zurück, sondern legt es mit den Fotokopien zu einer dünnen Akte, die er aus einem Schrank geholt hat. Ich soll warten. Der Maresciallo sei „in battuta“. Battuta ist ein Schlag. Oder ein Witz. Als Fachausdruck für einen Polizeieinsatz kenne ich das Wort noch nicht. Wie der Carabiniere schaut, witzig ist das nicht. Eher martialisch. Ungewöhnlich auch, dass der Carabiniere überhaupt einen Grund nennt für die Notwendigkeit des Wartens. Ich setze mich auf die Holzbank an der Wand. Eine Verkehrsunfallakte ist das nicht, was dort unter meinem Pass liegt. Worum geht es hier eigentlich? Mein Blick fällt auf das Schild neben dem Durchgang zum Nebenzimmer: ‚Mar. Ferrucio Chiari – Indagini Preliminari‘. Voruntersuchungen. Aha, Strafverfahren. – WAS? Bin ich beschuldigt? Wessen? Von wem? Die Gelassenheit, mit der ich sonst in den Amtsstuben wartete, ist dahin. Obwohl ich mir keiner Schuld bewusst bin, packt mich Nervosität. Ob Soile mich besuchen wird im Knast? Ob sie mir ein Radio mitbringen wird, mit dem ich wenigstens Respighi hören kann? Ob sie die Feile in den Kuchen einbacken wird? Ob sie mir einen Stapel Akte zur Bearbeitung mitbringen wird? So wie damals, als ich wegen Verdachts auf eine Lebererkrankung ins Krankenhaus in Udine musste. Mama war völlig außer sich. Sie stürzte sich sofort auf die Ärztin der kleinen Krankenstation in Codroipo und bestach sie mit Bonbons, damit sie mich sofort untersuchte. Mein Urin sah aus wie Coca-Cola, der Stuhl wie von einem Eisbären. Sie wies mich ein ins Krankenhaus. Ich nahm einen Haufen Akte mit und arbeitete sie ab an dem großen Gemeinschaftstisch vor dem offenen Fenster. An eine spezielle medizinische Behandlung kann ich mich nicht erinnern. Ich glaube, die sahen an meinem Arbeiten, dass mir nicht viel fehlte. Nach ein paar Tagen schickten sie mich wieder heim. Es wird wohl nicht mehr als eine vorübergehende Vergiftung gewesen sein von Ivans Muscheln. Für diesen Krankenhausaufenthalt musste ich nie bezahlen. Kein ‚Ticket‘ bei der Aufnahme, keine Rechnung später. In Italien mussten die Patienten für jede Krankenhausleistung sofort bezahlen, selbst wenn sie regulär versichert waren. Sie mussten ein ‚Ticket‘ lösen, eine Art Selbstbehalt. Mit dem Ticket wurden sie zur Untersuchung zugelassen. Ich musste gar nichts. Sehr rätselhaft. Habe ich die Episode geträumt?


Lärm an der Glastür reißt mich aus solchen Gedanken. Sie wird heftig aufgestoßen. Ein kleiner Maresciallo stürmt herein, hinter ihm zwei robuste Carabinieri mit einem zerfledderten Kerl in ihrer Mitte. Handschellen fesseln ihn an den einen der Carabinieri. „Alloggiategli“, befiehlt der Maresciallo. Die beiden Beamten führen den Arrestanten an mir vorbei den langen Gang hinunter. Ich bin froh, der Vorladung rechtzeitig gefolgt zu sein. Der Maresciallo schaut mich prüfend an. „Rickter Rainer“, erklärt der Bürobedienstete, „attività commerciale illegale“. WAS? Illegale Gewerbeausübung?


Der Maresciallo nimmt die Akte und meinen Pass. Er fordert mich auf, in sein Büro einzutreten. Ich will ihm den Vortritt lassen, aber er deutet mir, ich soll vorangehen. Ach ja, ab einem gewissen Stadium geht immer der Delinquent voran, fällt mir ein. Der Raum wirkt wie ein gewöhnliches Büro, abgesehen von der Uniform des Carabinieres mit dem aufdringlichen Silberlametta. Er heißt mich Platz nehmen in einem der beiden überraschend bequemen schwingenden Polstersessel, die an diesem Ort deplatziert wirken. Er selbst setzt sich hinter den übervollen Schreibtisch. Ich will zu reden beginnen und vorbringen, dass ich mein Gewerbe keineswegs illegal ausübe, sondern bei der Camera di Commercio ordnungsgemäß angemeldet habe, eine Steuernummer besitze und regelmäßig die vom Commercialista errechneten Steuern bezahle. Der Maresciallo deutet mir zu schweigen. Er überfliegt flüchtig die zwei Seiten, aus der die Akte besteht, betrachtet dann meinen Pass eingehend von der ersten bis zur letzten Seite. In der ledernen Schutzhülle steckt mein neuer Ausweis der ANEIS. „Associazione Nationale Esperti Infortunistica Stradale.“ Der Maresciallo liest es halblaut. Er scheint beeindruckt. Jetzt beginnt er Fragen zu stellen. Zu meiner Überraschung tut er es nicht streng, sondern in freundlich verbindlichem Ton. Wann genau ich zuletzt nach Italien eingereist sei und warum, was ich genau mache, ob ich dafür eine Ausbildung oder ein Studium habe, wieso ich etwas mache, wofür es genug italienische Anwälte gäbe. Jetzt weiß ich, woher der Wind weht. Einem der Rechtsanwälte, wahrscheinlich einem auf dem absteigenden Ast, gefällt es nicht, dass da ein dahergelaufener Ausländer in seinen Wassern fischt. Weshalb ich meinen Sitz ausgerechnet in Rivolto aufgeschlagen habe, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, will der Maresciallo wissen, wie es komme, dass ich eine finnische Partnerin habe und keinen italienischen, das sei alles ziemlich fragwürdig. Es fällt mir nicht schwer, alle seine Fragen plausibel zu beantworten. Dabei hüte ich mich, italienische Institutionen und Praktiken zu kritisieren. Ich sei selbst Angestellter von Avus Italia in Pordenone gewesen, bevor ich mich selbständig gemacht habe, die seit Jahren genau dasselbe machen wie jetzt auch ich. Der Maresciallo unterbricht mich. „Dort steht aber ein Anwalt dahinter!“ Ich wundere mich, dass der Maresciallo das weiß. Kennt er die Beteiligten? Hat er recherchiert? Ob die Ehe des Anwalts mit der Geschäftsführerin außer ihren privaten Verkehr auch ihre gewerbliche Tätigkeit legalisiere, frage ich frech zurück. Der Maresciallo lacht laut heraus. Ich weise ihn hin auf die Judikatur, welche das, was wir machen, für zulässig beurteilt, solange wir nicht Tätigkeiten ausüben, die allein Anwälten vorbehalten sind. Für solche Tätigkeiten beschäftigen wir Anwälte in Italien und außerhalb, wie etwa Natis und Stampanato in Udine. Den, der uns angezeigt hat, offenbar nicht, sage ich. Wieder lacht der Maresciallo. Als ich dann noch mit der Liebesgeschichte zwischen Soile und mir herausrücke, ist er völlig hingerissen. Er gibt mir meinen Pass zurück und kündigt an, einige meiner Angaben zu überprüfen. Wenn sie stimmen, soll ich mir keine Sorgen machen wegen dieser Sache. Wir gehen auseinander wie zwei gute Bekannte nach einer netten Unterhaltung.


In den darauffolgenden Wochen wurde ich den Eindruck nicht los, es wären unverhältnismäßig viele Carabinieri unter unseren neuen Kunden. Einer von ihnen suchte uns im Büro auf. Als er danach die enge Treppe mit den zierlichen Stufen hinabstieg, verloren seine klobigen Stiefel den Halt und er sauste ungebremst bis ganz hinunter. Ich war froh, dass er unverletzt blieb. Es hätte die nächste Voruntersuchung bedeuten können.

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Der Name Tamponati, den ich vor dem Maresciallo fallen hatte lassen, gehörte dem Anwalt, mit dem ich nach dem Scheitern mit Natis einen zweiten Versuch begonnen hatte. Tamponati hatte ich immer wieder in den Schadenabteilungen der Versicherungen getroffen, als er wie ich dort Schadenfälle zu regulieren hatte. Wir plauderten mit den Liquidatori in lockerer Stimmung. Manchmal verhandelten wir gleichzeitig in demselben Büro an zwei verschiedenen Tischen mit zwei verschiedenen Sachbearbeitern, die wir danach der Zuständigkeit halber tauschten. Die Besprechungen endeten immer mit einem gemeinsamen Besuch der ‚Filiale‘, also des Stammcaffès der Signori Liquidatori. Das weckte in mir jedes Mal Erinnerungen an unsere ‚Filiale‘ am Brunnenmarkt. Tamponati war Süditaliener. Sein Vorname Pasqualino passte in jeder Hinsicht zu ihm. Ein untersetzter Mittvierziger, immer in einem Anzug, der ohne Krawatte etwas schlampig aussah und ebenso schwarz war wie der Vollbart in seinem runden Gesicht, in dem zwei lustige Äuglein herumrollten. Auf diese Weise kamen wir ins Gespräch und eines Tages suchte ich ihn auf in seinem Studio mit ein paar Akten als Versuchsballons. Das Studio lag in einer modernen Wohnhausanlage nahe der Piazza I° Maggio. Wie so viele Büros in Italien war es nicht als Büro geplant, sondern einfach eine größere Wohnung zum Büro umfunktioniert. Dadurch ergab sich ein Missverhältnis zwischen Platzangebot und –bedarf. Mitarbeiter und Besucher mussten gleichermaßen mit der Beengtheit zurechtkommen. Die Konzipienten in den Kinderzimmern, die Sekretärinnen in Flur und Arbeitszimmer. Im Wohnzimmer residierte Pasqualino Tamponati. Seine Residenz beeindruckte durch ein biblisches Chaos. Auf jeder noch so kleinen ebenen Fläche lagen Akten, dicke, dünne, geschlossene und offene. Ich fragte mich, mit was für einem System er einen Weg durch dieses Durcheinander finden mochte. Später fand ich es heraus. Das System waren die Urgenzanrufe der Klienten. Nach solchen Hilfeschreien ließ er die Sekretärinnen nach der Akte suchen, die sehr wahrscheinlich geöffnet irgendwo in der Nähe seines Schreibtischs lag. Den Klienten bat er, in ein paar Tagen wieder anzurufen. Wenn das geschah, war die Akte längst wieder in den Tiefen des Orkus versunken. Termine sind die Klippen, die jeder Anwalt sorgfältig zu umschiffen hat. Wie Pasqualino oder seine Mitarbeiter es schafften, nicht dreimal in jedem Monat daran zu zerschellen, ist mir ein ungelöstes Rätsel geblieben. 

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Anfang der Fünfzigerjahre begannen die Ottakringer vermehrt Urlaubsreisen ins Ausland zu machen. Manche hatten ein kleines Auto angeschafft, andere ein altes Auto, die meisten aber ein kleines altes Auto. Die anderen nahmen den Bus nach Caorle. Sie sagten Tschaorle. Über den Semmering begann die Fahrt anstrengend zu werden, durchs Kanaltal dazu abenteuerlich. Zeitig in der Früh waren sie von Ottakring aufgebrochen. Am Nachmittag standen sie auf dem Hauptplatz von Caorle, umgeben von ein paar Wohnhäusern im venezianischen Stil, die schon viel zu viele Jahre einer Restaurierung entgegenschlummerten, der schmucklosen Kirche, die viel zu groß geraten schien für die paar Häuser. Der Rundturm des Campanile, natürlich separat stehend, ein Hotel in einem zweistöckigen Nachkriegsgebäude. Der Ort war kaum belebt. Leben würde sich hier erst gegen Abend regen, dann aber südländisch quirlig. Ein selbst gebasteltes Hinweisschild wies mit wackeligen Buchstaben in Richtung Strand: „Osteria Da Toni“. In der Tageshitze schlenderte man hinaus aus der kleinen Altstadt, jetzt endlich konnte man sich von der Weite des Meers den Atem nehmen lassen. Vorüber an niedrigen Fischerhütten folgte man einem versandeten Pfad durch spärlich bewachsene Dünen, in einiger Entfernung ragte am Ende einer Landzunge eine Kirche auf, eindrucksvoll, weil ganz allein zwischen Wasser und Land. Ganz allein stand auch die windschiefe Hütte, erbarmenswert inmitten der flachen Dünenlandschaft. ‚Da Toni‘.


Vierzig Jahre später ist Caorle nicht wiederzuerkennen. Die Altstadt ist noch da, aber eingebettet in eine Kleinstadt die in keiner Richtung ein Ende nehmen will. Ein Hotel neben dem anderen. Ein mediterraner Badeort voller Touristen. Tagsüber bevölkern sie den breiten Sandstrand unter den Sonnenschirmen dicht an dicht. Das Lesen will nicht recht gelingen auf der um teures Geld täglich neu ergatterten Liege, weil das Kofferradio des Nachbarn plärrt. Musica italiana! Bello coco coco bello! Zwischendurch zweifelhafte Abkühlung. Das Meer ist lauwarm wie zu spät servierte Suppe. Die Küste ist so flach, will vortäuschen, man könnte bis nach Istrien hinüberwaten, ohne zu schwimmen. Ein Gelato oder Caffé am Verkaufsstand neben den Umkleiden. Abends Halbpensionsessen im Neonlicht des überlauten Hotelsaals. Danach die Geschäftsstraßen entlangflanieren, shoppen oder radeln mit der für eine Stunde gemieteten Rikscha. Die Touristen haben den Corso erobert. Einheimische flanieren hier nicht. Sie haben zu arbeiten in den Läden und Bars. Wenigstens die privilegierten von ihnen. Die anderen pendeln aus, irgendwohin in den Veneto oder hinüber ins Friuli. Die einsame Stelle in den Dünen, wo einst Da Toni vor sich hin kümmerte, ist nicht mehr auszumachen. Weggespült vom Tsunami des Tourismus.


Ähnlich entwickelten sich die meisten Badeorte an der Oberen Adria, Bibione, auch Lignano, der Badeort in Schneckenform. Iesolo ist anders. Seine Wurzeln reichen zurück ins 5. Jahrhundert. Der Kern der Altstadt hat sich seine Mittelalterlichkeit bewahrt. Die Grässlichkeit der Bauwut in der Nachkriegszeit beschränkt sich auf den Lido. Älter noch ist Grado. Gegründet im 2. Jahrhundert als Seehafen für Aquileia und seither ununterbrochen lebendig. Festung, Militärhafen, Markt, Erzbistum. Mit dem Frieden von Campoformio geriet Grado plötzlich unter die Habsburger. Kaiser Franz Josef machte es zum k.k. Seebad. Von da an kam sicherlich mancher Wiener zum Baden an die österreichische Riviera. Damit war Schluss, als der Kaiser geruhte, Serbien eine Lektion erteilen zu wollen. Leider gefiel das einer Reihe anderer Weltmächte weniger, darunter Italien. Die Österreicher zogen sich nach Osten über den Isonzo zurück. Grado war wieder italienisch. 


Und jetzt kommt schon wieder so ein Ottakringer an die ehemals österreichische Riviera. Nicht um zu baden. Für das Meer hat er keinen Blick. Ihn interessieren die Karosseriewerkstätten in den Badeorten. Dort werden eine Menge Blechschäden an ausländischen Autos repariert und ebenso viele an italienischen Autos, die von ausländischen Fahrern verursacht sind. Alle Beteiligten haben Schwierigkeiten, die damit verbundenen Probleme zu lösen. Die Ausländer haben nicht genug Geld dabei, um die Reparatur zu bezahlen. Die italienischen Kunden wissen nicht, wie sie zu ihrem Schadenersatz kommen. Da kommt der Ottakringer gerade recht, denn er verspricht, alles rasch in Ordnung zu bringen. Mit größeren Werkstätten in San Donà und Lignano kommt es bald zu einer regen Zusammenarbeit. Dazu lernt der Ottakringer einige der wichtigeren Versicherungsagenten im Hinterland kennen wie etwa in Latisana oder Cervignano.


In Lignano besucht der Ottakringer regelmäßig die Carozzeria Pagotto. Pagotto und sein Sohn arbeiten in der Werkstatt, Pagottos Frau im Büro. Wenn der Ottakringer auftaucht, sitzt er immer langmächtig bei der Frau im Büro. Die Männer sieht er nur flüchtig. Sie haben zu tun, sind auch zu ölig für den Papierkram. Wenn Signor Pagotto an der Bürotür vorüberhuscht, scheint sein Blick zu sagen, schon wieder der Ottakringer. Wenn es ein Problem gibt, rufe ich einfach Oriana. Oriana ist seine Tochter. Sie bereitet sich auf das Lehramt in Deutsch vor. Mit den ausländischen Kunden deutsch reden zu können, ist schon sehr viel wert. Oriana telefoniert aber auch hin und wieder direkt mit Versicherungen in Deutschland und Österreich. Einmal bespricht Frau Pagotto bei einem Caffè im Büro mit dem Ottakringer einen etwas komplizierten Fall, wo Oriana nicht weiterkommt. Selbst der Ottakringer meint, da müsse ein Anwalt in Italien her. Sie hätten doch sicher einen Hausanwalt für die gewöhnlichen Streitigkeiten, die in einem Gewerbebetrieb unausbleiblich sind? Natürlich haben sie. Oriana ist mit einem jungen Anwaltsanwärter verlobt, der in einer Kanzlei in Udine Konzipient ist. Der macht das alles. Der Ottakringer spitzt die Ohren. Junger Anwalt in Udine? Höchst interessant! Anwärter, das heißt, Jusstudium abgeschlossen, Praxisjahre in einer Kanzlei, nebenbei Vorbereitung auf die schwierige Anwaltsprüfung. Als Konzipient kann er Vieles selber machen, für manches Andere braucht er den Sanktus des Chefs. Der Ottakringer nimmt die Unterlagen an sich und verspricht, damit am nächsten Tag den Schwiegersohn in spe aufzusuchen.

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Schwer zu sagen, wann es mir das erste Mal aufgefallen ist. Sie mied mich. Ich stellte ihr nach, aber sie entzog sich. Wann immer sie sich verweigerte, war da ihre englische Schwester. Die mochte mich. Von Anfang an war sie mir nur so zugeflogen. Deshalb werden meine Annäherungen an die Neue nicht entschieden genug gewesen sein. Ich brauchte sie nicht. Immer wenn es mit ihr nicht klappte, war ihre Schwester da. Leicht und willig schmeichelte sie sich an mich und alle Probleme waren gelöst. Diese war so ganz anders. Spröde. Widerspenstig. War sie von der Anderen die Schwester, dann höchstens eine Stiefschwester. Sie mochte mich nicht. Amor per me non ha. War ich ihr zu alt? Hatte ich nicht mehr die Energie, sie zu erobern? Was machte das schon. Ich nahm einfach die andere.


Aus meinem Finnisch-Büchlein lernte ich einzelne Wörter. Mit viel Mühe. Sie sind einander so ähnlich. Gar nicht ähnlich hingegen ihren indogermanischen Pendants. Andere Wörter lernte ich von Soile. Die Wörter halfen mir nicht, einen einfachen vernünftigen Satz zu bilden. Die Ausdrucksweise ist so anders. Die Grammatik kompliziert. Fünfzehn Fälle können ein Hauptwort ins Unkenntliche verändern. Sanna fertigte für mich eine Tabelle an mit den Formen eines Verbs. Zwei eng und klein beschriebene Seiten. Ich bin ein Perfektionist. Will allen Zusammenhängen auf den Grund gehen. Meine Fragen nervten Soile, machten sie mitunter ratlos. Ich hörte auf zu fragen. In Finnland sprechen fast alle Englisch, manche auch Deutsch. Ist viel einfacher so.

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Der Viale Ungheria in Udine ist ein belebter Verkehrsweg vom Zentrum in Richtung Süden. Zu beiden Seiten flankieren ihn moderne fünf- und sechsstöckige Nachkriegspalazzi mit Geschäftslokalen ebenerdig und Wohnungen darüber. Beide Fahrbahnränder sind dicht verparkt. Zur Durchfahrt verbleibt ein Fahrstreifen in jeder Richtung. Die Fahrbahn ist in der Mitte durch einen Grünstreifen geteilt, auf dem in regelmäßigen kurzen Abständen Linden mit dem milden Grün ihrer Kronen die oberen Etagen der Häuser einigermaßen von den Widrigkeiten des Verkehrs abschirmen. Am Ende des Viale, dort wo er in die weitläufigen und verwirrenden doppelten Kreisverkehre des Piazzale D’Annunzio mündet, befand sich im ersten Stock die Anwaltskanzlei Mittoni. Wiederum waren die Büros in Räumen untergebracht, die ursprünglich als Wohnung geplant gewesen sein mochten. Avv. Mittoni hatte den größten Raum, in den kleineren werkten männliche und weibliche Konzipienten und Mittonis Sekretärin. Die Kanzlei ähnelte jener Tamponatis, allerdings ohne den Ruch der Unordnung. Mein Besuch galt aber nicht Mittoni, sondern Pagottos Schwiegersohn in spe, dott. proc. (Rechtsanwaltsanwärter mit ausständiger Anwaltsprüfung) Ivo Marian. Er empfing mich in seinem kleinen Büroraum, der auf ziemlich viel Arbeit schließen ließ und dennoch aufgeräumt wirkte. Marian war ein großer Mann von etwa dreißig, weißes Hemd und hellblau karierter Pulli, extremer Kurzhaarschnitt. Beim festen Handschlag kein Lächeln. Auch nicht, als ich Pagottos Grüße überbrachte. Er nahm die Unterlagen zu Pagottos Problemfall entgegen und legte sie auf den Tisch, ohne sie anzusehen. Stattdessen blickte er mir ernst und fest in die Augen. Natürlich wusste er, was ich machte. Mit knappen Worten bot ich ihm unsere Zusammenarbeit mit ihm an. Ebenso knapp bekundete er seine Bereitschaft zu einem Versuch. Ich erklärte ihm, wie ich mir die Zusammenarbeit vorstellte. Er sagte ”Hmmm”. Als Einwand fasste ich das nicht auf. Ich überließ ihm zwei Akte als Versuchsballons. Er legte sie auf den Tisch, ohne sie anzusehen. Wir vereinbarten einen neuen Termin nach zwei Tagen. Und schon stand ich wieder auf dem Piazzale D’Annunzio. Von der anderen Seite des Piazzale grüßten vom Dach des dortigen Palazzos große Leuchtbuchstaben ‚Lloyd Adriatico‘. Ich ging hinüber in die Schadenabteilung, um einige Schadenfälle mit den Liquidatori zu erledigen. Ich kam mit ihnen ganz gut zurecht. Allerdings musste ich aufpassen. Der Lloyd Adriatico gehörte der Allianz Gruppe. Das heißt, auch hier verhandelte ich sehr viele Fälle im Auftrag einer Konzerntochter gegen die andere. Die Zentrale saß in Trieste. Manchmal musste ich dorthin zur Verhandlung bestimmter Akte. In Trieste war mein Auftreten noch heikler, denn dort bestand ein sehr aktiver, direkter Draht mit der Direktion der Allianz in Wien. Noch verfänglicher war unser Verhältnis zur RAS (Riunione Adriatica di Sicurtà) mit Sitz in Milano. Auch mit der RAS verhandelte ich viele Akte in Udine, relativ viele andere aber telefonisch mit Milano. Während die Arbeit mit dem Lloyd Adriatico atmosphärisch und technisch recht gut funktionierte, klappte bei der RAS fast gar nichts. Das war auch der Grund für die vielen telefonischen Verhandlungen mit Milano. Die Schadenabteilung dort schien überlastet durch Personalmangel. Die ausschließlich weiblichen Liquidatrici standen stark unter Stress. Dafür konnte man noch Verständnis aufbringen. Dass sie aber versuchten, diese Überforderung durch Überheblichkeit zu überspielen, war nicht immer leicht erträglich. Der Draht nach Milano stand daher meistens unter Hochspannung. Tatsächlich beschwerte sich die RAS mehrmals in Wien über uns. Ob es wirklich nötig wäre, ausgerechnet uns mit der Vertretung gegen die eigene Konzerngesellschaft zu beauftragen. Gottseidank blieben solche Beschwerden für uns immer ohne Konsequenzen. Den Auftraggebern waren die Ergebnisse, die wir brachten, offenbar wichtiger. Der Abteilungsleiter des Lloyd Adriatico in Udine hieß Basaldella. Er war ein kultivierter Gesprächspartner und schätzte offenbar die Kontakte mit mir. Die meisten Fälle erledigte ich aber mit Cantonati, einem gemütlichen Kerl, auf ziemlich freundliche Art und Weise. Dann war da noch Cantarutti, ein junger Bursche, groß und schlank, seine Freundlichkeit fühlte sich immer kalt an. Ich glaube, er versuchte Karriere zu machen. Auf professioneller Ebene kamen wir meistens zu korrekten Ergebnissen. Die Sekretariatsdamen Cinzia und Lydia waren mir gewogen. Sie hatten die Akte herauszusuchen, die zu besprechen waren. Ich löcherte sie nicht. Dazu gab es auch keinen Grund. Sie hielten ihr Archiv in vorbildlicher Ordnung. Merken Sie sich Cinzia. Der Name wird in einem anderen Abschnitt wieder auftauchen.


Zwei Tage später traf ich Marian wieder. Er hatte sich die Akte durchgesehen und stimmte meinen Vorschlägen zur Vorgangsweise zu. Er hatte verstanden, dass eine Aufgabenteilung auf Augenhöhe stattfinden sollte. Die außergerichtliche Arbeit bei uns und die gerichtliche bei ihm. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Es schien, als wären unsere Probleme gelöst. Mit einem Schlag schienen wir uneingeschränkt handlungsfähig. Schlagkräftiger als zuvor. Die Misere mit den Anwälten hatte uns immer wieder zu Kompromissen neigen lassen, mit denen wir uns nicht restlos wohlfühlten. Wenn das mit Marian klappte, konnten wir weit zielstrebiger vorgehen. Die Prozessdauer in Italien war als unendlich langatmig verschrien. Ich verstand inzwischen, dass das nur zum Teil den Gerichten geschuldet war und zum anderen Teil den Anwälten selbst. Die Justiz war bemüht, die Prozessdauer abzukürzen. Die Verfahrensregeln wurden gestrafft. Eine ganz neue Ebene wurde eingeführt, die Friedensrichter. Die Friedensrichter mussten nicht unbedingt ausgebildete Richter sein. Es konnte jeder juristisch Gebildete sich um das Amt bewerben. Es gab Zollbeamte und ehemalige Gerichtskanzleileiter, die den Job machten. Es lässt sich nicht bestreiten, dass die Qualität der Sprüche nicht immer optimal war, aber man kam nun zu einem Ergebnis innerhalb von zwei, drei Jahren anstatt wie früher nach zehn. Vorausgesetzt, dass nicht der eigene Anwalt die Sache verschlampte. Es sollte sich herausstellen, dass ich darauf nicht mehr achten musste. Marian war ein umsichtiger und zielstrebiger Vertreter wie wir selbst. Dazu kam seine Großzügigkeit. Er war kein Pfennigfuchser und legte schon auch einmal Vorkosten aus. Seine eigenen Kosten setzte er mit Augenmaß fest und ich achtete darauf, dass er nicht zu kurz kam. Zur Regel aber wurde es, dass unsere Auftraggeber völlig kostenfrei blieben, wenn wir die Causa gewannen und sogar die vorgerichtlichen Kosten von Rivolto Claims Service zugesprochen bekamen. Das half uns auch in unseren rein außergerichtlich erledigten Fällen, weil die Versicherungen bald sahen, dass wir unsere Kosten auch vor Gericht durchsetzen konnten. Also anerkannten sie sie bald auch außergerichtlich. Marian legte bald seine Anwaltsprüfung erfolgreich ab und war danach Avvocato. Er konnte nun alle Agenden selbständig durchführen und brauchte nicht mehr Mittoni beizuziehen. Meine Kontakte zu Mittoni blieben dennoch aufrecht. Er spielte nämlich Tennis und es kam zu sporadischen Daviscupbegegnungen zwischen Italien und Österreich. Leider kann ich nicht behaupten, dass sie zugunsten Österreichs ausgingen.

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Wie das Tennis auf mich gekommen ist? Der Sport mit dem Racket hat mich sofort fasziniert, als ich in Bristol mit Margaret auf den Commons Tennis Cricket gespielt habe. Ich habe danach nicht aufhören können, im Wohnzimmer der Eveleighs den Tennisball auf dem Racket hüpfen zu lassen. Danach kam Black&White. Ab da spielte der Fußball die erste Geige. Als unser Tormann zum Tennis abwanderte, wurde er für uns zum Verräter. Das kurze Wiedersehen mit den damals noch weißen Bällen bei den Snobs an der Alten Donau. Die Zeit bei der Allianz in Oberlaa brachte mir die österreichweiten Fußballturniere, aber auch das Wiedersehen mit den Tennisnetzen auf der Beethoven-Anlage in Jedlesee. Die wüsten Kämpfe mit dem Fleischhauer von Götzendorf. Der Hartplatz in Johannesburg. Schließlich mit Peter Karaman in Graz. Da verführte ich auch Soile zu ihrer ersten Tenniserfahrung. Ein Turnier wurde veranstaltet. Ich überredete Soile, im Mixed-Bewerb mitzumachen. Sie weigerte sich zuerst, hatte noch nie einen Schläger in der Hand gehabt. Doch meine Zuversicht war grenzenlos, Soile schaffte alles. Warum sollte es bei dem bisschen Tennis anders sein? Die Damen wurden den Herren zugelost. Ein Uniprofessor erwischte Soile. Es war einer, der gerne gewonnen hätte. Das ging sich nun nicht ganz aus. Trotzdem fand Soile Gefallen am Tennis. Sie las viel über die Damen und Herren der Weltklasse und schaute ihnen etwas ab beim Fernsehen. Ich selbst konnte ihr nicht viel beibringen, war ja selber Autodidakt.  


Fußball habe ich gerne gespielt. Man misst sich mit seinen Gegnern in Kraft, Geschwindigkeit, Ausdauer und Geschicklichkeit. Der Absicht, ein Tor zu schießen, liegen vorwiegend positive Motivationen zugrunde. Du kämpfst mit dem Gegner, nicht um ihm den Ball zu rauben, sondern weil du die Kugel brauchst, um ein Tor zu schießen. Dabei willst du deinem Gegner nichts Schlimmes antun, aber es geht eben nicht anders.


Und Tennis? Du brauchst dazu Kraft, Geschwindigkeit, Ausdauer und Geschicklichkeit. Und - viel Boshaftigkeit. Die ganze Zeit überlegst du, wie du deinem Gegner möglichst unangenehm sein kannst. Schickst ihn von einer Ecke zur anderen, holst ihn dir ans Netz und überlobst ihn oder passierst ihn (Keine Angst, niemand wird durchs Sieb gepresst). Nur der Ball fliegt an ihm vorbei, longline oder cross. Wenn dir das öfter gelingt als dem Gegner, gewinnst du vielleicht, aber nicht sicher, denn es kommt auch darauf an, in welcher Phase des Spiels du die Punkte machst. Tennis ist für mich absolut britisch. Sauber, elegant, ein wenig skurril und - niederträchtig. Ganz mein Sport.


Nur Briten können Tennis erfunden haben. Schon die Maße des Spielfelds deuten darauf hin. Sie beruhen auf den englischen Maßeinheiten. Vor allem aber sind sie so ideal festgelegt, dass keine Veränderung je eine Verbesserung bringen würde. Die Zählweise der Punkte entspricht der britischen Logik. Eins, zwei, drei, vier, das wäre viel zu gewöhnlich. Man zählt fünfzehn, dreißig, vierzig. Kein Mensch weiß, was daran besser sein soll als eins, zwei, drei, vier. Fünfundvierzig wäre logisch, aber nein, vierzig. Es gibt keine vorgegebene Spielzeit. Sieger ist, wer zuerst die Mehrzahl von drei oder fünf Sätzen gewonnen hat, das wird vorher vereinbart. Einen Satz gewinnt, wer zuerst wenigstens sechs Games für sich entscheiden kann, aber nur, wenn mindestens zwei Games Unterschied sind, sonst geht es einfach weiter, so lange, bis das eintritt. Es hat schon Spiele gegeben, die über mehrere Tage gegangen sind. Ich sage Games, denn benutzte ich das deutsche Wort dafür, Spiele, könnte man ein Spiel verwechseln mit dem Match. Ein Spiel ist aber nur Teil eines Satzes. Ein Spielgewinn verlangt den Gewinn von wenigstens vier Punkten. Man erinnere sich, fünfzehn, dreißig, vierzig – wie der vierte Punkt heißt, ist nicht definiert. Du musst wenigstens zwei Punkte mehr haben, um das Spiel zu gewinnen. Sonst geht es weiter, bis das eintritt. Wenn das alles nicht britisch ist… 


Beim Tennis bist du nie im Körperkontakt mit dem Gegner. Der Körperkontakt beschränkt sich auf den artigen Händedruck nach dem Match. Das Netz, das zwischen euch gespannt ist, ist heilig. Du darfst es während des Ballwechsels nicht berühren, auch nicht zufällig. Hinüberspucken wird auch nicht geschätzt, bei aller Niedertracht. Die Boshaftigkeit sollte nie vordergründig sein. Im Gegenteil, wenn du dem Gegner in den Bauch geschossen hast, oder wenn dein Ball gerade noch auf die gegnerische Linie gefallen ist, dann freut dich das höllisch. Das solltest du aber nicht zeigen, sondern dich dafür zerknirscht entschuldigen. Zügle deine Gemeinheit auch, bevor du den Gegner anlügst, sein Ball sei im Out gelandet. Ein ungeschriebener Ehrenkodex sieht unbeugsame Aufrichtigkeit vor. Bei engem Spielstand fällt das manchmal äußerst schwer. Und doch kommt es sehr selten vor, dass geschummelt wird. Sogar wer beim Fußball gegen sein besseres Wissen den Outeinwurf oder den Eckball für sich reklamiert, beim Tennis meldet er nur genau das, was er gesehen hat. Klar, es gibt optische Täuschungen. Unterliegt dein Gegner einer solchen, beginne nicht zu streiten, sondern rede dir ein, du hättest selber falsch gesehen. Einzige Ausnahme: du spielst gegen deine Frau. Wenn das nicht britisch ist…


Britisch hin, britisch her, Tennis macht unglaublich viel Spaß. Sogar, wenn man die Technik nicht systematisch gelernt hat, was jedenfalls empfehlenswert ist. Mit einer guten Technik gelingen einfach mehr gute Schläge. Aber auch ein Autodidakt wie ich kann durch viele Jahre Routine ein zufriedenstellendes Niveau erreichen, vorausgesetzt er bringt die nötige Portion Niedertracht mit. Eine gute Technik kann auch typische Tennisverletzungen verhindern helfen wie Tennisarm oder Knieprobleme. Ansonsten kann man Tennis betreiben bis ins hohe Alter. In der Jugend fördert Tennis die Entwicklung der Persönlichkeit, im Alter die Fitness. Und jederzeit das Einwickeln der Niedertracht in hübsches Geschenkpapier. 

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Auf der Piazza Iﹾ Maggio gab es einen großen Christbaummarkt. Wir kauften eine vier Meter hohe Tanne. Sie war länger als unser Uno. Durch die Heckklappe schoben wir den Baum bis vor zur Windschutzscheibe. Trotzdem ragte er hinten eineinhalb Meter über das Heck hinaus. Ich befestigte eine Plastiktasche am hintersten Ende. Dann erkämpften wir uns den Einstieg durch die Seitentüren gegen die dichten Zweige. Ich konnte durch die Zweige halbwegs erkennen, wo die Straße war. Aber von außen konnte bestimmt niemand sehen, ob sich neben dem Baum auch Personen im Wagen befanden. Ich musste an den Zeitungsartikel denken, den ich kürzlich gelesen hatte. Es ist schon Tradition, dass der Vatikan jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit von verschiedenen europäischen Regionen eine riesige Tanne oder Fichte geschenkt bekommt, die auf dem Petersplatz aufgestellt wird. Mit dem Transport über die Autobahn ist das so eine Sache. Selbst beim längsten zulässigen Tieflader ragt der Wipfel hinten noch ein Stück über die Ladefläche hinaus. Der letzte Christbaumtransport wurde von der Polizia Stradale gestoppt. Die Beamten stellten fest, dass der Baum zu weit über die Ladefläche hinausragte. Vatikan hin, Weihnachtsgeschenk her, die Weiterfahrt wurde untersagt. Die Konsequenzen wären teuer geworden. Sondertransport anmelden, Spezialfirma zum Begleitschutz anfordern. Da entschloss sich der Fahrer zur Problemlösung auf die brutale Art. Er nahm eine Säge und schnitt den Wipfel ab. Der Artikel verriet nicht, ob in diesem Jahr auf dem Petersplatz ein Baum ohne Wipfel prangte. Unser Wipfel war vorläufig noch dran, als wir über die Staatsstraße nach Hause fuhren. Es war schon dunkel und wegen der offenen Heckklappe auch kalt. Wo wir an Kreuzungen anhalten mussten, starrten die Menschen aus den Autos um uns ungläubig herüber. Fuhr Babbo Natale jetzt Uno?

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Ein leichtes Würgen in meinem Hals die ganze Zeit, während wir nach Venedig fahren. Kirsi kommt mit ihrem Freund Vesa über Weihnachten zu uns. Wir holen sie ab vom Flughafen Marco Polo. Das Würgen hält an auch auf der Rückfahrt. Rainer fährt. Meine kleine Kirsi erzählt von Ilkka. Er hat nach dem Verkauf unseres Hauses in Tarvasjoki ein kleineres Reihenhaus in Lieto genommen, nahe Turku. Eine Priesterin ist oft in seiner Nähe. Sie hat auch eine Tochter. Sanna hat eine eigene kleine Wohnung, auch in Lieto. Sie beginnt gerade ihr Studium. Pädagogik. Sie will Kindergärtnerin werden. Kirsi und Vesa haben einander beim Studium kennengelernt in Kuopio. Das liegt in Mittelfinnland. Vesa jammert die ganze Zeit, dass es da zu warm ist. Bei nächster Gelegenheit will er im rauen Norden weiter studieren. Kirsi macht das nichts aus. Es gefällt ihr im Norden. Sie studieren beide Forstwirtschaft. Vesa kommt aus Lappland. Seine Familie lebt seit Generationen in dem kleinen Dorf Kuosku. Kuosku ist auch der Familienname. Der Vater betreibt eine kleine Farm mit Rentierzucht. Am Ende des Winters sind die Männer alle auf Elchjagd. Gut möglich, dass ein Bär dazwischenkommt. Das Fleisch wird unter den Jägern aufgeteilt. Sie werden ein Jahr lang davon essen. 

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Ein letztes Aufflammen schmerzvollen Verantwortungsgefühls trieb mich nach Bozen zu Annamaria und Mario. Ich fuhr mit der Bahn. Zweimal umsteigen. Mestre und Verona. Die Züge waren voll. Alle wollten heim zu Weihnachten. Annamaria war weiterhin der Eisberg. Ich ging mit Mario in ein großes Spielwarengeschäft. Es war voll von Eltern mit Kindern, die ihre Geschenke schon vorweg ausprobierten. Mario gefiel es in diesem Paradies voller Wunder. Seine Vorlieben hatten sich nicht geändert. Autos waren immer noch sein Ein und Alles. Ein kleiner Rennwagen, in den er einsteigen und ihn durch Treten von Pedalen fortbewegen konnte, hatte es ihm besonders angetan. Ich sah ihn schon auf dem Parkplatz im Hinterhof der Via Milano herumsausen. Da stieg Mario wieder aus und machte ein trauriges Gesicht. Er sagte, er hätte den Flitzer schon einmal angeschaut mit seiner Mamma und dem Onkel. Onkel? Der Onkel hätte das Auto für ihn kaufen wollen, aber die Mamma hat es verboten. Mario war zu klein um mir zu erklären, warum. Ich verstand es auch so. Sie hatte zu viel Angst, wenn sie nicht eingreifen konnte. Mario suchte für sich dann ein kleines Spielzeugauto aus, so ein fantastisches, das es in Wirklichkeit nicht gab. Das Würgen in meinem Hals wollte nicht vergehen die ganze Rückfahrt hindurch. Nicht in Verona, nicht in Mestre. Es war auch noch da, als Soile mich umarmte auf dem Bahnhof von Codroipo. Irgendwann werde ich nicht mehr daran denken. Aber dann wird es wieder da sein, wenn der Hauch des Vergangenen sich meldet.

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Wir erwarten Rainers Mutter, auch über Weihnachten. Für sie wäre Weihnachten noch deprimierender gewesen, allein in Wien jetzt, da die Oma nicht mehr ist. Trotz aller Leiden ist sie stark genug, um sich mit dem Hund auf die Reise zu machen. Rainer kommt erst am Abend aus Bozen. Kirsi und ich holen Mama in Udine von der Bahn ab. Der Hund ist ein Irish Setter, ein ziemlich großer Rüde, rot, schlank, lockig an den langen Ohren und an den Hüften. Er heißt Lampo. Weil er so schnell läuft wie der Blitz. Trotz der feuchten Kälte hechelt er die ganze Zeit, sodass die Scheiben im Auto beschlagen. Hier schneit es selten. Für ein besseres Weihnachtsgefühl bastelt Kirsi Schneeflocken an alle Fenster. Sie reiht kleine Wattebällchen an Schnüre und hängt sie vor die Scheiben. Ein einfacher Trick, aber wirksam. Trotz der imaginären Kälte, die sie vermitteln, wird der Raum doch wärmer. Sobald Rainer gekommen ist, stellen wir die Tanne auf in der Mansarde. Der Stamm passt nicht in das Kreuz. Wir müssen ihn bearbeiten. Der Baum reicht dann wirklich bis in den Dachgiebel. Aufgeputzt wird morgen. Heute wollen alle schlafen.


Rainer schläft noch. Ich werde wach, als Mama mit dem Hund aus dem Haus geht. Ein Hund ist ein Sozialgenerator. Dazu ist Lampo in Italien besonders auffällig. Mama führt ihn durch Rivolto. Dadurch hat sie schon bald mehr einheimische Bekannte als wir je haben werden. 

Mama spricht kein Italienisch. Mit ihrem gestischen Können verständigt sie sich trotzdem problemlos mit allen, die das wollen oder wenigstens vielleicht wollen. Mit den Hausfrauen, die vor der Haustür die Scopa schwingen, mit dem Pensionisten, der vom Bäcker il Pane geholt hat, mit dem jungen Arbeitslosen, der aus seinem alten Auto einen großen Altoparlante ins Haus trägt, mit dem Barista, der gerade sein Lokal aufsperrt, mit der Postlerin, mit dem Parroco, der vor der Kirche aus seinem Auto steigt, mit dem Sohn des Bäckers, der etwas Deutsch kann, weil er in Monaco (München) gearbeitet hat, mit Loredana und ihrem Vater, mit den anderen Nachbarn weiter oben in der Straße, die jedes Mal, wenn sie uns erblicken, freundlich „Fantas!“ rufen (Friulanisch für ‚Kinder‘). Sie überhäufen uns mit Kakifrüchten, die in ihrem Hinterhof wachsen. Die schmecken uns überhaupt nicht, aber die Nachbarn freuen sich, wenn wir sie annehmen. Während ich Frühstück mache, kommt Kirsi mir zu helfen. Niemand von uns vieren ist religiös. Trotzdem hat Weihnachten etwas Feierliches. Das ist schon jetzt zu spüren und wird den Tag über an Intensität noch gewinnen. Es ist selbstverständlich, dass ich für das Abendessen das vorbereite, was es bei uns in Finnland gegeben hätte. Matjeshering und kalt geräucherten Lachs, dann gebratene Lachsfilets mit Kartoffeln und Salaatti und als Dessert Kiisseli.

Die meiste Arbeit macht der Salaati. Rote Rüben werden gekocht, auch Kartoffel und Karotten, alles wird sehr kleinwürfelig geschnitten und mit ebenso fein geschnittenen Zwiebeln, Essiggurken und Äpfeln gemischt. Als Dressing kommt Schlagobers, gefärbt mit dem Saft von den Roten Rüben. Kirsi hilft dabei wie damals in Tarvasjoki und bäckt nebenbei Pulla (Gebäck aus Germteig). Nebenbei schaut sie oben in der Mansarde nach dem Rechten. Rainer und Mama putzen den Baum auf. Mama hat etlichen Schmuck aus Wien mitgebracht. Hauptsächlich billige chinesische Importware. Die Chinesen, die das angefertigt haben, werden sich gewundert haben, wozu das gut sein und wer so etwas brauchen soll. Wir haben dazu ein paar Glaskugeln gekauft, auch Lametta und elektrische Kerzen. Kirsi bastelt glitzernde Kreationen aus Stanniol. Behängen darf nur Rainer. Er betreibt es wissenschaftlich. Prüft jeden einzelnen Hängeplatz aus verschiedenen Perspektiven, verwirft ihn, hängt neuerlich. Mama ist verzweifelt. Bei ihr ginge das ruckzuck. Sie leidet. Vor allem, weil sie schon so gespannt ist auf die Bescherung. Nicht, dass sie etwas für sich erwartet. Nein, ihre Spannung richtet sich darauf, die Freude der Anderen zu erleben, die sie mit ihren unzähligen Päckchen beglücken will. Jetzt ist es schon fünf vorbei und Rainer hängt noch im unteren Drittel herum. Er hat unten angefangen, weil noch nicht klar ist, wie er das oben machen wird. Unsere Haushaltsleiter ist viel zu niedrig, um die Spitze zu erreichen. Wenn er scheinbar nicht hinsieht, hängt Mama selber rasch ein Stück an einen Ast. Natürlich bemerkt es Rainer. Er brüllt. Nein! Das passt dort gar nicht! Er nimmt das Stück wieder ab, ist unschlüssig, wohin damit. Klar, sein Gedanke war ja gerade damit beschäftigt, einen guten Platz für ein ganz anderes Stück zu finden. Jetzt hat er plötzlich zwei in der Hand. Schließlich hängt er das Stück an die Stelle, die Mama zuvor geeignet erschienen ist. Stress pur.

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Ich habe Besuch in meinem Stall. Kirsi unterbricht meine Einzelhaft in diesem rauhen Kerker. Sie hat sich einen Campingstuhl mitgebracht. Sie öffnet den Deckel und streichelt sachte über meine Tasten. Was für ein Ereignis! Nach so langer erzwungener Abstinenz darf ich wieder einmal tönen. Hätte ich Tränen, jetzt würde ich sie weinen. Nun eröffnet sich mir der Sinn hinter meinem Dasein in dem Stall. Bethlehem ist zwar nicht um die Ecke, aber in Kirsis Liedern. Sie spielt und singt Weihnachtslieder. Mir unbekannte finnische und allgemein bekannte, auch in Finnisch. Sie spielt korrekt. Ich weiß nicht, wie verbreitet Klaviere in den finnischen Haushalten sind, aber ich habe Rainer erwähnen hören, daß in den Wohnungen Kirsis und Sinikkas Pianinos vorhanden seien, bei Sanna ein elektronisches. Sanna und Kirsi seien sehr geschickt im Umgang mit ihnen, begleiten sich problemlos selber oder andere beim Liedersingen. Das soll ihnen Rainer erst einmal nachmachen! Kirsis Weihnachtsmusik dringt aus dem Viehstall durch die fensterlose Öffnung in den Innenhof und von da durch die Hoftür hinein in die Küche, wo Soile tief bewegt innehält beim Vorbereiten des Mahls, und steigt weiter hinauf durch ein offenes Fenster in die Mansarde, wo Mama und Rainer den Baum schmücken. Meine Musik zieht aber auch an diesem Fenster vorbei immer aufwärts bis hinein in die Dämmerung der nahenden Weihnacht.

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Kirsi unterbricht den Baumputz mit Kaffee und Pulla. Rainer meint, wir würden später viel bequemer sitzen, hätten wir das Sofa hier oben, das sich noch im Esszimmer befindet. Nach dem Kaffee begeben sich wir vier Möbelpacker zum Sofa und stoßen, ziehen, keuchen, fluchen es die gewundene Stiege hinauf Richtung Mansarde. Erst in der Kurve vor dem zweiten Stock bleibt es stecken. Das Stiegenhaus ist zu eng. Kirsi liegt halb unter dem Sofa auf den Stufen und kann sich nicht mehr befreien. Den Versuch nach oben müssen wir abbrechen. Immerhin gelingt es uns mit vereinten Kräften, das Möbel wieder ins Erdgeschoß zu schleppen. Aufgegeben wird aber nicht, kündigt Rainer an. In seinen Augen leuchtet ein Plan. Von den Bauarbeiten hängt hofseitig noch ein Seil herab. Es läuft unter dem Dachvorsprung über ein rostiges Rad. Rainer will das Sofa mit dem Seilzug hochziehen. Ich bin dagegen. Das wird in einer Katastrophe enden. Außerdem passt das Sofa nicht durch die kleinen Mansardenfenster. Aber – schrecklich - Rainer hat eine Idee. Er könnte unseren Widerstand vielleicht zerstreuen, würde er uns den Plan verraten. Das tut er aber nicht. Wir bugsieren das Sofa in den Hof an das Seil heran, schlingen das untere Ende des Seils zweimal um das Sofa. Rainer holt eine lange Schnur, geht damit auf die Dachterrasse über dem Bad, lässt die Schnur in den Hof hinunter, wo Kirsi es an den Schlingen um das Sofa befestigt. Rainer bindet das obere Ende der Schnur an der Terrasse fest. Dann gesellt er sich zu uns in den Hof und wir ziehen am freien Ende des Seils. In Schritten von einem halben Meter steigt das Sofa in die Höhe. Mama und ich schauen des Öfteren bang hinauf, ob das Sofa nicht noch schneller wieder herunterkommt. Wer weiß, ob das Rad unter dem Dach hält. Das Rad denkt, bevor das Sofa nicht ganz oben angekommen ist, gebe ich sicherlich nicht nach. Das Sofa ist jetzt oben angekommen und das Rad beginnt zu überlegen. Wir kommen ganz schön in Schwierigkeiten, als Rainers Zugkraft uns verlässt. Er rennt hinauf auf die Dachterrasse. Dort zieht er an der Schnur, die am Sofa hängt und versucht, das Sofa Richtung Terrasse zu bewegen. Zum Glück ist die Aufhängung des Rades beweglich, sonst hätte das keine Chance. Aber schau an, das Rad dreht sich seitlich und das Sofa schwebt zur Terrasse hinüber. Natürlich müssen wir hier unten unser ganzes Gewicht, alle unsere Kräfte aufwenden, das Sofa in der Höhe zu halten. Es hat seinen eigenen Willen und würde nur zu gerne wieder zu uns herunterkommen, insbesondere als es bemerkt, dass es jetzt auch noch seitlich baumeln soll. Auch Rainer oben hat seine Probleme. Es würde mich nicht wundern, wenn er von der Terrasse fiele. Aber er schafft es. Als das Sofa mit einer seiner Schmalseiten auf der Terrasse aufliegt, ist das Schwerste überstanden. Mit einem Ruck zieht Rainer auch das obere Seitenteil Richtung Terrasse, worauf das Sofa mit einem Krach dorthin fällt. Mein Gott, es liegt wirklich dort oben. Das Seil und die Schnur abmontiert und das Sofa durch die Terrassentür in die Mansarde, das geht fast schon von selbst. Aus Mamas Schlafzimmer höre ich acht Schläge vom Schlagwerk ihrer Westminster Uhr. Vom Kassettendeck kommen Weihnachtslieder. Rainer hängt jetzt am zweiten Drittel der Tanne. Er steht auf der kurzen Leiter. Mama reicht ihm die Schmuckstücke. Sie kann ihre Nervosität kaum noch beherrschen, hängt selber immer wieder etwas an einen Zweig und bleibt von Rainer ungerügt. Ich bereite mit Kirsi den Tisch vor. Wieder das bewährte System mit der alten Tür über die zwei Umzugskartons. Wenn ich mir die Fortschritte am Baum so ansehe, frage ich mich, wann es Zeit fürs Essen sein wird. Ob das heute noch ist?

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Ich mache die Runde mit Lampo. Was mach ich da, in diesem menschenleeren fremden Kaff? Im Haus die fremde Frau mit ihrer fremden Tochter. Sogar der Sohn ist fremd. Soile bemüht sich lieb sein zu mir. Das Mädchen ist warm und herzlich. Aber fremd. Ich bemühe mich lieb sein zu ihnen. Hoffentlich bemerkt keiner die Mühe. Das erste Mal ohne Mamma. Das elfte Mal ohne Tino. Für mich ist’s, als wär’s das erste Mal. Am sehrsten! – Nein, Lampo. Geh net zu dem schiachen Busch. Ist ja voller Dornen, siehst das net? - Maria durch ein‘ Dornwald ging. Hat mir Rainer geschenkt, eingerahmt, die Noten von ihm geschrieben. Kann mir also doch nicht so fremd sein? Im Haus das Christbaumchaos. Wie sich Mamma gefreut hätte über einen so großen Baum! Sie hat große Christbäume geliebt. Wir haben nie große Christbäume gehabt. Meistens sogar kleine und schrumpelige. Damals, als Rainer schon gewusst hat, dass nicht das Christkind die Christbäume bringt, haben wir ihn mitgenommen, den Baum zu kaufen. Ich habe vorgehabt, für Mamma zum ersten Mal einen großen zu nehmen. Aber Rainer hat den hässlichsten Baum ausgesucht, der auf dem Markt zu finden war. Klein, verkrüppelt, eine Jammergestalt. Wir haben ihm den Baum ausreden wollen, aber er hat auf diesen schrecklichen bestanden. Wer sonst würde dieses Krispindl nach Hause in die warme Wohnung nehmen, hat er gesagt. Wenn wir ihn hierlassen, wird er keine Weihnachten haben, niemals Lichter tragen und ganz umsonst gestorben sein. Und jetzt, diese Pracht von einem Baum. Zu spät, Mamma. Und um welchen Preis. Es wird noch Stunden dauern, bis Rainer mit dem Aufputz zufrieden ist. 

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Als Mama mit Lampo zurückkommt, erlebt sie den nächsten Schreck. Rainer sitzt auf dem Dachbalken, der nahe an der Tanne vorbeigeht und hängt von da aus immer mehr Stücke auf. Mit einer Hand hält er sich an dem Balken fest, lehnt sich hinüber zum Baum und hängt mit der andern den Schmuck auf. Jane Goodall hätte ihre reine Freude mit ihm. „Mein Gott, Rainerle, wenn du da runter fallst“ jammert Mama. 

Rainer fällt nicht runter. Aber seine Hose bekommt einen langen Riss ab, weil aus dem Balken ein Span hervorsteht. Mama dreht durch. „Komm oba da! Sofort desinifiziern!“ Ihr Befehl klingt verzweifelt. „Na, i halt das net aus! Können ma net einfach Weihnachten feiern, in Ruhe und von mir aus ohne Bam?“ schluchzt sie. „Desinfizieren? Was denn? Ist ja gar kein Blut da!“ meldet Rainer vom Balken. Ein wenig Blut ist doch an der Hose, aber das macht nichts. Die ist ohnedies hinüber.


Es ist weit über Mitternacht. Jesus ist schon mehr als eine Stunde alt. Wohl zu der halben Nacht. Alle sind erschöpft wie Maria und Josef. Das Kind schläft ruhig. Lächelnd. Mama schafft es, uns zu überzeugen, die Bescherung vor dem Essen vorzunehmen. Die Päckchen liegen alle unter dem Weihnachtsbaum. Die meisten sind von Mama. Man sieht, mit welcher Ungeduld sie gepackt wurden. In den Päckchen für Kirsi und Soile sind Handarbeiten, meistens von Mamma. Ein Familienschmuckstück für Soile, für mich Manner-Leberknödel, Unmengen davon, gezuckerte Kondensmilch, lange Unterhosen, Ovomaltine und in einem kleinen Köfferchen was von meiner Märklin-Modellbahn noch übrig ist. Mama bekommt ungarische Salami, Bären-Milch, ein Buch über den Umgang mit Trauer und einen Panettone. Ich bin fix und fertig. Vesa freut sich über eine Flasche Whisky. Er gießt uns allen ein. Das Anstoßen bringt den überraschendsten Augenblick des Fests mit sich. Vesa verkündet seine Verlobung mit Kirsi. Ob er Ilkka gefragt hat, weiß ich nicht. Soile und mich jedenfalls nicht. Es wäre allerdings auch nicht nötig gewesen. Niemand von uns hätte Einwände gehabt. Und ich wäre der Letzte gewesen, dem welche zugestanden wären.

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Mit einem der Sachverständigen haben wir uns befreundet. Geom. Lippi ist ein alter Herr, etwa Mitte siebzig, hager. Rainer hat ihn in seinem Büro an einer Ecke der Piazza Garibaldi kennengelernt. Das Haus ist bestimmt älter als Garibaldi. Das Büro befindet sich im zweiten Stock. Das Inventar ist spartanisch wie Lippis Gesichtszüge und spärlich wie sein weißes Haar. Die Möbel dürften sich zu Garibaldis Zeiten schon dort befunden haben. Grobschlächtiger Tisch einer Herrenhausküche, geschnitzte Vitrine mit wenigen Akten, zwei Barocksessel, von allen ist die Politur längst ab. Ein antiquiertes Reißbrett neben dem vorhanglosen Fenster. Eine Skizze ist noch dran, man kann aber nicht ausmachen, was es einmal werden sollte. Rainer liebt Lippi. Filippino. Etwas davon dürfte auf Geom. Lippi abgefärbt haben. Lippi ist verheiratet. Ein rüstiges Paar. Sie leben im Norden der Stadt in einer alten Stadtvilla mit etwas Garten rundum. Ein Sohn und eine Tochter besuchen sie ab und zu. Man kann vermuten, zu selten. Aus irgendeinem Grund haben die beiden betagten Leute Gefallen an uns gefunden. Ein wenig mehr Leben kommt wohl durch uns in ihre Tage. Wir laden sie zu Silvester zu uns nach Rivolto. Kirsi ist bei uns mit ihrem Freund Vesa. Mama ist auch bei uns mit Lampo. Schön international die Runde. Die Lippis hören gern von Finnland und von Österreich. Obwohl es so nah ist, sie können nicht hinfahren. Lippi hat keinen Reisepass und keinen Personalausweis. Er lässt sich kein Reisedokument ausstellen. Aus Prinzip nicht. Es missfällt ihm, dass da eine Grenze ist und er sieht nicht ein, wieso er sich da kontrollieren lassen soll. Aufträge bekommt er nur noch spärlich von den Versicherungen. Die bezeichnet er übrigens als Schweinebande. Mehr Beauftragungen wünscht er sich aber auch nicht. Zusammen mit der Pension reichen die wenigen ganz gut aus und bringen etwas Abwechslung ins Seniorendasein.

Silvesteressen. Wurst- und Käseaufschnitt, Lachs, kalt und warm geräuchert, sowie verschieden eingelegte Matjes als Vorspeisen, danach Schweinebraten (Stück vom Schinken, im Ofen langsam gegart). Zu allem gibt es Salaatti, das das gesamte Mahl begleitet. Dann kommt Kläppi. Das finnische Horoskop zum Jahreswechsel. Einige kleine Gegenstände repräsentieren Ereignisse, von denen man annimmt, sie könnten mehr oder weniger erwünscht sein für die Zukunft. Eine Münze etwa steht für Geld, ein Modellauto für einen neuen  Wagen,   ein  Schlüssel  für  eine neue  Wohnung oder ein Haus oder sonst etwas zum Aufsperren, ein altes Ticket für eine Polizeistrafe, ein Stück Brot für genug zu essen, ein ausgeschnittenes Zeitungsinserat für einen neuen Job, ein Ring für eine Verlobung oder Hochzeit, ein Schnuller für Nachwuchs. Rainers Vorschläge, einen Floh für Sprunghaftigkeit, eine Spargelspitze für Potenz, ein Pin-up-Foto, werden von Lippi lebhaft unterstützt, von den Damen aber entrüstet abgelehnt. Woher sollte man auch so rasch einen Floh nehmen? „Sag’s nicht!“ warne ich Rainer, der schon den Namen Ugolinos aussprechen will. Die Gegenstände werden außer Sichtweite der Gesellschaft zufällig ausgebreitet und einzeln mit Kaffeetassen zugedeckt. Dann kommt ein Proband nach dem andern ans Orakel und darf drei Tassen lüften. Das macht sein Leben im kommenden Jahr einigermaßen absehbar. Gespannt wird man das ganze kommende Jahr auf das Eintreffen der Prognosen warten. Alle Ergebnisse werden penibel aufgeschrieben und jenen Verwandten, die nicht anwesend sind, mitgeteilt. Für diese befragen übrigens Ersatzpersonen das Orakel. Später wird man sich darüber austauschen, inwiefern die Wahrsprüche übereinstimmen. Dass Rainer ausgerechnet den Ring abdeckt, beunruhigt ihn und mich gleichermaßen. Vielleicht hätten wir doch das Pin-up nehmen sollen. Und was soll ich mit dem Baby? Rainer behauptet, er hätte gern eins von mir. So ein Quargel! In unserem Alter!

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Den Montag haben wir wieder bis lang in die Nacht hinein gearbeitet. Die Feiertage um Weihnachten und Silvester müssen aufgeholt werden. Morgen, an meinem Geburtstag werde ich mir gönnen auszuschlafen, und sei es bis Mittag. Es ist mein fünfzigster. Da wird man sich so einen Luxus einmal leisten dürfen. Dazu muss man wissen, dass ich Geburtstagen kaum Bedeutung beimesse. Man gratuliert dir und du wirst gefeiert, als hättest du eine außergewöhnliche Leistung vollbracht. Dabei hast du nur das Glück gehabt, nicht an einem deiner Schmisse zugrunde gegangen oder von einem der vielen anderen frei herumlaufenden Wahnsinnigen, seien es einzelne oder Massen, aus dem Weg geräumt worden zu sein. Noch nicht. Es kann aber jederzeit passieren. Kaum je war es die Leistung des Jubilars, wenn er den jeweiligen Geburtstag noch erlebt. Wozu also das Tamtam?

Um sieben Uhr früh wecken mich seltsame Geräusche. Unser Schlafzimmer ist voller Leute. Bin ich gestern im Wartesaal eines Bahnhofs eingeschlafen? Ich höre Mamas Grabesstimme. „Sieben Uhr!“ Ich komme nicht dazu zu protestieren. Ein Damenchor und ein Baritonsolist singen “Happy birthday to you”. Es klingt ziemlich dünn und kleinherzig. Wahrscheinlich sind sie unsicher, ob es eine gute Idee war, mich zu wecken. Soile trägt einen Teller vor sich her, darauf eine Torte mit einer brennenden Kerze. Vor dem Ende der vorletzten Zeile verläuft der Gesang sich im Nichts, vielleicht weil ich mich umwende und endlich meine Augen überzeugen kann, sich zu öffnen und mein Blick ziemlich finster ausgefallen sein dürfte. Auch sonst muss mein Anblick nicht erfreulich gewesen sein, plötzlich aus tiefem Schlaf gerissen, ungewaschen, unrasiert, ungekämmt. Wenigstens bin ich gestern - oder war es schon heute? - mit einem Pyjama ins Bett gegangen. Warum, weiß ich auch nicht genau. Seit ich mit Soile zusammen bin, habe ich mir angewöhnt, nackt zu schlafen. Die Ungeduld macht das Ausziehen zu kompliziert, so wie die Faulheit das wieder Anziehen. Soile stellt die Torte neben mich aufs Bett sowie ein schön verpacktes Geschenk. Ich spüre Zorn in mir aufsteigen. In mir singt Max

„Doch mich umgarnen finstre Mächte!

Mich fasst Verzweiflung! foltert Spott! -

O dringt kein Strahl durch diese Nächte?

Herrscht blind das Schicksal? Lebt kein Gott?

Mich fasst Verzweiflung! foltert Spott!“


Mein Wutschrei muss eindrucksvoll sein, denn diese Ständchensinger hüpfen behände aus dem Zimmer.


Klar, dass an Schlaf nicht mehr zu denken ist. Nach einer kurzen Abkühlphase gehe ich ins Bad, mache aus dem Fünfundsechzigjährigen den Fünfziger, der mir gebührt, ziehe mich leger an und finde meine verdatterte Frau in der Küche. Es sei alles Mamas Idee gewesen, Soile habe versucht, ihr das auszureden, es habe aber alles nichts genützt, Mama habe auf die Überraschung bestanden und ihrer finnischen Truppe den Einsatzbefehl erteilt. Beim Frühstück treffen wir alle zusammen. Die Stimmung ist eisig. Mama ist gekränkt. Kirsi und Vesa stehen unter Schock. Ich glaube, sie sind knapp daran, ihre Verlobung wieder zu lösen. Wenn das später so wird?


Ich öffne das Päckchen. - Jö, eine Armbanduhr! Seit vielen Monaten trage ich keine mehr, seit das Armband kaputt gegangen ist. Sie fehlt mir aber keineswegs. Im Gegenteil, ohne Uhr komme ich mir viel freier vor. Heute gibt es überall Uhren. Im Haus sowieso. Da schlägt sogar Mamas Spieluhr halbstündlich den Big Ben. Im Auto, in der Stadt an jeder Ecke und in jedem Lokal sind Uhren. Da muss ich nicht auch noch eine am Handgelenk tragen. Meine Termine halte ich trotzdem relativ pünktlich ein. Ich habe also beschlossen, ohne das scheinbar unverzichtbare Accessoire auszukommen.


Und jetzt, eine Armbanduhr! Meine Laune wird heute nicht mehr besser. Vielleicht hat Soile mir nicht geglaubt, als ich ihr von den Vorteilen der Uhrlosigkeit erzählte. Sie hat wohl vermutet, ich sage das nur zum Trost, um Geld zu sparen. Da hätte ich aber einfach ein neues Uhrband kaufen können. An einen schweigsameren Geburtstag kann ich mich nicht erinnern. Nicht einmal, wie die Torte geschmeckt hat, könnte ich noch sagen.

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