worin vorkommen: Lieto, Schweden, Argentinien, Turku, Schladming, Berlin, Sachsen, Naantali, Kapellskär, Stockholm, Malmö,
die Oresundbrücke, Kopenhagen, Rꬾdbyhavn, Puttgarden, Kiel, Hamburg, Wien, Ernst Hans Richter, Artuoro Toscanini, Ladislav Novacek,
Jack London, die Versicherungen Trygg Hansa, Top Danmark, Almänna Brand, Codan A/S, Provinzialbrandkasse, Iduna, Transatlantische, Schwarzmeer-Ostsee, Interunfall, Kravag, Bremen, DVG Securitas, Bremen, Hannover, Concordia, sowie meine Erfolgsstory als Gymnasiallehrer in Finnland
Habe ich es mit den Flugplätzen, so hat Soile es mit den Richtern. Ilkka war einer, ich bin einer, und jetzt ist auch Soile eine. Kanerva-Richter. Schön!
Aus Sinikkas Bett führt uns die Hochzeitsreise auf Sannas Luftmatratze. Das Faszinierendste an der kleinen Studentenwohnung in Lieto ist Sanna selbst. Nicht mehr Mädchen, noch nicht Frau, zart, blond, selbstbewusst, künstlerisch talentiert. Beim Singen scheint sie die Töne mit dem Gesicht zu bilden, besonders die höheren, denn abhängig von Gefühl und gesanglicher Schwierigkeit verzieht es sich grotesk. Wenn es beginnt sich zu verziehen, beginnt der Ton zaghaft, als wäre es ein Versuch. Und wenn der Ansatz kein Irrtum war, dann schwillt die Stimme an und der Gesichtsausdruck lockert sich. Versuch und Irrtum, mir scheint Sanna wird ihr ganzes Leben nach diesem Lernprinzip ausrichten.
Das Zweitfaszinierendste ist ein Kiosk gegenüber dem Wohnbau. ‚Liha Pulla Pirtti‘ steht auf dem Dach. Das bedeutet ‚Fleischlaberl-Hütte‘. Die Fleischlaberl sind hier klein und rund. Wie in Schweden Köttbullar. Na gut, Fleischklöße. Aus einem für mich nicht nachvollziehbaren Grund schmecken mir diese Fleischknödel besonders gut. Ich könnte alle zehn Minuten in das Pirtti gehen, um neue zu kaufen.
Sannas Boyfriend Pirkka passt gut zu ihr. Nicht mehr Bursche, noch nicht Mann, von netter, gewinnender Art. Zur Abendunterhaltung schlagen sie uns ein Tanzlokal vor. Pirkka fährt uns ein gutes Stück durch die Gegend. Das Tanzlokal befindet sich in einem abgelegenen Gehöft. Als wir ankommen, ist es in vollem Betrieb. Sehr gut besucht. Wir finden aber noch einen Tisch im Halbdunkel. Die Musik kommt aus der Konserve. Discosound, aber zwischendurch auch Humppa (Geh- und Wechselschritttanz im 2/4-Takt, entwickelt in den späten 1950er-Jahren aus dem One-Step und dem Two-Step). Im Humppa fand ich (als Tanzbanause) eine Ähnlichkeit mit der Polka. Dann auch Fox, Walzer, Lamourhatscher und natürlich Tango. Tango natürlich? Tango würde man natürlich mit Argentinien in Verbindung bringen. Argentinien und Finnland, einen extremeren Gegensatz möchte man sich nicht vorstellen. Und doch ist die Begeisterung der Finnen für den Tango so enorm, dass manche ihn als ihre Nationalmusik bezeichnen. Tatsächlich habe ich im Zentrum von Turku ältere Pärchen beim Tangotanzen gesehen. Abgeleitet vom argentinischen Tango haben sie ihm ihre finnische Note aufgeprägt. Mehr Moll und absteigende Linien. Wenn die Finnen heute Tango tanzen, sind es nicht die kunstvollen südamerikanischen Figuren. Meistens bleibt es beim Grundschritt. Dem folgen sie bedächtig in gravitätischer Haltung. Experten betrachten heute den Finnischen Tango als eigenständigen Stil.
Ich werde mich später oft fragen, weshalb der Versuch dieses Tanzabends sich als Irrtum herausgestellt hat. Mit meiner frischgebackenen Ehefrau und zwei jungen, aufgeschlossenen Menschen an einem Tisch, das Gespräch müsste nur so fließen! Ist es der laute und überwältigende Discolärm, der die Konversation unterbindet? Oder bin ich schon nervös wegen morgen? Da wartet etwas Ungeheuerliches auf mich. Ein Auftritt, der mir schon heute die Haare zu Berge stehen lässt. Jedenfalls, Gespräch kommt keines auf und ich tanze auch nicht. Sanna geht ein paar Mal mit Pirkka. Ich sitze schweigend neben Soile. Den ganzen Abend. Ich glaube, alle ärgern sich über mich. Ich auch.
Ich bin zu einem Vortrag unterwegs. Er soll an Kirsis Schule stattfinden, sogar in Kirsis Klasse, das Jahr vor der Matura. Das Blöde ist, der Vortragende soll ich sein. Irgendwie hat Kirsi ihre Deutschlehrerin dazu überredet, ihren österreichischen Stiefvater einen Vortrag halten zu lassen. Ich habe mir dazu ein musikalisches Thema ausgedacht. Der Komponist Ernst Hans Richter und seine Musik. Noch in Rivolto habe ich die Tonkassette ausgesucht, die Aufnahme der Rundfunksendung zu Tinos sechzigstem Geburtstag mit einem Querschnitt durch die Aufnahmen im Archiv. Kurz nach dieser Sendung war im Archiv nichts mehr von Tinos Musik vorhanden. Alles gelöscht. Platzmangel, angeblich. Mama hat nachgefragt. Die Bänder waren alle noch Mono, haben sie gesagt. Heute spielen sie nur noch Stereo. Gilt das auch für Beniamino Gigli? Ausrede für Dumme. Was nützt Tino dieser späte Triumph, seine Geschichte und seine Musik im Lehrplan einer finnischen Mittelschule. Die hohe Meinung, die er immer von den Finnen gehabt hat. Ich finde mich pünktlich ein, genauso wie das Lampenfieber. Die Schule, ein moderner Zweckbau. Kirsi begrüßt mich, stellt mich der Lehrerin vor. Ich erkläre ihr kurz den Inhalt des Vortrags. Sie schaut mich an, als wollte sie sagen, da haben Sie sich was Tolles eingebrockt. Eine Klingel, genauso wie seinerzeit im RG VIII, läutet die Unterrichtsstunde ein. So fühle ich mich auch. Wie vor einer der gefürchteten Redeübungen. In der Klasse befinden sich etwa zwanzig Mädchen und Burschen, die Mädchen in der Überzahl. Die Lehrerin stellt mich kurz vor, während ich versuche, mich mit der Funktion des Kassettenrekorders vertraut zu machen, den Kirsi mitgebracht hat. Ich lege los, erzähle über Tinos Werdegang in Berlin, die Engagements in Sachsen, wie er, als schon Krieg war, sich mit der Soubrette liiert hat, wie … - Augenblick, was ist da los in der Klasse? Was murmeln die da miteinander in zunehmender Lautstärke? Hat das etwas mit meinem Vortrag zu tun? Bin ich zu leise? Zu schnell? Zu undeutlich? Zwischen den Abschnitten spiele ich Musik. Sie kommt kratzig vom Rekorder, laut und dumpf wie aus einem Megaphon. Darüber könnte man wohl murren. Während der ersten Musikstücke bemühe ich mich, die Tonqualität an dem Gerät zu verbessern, und merke daher wenig von dem Gemurmel. Jetzt aber, da es mir während meines Vortrags aufgefallen ist, beobachte ich es besser während des nächsten Musikstücks. Ich sehe, dass die Schüler und Schülerinnen Unterlagen vor sich ausgebreitet haben, die sie eifrig, wenn auch flüsternd, diskutieren. Ich glaube, die bereiten sich gerade vor auf die Mathematikprüfung in der nächsten Stunde. Die Lehrerin sitzt an ihrem Tisch und liest irgendwas. Das Bienenstockgesumme fällt ihr nicht auf, oder es ist ihr egal, oder der Krimi ist so spannend. Nur Kirsis Blick sehe ich auf mich gerichtet, was sie nicht daran hindert, ab und zu ein kurzes Statement seitlich in Richtung ihrer Mitschüler abzugeben. Haben die den Vortrag nur organisiert, um Gelegenheit für das Nachholen von Hausarbeiten zu bekommen, die beliebteren Aktivitäten zum Opfer gefallen sind? Ich baue in meinen Text eine humorvolle Aufforderung zur Aufmerksamkeit ein. Das fruchtet gar nichts, weil kein Mensch zuhört. Die sind ganz woanders. Ich schalte den Rekorder aus mitten in einer Musik und sage nichts mehr. Der Eine oder die Andere schaut auf von der Gruppenarbeit, aber nur kurz, um sich gleich darauf wieder in sie zu vertiefen. Ich spüre Wut in mir aufsteigen. Im nächsten Augenblick werde ich den Rekorder packen und gegen eine Wand schmeißen. Ich werde mein Manuskript zerfetzen, die Schnitzel in die Luft werfen und die Schule verlassen, nicht ohne die Türen hinter mir knallen zu lassen. Toscanini bei der Probe fällt mir ein. „Vergognaaa!“ Mein Gott, was heißt Schande auf Finnisch? Und Tinos Wut, als der Pianist seine Passage nicht und nicht korrekt bringen konnte. Keiner von den beiden hat die Partitur an die Wand geschmissen oder zerrissen. Ladi Novacek hätte es getan. Nicht aber Toscanini und nicht Tino. Ich schließlich auch nicht. Würden Kirsis Freundinnen sie in aller Zukunft bemitleiden für einen solchen Stiefvater? Würde es den Schülern nie wieder gelingen, die Lehrkräfte zu einer Ausnahme vom strengen Lehrplan zu bewegen? Würde ich nicht Österreichs Ruf auf Dauer beschädigen? Ich rede ruhig weiter. Aber ich ändere den Text und erzähle jetzt, scheinbar ohne jeglichen Zusammenhang mit dem Thema, von unserem Religionslehrer. Wie es uns manchmal gelungen ist, ihn dazu zu bringen, dass er den Lehrstoff sein ließ und uns stattdessen eine Geschichte von Jack London erzählte. Selbst dieser Schwenk fällt keinem in dieser Klasse auf. Ich bin mir nicht sicher, ob irgendeines dieser Youngster auch nur ein Wort Deutsch versteht. Es ist die Klingel, die der Beschäftigung der Klasse mit Trigonometrie ein allzu frühes Ende setzt.
Eine Nacht lang kann ich mich auf See erholen von meiner Kurzzeitprofessur. Zurück nach Schweden. Kirsi und Sanna mit Pirkka sind nach Naantali zum Kai gekommen, um Lebewohl zu sagen. Sie haben Soile eine kleine Stoffelefantin mitgebracht als Talisman für die Reise und für das Leben in der Fremde. Soile mag Elefantinnen, solange sie an Gewicht und Kubatur nicht ausufern. Elefant, wenigstens dieses Wort werde ich mir merken auf Finnisch. Elefanti. Fremdwörter finnisieren sie, indem sie ein i anhängen. Immer schön die erste Silbe betonen. Die Finnen sind ein Jambenvolk. Wir nennen unser Elefanti Elsa. Sie wird lange Jahrzehnte an den Windschutzscheiben unserer Autos hängen und uns erfolgreich vor den Folgen manches fatalen Blödsinns bewahren. Am Morgen legen wir in Kapellskär an. Der Hafen liegt hundert Kilometer nordöstlich von Stockholm. Durch Südschweden nach Malmö. Erste Bewährungsprobe für Elsa. Am nächsten Morgen Fortsetzung unserer Marketingtour. Bei der Trygg Hansa in Malmö empfängt uns Herr Jernhagen, ein Kollege, mit dem Soile sehr oft zu tun hatte. Sie reden schwedisch. Ich erkenne keine Anzeichen, die mir zu denken geben könnten. Danach besuchen wir auch die Top Danmark und die Almänna Brand. Die Öresundbrücke gibt es noch lange nicht. Mit der Fähre hinüber nach Kopenhagen. Tags darauf Besuch bei der Codan A/S, die damals noch die Kfz-Sparten abdeckt. Durch Dänemark hinunter nach Rødbyhavn, weitere Fähre nach Puttgarden. In Kiel die Provinzial Brandkasse. Weiter nach Hamburg. Iduna, Transatlantische, Schwarzmeer Ostsee, Interunfall, Kravag. Bremen, DVG Securitas. Hannover, Concordia. Nach dieser Elefantentour (Elefantimatka?) rasch nach Wien. Auch hier ein wichtiger Termin. Eros erwartet unsere Zähne. Die Reise nach Wien zu Eros lohnt sich immer. Mit Eros fühle ich mich noch mehr verbunden, seit ich demselben Club angehöre wie er. Auch er hat sich von seiner Frau getrennt, hat eine seiner Assistentinnen geheiratet, der Kindersegen ist reichlich und beglückend. Später, als für solche Ausflüge beim besten Willen keine Zeit mehr ist, müssen wir notgedrungen andere Zahnärzte aufsuchen. Keiner von ihnen wird uns so sanft und schmerzfrei behandeln wie Eros. Mit dem Umweg über Wien kommt unsere Hochzeitsreise doch noch zu dem ihr gebührenden erotischen Moment.
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