18 Peter Rubel

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Peter Rubel - Film Press Austria

worin vorkommen: Oostende, Dover, Gersthof, der Schafberg, Epsom, Edinburgh, das Wembley Stadion, die Wiener Börse, Neumarkt an der Raab, Carl Czerny, die 'Schule der Geläufigkeit', die Wiener Philharmoniker, Johann S. Bach, die 'Brandenburgischen Konzerte'', der 'Flohwalzer' (schon wieder), Theophil Hansen, Walter Schmögner, das 'Drachenbuch', Thomas Schmögner, Petra Werkovits, sowie eine Nachtwanderung durch London in polizeilicher Begleitung und meine journalistischen Erfahrungen

Mein Eintritt ins Berufsleben war fällig. Aber davor wollte, nein, musste ich noch einmal nach England. Diesmal nahm ich Eduard Blaschke mit, einen Freund, den ich beim Bundesheer kennengelernt hatte. Durch meine Vergangenheit war ich vor allem mit Kameraden von humanistisch-gymnasialer Ausrichtung in Kontakt gekommen. Angefangen von den Sängerknaben über die Schule bis zur Maturantenkompanie beim Bundesheer. Dort traf ich erstmals häufig auch auf vorwiegend junge Männer mit kürzerem Bildungsweg, also Hauptschule und anschließende Handwerksausbildung. Dass es einen Unterschied zu den Gymnasiasten gab, war klar spürbar. Ihre Ausdrucksweise war einfacher, der Händedruck härter, die Gewaltbereitschaft niederschwelliger, die Späße und das Lachen darüber waren gröber, die Kraftausdrücke noch drastischer, die Dialekte ausgeprägter. Dennoch fühlte ich mich unter ihnen nicht fremd, vielleicht weil auch sie mich nicht fremd fanden und weil ich mit dem Bubengymnasium gerade erst vorzeitig Schluss gemacht hatte.


Franz Brehm hatte zu diesen Hauptschülern gehört, ebenso Eduard Blaschke und Franz Sopper. Diese beiden waren aus Wien, wo wir unsere Bekanntschaft fortsetzten. Franz war Büchsenmacher geworden und hatte einen Job beim Beschussamt in Simmering gefunden. Edi hatte gerade gar nichts zu tun, also beschlossen wir beide, gemeinsam nach England zu hiken. Wir nahmen den Weg, den ich schon kannte, nach Oostende, und wieder mit der Nachtfähre nach Dover. Um vier Uhr früh, als wir uns der Kreideküste näherten, stand ich allein auf dem Deck im rauen und kalten Wind und ärgerte mich, dass Edi den wunderbaren Anblick verschmähte. Als wir der Landung nahe waren, verließ ich das Deck und fand Edi, wie er an einem Tisch im Buffet lümmelte und bei einem Kaffee das grandiose Schauspiel durch ein großes Fenster betrachtete.


Wieder lachten wir uns tot über die drolligen Vehikel aus dem vorigen Jahrhundert, als wir an der Straße nach London Position zum Autostoppen bezogen. Anders als das Jahr zuvor sollte die Reise nur für wenige Tage in die Hauptstadt gehen. Wir kamen bald in London an und quartierten uns zu allererst in einer der Jugendherbergen ein. Ich rief eine meiner Londoner Brieffreundinnen an. Yvonne Kevans-Rees freute sich, dass ich sie besuchen kam. Sie studierte Klavier am Royal College (oder der Academy?). Das disqualifizierte sie bei Edi, der schnurstracks in die Tiefen Sohos eintauchte.


Ich traf Yvonne noch an demselben Vormittag in der Stadt. Sie war eine füllige junge Frau mit reichlich Holz vor der Hütte. Sie versuchte, mit mir über Scarlatti zu reden, dessen Sonaten sie gerade übte. Scarlatti war im Repertoire der Sängerknaben mangels Chorliteratur nicht vorgekommen. Ich hatte daher zu diesem Thema nicht viel beizutragen. Trotzdem wollte sie unbedingt meine Meinung über ihr Spiel hören. Ich folgte ihr in einen Übungsraum der Uni und sie spielte mir eine Sonate vor. Trotz einiger Unterbrechungen fand ich ihre Darbietung wirklich bemerkenswert, nicht zuletzt weil diese Musik mitreißend und ausdrucksvoll ist. Sie freute sich über meine Zustimmung und bat nun mich, meinerseits etwas zu spielen. Das brachte meine eingelullten grauen Zellen zum Rattern.


Zwar hatte ich bei den Sängerknaben ein wenig hineingerochen in Bayers Klavierschule. Die Lehrerin war aber eine alte, vertrocknete Tante gewesen, die vor jeder Lektion versuchte, mir die Finger zu brechen, indem sie meine Gelenke verrenkte. Das hatte mir jegliches Interesse am Klavierspielen verdorben. Später hatte Tino versucht, mir etwas beizubringen. Auch so ein Desaster. Er hatte mir Czernys 'Schule der Geläufigkeit' vorgelegt, wohl weil er das Heft besaß und nicht kaufen musste. Das ist Literatur etwa fürs dritte Lernjahr. Egal, ab jetzt wurde geübt. Note für Note, lauter Sechzehntel, die ganzen Girlanden rauf und runter. So lange, bis ich die rechte Hand auswendig konnte. Ich glaube, es hat ein Jahr gedauert, bis das Zirkuskunststück zum ersten Mal ohne Absturz gelungen ist. Damit war aber noch gar nichts gewonnen, denn jetzt sollte es um Feinheiten gehen wie Anschlag, Phrasierung  und dergleichen. Am Ende konnte ich das Stück zwar nicht schön spielen, aber ich habe es in den folgenden fünfundfünfzig Jahren nicht vergessen.


Was also hätte ich spielen können, abgesehen von der einhändigen Czerny-Etüde oder dem Flohwalzer? Oben ratterte es. Meine Violinstunden fielen mir ein. Ein gealterter Philharmoniker hatte sie mir gegeben. Er wohnte am äußersten Ende von Gersthof, am Schafberg. Ich fuhr dorthin mit dem Fahrrad. Einige Wienerwaldausläufer hinauf, hinunter, wieder hinauf. Wenn ich ankam, waren meine Hände verschwollen, die Finger steif. Im Winter dazu eingefroren. So spielte es keine Rolle, ob ich geübt hatte oder nicht. Der Professor erzählte mir von den Wundertaten seiner Lieblingsschüler, die alle Philharmoniker geworden sind. Dann zahlte ich mit Mamas Geld und radelte zurück. Ich liebte das Radfahren. Die Violine war mir egal.


Schon war ich im Begriff, meine Violinkünste zu preisen, da sah ich auf einer Vitrine eine Geige liegen. Es hatte ausgerattert. Ich lehnte jeglichen Vortrag meinerseits strikt ab. Yvonne war enttäuscht. Ich sah ihr an, dass sie nachdachte, was wohl der Grund dafür wäre. Viel würde ich heute noch dafür geben, zu wissen, welche Schlüsse sie gezogen hat.


Yvonne schlug mir vor, am Abend mit ihr tanzen zu gehen. War mir sehr recht. Zwar war dafür meine strapazierte Autostopperkluft nicht das bestgeeignete Outfit, doch würde ich auch am Tag darauf über keine andere Kleidung verfügen und Yvonne machte das anscheinend nichts aus. Wir schlenderten durch die Stadt, aßen Fish and Chips, Yvonne zahlte. Wir betraten ein altes Gebäude, in dem sich uns, nachdem Yvonne Tickets gekauft hatte, ein riesiger Tanzsaal eröffnete mit Tischen an allen Seiten um das enorme Parkett und auf den umlaufenden Balkons. Der Saal war bei unserem Eintreffen gut besucht. Wir fanden einen kleinen Tisch für uns beide auf dem Balkon. Yvonne bestellte zwei Cola, die sie sofort bei Lieferung bezahlte. Nach kurzer Zeit betraten Musiker ein Podium und begannen Tanzmusik zu spielen. Wir warfen uns sofort aufs Parkett. Dank Tanzschule konnte ich leidlich Foxtrott und Walzer tanzen. Langsamer Walzer ging auch, zur Not. Yvonne tanzte etwa mein dürftiges Niveau, also machte es uns beiden Spaß. Übermütig stürzten wir bei Quickstepps die Längsseiten entlang. Beim Slowfox merkte ich, wie wir uns allmählich näher kamen. In den Musikpausen saßen wir uns an dem Tischchen bald nicht mehr gegenüber, sondern an einer Seite eng beisammen. Die Seiten des Saals lagen im Halbdunkel. Meine Versuche, Yvonne noch näher zu kommen, schienen ihr ganz selbstverständlich und in keiner Weise irritierend. Ich sah, dass andere Pärchen völlig unbekümmert knutschten. Unsere Lippen streiften einander zuerst wie zufällig. Gleich danach konnte von Zufall keine Rede mehr sein. Yvonne wischte mir ihre dunkelrote Lippenschminke vom Gesicht. Das war aber völlig überflüssig, denn unser Küssen nahm kein Ende mehr. Ihr Haar war lang, blond und parfümiert. Es raubte mir die Sinne.


Wir verließen den Tanzsaal nicht, bevor man uns nachdrücklich dazu aufforderte. Draußen empfing uns dichter Nebel. Eng umschlungen schlenderten wir zur Underground. Das heißt umschlungen, soweit mein Arm um ihre breite Hüfte reichte. So umfangen verbrachten wir die Fahrt nach Epsom, zuletzt noch im Bus. Yvonnes Stopp konnten wir trotz allem nicht versäumen. Es war der letzte. Lange standen wir noch vor dem Gartentor, das vor Yvonnes Wohnhaus lag. Eingehüllt im Nebel war uns weder kalt noch langweilig. Langweilig ist uns nicht geworden. Kalt schon. Die Feuchtigkeit begann, in uns hinein zu kriechen. Yvonne fröstelte. Sie sagte, sie könne mich nicht hinein bitten. Sie habe hier ein sehr günstiges Zimmer gemietet, aber mit der strengen Auflage, keine Gäste über Nacht mitzubringen. Sie lud mich ein, sie nach acht Tagen anzurufen, denn so lange würde sie nicht in London sein. Eine kurze Reise nach Edinburgh zu einem Konzertauftritt ihrer Lehrerin, um ihr zu assistieren und umzublättern. Sie musste es hinnehmen, dass ich spätestens in drei Tagen wieder abreisen würde. Also blieben wir noch eine Weile an der Gartentür.


Als wir uns endlich trennten, war es mit dem öffentlichen Verkehr zu Ende. Ich meine, kein Bus mehr. Die Jugendherberge lag in Wembley. Taxi kam nicht in Frage. Ein schönes Stück zu Fuß. Natürlich hatte ich nicht die geringste Ahnung, wo's lang ging. Wembley musste im Norden sein, soviel war mir klar. Aber die Himmelsrichtung bestimmen, in diesem Nebel? Ich hielt ein Taxi an, das vorbeikam. Ich fragte den Lenker um die Richtung nach Wembley, sagte aber gleich dazu, dass ich kein Geld zum Mitfahren hätte. Ich hoffte, er würde mich wenigstens ein Stück mitnehmen. Er deutete nur unwirsch die Richtung an und fuhr weiter. Also ging ich. Während des Gehens spürte ich noch Yvonne, spürte ihre zarten Hände, spürte ihre Lippen, atmete den betörenden Duft ihres Haars, es strich mir übers Gesicht, einzeln und in seiner wilden Gesamtheit, da schnitt ein blendender Strahl meine Augen. Ich sah nichts als einen unglaublich hellen Fleck. Ich hielt meine Hände schützend vor die geschlossenen Augen, spürte das Licht verschwinden, sah dennoch nur Schwarz. Eine helle Stimme piepste. "Where are you going, boy?" Undeutlich gewann ein schwarzer Schatten an Gestalt. Im gelben Licht einer Straßenlampe glänzte etwas wie ein Emblem. Ja, ein Emblem mit einer Krone drüber. "Where are you coming from?" hörte ich den Knabensopran. Als nächstes sah ich einen schwarzen Knüppel an der Seite des Schattens, der jetzt schmal aber riesengroß Gestalt annahm. Der Piepser war ein Bobby. "Austria", sagte ich. Das wollte der Bobby nicht in erster Linie wissen, sondern von wo ich jetzt gerade kam. "Yvonne", sagte ich und musste grinsen. "Yes, I can see", piepste die schwarze Fahnenstange. "Lip gloss all over. Took it for blood, first." Er leuchtete auf meine Hände, ohne etwas zu sagen. Erst jetzt bemerkte ich, dass meine Hände bedeckt waren mit weißem Staub. Das erschreckte mich. Ich hatte keine Ahnung, woher der weiße Staub käme. Instinktiv versuchte ich, das wegzuwischen. Der weiße Staub verteilte sich anders, aber er blieb. Ich roch daran. Er duftete angenehm und sofort hatte ich wieder Yvonnes Bild vor mir. Da wurde mir klar, es handelte sich um Borotalco. Yvonnes Borotalco.


"Where are you heading to?", fragte piepsend der Lulatsch. -"Youth hostel at Wembley." - "Well, then, you can make it in around four hours. - We can walk together good part oft the way." Offenbar wollte er sich vergewissern, dass ich nicht etwas ganz anderes Garstiges unternahm.


Wären Leute auf der Straße gewesen, sie hätten vielleicht gestaunt über den langen Bobby mit dem schmächtigen Burschen an seiner Seite im Nebel wandernd. Wurde da einer abgeführt? Ich glaube, wir beide haben selber auch gestaunt. Was ich ihm über Wien und über meine vorjährige Englandreise erzählte, nahm er schweigend zur Kenntnis. Vielleicht vermied er zu sprechen, weil er sich für seine seltsame Stimme schämte? Für zweieinhalb Stunden oder so trabten wir nebeneinander durch den Nebel. Besonders dicht war er in Gegenden, in denen ich richtig froh war, von der Londoner Polizei so gut bewacht zu sein. An einer Kreuzung bog er rechts ab, nachdem er mir in groben Zügen erklärt hatte, wo ich lang sollte.


Gegen halb fünf gelangte ich an die Jugendherberge. Das Tor zum Vorgarten war versperrt. Ich suchte nach einer Stelle, um die Stunden bis zum Morgen notdürftig zu überstehen und erinnerte mich, im Garten eine Bank gesehen zu haben. Ich kletterte über den Zaun. Aber die Bank war bereits besetzt. Von Edi. Er war kurz vor mir von seinem London-Abenteuer zurückgekehrt. Sogleich war alle Müdigkeit vergessen. Edi lachte mich aus wegen meiner Kriegsbemalung. Was sollte ich machen? Ohne tüchtig Wasser ließ sie sich nicht beseitigen. Wir beschlossen, das nicht sehr weit entfernte Wembley-Stadion aufzusuchen, das alte Fußballheiligtum. Also kletterten wir über den Zaun zurück auf die Straße. Damals stand noch nicht die moderne Allzweckarena. Zwei weiße Türme im Stil der Zwanzigerjahre zierten die dreistöckige Fassade des Ovalbaus. Ich erzählte Edi von meinem Besuch eines Fußballspiels in Bristol voriges Jahr. Wie ruhig das Publikum sich verhielt und wie fair. Beifall für jede schöne Aktion, egal welche Mannschaft sie ausführte. Keine Spur vom Auspfeifen der gegnerischen Mannschaft noch bevor das Match überhaupt begonnen hat, so wie es damals schon bei uns daheim üblich war und leider heute auch – und ganz besonders – in England. Edi glaubte mir kein Wort. Über das berühmte Wembley-Tor konnten wir nicht streiten, es sollte erst ein paar Jahre später fallen.


Wir machten London noch für zwei Tage unsicher. Die Anwesenheit Edis verdross mich. Ihm gefiel hier gar nichts von allem, was mich begeisterte. Die Leute waren blöd, das Essen schlecht, der Regen zu häufig, das Bier warm und alles viel zu altmodisch. Ich war nicht traurig, als wir uns auf die Heimreise machten.


In Wien bildeten Edi und ich, verstärkt durch Franz Sopper ein liederliches Kleeblatt. Edi und Franz schenkten mir eine LP zum Geburtstag. Drei der Brandenburgischen Konzerte von J. S. Bach. Das war deshalb erstaunlich, weil die beiden mit klassischer Musik überhaupt nichts anzufangen wussten. Umso mehr schätzte ich ihr Geschenk. Ich spielte die Platte wieder und wieder, bis ich die Konzerte auswendig konnte. Ich spielte die Brandenburgischen Konzerte auch, wenn Edi und Franz bei mir zu Besuch waren und siehe da, sie begannen, diese seltsamen Klänge zu mögen.

Eines Tages kam Franz mit der Idee, ein Auto zu kaufen. Allein konnte es keiner von uns und ich bezweifelte, dass wir es zu dritt zustande brächten. Allerdings, das Auto war ein Tatra Baujahr 1938, Wehrmachtsausführung, Faltdach, der Wagenboden aus Holzbrettern, Druckumlaufschmierung. Zweitausend Schilling. Die brachten wir auf und das Monstrum gehörte uns. Es gab damals noch keine Prüfplaketten. Die hätte das Vehikel niemals bekommen. Die Trommelbremsen zogen kaum. Die Handbremse überhaupt nicht. Man musste sehr vorausschauend fahren und hundert Meter vor einem Hindernis mit aller Kraft das Pedal treten. Die Winker zur Fahrtrichtungsanzeige waren auch längst nicht mehr erlaubt und hätten durch Blinker ersetzt werden müssen. Mit diesem Gerät fuhren wir durch Wien und genossen das Aufsehen, das wir erregten. Als der Oldtimer einmal ein paar Tage auf dem Gelände des Beschussamts neben dem Zaun abgestellt war, gefiel es einigen Vandalen, große Steine über den Zaun auf unseren Wagen zu schmeißen. Die Scheinwerfer und die geteilte Windschutzscheibe brachen und das Blech war verbeult. In Ermangelung einer Kaskoversicherung und von Ersatzteilen sowie infolge des Übermaßes an Ebbe in unseren Kassen meldete ich das Wrack ab und habe seither nie mehr davon etwas gehört. Ewig schade. Wir hätten nur ein paar Jahrzehnte warten müssen. Der Oldtimer hätte uns reich gemacht, sogar zu dritt. Hätte, hätte, Fahrradkette.


Meine Bewerbungen um Stellen als Handelskorrespondent, Einkäufer und dergleichen sind alle ergebnislos geblieben. Aber das hier klang auch nicht schlecht: redaktioneller Mitarbeiter bei Film Press Austria. Der Betrieb residierte im vierten Stock des Gründerzeithauses ohne Lift gegenüber der dem Schottenring abgewandten Seite des Theophil von Hansen-Palais, welches damals noch die Wiener Börse beherbergte. Nachdem ich geklingelt hatte, war reichlich Zeit, meine nach dem Stiegen steigen etwas erhöhte Atemfrequenz zu beruhigen. Drinnen lärmte eine Maschine mit rhythmischem Klappern. Nach einer kurzen Weile wurde sie offenbar auf Leerlauf gestellt, dann öffnete sich die Tür. Ein hagerer Mann, der außer seiner Nietzschebrille, einem verschmutzten schwarzen Arbeitsmantel und Pantoffeln nichts anzuhaben schien, hieß mich eintreten. Die Geräusche stammten von einer Druckmaschine, die mitten im Vorzimmer stand. Hier und dort lagerten auf dem Boden Papierstapel, bedruckte und blanke, zerknüllte Zettel lagen chaotisch umher. Man konnte nirgends hin steigen, ohne auf Papier zu treten.


Der schwarze Arbeitsmantel mit dem hageren Mann darin bewegte sich auf eine Tür zu, ich folgte. Aus einem fabelhaften Durcheinander heraus sprang ein schwarzer Langhaardackel an mir hoch. Wie in der ‚Druckerei‘ Papier so häuften sich in dem Raum überall Zeitungen, Zeitschriften und Bücher, teils aufgeschlagen, dazwischen auf dem schweren Schreibtisch diverse grafische Geräte und längst vergessene Kaffeetassen. Eine Doppelliterflasche enthielt den letzten Rest einer klaren Flüssigkeit. An einer Sessellehne hing - gerade noch - ein Hemd, eine Hose war mit einem Bein bereits zu Boden gestürzt. Platz zum Setzen fand sich nur hinter dem Schreibtisch und auf einem Sofa, das wie ein Bett bezogen war. Dort ließ der hagere Mann sich nieder und bot mir den Platz hinter dem Schreibtisch an. Mir schwante, er wäre Peter Rubel, der Redakteur.


Eine Redaktion hatte ich mir anders vorgestellt, doch ließ ich mir davon nichts anmerken. Journalisten, dachte ich, seien wohl Individualisten, denen man seltsame Eigenheiten durchgehen lassen müsse. Eine andere Sache war die Entlohnung, die Peter Rubel mir nannte. Jeder angehende Lehrling wäre erschrocken über dieses Taschengeld, doch weil ich mich Volontär nennen durfte und mich schon als Journalist fühlte, akzeptierte ich.


Am ersten Arbeitstag lernte ich zunächst das Sekretariat kennen. Es befand sich unmittelbar neben Rubels Wohn- und Arbeitsraum und hätte unterschiedlicher nicht sein können in seiner beruhigenden Sauberkeit und Ordnung. An den Fenstern standen einander zwei moderne Schreibtische gegenüber, die zwar voll von Arbeit schienen, aber jedes Ding lag aufgeräumt an seinem Platz. An den Wänden standen vor übervollen Regalen weitere kleinere Arbeitstische mit einer Vielzahl an Schreibmaschinen und grafischen Utensilien. Ein großer Strauß bunter Gartenblumen prangte in der Mitte auf einem Beistelltischchen. Nur durch eine Flügeltür getrennt, die auf dieser Seite weiß lackiert war, grenzten hier zwei Welten aneinander. Drüben hauste Peter Rubel.


Die Blumen gehörten Frau Biedermann. Sie war die Herrscherin in dieser Welt. Fast ausschließlich hielt sich die adrette Sekretärin leicht vorgeschrittenen Alters hier auf und betrat andere Räume nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Kehrte sie von einem Diktat aus Rubels Zimmer zurück, zuckte um ihre Mundwinkel ein Zug von Abscheu.


Mein Journalistenleben begann mit dem Herstellen von Heften aus bedrucktem Papier. In eine Art Bügelbrett mit vielen Fächern wurden Pakete der einzelnen Seiten eingelegt. Ein Mechanismus, betätigt durch ein Pedal, hob aus jedem Fach eine Seite hoch und über diese hervorstehenden Blätter ‚bügelte‘ man mit einem rauen Fänger drüber und fischte dadurch die Seiten eines Hefts aus den Fächern. Das erforderte keine besondere Intelligenz, es war stumpfsinniges Hantieren, den ganzen Tag. Nur zwei kurze Unterbrechungen gab es, denn zu meinen Aufgaben gehörte es, den Dackel zweimal täglich in den Park zu führen.


Die mit Heftklammern gebundenen Exemplare wurden dann in Kuverts gesteckt, die, zuvor mittels Druckschablonen beschriftet, von mir in sechs großen Tragetaschen zur Post geschleppt wurden. Das war dann der letzte Schritt im Wochenzyklus. Der Wochenanfang war dagegen viel erfreulicher, denn da wurde die neue Nummer vorbereitet. Auf den vielen verschiedenen Schreibmaschinen wurde der Text in ebenso vielen Schriftarten auf jungfräuliches Papier getippt. Was mit den Schreibmaschinen nicht herzustellen war, wurde mittels Klebebuchstaben, Sternchen, Linien, Zeigefingerchen oder durch andere grafische Tricks zustande gebracht. Vergrößerte oder verkleinerte Fotos wurden aus anderen Zeitschriften, aus Kinoprogrammen oder aus dem Archiv dem Text beigefügt. Lag der Prototyp der neuen Ausgabe endlich vor, hatte ich in der Küche, die außer zum Kaffeekochen noch als Dunkelkammer eingerichtet war, jede Seite fotochemisch auf eine Metallfolie zu übertragen, wonach schließlich Rubel die Druckmaschine im Vorzimmer wieder in Gang setzte, um jene Stapel zu produzieren, mit denen ich Donnerstag und Freitag zu kämpfen haben würde. Heute amüsiert mich der Gedanke, wie dieselbe Arbeit auf einem PC in zwei Tagen leicht zu bewältigen wäre, mit einem Bruchteil an Papier, ohne Blätterbügeln, ohne Säurebad in der Dunkelkammer und sicherlich weitgehend auch ohne Postversand.


Meine Arbeitstage verbrachte ich überall in der ‚Redaktion‘, meistens am ‚Bügelbrett‘ oder in der Dunkelkammer. Meine dumpfe Tätigkeit konnte meinem wachen Gefühl nicht verbergen, dass ich hier mit hoch interessanten Menschen tätig war. Der Schreibtisch gegenüber dem von Frau Biedermann gehörte - noch - der blutjungen Liesbeth Schmögner, der zweiten Mitarbeiterin Rubels, die schwanger war und deshalb gekündigt hatte. Sie war daher nur noch wenig in der ‚Redaktion‘. Ich sollte sie wohl ersetzen. Liesbeths Mann war Walter Schmögner, damals einundzwanzig, nur eineinhalb Jahre älter als ich. Er sollte später als Maler, Grafiker, Buchautor (‚Drachenbuch‘), Illustrator, Bühnenbildner und Bildhauer bekannt werden. Leider habe ich ihn nie persönlich getroffen. Ihr damals geborener Sohn Thomas Schmögner würde als Organist und Komponist Karriere machen. Offenbar wurde die Ehe von Liesbeth und Walter später geschieden, denn 1988 und 1998 kamen zwei Töchter Walters zur Welt, die er mit seiner zweiten Frau Petra Werkovits hatte (Kreativwirtschaft Burgenland, Künstlerdorf Neumarkt/Raab). Die Spur meiner Redaktionskollegin Liesbeth konnte ich bei meinen kürzlichen Recherchen nicht mehr aufnehmen.


Schlag zwölf Uhr pflegte Frau Biedermann ihre Arbeit einzustellen. Sie holte ihr mitgebrachtes Essen hervor. Wenn sie beim Essen nicht Zeitung las, ergaben sich manchmal zaghafte Gespräche. Eines Tages hörte ich gerade mit aufflackerndem Interesse, dass Frau Biedermann ihre Tochter Iris erwähnte, die in meinem Alter sei, als Rubel mich zu sich rief. Er verwickelte mich in ein tiefschürfendes Gespräch über Wirtschaft, dann Politik, schließlich Kunst. Bald war es kein Gespräch mehr, sondern ein einseitiger Vortrag, der mich trotz emotionaler Vorbehalte faszinierte. Immer glühender dozierte Rubel, ab und zu einen Schluck an der Schnapsflasche nippend. Je feuriger seine Sprache geriet, desto öfter benötigte er neuen Treibstoff, dann traten immer längere Pausen ein in seiner Rede und bald, den Zuhörer hatte er längst vergessen, sackte er ausgebrannt auf seine Couch.


Ich schlich leise aus dem Zimmer. Frau Biedermann war schon nach Hause gegangen. Die Arbeitsleistung eines Nachmittags war verloren. Sie musste irgendwann eingebracht werden, sollte die nächste Nummer rechtzeitig hinausgehen.


Am nächsten Morgen war mit Frau Biedermann nicht gut Kirschen essen. Sie nahm den ganzen Vormittag ihren Hut nicht ab. Sie trug immer ausladende Hutmodelle. Böse blickten ihre Augen an mir vorbei, lange sprach sie kein Wort. Bis die Notwendigkeit der Zusammenarbeit ihr strafendes Schweigen brach. Der Rückstand verursache auch ihr Mehrarbeit, klagte sie und schimpfte über die Müßigkeit des Chefs und meinen Leichtsinn. Sie riet mir zur Vorsicht vor den tückischen Eigenheiten Rubels. Man müsse ihn stoppen, bevor es zu spät sei. Ekelhaft, wie Rubel sich betrinke. Und überall der Dreck! Es könne nur ein schlimmes Ende mit ihm nehmen.


Dreck! Es war mir gar nicht bewusst, dass man die Zustände in dem Raum da drüben, wenngleich sie mir nicht sympathisch waren, als Dreck bewerten könnte. Auch meinen Vater umgab eine ähnliche Unordnung, wenn er an seinen Noten schrieb. Die Arbeit in der Drahtfabrik hatte er aufgegeben, nachdem meine Mutter Kontakte zu Radio Wien angeknüpft hatte. Wenigstens konnte er nun seinem Metier verwandte Tätigkeiten ausüben, wenn auch nur in der entfernt verwandten Form des Noten Kopierens und Instrumentierens. Und er hatte viel zu kopieren, so viel, dass ihm trotz Notenschreibens bis spät in die Nächte kaum Zeit für eigene Kompositionen blieb. 

Er saß also an einem Tischchen in dem Zimmer, das als Wohn- und Schlafraum diente, um ihn herum überall Notenpapier, beschriebenes und noch leeres, und füllte mit der Metallfeder, die er in kurzen Abständen ins Tintenfass tauchte, Noten in die leeren Zeilen. Ich glaube, viele Haushalte mit Tintenfässern hat es damals nicht mehr gegeben. Die fertigen Blätter sahen aus wie gestochen, ganz in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes ‚gestochen‘. Aber seine Umgebung bestand aus Speiseresten, Teetassen und Aschenbechern und dem Rauch von vielen Zigaretten aus herumliegenden Packungen. Seine Kleidung war schlampig, niemand würde ihm begegnen. Das Radio spielte laut und mein Vater hörte während seiner eigenen Arbeit alles an, was geboten wurde, vor allem Nachrichten und alle Arten von Musik. Ich verstehe heute noch nicht, wie er gleichzeitig Musik hören und Stimmen für eine ganz andere schreiben oder Skizzen instrumentieren konnte.


Unordnung war mir also nichts Ungeheuerliches. Für mich war sie die natürliche Umgebung schöpferischer Vorgänge. Ganz anders sah das meine Großmutter. Es war ja eigentlich die Wohnung der Großeltern, in der meine Eltern und ich lebten. Für fünf wäre sie zu klein gewesen, nach dem Tod meines Großvaters auch für vier, also schlief meine Großmutter in der fensterlosen Hinterkammer des Friseurladens. Nur sonntags kam sie in die Wohnung, dann kochte sie ein Mittagessen. Dabei fühlte sie sich von der Unordnung im Zimmer förmlich angesprungen und sie äußerte das abfällig und oft beleidigend. Meinem Vater wiederum war die proletarische Art der böhmischen Immigrantin dritter Generation zuwider, doch die Zwangslage, in der er sich befand, hieß ihn schweigen. Dass er mit seiner Schwiegermutter fast gleichen Alters war, tat sein Übriges, und so gab es immer wieder Krach, den seine Frau, die an Jahren gemessen seine Tochter hätte sein können, so gut sie konnte befriedete.


Ich war nachdenklich geworden und das genügte Frau Biedermann vorläufig. Sie wertete es wohl als Erfolg. Endlich legte sie ihren Hut zur Seite. Tatsächlich wich mein Staunen über Rubel einer merkbar kühleren Reserviertheit. Der Zustand, in den er versunken war, als er seine Reise nicht mehr fortsetzen konnte, das Häufchen Asche, das ich da zurückgelassen hatte, gab mir zu denken, schien Frau Biedermann Recht zu geben. Eine mir noch unbekannte Gefahr ging von Peter Rubel aus. War er gefährdet, oder gefährlich?


Frau Biedermann hatte erreicht, dass ich Rubel nie wieder unbeschwert zuhören konnte. Misstrauen hielt mich zurück wie die Taue einen Fesselballon. Auch Rubel litt unter solchen Fesseln. Mit einem ängstlichen Passagier fliegt man keine schwierigen Figuren. Die Ausflüge wurden seltener, der Weg zur Post immer länger, die Taschen schwerer, nur das dürftige Taschengeld blieb immer gleich. Journalist war ich ebenso wenig, ärgerte ich mich, wie Rubel Redakteur.


Eines Tages schickte mich Rubel hinunter, eine bestimmte Zeitung zu holen. Im nächsten Zeitungsladen war diese Zeitung vergriffen und ich kehrte mit leeren Händen zurück. Rubel wurde weiß vor Zorn. Er tobte wie ein Besessener. „Was soll das heißen, ausverkauft? Dann suchen Sie verdammt anderswo! Ohne brauchen Sie mir überhaupt nicht mehr wieder zu kommen!“ Es war eine unangenehme Szene, doch ahnte ich, dass Rubel Recht hatte.


Iris, Frau Biedermanns Tochter, ging mir nicht aus dem Kopf. Als Frau Biedermann eines Tages über einen Film schwärmte, nahm ich mir ein Herz und fragte, ob sie mir nicht einen Kinoabend mit Iris ermöglichen könne. Sie setzte ihren riesigen Hut auf und machte ein bekümmertes Gesicht. Zu meiner Überraschung aber nahm sie wenig später den Hut wieder ab und willigte ein. Unter einer Bedingung: Iris‘ Vater dürfe keinesfalls etwas davon wissen. Sie nannte keinen Grund dafür und ich fragte nicht nach. Das Geheimnis gab dem Rendezvous einen zusätzlichen Reiz. Am Nachmittag vor dem Kinobesuch schärfte Frau Biedermann mir noch ein, Iris müsse unter allen Umständen vor halb zehn zu Hause sein, denn um diese Zeit würde sie selbst mit ihrem Mann heimkommen.


Der Abend verlief amüsant. Nach einem heiteren Film, den Peter Rubel in seiner Fachzeitschrift als sehenswert eingestuft hatte, brachte ich Iris nach Hause. Die Biedermanns wohnten in einer verlassenen Gegend am Stadtrand. Gegen neun am Abend lagen die Straßen dort verlassen, nur wo die Jalousien nicht dicht gemacht waren, schimmerte bläulich zuckend das Licht von Fernsehern. Es mag an der lauen Frühlingsnacht gelegen sein, jedenfalls war Iris harmlosen Zärtlichkeiten nicht abgeneigt und so standen wir noch lange am Gartentor und kosteten kosend die Jugend und vergaßen die Zeit.


Das Motorgeräusch kam näher. Scheinwerfer tasteten um die Ecke. Ich spürte noch ein gehetztes, flüchtiges Küsschen von Iris, dann verschwand sie im Dunkeln. Ich hörte die Haustür zufallen und wandte mich heiter und beschwingt zum Gehen. Mit dem Wagen waren Iris‘ Eltern heimgekommen. Ich hatte mich schon ein Stück entfernt, befand mich aber dennoch im vollen Scheinwerferlicht. Dann stieß ich unsanft gegen einen Lattenzaun, der mir den Weg abschnitt. Zu meinem Schrecken befand ich mich in einer Sackgasse! Da ich nicht am Auto der Biedermanns vorbeigehen wollte, schlich ich an dem Holzzaun auf und ab. Da trat aus dem Lichtkegel Herr Biedermann. Ohne Zweifel hielt er mich für einen Einbrecher und herrschte mich entsprechend an. Meine Beschwingtheit von den Küssen der Tochter dieses Mannes hielt noch an, also antwortete ich unbekümmert, ich ginge hier mit meinem Hund spazieren, der aber habe sich aus dem Staub gemacht. Klang nicht sehr plausibel, so ganz ohne Leine. Ein Nachbar rief aus dem Fenster, die Polizei würde eh gleich kommen.

Zu meiner Überraschung mengte sich nun auch Frau Biedermann ein. Obwohl ich heldenhaft versucht hatte, Iris aus der Nummer herauszuhalten, verriet sie ihrem Mann die ganze Geschichte. Herr Biedermann begann sofort, mit seiner Frau heftig zu streiten und überließ mich mir selbst oder der Polizei. Die beiden verschwanden im Haus. Das Tor knallte beim Zuschlagen. Ich konnte die Frau nicht verstehen. Wie konnte sie ihre Iris so verraten?


Am nächsten Tag in der Redaktion behielt Frau Biedermann wieder den ganzen Tag ihren Hut auf dem Kopf. Sie hatte diesmal ein besonders ausladendes Modell gewählt. Den Vorfall erwähnte sie nicht und so hielt auch ich es für nicht erforderlich.


Nun hielt mich nichts mehr bei Peter Rubel. Zwei Freitage noch schleppte ich die Taschen zur Post. Damit war der Journalismus für mich erledigt.

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