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Ich gelobe
worin vorkommen: das Aichfeld, Knittelfeld, Zeltweg, Judenburg, Seckau, Bruno Kreisky, Ingmar Bergman, 'Wilde Erdbeeren', 'Das Schweigen', gleich zwei Jacks, nämlich London und Brabham, Jochen Rindt, 'Schwer mit den Schätzen', 'Eine kleine Nachtmusik', die halbe 'Carmen', Micaëla, Don José, Escamillo,
sowie ein Liebesdrama ohne Happyend und eine Serie Autocrashs, 'Die Mama wird's schon richten''
Obgleich ich keine Reifeprüfung abgeschlossen habe, steckt man mich in eine Maturantenkompanie bei den Fliegern in Zeltweg. Zum Einrücken reise ich aus Wien per Bahn. Die Schnellzüge halten nicht in Zeltweg, sondern im acht Kilometer entfernten Knittelfeld, für den Rest des Präsenzdienstes ‚Knattlefield‘ genannt.
Daher entscheide ich mich für einen Bummelzug, schon ab Wien, echte Holzklasse. Zweimal umsteigen. Fahrzeit sechseinhalb Stunden. Dafür am Semmering das Reisegefühl Peter Roseggers.
Vor dem Bahnhof in Zeltweg warten zwei Heereslastwagen auf ankommende Präsenzdiener. Ich wäre gern zu Fuß gegangen, aber noch bevor ich papp sagen kann, bin ich schon auf einen der Lastwagen gehievt. Sicherlich gebe ich ja das typische Bild eines Frischgfangten. Das ist wörtlich zu nehmen,
denn es hätte ja auch sein können, dass ich nur meine Tante in Zeltweg besuchen will. In gleicher Weise hätten die mich auch vor dem Bahnhof in Knattlefield zusammengeklaubt. Das stand aber nicht im Einberufungsbefehl.
In den ersten Tagen verstärkt sich mein Verdacht, ich sei hier nicht beim Bundesheer, sondern in einer Irrenanstalt gelandet. Alle Personen, mit denen wir zu tun haben, brüllen wie die Verrückten. Nicht weil wir etwas falsch gemacht haben, nein, einfach so. Sie scheinen keine andere Art der Kommunikation zu kennen. Diese beiden essenziellen Elemente des Soldatenlebens lernen wir zuerst: Angebrüllt werden und Laufschritt. Wann immer wir uns von da nach dort begeben sollen, es hat im Laufschritt zu erfolgen. Für die Neuen gibt es keine andere Fortbewegungsart, außer – aber das Kriechen durch Dreck und Schnee kommt erst später im Zuge der Ausbildung. Der Kommandant wird brüllen „Ataaaumblitz!“ und wir werden uns umschauen, wo solches zu sehen sei. Der Kommandant wird noch lauter brüllen „Decken, Ihr Kanaken, waunn do a Ataumblitz is!“ Nächstes Mal bringe ich eine Decke mit, werde ich denken, während ich
bemerke , wie die
anderen Jungmänner sich zu Boden werfen. Wozu eigentlich?
Würde es uns retten vor dem steirischen Atomblitz, oder wenigstens das Vaterland?
In relativer Normalgeschwindigkeit gehen werden wir nur beim Marschieren, dabei werden wir aber gezwungen werden, so geistlose Lieder zu brüllen, wie
Der Hafer juckt mich und ich beginne, das Lied so zu singen, wie es sich für einen Sänger gehört. Um das anschaulich zu machen, werde ich jetzt die ersten beiden Liedzeilen zweimal schreiben, oben so wie die Jungmänner es singen, darunter meine Version:
Schwäa miden Schä-äzen (Pause) des Oriends bela-aden (Pause) dsiäd män Schiflän am Horidsond dahinn (lange Pause).
Schwer mit den Schä-ätzen des Orients bela-aden ziehet mein Schifflein am Horizont dahin.
Man sieht schon, mein tragender Bariton überbrückt alle die Atempausen, die von der Kompanie regelwidrig eingeschoben werden. Dem Ausbildner mit dem bezeichnenden Spitznamen ‚Bluataug‘ kommt etwas seltsam vor, aber er weiß nicht recht, was es ist. Argwöhnisch begibt er sich vom Ende der Kolonne in Richtung Spitze, jedes Glied misstrauisch inspizierend. Das Lied ist zu Ende. Wir marschieren Richtung Unterkunft und erwarten das Einrücken, aber Bluataug lässt uns vorbeitrotten. „Links, zwo drei vier. Ein Lied!“ – „Schwer mit den Schätzen…“ Plötzlich schnallt er, dass ich der Schelm bin, der das Marschlied verhunzt. „Riiichta!“, brüllt er, „Heast, du Hungakinstla, sing aunstendig wia die aundern, sunst moch i mit dir a Spezialproube heit noch Dienstschluss!!!“ Ich übersetze das mit ‚Sprung, vorwärts, decken‘ und singe ab nun aunstendig.
Bei einer der ersten Standeskontrollen in der Früh vor der Unterkunft mustert Bluataug seine angetretene Kompanie aus der Nähe, das heißt mit etwa zehn Zentimeter Abstand von Angesicht zu Angesicht. Vor mir hält er inne und brüllt, dass die Erde bebt. „Waunn – hast - du – di - ra-siiiiiert????!!!!“ Sein Knoblauchatem weht in mein Gesicht. Fast ebenso laut brülle ich zurück: „Herr - Wachtmeister, - ü-ber-haupt – noch - nie!“ Die Kompanie biegt sich vor Lachen. Na ja, ich war siebzehn und an meinen Wangen befand sich kein Bart, sondern bestenfalls ein weicher Flaum. Selbst Bluataug grinst. „Dann wird’s aber Zeit! Mooorgen Früüüüh rasiiiiert aaaun-treeee-tn!“ Mit einer Postkarte bitte ich Mama, einen Rasierapparat zu schicken. Aber bitte einen Braun, alles andere liegt unter meiner Würde. Bis dahin darf ich das Gerät eines Kameraden benutzen. Das Nassrasieren wird Kreisky erst elf Jahre später anraten.
Das Aichfeld ist ein ausgedehntes Becken um die obere Mur. Es bietet somit bequem Raum für einen weitläufigen Flugplatz samt Kaserne, nämlich einem der bedeutendsten österreichischen Militärstützpunkte. In einem solchen Becken bilden sich überdurchschnittlich häufig Inversionswetterlagen mit dauerhaftem Hochnebel und einem bodennahen Kältesee. Umso eher in diesem Rekordwinter. Wenn nach einer Kaltperiode auf den umliegenden Hügeln längst wieder mildere Temperaturen Einzug halten, bleibt es am Talboden beständig grimmig kalt. Keine idealen Voraussetzungen für die militärische Grundausbildung im Gelände. Heute bin ich durchschnittlich kälteresistent, vielleicht weil ich damals beim Heer so erbärmlich gefroren habe wie niemals danach. Das Kasernengelände im November um halbsechs Uhr früh, 'Kaffee' holen von der vierhundert Meter entfernten Küche, zu zweit mit vier Zehn-Liter-Kannen durch die nieselige Nebelnacht. Und das für eine graubraune, ekelige Flüssigkeit, die beim Einlangen in der Unterkunft kalt sein und ihr Ende in den Klos finden würde. Im Gulag kann's nicht ärger gewesen sein. Oder doch?
Bluataug steht neben uns mit einem Weidenstab und indem er ihn hebt, befiehlt er „Feeei-aaa!“ und wir drücken ab. „Feeei-aaa!“ und der nächste Schuss. Beim vierten „Feeei-aaa!“ löst sich der Handschutz von meiner Waffe. Ich habe ihn wohl nicht fest genug angeschraubt. Die beiden Blechstücke fliegen in weitem Bogen in den Schnee.
„Riiiiichtaaa!“ brüllt Bluataug. „Wau – is – dei – Haund-schutz?“ Dabei haut er silbenweise mit dem Weidenstab auf meinen Stahlhelm, was in meinen Ohren dröhnt wie Glockenschläge im Nordturm des Steffls unmittelbar neben der Pummerin. „Der Haaaaaund-schutz – waaau!!!??? Wau – wau – wau – waaau?“ Bei jedem Wau haut er neuerlich auf meinen Helm. „Riiiiichtaaa! Feeei-aaa!“ Der Weidenstab saust auf meinen Helm. Boooing! Ich feuere. Es ist der fünfte Schuss und der nun ungeschützte Lauf wird schon schön warm. Zu warm eigentlich für die erfrorenen Finger. Und das wird mit jedem Schuss brenzlicher. Beim zehnten Feeei-aaa kann ich das Gewehr nicht mehr festhalten und sein Lauf hebt sich aus dem Schnee. Der Schuss geht in den Wald oberhalb des Schießplatzes, wo der Schnee von den Fichtenzweigen fällt und ein paar Krähen auffliegen. Bluataug ist außer sich. Der Weidenstab trommelt auf meinen Schädel. „Troooou-ttl! Gewehr aufklaubn und ab-treee-tn! Feeetznschäääädl!“
In den Wintermonaten machte ich in Knattlefield mit einer privaten Fahrschule den Führerschein. Der Winter war streng, es gab eine Menge Schnee. Die Straßen waren von tiefen, eisigen Rillen zerfurcht. Die Fahrstunden machten riesig Spaß, besonders das Herumrutschen im Schnee. Mein Fahrlehrer ermahnte mich immerzu, langsamer zu fahren. Am Ende jeder Fahrstunde prophezeite er mir: „Richta, Richta, mit dir wird’s a böises Ende nehman.“
Und das wäre durchaus drinnen gewesen, insbesondere am Anfang meines Lenkerlebens, denn ich fuhr wie ein Böser. Die Pedale kannten nur zwei Positionen: Vollgas oder Vollbremsung. Beim Überholen störte mich kein Gegenverkehr, wenngleich nur zwei Fahrstreifen vorhanden waren, passten doch darauf drei Autos locker nebeneinander. Dass mir die anderen Lenker den Vogel zeigten oder auch Drohgebärden, schien mir nur gegen deren eigene Fahrkünste zu sprechen.
Nun habe ich fünfzig Jahre Autofahren überlebt, habe auch keinen anderen Verkehrsteilnehmer auf dem Gewissen. Natürlich habe ich mir mit der Zeit die Hörner abgestoßen. Ein paar Schmisse haben dazu beigetragen. Immer wieder habe ich noch heute die Worte des Fahrlehrers von Knattlefield in den Ohren. Was, wenn er am Ende doch Recht behält?
Nach der Grundausbildung wurde ich der Schreibstube zugeteilt. Geschrieben habe ich dort viel, aber hauptsächlich die Liebesbriefe des Wachtmeisters Unternosterer. Er war Kärntner, fuhr einen Alfa Spider (den er ab und zu mehr oder weniger zerstörte) und daher ging mir die Arbeit nie aus.
Nachtübung. Aufgeteilt in Züge streift unsere Kompanie durch die Wälder, ich als Schreibhengst die Schreibmaschine auf dem Rücken. Wir haben leise das Lager einer feindlichen Kompanie zu umzingeln. Dabei dürfen wir keine Lampen verwenden. Der Himmel ist bedeckt, man sieht so gut wie nichts. Jeder versucht, in Reichweite seines Nebenmannes zu bleiben. Irgendwann stellen wir fest, dass wir nur noch sieben sind, weil wir den Anschluss an die Andern verloren haben. Wir haben keine Ahnung, wo wir sind und in welche Richtung wir durch die Finsternis stolpern sollen. Also entschließen wir uns bergab zu gehen. Da müssen wir doch zwangsläufig zurück in die Zivilisation gelangen. Richtig! Wir stoßen auf eine Straße und folgen auch dieser bergab. Ein paar Häuser tauchen auf aus der Dunkelheit, eins davon ein Gasthaus. Das kommt ja wie gerufen. Im Kampfanzug und bewaffnet gehen wir Bier trinken. Zwei alte Steirer erklären uns, wie wir nach Zeltweg kommen. Aber bevor wir aufbrechen, müssen wir noch etwas Mut, sprich Bier fassen.
Wenigstens ist das Wetter jetzt angenehm. Der Frühling ist ins Land gezogen. Alles grünt und blüht. Nur von den hohen Bergen grantelt der Schnee noch beleidigt herunter. Er weiß, er muss weg, auch von dort.
Im Lauf der Zeit habe ich mich mit einem Kameraden angefreundet. Mit Rudi Zoiner bin ich des Öfteren im Soldatenkino auf dem Kasernengelände. Wir wundern uns über den Aufdruck auf den Kinokarten: 'Inklusive Fremdenverkehrsabgabe'! Wird schon seine Richtigkeit haben. Unsere Ausbildner nennen uns auch manchmal 'Touristen'. Wir sehen Problemfilme wie 'Wilde Erdbeeren' oder 'Das Schweigen' von Ingmar Bergman. Anschließend diskutieren wir stundenlang darüber und schweifen ab auf alle universellen Fragen, die uns noch Jugendliche brennend beschäftigen. Rudi neigt im Gegensatz zu mir zur Religiosität.
Ich hingegen habe meine Zweifel. Noch ist es nicht lange her, dass ich von sehr kontroversiellen Einstellungen beeinflusst war. Tinos Aufgeklärtheit. Opas Gleichgültigkeit. Mama und Oma mit ihrer infantilen und doch nicht praktizierten Religiosität. Die Erziehung bei den Sängerknaben, streng religiös praktizierend aber ohne den tiefen Glauben. Der Sprössling des Direktors, der beim gemeinsamen Frühstück sein Butterbrot unter den Tisch fallen ließ, um der Betreuerin unter den Rock zu schauen. Das Gymnasium, zwei jüdische Mitschüler waren immer vom Religionsunterricht ausgeschlossen. Sie wären aber gern dabei gewesen, wenn wir den geistlichen Religionslehrer mit verschiedenen durchtriebenen Aktionen zur Weißglut brachten oder weil er sich gerne überreden ließ, uns anstatt biblischer Geschichten solche von Jack London zu erzählen. Aber auch außerhalb dieser Jack-London-Stunden war Religion unter uns kein Thema, jedenfalls nicht vordergründig. Wir waren weltoffen und tolerant.
Weltoffen und tolerant ist auch Rudi, dazu noch religiös. Er betet im Stillen, strebt eine geistliche Laufbahn an. Ich habe Respekt vor seiner Überzeugung, bete aber trotzdem nicht. Es macht keinen Unterschied, wenn wir zu den Sternen hinaufschauen.
Fremdenverkehrsabgabe! Ja, sind wir hier im Urlaub? Schön, dann lassen wir uns aber auch nicht mehr einsperren, wenigstens nicht in unserer Freizeit. An Wochenenden, wenn wir keinen Dienst haben, verlassen wir (ohne Urlaubsschein verbotenerweise) die Kaserne durch ein Loch im Zaun und wandern auf Feldwegen und Waldpfaden durch die herrliche Gegend. Die meisten Wochenenden fährt Rudi allerdings nach Hause, dann wandere ich allein. So bin ich allein unterwegs, als der leicht ansteigende Weg auf eine Anhöhe zu führt. Oben angelangt, trifft mich vor lauter Überraschung fast der Schlag. Es passiert mit mir dasselbe, was mich schon als Knabe umgehaut hat, als plötzlich in der Ferne am Ende der Vorstadtstraße das Schloss Schönbrunn im Sonnenlicht lag. Dasselbe wie in jener Sommernacht, als der Vollmond für mich völlig überraschend in den Erdschatten trat. Da unten in dem grünen Tal, umgeben von hohen, noch schneeweißen Bergen, da unten liegt ein Dorf. Ein Dorf, na schön. Wie von einem Scheinwerfer wird das Dorf durch eine Lücke in dunklen Wolken angestrahlt. Ein Dorf im gebündelten Sonnenlicht, na schön. Aber dann, dieses Dorf schmiegt sich an einen riesigen Palast! Die Sonne lässt sein Gelb golden leuchten, funkelnd spiegelt sie sich in vielen von den Hunderten Fenstern in der Flanke des Palasts. Zwei klobige Kirchtürme ragen über ihn hinweg, also ein Stift! Fast laufend überwinde ich die Strecke hinunter zu meiner Entdeckung. Auf den Schildern mit den Hausnummern steht 'Seckau'. Ich erinnere mich, von einem Stift Seckau schon gehört zu haben. Also, es ist schon ein Unterschied, ob man sich einer Sehenswürdigkeit gezielt nähert, oder ob das Schöne sich völlig unerwartet darbietet!
Das Unerwartete, die wichtigste Zutat zur Liebe auf den ersten Blick.
Allein war ich auch unterwegs in etwas höhere Gefilde. Die ganze Zeit schon hatte mich ein weißer Punkt weit oben auf dem Gipfel eines der nördlichen Berge hoch über Seckau fasziniert, der im Sonnenschein golden leuchtete. Dort hinauf wanderte ich an einem Samstag. Es war schon später Nachmittag, als ich das kleine Wallfahrtskirchlein erreichte. Die Gegend unter mir lag traumhaft in der Abendsonne.
Unbekümmert schaute ich umher, um ein geeignetes Nachtlager zu entdecken, wo ich nicht die Heiligkeit der Kapelle entehren brauchte. Nach einigem Umherstreifen erblickte ich etwas unterhalb eine gedrungene Almhütte. Dort traf ich auf eine Sennerin. Sie sah aus, wie die absichtlich witzig dargestellten Sennerinnen auf Postkarten. Unmöglich, ihr Alter einzuschätzen. Sie bot mir Milch, Käse und ein einfaches Schlaflager an. Wir saßen auf einer Holzbank vor der Hütte, aßen und schauten. Der Magen wurde satt, die Augen nicht. Die Sennerin legte sich zeitig hin. Ich selbst aber nicht, bevor die unglaublich nahen funkelnden Sterne schon ein schönes Stück ihres Weges zurückgelegt hatten und die Kälte aus dem Dunkel unter ihnen heranschlich. Ich fand es kribblig, ganz allein auf dem Berg mit der fremden Frau. Ob es ihr auch so ging? Ich werde es nie erfahren. Es gibt Geheimnisse, die für immer unaufgelöst bleiben.
Wir dürfen ohne besondere Genehmigung den Garnisonsbereich nicht verlassen. Judenburg, etwa zehn Kilometer entfernt, gehört nicht mehr dazu. Von dort stammt einer meiner Kameraden, Franz Brehm. Franz besitzt ein Puch Moped
DS50, mit
dem wir immer wieder Vollgas nach Judenburg fahren. In einer kleinen Gemeindewohnung in der Burggasse hat Franz bis zur Einberufung zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester gewohnt und ich darf mitkommen, wenn er sie besucht. Die Mutter ist eine rundliche Frau, immer mit Handarbeiten beschäftigt. Heute frage ich mich, ob sie es als Steckenpferd tat oder aus ökonomischer Notwendigkeit. Im Gegensatz zu Franz spricht sie keinen ausgeprägten steirischen Dialekt. Die ganze Atmosphäre kommt mir irgendwie sehr deutsch vor, badisch würde ich heute vermuten. Franz‘ Vater dürfte eine NS-Vergangenheit gehabt haben, aber darüber wird nicht gesprochen. Er ist jetzt vierzig, ein kleiner drahtiger Steirer. Angeblich hat er eine Bombenkondition und braucht für jede Bergbesteigung nur die halbe Zeit. Die Steirer haben einen schönen Brauch. Zu Ostern zieht die ganze Großfamilie samt Onkel, Tanten, Enkel und den betagten Omas und Opas hinaus zu den Landgasthäusern. Zu Mittag essen sie dort Rindsuppe, Backhendl und Gugelhupf mit Schinken und Kren. Ich bin von den Brehms eingeladen. Die Backhendl, mit Haut paniert, schmecken köstlich. Für mich überraschend auch Schinken und Kren zusammen mit dem Kuchen. Vater Brehm ist kein Italienfan. "So a Mäul voi Kaffee, da fahr i liaba zu de Jugo!"
Die Mutter, beeindruckt von meiner musikalischen Vergangenheit, legt daheim immer wieder die Platte mit der 'Kleinen Nachtmusik' auf, die ich im Zuge dieser Besuche ziemlich gründlich kennenlerne.
Gegen Ende des Präsenzdienstes lerne ich Uschis Freundin Brigitte kennen. Sie ist viel fraulicher als die mädchenhafte Uschi und trägt ziemlich sinnliche Züge um die Lippen. Wenn Brigitte eine Carmen ist, so ist Uschi Micaëla. Brigitte wird eine Anstellung als Sekretärin in Wien annehmen und anfangs in der Wohnung eines Onkels in der Latschkagasse wohnen. Ein Fenster ist zum Währinger Gürtel gerichtet. Von sehr früh morgens bis sehr spät abends ist diese Wohnung eine verkehrsakustische Hölle, danach das Fegefeuer. Eines Morgens betritt dieser Onkel die Wohnung und erwischt mich beim Rasieren. Brigitte ist schon zur Arbeit. Der Onkel ist viel konsternierter als ich. Später mietet Brigitte eine idyllische Dachwohnung in der Gernotgasse und einen Frühling lang bin ich ihr Don José. Dann beginnt sie, ohne weitere Erklärungen spät nachts heimzukommen und schließlich auch ganze Nächte weg zu bleiben. Escamillo? Ich leide. Es gibt in der Innenstadt ein ungarisches Lokal, das Ilona Stüberl, die machen herrliches Halászlé, paprika-feurige Fischsuppe. Ich kaufe ein riesiges Billet, fahre ins Ilona, reserviere einen Tisch und stelle das Billet darauf. Abends komme ich mit Brigitte ins Lokal. Die Gäste rundum mustern uns teils amüsiert, teils indigniert und mir scheint, der Ober dazu noch
abschätzig. Auf unserem Tisch weithin sichtbar das riesige, abgeschmackte Billet mit einem traurigen Clown und der schreienden Mitteilung 'Ich kann nicht leben ohne dich'. Brigitte scheint es zu gefallen, doch ich finde die Szene erbärmlich, obwohl ich sie mir selber eingebrockt habe. An diesem Abend schmeckt mir im Ilona gar nichts.
Die Aktion hat Brigittes Verhalten nicht geändert. Irgendwann kommt sie um eine Rechtfertigung nicht mehr herum und eröffnet mir ihre Liebe zu einem Fünfzigjährigen. Fünfzig! Sie liebt einen Greis! Wie unappetitlich! Jetzt leide ich noch mehr, aber weniger am Verlust Brigittes, sondern an jenem Uschis.
Zurück zum Heer. Eines Tages kommen wir auf die Idee, zu viert mit der Renault Dauphine, die mir meine Mama geliehen hat, nach Wien zu fahren, auf ein Bier halt, wie andere nach Krakau um eine Wurstsemmel. Nach dem Dienst fahren wir los und am Abend machen wir die Straßen der Hauptstadt unsicher. Auf dem Albertinaplatz bin ich kurz abgelenkt, sehe aber gerade noch einen Steyr Baby vor mir anhalten. Mein rechter Fuß steigt entschlossen auf die Bremse und schon kracht’s. Bremsversagen war es nicht. Ich bin auf das Kupplungspedal getreten. Dem Baby ist nicht viel passiert, das Heckblech leicht eingedrückt. Der Vorderteil der Dauphine
ist jetzt aber wenigstens dreißig Zentimeter kürzer.
Der Babyfahrer ist offenbar beeindruckt von den vier Uniformierten, die ihn umringen. Er ist einverstanden, dass die Sache ohne Polizei geregelt wird, sonst würden wir wenigstens eine Woche Arrest ausfassen. Wir machen uns an die nächtliche Heimfahrt. Gottseidank sind die Scheinwerfergläser nicht gebrochen. Allerdings strahlen die Lichter in völlig verrückte Richtungen.
Die Heimfahrt verläuft ohne Besonderheiten, aber ein paar Wochen später eine Fahrt nach Knattlefield, es schüttet Schusterbuben. Die Reifen geraten in Aquaplaning, der Wagen dreht sich, glücklicherweise kein Gegenverkehr, und landet breitseitig an einem Holzgeländer. Mein Begleiter, für den ich die Fahrt unternommen habe und der schon in Wien dabei gewesen war: "Gelt, aber Auto fahrn kannst net?!“
Jetzt bleibt mir nichts anderes mehr übrig, ich muss Mama informieren, dass ihr Auto leicht beschädigt ist. Sie ist zufrieden, dass dem Rainerle nichts passiert ist. Sie wird mit einem Bekannten, Automechaniker, nach Zeltweg kommen, um den Wagen flott zubekommen. Der wird die Hände vors Gesicht halten und mit erschütterter Stimme behaupten, dass da für ihn, 250 Kilometer von seiner Werkstatt entfernt, nichts zu machen sei. An diesem Mann hatte ich schon immer meine Zweifel. Die Dauphine wird in einer örtlichen Werkstatt repariert und ist danach nur noch innen gelb, außen aber weiß. Hat eine schöne Stange Geld gekostet.
Endlich ist die Zeit zum Abrüsten gekommen. Ich gebe meine Heeressachen an die Ausrüstungsstelle zurück. Die Feldmenage muss ich bezahlen. In ihr befinden sich noch immer die inzwischen stark veränderten Reste einer Proviantration, die wir irgendwann im vergangenen Herbst für eine Übung ausgefasst hatten. Ich hatte das Gefäß seither nicht wieder geöffnet. Ein unmenschlicher Gestank breitet sich aus, als der Wachtmeister den Deckel von dem Behälter abnimmt. Er wirft das Ding in hohem Bogen aus dem Kasernenfenster als wäre es eine scharfgemachte Handgranate. Ich sehe die Büchse im hohen Schnee versinken. Sie wird dort für mehrere Monate ausstinken.
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