16 Schule ade

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Schule ade

worin vorkommen:  die Kirche 'Zur  Heiligen Familie" in der Arnethgasse in Wien, Hans Bauernfeind, 'Der Hölle Rache tobt in meinem Herzen' aus der 'Zauberflöte, sowie ein Suizid

 Mein Stimmbruch ist jetzt abgeschlossen. Alle sängerischen Aktivitäten eingestellt. Während der fünften Klasse konnte ich noch Sopran singen, wenngleich nicht auf dem Niveau der Wiener Sängerknaben. Viele staunen über meine 'Königin der Nacht' 'Der Hölle Rache'. Jedenfalls hat es gereicht für den Kirchenchor der 'Heiligen Familie' in der Arnethgasse, der von Hans Bauernfeind geleitet wurde, meinem Musikprofessor in der Schule, auch anerkannter Komponist spätromantischer Werke. Sein Nachfolger im Kirchenchor wurde ein junger bärtiger Mann. Mit ihm saß ein großer Teil des Chors nach Aufführungen oder Proben im Gasthaus zusammen. Leider hat er sich nach einiger Zeit das Leben genommen.

 

Jetzt, in der Sechsten liegt das alles hinter mir. Ich wende viel Zeit auf für meine Brieffreundschaften und diese Zeit fehlt mir beim Stucken. Deutsch und Englisch fallen mir leicht, Mathematik und Latein gar nicht. Physik und Geographie interessieren mich, Geschichte finde ich langweilig. Das merkt auch unser Geschichtslehrer. Der unterrichtet uns auch in Geo, folglich bekomme ich schlechte Zensuren in beiden Fächern. Meine Englischaufsätze sind ungewöhnlich in Form und Themeninterpretation, meine Mitschüler sind begeistert. Je mehr, desto sicherer steht unter meinem Aufsatz 'Thema verfehlt'. Den Englischlehrer nennen wir 'das Schwein', weil er in seinen Beurteilungen von einmal gefassten Meinungen nicht abrückt. Um es zu beweisen, haben wir einmal zwei Arbeiten ausgetauscht, die des Besten gegen die eines immer Unterdurchschnittlichen. Das Resultat war wie von uns vorhergesehen. Der Gute fasste ein Genügend aus, der Schwächere ein Gut. In Mathematik hätte ich die Formeln lernen müssen, in Latein Vokabel und Grammatik. Unterhaltsamer habe ich es gefunden, einen Brief von Anneli Karjalainen aus Salo zu beantworten. Meine Mitschüler haben Lerngruppen gebildet, was vorteilhaft für alle Beteiligten ist. Ich gehöre keiner von ihnen an. So werden meine Ergebnisse immer schlechter. Im letzten Trimester ist absehbar, dass ich ein negatives Zeugnis bekommen werde. Ich sehe nicht, wie ich das noch ändern könnte. Gleichzeitig graut mir vor den weiteren drei Jahren dieser Tortur, Wiederholung der Sechsten und noch zwei Jahre bis zur Matura. Man kann sich fragen, wieso, wenn schon nicht die Eltern, keiner meiner Lehrer auf mich eingegangen ist, mich motiviert, einen Notfallsplan mit mir aufgestellt hat. Vermutlich bin ich zu unscheinbar, einer, der durch nichts Positives auffällt, der kaum vorhanden ist und niemandem fehlen wird. Einer derer, die ganz klar zum systemimmanenten Abfall gehören, die abfallen sollen. Das Russenkind.

 

Mein Entschluss ist gefasst. Ich werde die Schule verlassen. Irgendwie werde ich mich schon durchschlagen im Leben, auch ohne Matura. Tino erklärt mir, wie wichtig es wäre einen Schulabschluss zu haben, aber in einer Weise, die durchblicken lässt, dass auch er meine Zukunft nicht grundsätzlich gefährdet sieht, wenn ich Schluss mache. Das Wirtschaftswunder ist in voller Blüte, Arbeitslosigkeit überhaupt kein Thema. Schließlich nehmen Tino und Mama es als gegeben. Mama redet mit dem Klassenvorstand. Dem wird jetzt klar, dass da etwas ziemlich schief gelaufen ist. Rot blinkt seine Alarmlampe. Vielleicht sollen die Weichen jetzt doch noch umgestellt werden, denn er versucht, mich zu erpressen. Wenn ich meinen Entschluss wahr mache, wird er mir ein negatives Zeugnis ausstellen. Was wohl heißt, dass ich andernfalls durchkomme. Zu spät. Ich habe es satt, dass andere bestimmen, was mit mir passiert. Das will ich selber tun. Mein Entschluss ist gefasst.

 

Mein Abgangszeugnis ist jetzt doch nicht negativ. Ich bin frei. Ich träume von einer Zukunft im Ausland. Die Ausländer, die ich kennengelernt habe, die Engländer, Australier, Südafrikaner, sie sind alle so offen. Ich studiere die Möglichkeiten einer Einwanderung. Da schwindet die Offenheit sehr rasch dahin. England würde nur Leute mit abgeschlossener Berufsausbildung aufnehmen, Australien würde weitgehende Unterstützung bei der Integration leisten, aber ebenfalls nur fertigen Fachkräften. Südafrika erscheint noch am offensten. Tino hat nichts gegen meine Pläne. Bleibe im Lande, sagt er nicht. Nähre dich redlich, schon.


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