worin vorkommen: il Mare Tirreno, Napoli, Roma, ilGolfo di Gaeta, laCosta Circea, Mondragone, Sabáudia, Latina, Formia, Terracina, Salerno, Bari, Granada, Brescello, Algier, Don Camillo, 'Der Fliegende Hölländer', Selim Bassa, sowie ein frecher Einbruchsdiebstahl
Fast ein halbes Jahrhundert suche ich schon nach ihm. Er war dort, damals. Annamaria und ich haben so oft von ihm gesprochen, seither. Er war bestimmt kein Traum, den wir zu zweit geträumt haben. Es hat ihn wirklich gegeben. Immer wieder sind wir ihm nachgefahren, wenn wir in der Gegend waren. Ich habe versucht, denselben Weg zu nehmen. Immer die dem Meer am nächsten liegende Straße und sei sie auch noch so unbedeutend und abgelegen. Selbst nachdem wir schon lange getrennt waren, habe ich nicht aufgehört, ihn zu suchen. Umsonst. Es ist, als hätte es ihn nie gegeben. Als hätte er sich davongemacht, entschwunden mit seiner Korvette über die Weiten des Tirreno zurück ins Nichts.
Aus solchem Nichts ist er auch aufgetaucht, damals dort. Wir rumpelten in unserem braven R4 mit der eingeschlagenen Seitenscheibe über kleine, abgelegene und endlose Landstraßen. Es war unsere Absicht, die großen Durchzugsstraßen zu meiden, welche der kürzesten Linie folgen, die kurvige Küste begradigend und immer von starkem und lautem Verkehr geplagt. Wir zogen es vor, immer so nahe am Ufer zu bleiben wie nur möglich. Auf diese Weise brauchten wir eine Ewigkeit von Napoli hinauf Richtung Roma, aber unser Eindruck vom Golfo di Gaeta und der Costa Circea war dafür unvergesslich. Wo genau wir auf seine Korvette gestoßen sind, kann ich nicht mehr sagen, sonst hätte ich an der Stelle genauer nach Spuren von ihr forschen können. Es muss irgendwo um Mondragone gewesen sein oder zwischen Sabáudia und Latina, denn der Strand war flach und nicht steil wie zwischen Formia und Terracina. Vermutlich war es doch nördlich von Sabáudia, weil wir doch schon so lange unterwegs waren. Hunger und Durst plagten uns bereits sehr, sodass wir bereits daran dachten, die nächste Verbindung zurück zur höllischen Hauptstraße zu nehmen, um ein Ristorante zu finden. Da tauchten aus dem Sand des Strandes ein paar Planken auf, die etwas wie eine gestrandete Korvette sein konnten. Näherkommend sahen wir, dass es eine niedrige Hütte war, die da fernab jeder Ansiedlung am rechten Straßenrand lag. Ich hielt an. Wir stiegen aus dem Auto. Links der Straße waren es nur dreißig Meter bis zum Wasser. Laut und ungestüm rollte die Brandung heran. Mare mosso. Die verwitterte Holzhütte streckte sich hin an dem Sträßchen. Eine Reihe kleinflächiger Fenster lief die Fassade entlang. Neben der Tür in ihrer Mitte stand er. Il Corsaro, wie man ihn von zahlreichen Illustrationen in Piratenromanen kennt. Hochgeschlossen sein schwarzer Mantel bis fast hinunter an die Stiefletten mit silbernen Spangen, die kurze Passage dazwischen in der ebenso schwarzen Hose, deren Beine in den Schuhen verschwanden. An der gleichfalls schwarzen Schärpe um die Mitte baumelte die leere Scheide für den Säbel, dessen Spitze er mir mit gestrecktem Arm entgegen reckte. Würde er mich durchbohren, so wäre mein Tod wenigstens elegant, denn er käme von seiner mit Spitzenhandschuhen bedeckten Rechten. Ich fragte mich, wo der linke Handschuh wäre. Die Hand bedeckte er nicht. Die fehlte. Ein grober Eisenhaken ersetzte sie. Langes schwarzes Haar quoll unter einem Napoleonhut hervor, von dem der weiße Totenkopf und die gekreuzten Gebeine drohten. Gesagt hat er nichts, denn sein Schädel war aus Holz geschnitzt. Verwegene Züge hat sein Schöpfer ihm verpasst und selbstverständlich die obligate schwarze Binde über das linke Auge. In der rechten Augenhöhle saß eine Glasmurmel. Der bohrende Blick stach direkt in den meinen. Sein Teint war dunkel, wenn auch verblasst. Kein Wunder, er musste schon etliche Jahrhunderte auf dem Buckel haben. Aus Holz schien nur der Kopf zu bestehen. Alle anderen Accessoires waren echt. Der Mantel aus Leder wie die Stiefel. Die Hose Samt. Die Schärpe schwarze Spitze. Die Scheide Leder. Der Säbel ehern. Der Dreispitz Filz. Sogar das Haar schien echt. Dadurch gewann die Figur ein sehr lebendiges Aussehen. So stand er da, etwas kleiner als ich selbst, was ihn dennoch nicht minder gefährlich scheinen ließ. Solche Begrüßung verhieß nichts Gutes. An der Tür neben dem Corsaro hing ziemlich schief seine aus Holz geschnitzte Visitenkarte: 'Il Corsaro'. Wir hätten ihn auch so erkannt.
Einen Augenblick wunderte ich mich, wie man Gegenstände wie etwa den Ledermantel, der, selbst wenn er ziemlich abgenutzt war, für jeden Minderbemittelten einen gewissen Wert darstellte, so unbeaufsichtigt in der verlassenen Gegend stehen lassen konnte. Mein Blick schweifte zurück zum Auto, dessen Seitenscheibe seit Salerno fehlte. Wir hatten in einem billigen Hotel am Stadtrand übernachtet und nach dem Frühstück den R4, unseren grünen Frosch, vollgepackt. Wir waren am späten Abend angekommen und hatten von Salerno nichts gesehen. Jetzt wollten wir wenigstens den Dom anschauen, bevor wir die Stadt endgültig wieder verließen. Ich fuhr durch die gewohnte südländische Verkehrshölle ins Zentrum. Der normannische Dom liegt auf einer Anhöhe. Von der darunterliegenden Piazza führt eine beeindruckende breite Freitreppe zum Portal. Die Piazza ist von den Hauptverkehrsstraßen abgeschirmt und daher im Vergleich angenehm ruhig. Wir ließen unseren grünen Frosch am Fuß der Treppe stehen und stiegen hinauf zum Dom. Mehrmals wandte ich mich um mit besorgtem Blick, verdächtige Gestalten zu erspähen, die es auf unsere Habe abgesehen haben könnten.
Meine Gefühle um die Gefahr durch Gaunereien waren sehr gemischt. Einerseits versicherte mir Annamaria immer wieder, das sei alles übertrieben. Und wirklich hatte ich bei meinen vielen Italienaufenthalten keinerlei unangenehme Erfahrungen gemacht. Andererseits war es Tatsache, dass man hier Vorrichtungen verkaufte und überwiegend verwendete, die es erlaubten, das Autoradio bei jedem auch noch so kurzen Halt aus seinem Sitz zu ziehen und einfach mitzunehmen. Sonst wäre es danach sicher weg. In Bari saßen Frauen auf Sesseln vor ihren Häusern und genossen die einsetzende Abendkühle. Als wir verliebt und unbesorgt durch die dunklen Gassen an ihnen vorüberschlenderten, warnten sie Annamaria, "Signora, la borsa!" Wir bewahrten danach die Handtasche zwischen uns beiden vor plötzlichem Entschwinden.
Hier in Salerno auf der Piazza unterhalb des Doms war nichts Verdächtiges zu bemerken. Sicherheitshalber trat ich nach wenigen Minuten nochmals hinaus vor das Portal, um nach dem Rechten zu sehen. Alles schien völlig harmlos. Also kehrte ich in den Dom zurück und wir sahen uns um. Die Besichtigung dauerte nicht länger als eine halbe Stunde. Dieser Dom war wunderschön in seinem harmonischen Ebenmaß, aber nicht so übervoll mit atemberaubenden Kunstwerken wie viele andere Kirchen in Italien. Wir kehrten zum Wagen zurück. Ich trat auf die Glassplitter von seiner Seitenscheibe. Das Auto war leer. Autoradio perdu und verschiedenes Anderes. Aus dem Kofferraum hatten sie nichts genommen, dazu hätten sie die Heckklappe aufbrechen müssen. Vielleicht hatten wir auch die Diebe gerade noch gestört. Die Glassplitter waren überall vorne im Wagen. Wir verwendeten eine Zeitung, um sie notdürftig zusammenzukehren und zu entfernen. Einige Passanten schauten uns dabei zu, interessiert, aber schweigend. Ich bemerkte, dass Annamaria beim Putzen wie ein Luchs auf ihre Tasche aufpasste. Wenigstens besaßen wir ja noch unser Geld und die Ausweise. Auf eine Anzeige bei der Polizei verzichteten wir. Noch einen Tag wollten wir in dieser Stadt nicht verbringen. Gleich nachdem wir Salerno hinter uns gelassen hatten, stoppten wir an der Seite der Bergstraße in einer schattigen und ebenen Ausweichstelle. Etliches noch verbliebenes Bruchglas sollte entfernt werden. Solange wir den Frosch hatten, würden immer wieder vereinzelt Splitter zum Vorschein kommen. Auch wollten wir Inventur machen, anhand der noch vorhandenen Sachen feststellen, was fehlte. Wir breiteten alles, was noch da war, auf dem Boden aus. Es sah aus wie eine Zigeunerrast. Wir hörten ein Moped den Berg heraufkommen. Als es um die Kurve kam, nahm der junge Bursche, der es lenkte, Gas weg. Indem er die Szene aufmerksam betrachtete, fuhr er langsam an uns vorbei. Kurz danach kehrte er wieder um. Offenbar betrieb er zusätzliche Aufklärung. Natürlich kam er abermals zurück. Diesmal hielt er an, nur wenige Meter von uns entfernt. Er betrachtete unsere Sachen eingehend. Es sah genau so aus, als würde er den Wert der Gegenstände taxieren, um sich zum Mitnehmen das auszusuchen, was am lohnendsten schien und was er auf dem Moped befördern konnte. Er sagte dabei nichts, vermutlich weil das fremde Kennzeichen ihn annehmen ließ, wir würden ihn nicht verstehen. Der Bursche und ich, wir beide blieben angewurzelt stehen, denn aus Annamaria brach es heraus wie eine Salve aus einem Maschinengewehr. Sie brüllte den Jungen an, hassvoll fauchend wie ein Schwan, der seine Brut verteidigt, holte sämtliche schmutzigen Schimpfwörter hervor, die sie je gehört hatte. Manche kannte ich schon, die anderen musste sie mir später erklären, bei mehreren weigerte sie sich aber. Sie atmete nicht beim Schreien, obwohl der Monolog nicht enden wollte. Sie hörte nicht auf damit, ehe der verdatterte junge Mann sein Moped nahm und in der Kurve verschwand. Dass die Schimpfkanonade italienisch auf ihn einprasselte, hat ihn offenbar so überrascht, dass er sich ohne Beute aus dem Staub machte.
Mit solchen Erlebnissen frisch im Kopf war es mir sehr recht, dass unser Wägelchen direkt vor der Korvette des Korsaren parkte. Ich warf noch einen Blick auf den Frosch und sah Annamaria danebenstehen. Also konnte ich beruhigt nachsehen, ob jemand da war. Die Tür stand halb offen. Durch den Spalt sah ich ein paar kleine viereckige Tischchen auf der Veranda mit roten Tischdecken und sauberen weißen Tüchern darauf. Aus Stoff, wie es sich gehört in Italien. Die Wände waren dekoriert mit Seemannsplunder, Fischernetz und den Panzern von Schalentieren, Säbeln, Pistolen und gerahmten Fotos. Es sah einladend aus. Ich trat einen Schritt näher und vernahm ein Geräusch aus einer Ecke der Veranda, die vorher für mich nicht einsehbar gewesen war. Jetzt erblickte ich dort einen einsamen Gast, der über einen Teller gebeugt Spaghetti wickelte. Er war in eine schwarze Soutane gekleidet, aus dem Kragen ergoss sich eine große weiße Serviette über den Großteil seiner Brust. Der Sugo hatte schon einige Einschüsse hinterlassen. An der Lehne des ihm benachbarten Stuhls hing ein schwarzer Hut, eine Melone mit riesiger Krempe. Einen solchen Hut trug Don Camillo, wenn er auf Reisen war, erinnerte ich mich. Jetzt fiel mir auf, dass dieser Geistliche Don Camillo sehr ähnelte. Nein, er war Don Camillo. Die lange Nase in dem noch längeren Pferdegesicht. Es fiel mir schwer zu glauben, dass das nicht sein konnte. Ich trat in die Hütte. Don Camillo blickte kurz auf und wickelte gleich wieder weiter. Die Pasta schien ihm zu schmecken. Ich kramte mein noch mangelhaftes Italienisch zusammen. "Buon appetito, Monsignore. Kann man hier essen?"
"Der Corsaro ist in der Küche", antwortete Don Camillo. "Er wird gleich wieder da sein. Setzen Sie sich nur. Wenn Sie mögen, auch hier bei mir."
Ich winkte Annamaria heran, nachdem ich mich versichert hatte, durch ein kleines Fenster freie Sicht auf unseren Frosch zu haben. Wir nahmen die Einladung Don Camillos an und setzten uns zu ihm.
"Wie kommen Sie in diese Gegend? Der Corsaro steht doch in keinem Fremdenführer?", fragte Don Camillo. Annamaria erklärte es ihm. Überhaupt übernahm sie weiterhin den Großteil der Konversation. Sie schien sich prächtig zu verstehen mit Don Camillo und auch er sprach angeregt, ja fast enthusiastisch mit ihr. Ich selbst hörte zu, das heißt, ich versuchte zu erraten, wovon sie redeten. Damit hatte ich kein Problem. Ich war es so gewohnt. Ich weiß, dass manch einer es nicht ertragen kann, wenn in seiner Gegenwart ihm Unverständliches gesprochen wird. Sie halten es für eine Unart, eine Rücksichtslosigkeit. Ist es aber nicht ihre eigene Unsicherheit, wenn das sie aus der Fassung bringt? Wenn sie vermuten, man rede ungebührlich über sie oder die Rede richte sich gar gegen sie. Jedem Blick, jedem Lächeln schreiben sie eine abschätzige Bedeutung zu, insbesondere jedem Lachen. Durch meine Erfahrungen mit Annamaria in Italien haben solche Situationen den Schrecken für mich verloren. Ich wusste, Annamaria würde mir im geeigneten Augenblick alles erklären, und ich freute mich darauf. War es denn die Schuld derer, die da redeten, dass ich nicht verstand? Nein, eher empfand ich mein Manko als persönliche Behinderung, die es zu überwinden galt. Trotzdem, in so manchem Augenblick blieb auch in mir ein Zweifel zurück, was da vorginge. In Augenblicken wie diesem, als Don Camillo herzlich lachend Annamaria zuprostete, sich ihr entgegen neigte und auf die Wange küsste. Annamaria errötete lächelnd. Don Camillo bemerkte, dass wir noch nichts zu trinken hatten. "Moro!", rief er laut in Richtung zur Tür, die weiter hinein in die Hütte führte. "C'è gente!"
Von dort hörte man Geschirr klappern. Binnen Kurzem erschien der Wirt. Er war gekleidet wie der Corsaro vor der Tür unter dem Ledermantel gekleidet sein mochte. Schwarzes Wams mit roter Schärpe. Er war unbewaffnet und an Stelle des Eisenhakens am linken Arm trug seine Hand einen Teller mit einem Stück gebratenem Fleisch, in der anderen eine Schüssel Salat. Es sah sehr appetitlich aus. Der Moro war ebenso klein und schmächtig wie sein Abbild vor der Tür. Seine Hautfarbe war dunkelbraun, abgesehen von den weißen Handflächen. Ich konnte sein Alter nicht schätzen. Er schien keines zu haben. Er stellte das Essen auf den Tisch vor Don Camillo und nahm den leeren Spaghettiteller an sich. An uns gerichtet sagte er "Salām".
Salām! Wenn er uns damit nicht Salame anbieten wollte, war der Wirt wohl Araber? Vom Äußeren her war er mehr Tunisino oder Marocchino. Ich sagte, "Buona sera", da es schon weit in den Nachmittag hineinging. Annamaria sagte, "Salve". Ich hatte damals wenig Ahnung von Sarazenen und Korsaren. Stattdessen war mir das Geisterschiff des 'Fliegenden Holländers' gut vertraut. Umso seltsamer kam mir all das hier vor. Später lernte ich, dass es sich bei den Korsaren oft um Mauren handelte, die nach der Reconquista aus Spanien vertrieben wurden. Die christlichen Herren, die zuerst friedliche Koexistenz mit den Mauren vereinbart hatten, vertrieben sie aus Südspanien ebenso erbarmungslos wie die Juden. Worauf vielen Sarazenen gar nichts anderes übrig blieb, als auf dem Meer die Handelsschiffe zu attackieren, um Beute zu machen. Manche von ihnen mögen die Piraterie an den Christenhunden mit Genugtuung betrieben haben.
Don Camillos Weinflasche war fast leer. Er bestellte beim Moro mehr Vesuvio. Keiner fragte, was wir trinken wollen. Es gab weißen Vesuvio und Wasser. Und basta. "Mangiare?", fragte der Corsaro. Ich wünschte mir das Gleiche wie Don Camillo, Annamaria war derselben Idee. "Spaghetti alle vongole, poi tagliata e insalata verde", bestätigte der Moro und verschwand in der Hütte. Gläser standen schon auf dem Tisch. Don Camillo goss den Rest Vesuvio in unsere Gläser und stieß mit uns an. "Salute", sagten wir. Don Camillo ergänzte, "Di corpo come d'anima". Gegen den Durst leerten wir die Karaffe mit Wasser. Ich wunderte mich, dass der Corsaro so freizügig mit Wein umging. War er denn nicht Muslim? Ich dachte an Selim Bassa und alles war klar. Während er seine Tagliata verspeiste, unterhielt sich Don Camillo weiterhin mit Annamaria. Das Gespräch flog nur so dahin. Ich war gespannt, was Annamaria darüber erzählen würde. Ich fragte mich, wie der Corsaro hierher gelangte. Unser Frosch schien das einzige Fahrzeug zu sein weit und breit. Wohnte er auch hier in dieser Hütte? Wie beschaffte er die Ware? Aber auch Don Camillo. Nicht einmal ein Fahrrad habe ich gesehen. Das Essen war über jeden Zweifel erhaben. Die Spaghetti hatten eine wohlige Schärfe, die Tagliata schmeckte rauchig von der Glut von Buchenscheiten, das Olivenöl über dem Salat bot milde Würze. Und der Vesuvio war trocken, gelb und von angenehmer Säure. Etwas von der Maische schmeckte man noch durch wie bei allen einfach gekelterten jüngeren Weinen. Zum Schluss brachte der Corsaro ein Dessert. Datteln, gefüllt mit Butter und gerösteten Mandeln. Dazu servierte er einen Lacrima Christi in Likörgläsern. Himmlisch.
Ich weiß noch, dass ich mir die Weiterfahrt ziemlich lustig vorstellte, als ich versuchte, auf dem Weg zur Toilette gerade zu gehen. Irgendwie stellten sich mir so viele Sessel in den Weg. Das nächste Bild in meiner Erinnerung ist: Ich erwache im Frosch sitzend, Annamaria neben mir hat den Kopf an meine Schulter gelehnt und schläft. Die Korvette des Corsaro liegt im Dunkel der Nacht. Kein künstliches Licht weit und breit. Dafür scheint der Halbmond silberhell aufs Wasser. In seiner Nähe gleißt ein Stern. Von abertausenden der allerhellste. Das Rauschen des Meeres, jetzt etwas ruhiger. Es ist halb zehn. Ein kühles Lüftchen streicht durch die glaslose Fensteröffnung. Die Armbewegung, mit der ich auf die Uhr schaue, weckt Annamaria. "Glaubst du, du kannst schon wieder fahren?", fragt sie. Ein starker Caffé wär jetzt schön. Aber der Corsaro ist weg. "Sind wir ausgeraubt?", erkundige ich mich. "Nicht wirklich", sagt Annamaria. "Von Geld war keine Rede. Ich habe meine Börse nicht angerührt." Ich war weg. "Wohin ist Don Camillo? Und wie?" Annamaria erklärt mir, wie wir weiter Vesuvio getrunken haben, dann Grappa. Daran erinnere ich mich jetzt dunkel. "Dann hat der Moro dich gestützt bis zum Wagen. Ich bin noch eine Weile mit dem Moro und Don Camillo gesessen. Wir haben getrunken und gelacht. Das heißt, Don Camillo und ich. Der Moro hat nie gelacht. Ist nur gesessen, hat zugehört und geschwiegen. Dann weiß ich nichts mehr. Als ich hier aufgewacht bin, waren beide weg und die Sonne ist untergegangen. Du hast geschnarcht. Da habe ich gemeint, am besten ich schlafe auch weiter."
"Machen wir einen Spaziergang am Strand", schlage ich vor. "Aber der Frosch mit dem offenen Fenster?", gibt Annamaria zu bedenken. "Ist doch keiner da", gebe ich zurück. "Dachten wir in Salerno auch." – "Gut, gehen wir die Straße auf und ab, fünfzig Meter vorwärts, dann zurück, fünfzig Meter rückwärts und wieder zurück. Die paar Meter bis zum Wasser über den Sand können wir auch riskieren. Die Luft und die Bewegung werden uns guttun." Gesagt, getan. Annamaria am Arm wandern wir auf und ab, immer in Sichtweite zum Auto. Die Gegend ist wirklich gottverlassen. Kein Mensch, kein Fahrzeug die ganze Zeit. Annamaria schildert mir, soweit sie sich erinnert, die Unterhaltung mit Don Camillo.
"Es war so witzig. Er hat behauptet, er sei Don Camillo, unterwegs zur Pfarre von Mondragone, wohin man ihn versetzt hat. Mit dem Corsaro sei er schon ewig befreundet, was man so allgemein als ewig meint, nicht ewig im Sinne seines Chefs. Als er noch in Granada Kaplan war, lange bevor er in Brescello Pfarrer wurde, habe er den Moro als jungen Mann getauft. Der Moro hat Koch gelernt am Hof des Principe de Granada, dann haben sie aber dem Moro nicht geglaubt, dass er getauft ist und haben ihn abgeschoben. Auf abenteuerlichen Wegen hat er in Algier auf eine sarazenische Corvetta angeheuert. Sie haben das ganze Mittelmeer unsicher gemacht und alles aufgebracht, was christlich war und ihnen vor die Kanone gekommen ist, Cocche und Galeoni, Caracche, Caravelle und Pinaccie. (Annamaria kannte die deutschen Begriffe nicht.) Schließlich ist er selber Kapitän auf der Corvetta geworden. Mit dem Aufkommen der Dampfschiffe und der schwer bewaffneten Fregatte haben sie die Piraterie aufgeben müssen. Einmal in sieben Jahren darf er irgendwo nach seinem Wunsch an Land gehen. Da treffen sie sich dann immer zum Essen. Sie verständigen sich im Traum über den Ort. Diesmal hat es eben hier geklappt. Der Moro entführt dann immer ein schönes Weib. Sie muss sieben Jahre bei ihm auf der Corvetta bleiben, altert in dieser Zeit aber nicht einen Tag, wie auch der Moro nicht, seit Jahrhunderten."
Ich könnte die Geschichte witzig finden, hätte ich nicht vor wenigen Stunden noch mit Don Camillo und dem Corsaro gezecht. So aber finde ich sie äußerst unheimlich. Außerdem, was hätte ich gemacht, hätte der Corsaro Annamaria mitgenommen aufs Meer? Mir will scheinen, sie wäre nicht abgeneigt gewesen. "Sieben Jahre ohne zu altern, stell dir vor, ein Traum!" Schon, aber nach sieben Jahren wäre sie vielleicht zurückgekommen und ich wäre sieben Jahre älter gewesen.
Der Großsegler des Fliegenden Holländers und Moros Corvetta, sind sie in der Lage, durchs All zu schiffen? Dann wäre es theoretisch möglich, nach einem Turn durch die Krümmungen des Raums unwesentlich gealtert zur Erde zurückzukehren, auf der inzwischen sieben Jahre vergangen sind.
Und Don Camillo auf seinem Fahrrad? Nein, ich glaube die Geschichte immer noch nicht ganz. Sonst hätte ich mir sparen können, mein ganzes Leben nach dem Corsaro zu suchen. Andererseits, hätte ich ihn dann nicht finden müssen? Wer mich kennt, weiß, dass immer wenn von Don Camillo die Rede ist, ein Lächeln über mein Gesicht huscht, so ein Lächeln des Wissens und des Zweifels.
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