32 Götzendorf

Götzendorf an der Leitha

worin vorkommen: Nest, das Leithagebirge, der Neusiedlersee, Kanada, die Burg Neuschwanstein, Schwechat, Aspang, Lockenhaus, die Ukraine, Bozen, Bergamo, Pressbaum, der Wolfgangsee, Auhof, das Salzkammergut,  die Komische Oper (Ost-)Berlin, das Theater in der Josefstadt, Ödön von Horváth 'Kasimir und Karoline', Fritz Zecha, Erik Frey, Heinz Marecek, Peter Sterzinger, Sviatoslav Richter, Karl Richter, Ingmar Bergman, Bertold Brecht, Kurt Weill, 'Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny', Joachim Herz, Josef Herowitsch, Gidon Kremer, die Lockenhauser Konzerte, das Lockenhauser Kammermusikfest, 'Der Alte', sowie zwei nackte Männer nachts vor einem frierenden Panzerkimmandanten

Mein unstetes Leben hat sich beruhigt. Ich bearbeite immer noch Schäden für die Wiener Allianz. Wir sind längst umgezogen ins Raumschiff am Laaerberg. Die Wohnung in der Alserstraße haben wir dem Wetterredakteur von Ö1, Peter Sterzinger, verkauft. Er kam, die Wohnung zu besichtigen. Sie gefiel ihm so gut, dass er uns nach zehn Minuten ohne zu verhandeln die ganze Ablöse wie verlangt aushändigte. Auch für den Schrebergarten hat sich ein Käufer gefunden, trotz Kreisverkehrs. Stattdessen sind wir aufs Land gezogen. Nicht nach Nest, sondern in die entgegengesetzte Himmelsrichtung. In Götzendorf an der Leitha haben wir ein Dorfhaus gefunden, übrigens durch unseren lustigen Nest-Berater, Immobilienmakler Walter. Götzendorf ist bekannt nur durch die in der Nähe befindliche Panzerkaserne. Es ist nicht weit zum Leithagebirge. Jenseits sind schon das Burgenland und der Neusiedlersee. Die Charakteristik der Häuser in Götzendorf so wie in der ganzen Umgebung ist eine Vereinigung des niederösterreichischen Reihenhauses mit dem burgenländischen Streckhof. In den burgenländischen Dörfern stehen die Häuser mit der Schmalseite zur Straße. Im rechten Winkel von der Straße weg zieht sich das Wohnhaus, daran angeschlossen strecken sich die Wirtschaftsgebäude den Feldern zu. In Niederösterreich streckt sich das Wohnhaus mit der Längsseite der Straße entlang, rechts und links berühren sie scheinbar die Nachbarhäuser. Durch das jeweilige Einfahrtstor verbleibt ein Respektabstand, den man aber nicht wahrnimmt, weil die Fassade ihn versteckt. So sieht das auch in Götzendorf aus, doch gleichzeitig sind im rechten Winkel dazu die Wirtschaftsgebäude Richtung Felder angebaut. Der Sohn des früheren Eigentümers unseres Dorfhauses war als junger Ingenieur vor vielen Jahren nach Kanada ausgewandert. Als sein Vater aus dem Haus starb, war der Sohn schon lange Kanadier. Nach Götzendorf wollte er nicht mehr zurückkehren. Den Ausschlag zum Kauf hat für mich die Burg Neuschwanstein gegeben. Wenn man durch die Einfahrt das Grundstück betrat, stand man dort vor einem kleinen künstlichen Teich. Dahinter erhob sich die Burg. Der alte Herr hatte sie im Modell errichtet. Die vielen Gebäudeteile, Türme und Höfe mögen nicht ganz dem Vorbild entsprochen haben, doch war Neuschwanstein das erste, was einem in den Sinn kam, wenn man vor dem Kunstwerk stand mit all seinen vielen liebevoll ausgearbeiteten Details. Dieses Märchenschloss musste ich haben. Es sollte in meinem Leben nicht das letzte Schloss sein, das ich kaufte. 


An der Ostseite des Grundstücks befindet sich die Rückseite des Hofflügels des Nachbarhauses, senkrechte Flächen bedeckt mit Dachpappe, somit eher unansehnlich. Doch der gefinkelte Papa Heindl hat sich davon nicht ärgern lassen. Er hat einfach Farbe in die Hand genommen und die Dachpappe so bemalt, als wäre es die Fassade eines Blockhauses. Ein gemaltes Fenster in der Fassade mit gemalten Blumen daran lockert die Fläche zusätzlich auf. Wegen dieses Fensters will Annamaria im ersten Augenblick das Haus nicht kaufen. Es stört sie, dass die Nachbarn durch das Fenster so nahe auf unseren Grund sehen können. Es beruhigt sie nicht, als ich anbiete, das Fenster mit Brettern zuzunageln. Ich nähere mich dem Fenster, schaue hinein und stelle fest, „Die Nachbarin ist nackert.“ Annamaria kommt näher und erkennt jetzt, das Fenster ist keines.

Mein Gott, schon wieder umgezogen! Unsere Räume sind jetzt klein und niedrig. Wir sind sozusagen aus dem Palais ins Gesindehaus gezogen. Doch ist alles in gutem Zustand. Hat seinem Haus viel Arbeit und Liebe angedeihen lassen, der alte Herr Heindl. Wenn Rainer und Annamaria neu tapeziert haben, so nur aus Gründen des Geschmacks. Der eigentliche Wohnteil des Gebäudeensembles erstreckt sich parallel zur Straße. Einem schmalen Salotto schließt sich an beiden Seiten je ein geräumigeres Zimmer an. Sie bergen jetzt die vertrauten Jugendstilschlafzimmermöbel und, auf der anderen Seite, das altdeutsche Speisezimmer. Das ist mein Standort. An meiner Funktion als Museumsstück und jener der Geige an der Wand hat sich nichts geändert. Rainer kann den Sonatensatz jetzt auswendig, aber ihn fehlerlos durchzuspielen gelingt ihm nicht. 

Der Boden besteht aus einfachen gewachsten Holzdielen. Mit den Kettner-Klimts fällt die neue Enge gar nicht sonderlich auf, ja hat sogar etwas ländlich Behagliches. Im Salotto steht ein kachelverkleideter Meller-’Kamin’, so einer wie der bei der Mamma im Fleminghof. Der alte Herr Heindl hat den ganzen Wohnteil damit beheizt. Vom Speisezimmer gelangt man in die anschließende Küche. Die liegt bereits im Gebäudeteil, der sich Richtung Garten erstreckt. Die Küche ist geräumig, aber dunkel. Tageslicht kommt nur durchs Esszimmer und seitlich von der dort angebauten Veranda. Die ist vorerst nicht winterfest mit ihren großflächigen, einfachen Glasfenstern. Von der Küche gelangt man, weiter Richtung Garten, ins Bad. Dort steht ein Holzofen mit Kupferkessel zur Warmwasserbereitung. In der Küche ist für diesen Zweck ein kleiner Durchlauferhitzer unter der Abwasch. Die weiteren Räume des Gartenflügels betritt man nur vom Garten her. Zunächst ein schmaler Raum ohne besondere Bestimmung. Er wird bald den Kesselofen der Zentralheizung aufnehmen. Anschließend die Waschküche mit einer groben Holzstiege hinauf zum Dachboden. Danach befindet sich noch ein größerer Raum, der an sich winterfest gebaut ist, von Herrn Heindl aber nur als Lager für den Koks verwendet wurde. Es geht noch weiter mit den Gebäuden. Eine offene Stelle schließt sich an mit gemauerten Seitenteilen, das scheint früher einmal ein Schweinekober gewesen zu sein. Darauf folgt ein Holzschuppen, der getrennt ist in zwei Teile. Vom Kober bis zum Holzschuppen hat es eine geringere Tiefe, deshalb ist davor Platz für ein paar Quadratmeter Gemüsebeet. Wir befinden uns jetzt etwa fünfundzwanzig Meter vom eigentlichen Wohnhaus entfernt. Es werden ungefähr noch einmal so viele sein bis zur Gartentür am anderen Ende des Grundstücks, durch die man hinaus auf die nächste Straße gelangt. Eine Zentralheizung haben wir einbauen lassen, aber für feste Brennstoffe, weil die Ölkrise sich gerade zusammenbraut und die Versorgung mit Elektrizität nicht weniger unsicher erscheint. Holz, hoffen wir, wird sich am ehesten noch beschaffen lassen.

Für den Winter bestelle ich eine Fuhre Brennholz, das auf die Straße vor mein Tor hingeschüttet wird. Dann fahre ich zwei Tage lang mit der Schiebetruhe zwischen dem Holzhaufen und dem Lagerschuppen hin und her. Ich bestelle auch ein paar Tonnen Koks. Den rolle ich nach und nach in das dafür vorgesehene letzte Zimmer im Seitenflügel. Ich glaube, meine Arme sind seit damals mindestens zehn Zentimeter länger. Ich lerne, dass das Heizen mit festen Brennstoffen ohne Strom nicht funktionieren wird, denn das Warmwasser muss durch die Rohre zirkulieren. Das tut es aber nicht von selbst. Eine Umwälzpumpe muss es dazu überreden. Und die ist elektrisch. Wo der Kessel in einem Keller stehen kann und die Heizkörper sich in darüber liegenden Stockwerken befinden, funktioniert das auch ohne Pumpe, weil das warme Wasser aufsteigt. Hier aber liegt alles auf einer Ebene. Unsere berufliche Tätigkeit bringt es mit sich, dass wir sehr oft beide nicht zu Hause sind. Ich fülle in der Früh Koks nach und hoffe, dass am Abend noch Glut zum Weiterheizen vorhanden ist. Ein Thermostat regelt die Luftzufuhr, um langsames Abbrennen zu gewährleisten. Eines Nachts, die Anlage ist noch ziemlich neu, weckt uns ein dumpfes Grollen. Es ist ungewiss, woher es kommt, aber da muss jemand sein, der wie verrückt auf die Heizungsrohre haut. Klonk! Klonk! Klonk! Das Hämmern wird immer schneller, das Grollen bedrohlicher. Annamaria will Licht machen, aber es bleibt finster. Im Dunkeln springe ich aus dem Bett und taste mich bis zur Terrasse. Da muss ich zuschauen, wie aus allen Fugen der Heizraumtür Dampf strömt wie aus einer Lokomotive. Drinnen tost es, als wären hinter dieser Tür die Niagarafälle. Mein Gefühl ist ziemlich mulmig, als ich die Tür öffne. Es ist, als ob ich eine Sauna während des Aufgusses beträte. Gottseidank ist keiner da, der auf den Kessel haut, aber der glüht wie ein Hochofen bei offenem Abstichloch. Immerhin kann ich wegen der Glut halbwegs die Umgebung erkennen. Mir wird klar, dass wir einen Stromausfall haben, wodurch die Pumpe das Wasser nicht abtransportiert und der Kessel überhitzt. Ich erwische die Koksschaufel, öffne die Tür zum Grillrost und kratze den glühenden Koks aus dem Ofen. Alles ringsumher außer der Holztür ist Ziegel und Beton, trotzdem hoffe ich inständig, dass der Koks mir nicht das Haus anzündet und dass ich nicht getroffen werde, wenn es den Kessel in Trümmer zerreißt. Das Hämmern und Zischen scheint nun abzunehmen, aber sehr langsam. Ich schütte Wasser über den glühenden Koks, was ihn aufs Äußerste erregt. Ich finde die Taschenlampe, renne zum Elektrokasten, die Sicherungen sind in Ordnung. Es muss sich um einen allgemeinen Stromausfall handeln. Ich kann nicht mehr tun, als den Koks weiter abzukühlen und Feuerwache zu halten.

Fazit: Der fast neue Heizkessel zerstört. Den Stromversorger kann ich nicht haftbar machen. Höhere Gewalt. Keine Versicherung deckt solche Schäden. Es wäre besser gewesen, das Haus wäre abgebrannt. Feuer ist gedeckt. Mit Heizöl wäre das nicht passiert. Die Ölförderpumpe hätte auch angehalten und kein weiteres Öl wäre in den Brenner gelangt. Wir kaufen einen neuen Kessel. Feste Brennstoffe. Ich traue den Arabern nicht. Der Händler macht uns einen Kulanzpreis. Klar, bei solchen Abnahmemengen. Konsequenz: Bei vorhersehbarer Abwesenheit und nachts wird nur noch mit Holz geheizt. Das reagiert besser auf das Absperren durch den Thermostat.

Der Fleminghof war sehr nahe an der westlichen Anflugschneise zum Flughafen Schwechat gelegen. Damals hatte ich noch Spaß daran, die anfliegenden Flugzeuge zu beobachten. Sie waren dort noch nicht sehr niedrig und machten auch keinen störenden Lärm. Götzendorf liegt nicht weit entfernt von Schwechat. Mit der Inbetriebnahme der zweiten Piste liegen wir nahe der Anflugschneise aus Südost und fast genau unter der Abflugschneise in dieser Richtung. Störend sind letztlich nur die abfliegenden Maschinen. Sie sind über uns noch ziemlich tief und ihre Gashebel stehen ganz vorn zum steilen Steigflug. Wenigstens kommt die Wetterlage für diese Starts nicht allzu häufig vor. Es ist das erste Mal, dass ich mich im Nahbereich eines Flugplatzes niederlasse. Dabei wird es nicht bleiben. Man wird sehen, die Flugplätze werden mich verfolgen. Oder ich sie?

Einmal, als ich in Aspang meine Tagesarbeit beende, höre ich im Radio, Sviatoslav Richter spielt heute Abend in Lockenhaus. Das ist ein kleiner Ort im Burgenland bei Oberwart an der ungarischen Grenze. Der Pfarrer dort hat begonnen, seine Schäfchen mit Kammermusik zu beglücken. Er heißt Josef Herowitsch und setzt alles daran, die von ihm organisierten Konzerte in möglichst guter Qualität darzubieten. Er holt also die besten Musiker, die für ihn erreichbar und erschwinglich sind, nach Lockenhaus. So entstehen die 'Lockenhauser Konzerte', unter Kennern bald ein geschätzter Treffpunkt auch der absoluten Elite. Noch später wird Pfarrer Herowitsch zusammen mit Gidon Kremer das 'Lockenhaus Kammermusikfest' gründen. Das wird dann schon bald ein Fest für Musiktouristen sein. In den frühen Tagen der 'Lockenhauser Konzerte' hingegen ist es noch ein Wunder, wenn Leute wie Sviatoslav Richter in das kleine Dorf kommen, um öffentlich zu musizieren. Um jeden Verdacht auszuräumen, muss ich erklären, dass mein Vater mit Sviatoslav nicht verwandt ist. Sviatoslav ist zehn Jahre jünger und in der Ukraine geboren. Oft stellt man auch die Frage, ob wir mit Karl Richter, dem berühmten deutschen Bach-Interpreten verwandt sind. Auch das ist nicht der Fall. Und der schwarze 'Kommissar Richter', Kollege 'des Alten'? Sie glauben doch nicht im Ernst… 

Also, Sviatoslav heute Abend in Lockenhaus. Blöd, weil ich gerade noch fünfundzwanzig Schilling bei mir habe. Außerdem, Lockenhaus ist von Aspang vierzig Kilometer entfernt und dann sind es noch hundert nach Hause, das ist dann schon Götzendorf an der Leitha. Ob sich das mit dem Benzin in meinem Tank ausgeht? Zum Tanken ist definitiv kein Geld mehr da. In diesen Tagen habe ich noch genug Spontaneität. Von einer Telefonzelle rufe ich Annamaria an, meine späte Heimkehr zu melden. Handy gibt's noch nicht. Bankomat auch nicht. Ich nehme die Straße Richtung Burgenland. Ich bemerke, dass ich ziemlich durstig bin. Hätte mit dem Trinken eigentlich warten wollen, bis ich zu Hause bin. Das wird jetzt aber noch ein paar Stunden dauern. Trotzdem leiste ich mir unterwegs keinen Drink. Ich weiß ja nicht, was die Eintrittskarte in Lockenhaus kosten wird. Möglicherweise sogar mehr als meine fünfundzwanzig Schilling? Glück gehabt, sie verlangen nur zweiundzwanzig für die billigste Karte. Zu trinken bekomme ich trotzdem nichts. Selbst ein Mineralwasser kostet mehr als meine restlichen drei Schilling. Auf die naheliegende Idee, einfach um ein Glas Wasser zu bitten, komme ich nicht, obwohl mein Durstgefühl immer unerträglicher wird. Ich erinnere mich einigermaßen optisch an Sviatoslav Richter, in manchen Momenten erschreckt mich fast seine Ähnlichkeit mit Tino. Die hohe, kahle Stirn, die hervortretenden Backenknochen über eingefallenen Wangen. Vom Abendprogramm ist mir gar nichts in Erinnerung, auch nicht von Richters Spiel. Der Durst hat alles weggebrannt.

Unser Frosch ist mit der Zeit immer sympathischer geworden. Selbst auf den vielen Fahrten nach Bozen und Bergamo hätte es uns mit dem R4 an nichts gefehlt, hätte es sich nicht ergeben, dass wir bald häufiger Familie mitzunehmen hatten. Annamarias Eltern, aber auch Onkel Alfonso und seine Frau kamen selbstverständlich mit uns nach Wien auf Besuch. Für solche Reisen zu viert war der Frosch dann doch zu eng. Ich sah mich also um einen Wagen um, der dafür besser geeignet war. In der Kfz-Schadenabteilung hatte ich natürlich auch mit Autowerkstätten zu tun. Einer von deren Eigentümern hielt mit uns besonders engen Kontakt. Zoran war Kroate. Ein zierliches, südländisches Männlein mit lockigem Haar. Für den Besitzer einer Autospenglerei in Simmering machte er einen äußerst kultivierten Eindruck. Seine Frau war Tänzerin im Staatsopernballett. Tatsächlich konnte man mit ihm auch über andere Dinge reden als über Kotflügel. Über die Sauberkeit seiner Geschäfte hätte ich meine Hand aber nicht ins Feuer gelegt. Eines Tages hörte ich von einem unserer Sachverständigen, dass Zoran ein Juwel von einem Auto in der Werkstatt habe, einen Volvo 122 mit einem relativ schweren Heckschaden. Volvos hatten wir in den Autovermietungen nur sehr selten, wenn sich irgendein Schwede zu uns verirrt hatte. Das hatte jedes Mal Aufsehen erzeugt. Jeder hat den Volvo fahren wollen. Es waren aber für die damalige Zeit auch sehr gediegene Wagen. Neu auf dem Markt waren schon die kantigen Formen des 144, von dem alle schwärmten. Junkes fuhr sogar einen. Ich erinnerte mich an die Bergmann-Filme aus dem Soldatenkino, in denen die Protagonisten Tiefgründiges besprachen oder lange schwiegen, während sie in einem der Vorgängermodelle des 122 mit dem Katzenbuckel über verschneite schwedische Landstraßen zuckelten. Also, lebendige Beziehungen waren schon da von mir zu einem Volvo. Kurz entschlossen tauschte ich unseren Frosch ein gegen den havarierten 122. Zoran reparierte ihn fertig. Die Wiederherstellung gelang so, wie sie damals halt möglich war in einer Simmeringer Hinterhofwerkstatt. Dass da ein reparierter Heckschaden gewesen war, ließ sich nicht verleugnen. Trotzdem war es ein schönes Gefühl, wieder mit einem schönen, schweren Auto Reisegeschwindigkeit 140 ganz ruhig über die Autobahn zu brettern.

Einmal jährlich schickt die Allianz ein paar Mitarbeiter aus jeder Landesdirektion zur Schulung. Mein erstes Schulungsseminar wird in einem mittelalterlichen Gasthof im Ortskern von Pressbaum abgehalten. Meterdicke Mauern, Kreuzgewölbe. Finster und feucht. Ploner ist dabei und einige Kollegen von anderen Landesdirektionen. Mit Ploner teile ich ein Doppelzimmer im ersten Stock. Mitten in der Nacht, oder genauer in der Mitte des Nachtteils, der nach dem Bierabend übriggeblieben ist, schrecken wir auf durch einen anhaltenden furchtbar lauten Lärm, als hätte jemand eine Diesellokomotive mitten in unserem Zimmer abgestellt mit laufendem Motor. Ploner macht Licht. Außer dem Lärm ist im Zimmer nichts Außergewöhnliches festzustellen. Wir stürzen zum Fenster, beide splitternackt. Zwei Meter vor dem Fenster schaut ein Soldat aus dem Turm eines Panzers zu uns herüber. Ich erwarte Ploners strenge Frage, „Wer sind Sie und was wollen Sie?“. Doch er sagt nichts. Offenbar friert er grausam. Es ist eine ganze Kolonne von Panzern. Sie befinden sich auf einer Übung. Aus irgendeinem Grund gibt es einen Aufenthalt weiter vorne in der engen Gasse. Das Gemäuer des Gasthofs bebt um die Wette mit dem Fensterglas, wie das zuletzt wahrscheinlich im Krieg vorgekommen ist. Der Soldat schaut uns lachend an und salutiert. Zwei verdatterte Nackte erwidern zaghaft. Was er sich über uns denken mag? Nachts nackt mit einem nackten Kollegen am Fenster einem Panzerkommandanten gegenüberzustehen, das schweißt zusammen.

Später werden die Schulungen professioneller und feudaler. Der Allianz ist es gelungen, am Ufer des Wolfgangsees ein weitläufiges Herrschaftshaus zu erwerben, den Auhof. Es liegt in einem großen Park mit riesigen alten Platanen und Mischwald. Eine hundert Meter lange Uferstrecke gehört dazu. Es ist das einzige Seegrundstück mit einer derartigen Uferlänge. Man schätzt sich glücklich, fünf oder zehn Meter zu ergattern. Jenseits des Sees sind die Berge des Salzkammerguts aufgefädelt mit ihren charakteristischen, oft komischen Formen. Man hat das Haus für Seminarzwecke adaptiert. In diesem traumhaften Ambiente dürfen wir eine Woche verbringen. In der Früh noch vor dem Frühstück gibt es für freiwillige Teilnehmer Morgensport mit einem kleinen Lauf über die Nadeln auf den Waldwegen. Die morgenfrische Luft mit ihren tausend Düften ist einzigartig. Der See lädt ein zum Baden, doch die Seminare finden hauptsächlich im Spätherbst statt, da würde uns die Wassertemperatur rasch wieder vertreiben. Tagsüber wird das Seminarprogramm abgespult, doch die großflächigen Fenster der Schulungsräume sind zum See hin gerichtet. Die Stimmung ist mehr wie Urlaub als wie Schule. Die Vorträge sind lebhaft, interessant und nützlich. Zwei oder drei hochrangige Fachvorgesetzte aus der übergeordneten Zentralschadenabteilung halten sie. Die Stimmung ist seriöser als im Großraum. Mitarbeit ist gefordert. Die Vortragenden aus der Direktion versuchen, sich ein Bild zu machen über die Qualifikationen ihrer Zuhörer. Mein Eindruck ist, dabei komme ich ziemlich gut weg. In einer der Pausen stehen wir in kleinen Gruppen im Freien mit dem Vortragenden beisammen in der Nähe unserer geparkten Autos. Die Blicke der Umstehenden sind auf meinen 122e  gerichtet. Sie reden anerkennend und ein bisschen neidvoll über den Wagen. Niemand kann sagen, wem er gehört. Schließlich oute ich mich. "Das ist meiner." Auch ein funkelndes Steinchen im Mosaik.

Das Essen ist hervorragend. Ich könnte mich das ganze Jahr hier weiterbilden lassen, wenn sie mich Annamaria mitnehmen ließen. Es gibt einen Tennisplatz. Oft ist er schon für den Winter eingemottet, aber im Fall von zeitigen Seminarterminen gehen sich nach dem Mittagessen ein paar Schläge aus. Nachts der Blick aus dem Zimmer über den See. Er spiegelt die Sterne, die so hell sind wie nur in seltenen Augenblicken. Ich schaue zu, wie sie am Firmament dahinwandern. Dort drüben, dieser ganz tiefe, er wird gleich hinter der Kontur des Berghorns verschwinden. Geduldig warte ich in der Stille eine lange Zeit, bis er an der anderen Seite des Mugels wieder auftaucht.

Tagebuch 3.1.1979

 Geburtstag in Bozen. Von Annamarias Mutter ein Pyjama. Flanell, gestreift. Selbst geschneidert. Von Annamaria ein Goldkettchen. Bin ganz   wahnsinnig  nach Flanell und Gold. Torte aus Schaumgummiteig mit Puddingglasur. Der Panettone passt zu mir: nicht mehr der Frischeste.

 

 13.1.1979

  TV: aus der Komischen Oper (Ostberlin): Brecht/Weill: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Aufgenommen 1977 vom Fernsehen der DDR.

   Der schönste Brecht, den ich je gesehen. Spitzenabend! Ein Super-Werk sowieso, inszeniert von einem Super-Theatermann (Joachim Herz), gegeben         von Super-Darstellern, die überdies gut aussehen und singen können. Appetit auf mehr DDR-Theater.

   Die DDR? Na ja, vielleicht muss man beim Kartoffel kaufen und Kohle holen Schlange stehen. Aber Sport und Kultur? Siehe oben! Und unsere                         vielgrühmte Freiheit? Siehe Mahagonny!

 

17.2.1979

Mama auf der Bühne in der Josefstadt. Kasimir und Karoline. Regie: Fritz Zecha. Erik Frey (Rauch), Heinz Marecek (Kasimir). Maria Richter: Budenverkäuferin am Oktoberfest. Kein Text, aber viel Mimik.

(Im Versuch, über Tinos Tod hinwegzukommen, strebte sie die Wiederaufnahme ihrer Schauspieltätigkeit an. Die stumme Rolle in der Josefstadt war eine erste Station auf solchem Weg. Sie bot sich vielen deutsche Bühnen an als Komische Alte, nahm aber letztlich davon Abstand, zu den wenigen, die Interesse zeigten, zum Vorspielen anzureisen. Sie schloss das Kapitel ein für alle Mal ab.)


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