33 Ischia 1986

Ischia 1986

worin vorkommen:   Epomeo, Neapel, Barano, Capri, Sorrento, das  Raimundtheater, 'Pour Elise', sowie ein Horrorthriller

In diesem Augenblick auf diesem ungepflegten Grundstück auf Ischia, vor dem archaischen Hintergrund dieser steinübersäten Bodenwellen mit vereinzelten dürren Sträuchern und knorrigen Olivenbäumen vor der waagrechten Linie, die ein helles Blau von einem andern, noch helleren vage trennt, in dieser lauen Luft mit der Würze von Meer und Origano, da läuft vor meinen Augen ein Film ab mit mir selbst als Hauptdarstellerin. Soll das meine letzte Rolle werden?

Für Sekunden bin ich wieder das kleine schlimme Mädchen im Klosterkindergarten, das bei der Darstellung des Jesuleins in den großen Weidling fällt, in den Weidling mit den Würsten, die für die Eltern zum Verzehr nach der Aufführung gedacht sind. Bin das Schulmädchen, das im Zuckerlgeschäft Manner Leberknödel schuldig bleibt und die Bezahlung den nichts ahnenden Eltern überlässt. Bin die Elevin in der Tanzschule. Meine Zehen bluten vom Spitzentanz. Sehe den Revolver aufblitzen in der Hand des Straßenbuben, der scherzhaft auf mich anlegt, spüre den brennenden Schmerz an meinem Hals. Wie der Hausarzt sagt, Glück gehabt. Streifschuss. Meine Friseurlehre, die vielen Preise bei den Wettbewerben. Die Schauspielschule daneben. Wir Wiener Wäscheweiber wollten weiße Wäsche waschen, wüssten wir, wo warmes Wasser wär'… Mein Vorsprechen, noch weit vor der Abschlussprüfung, sofort der Vertrag mit dem Stadttheater in Döbeln. Mein Einspringen für die erkrankte Soubrette, Begeisterung im Publikum. Das Aufsprießen meiner Liebe zum Kapellmeister, der im Theater so streng und im Leben so väterlich lieb ist. Unsere Kriegshochzeit. Die Geburt meines Sohnes unter Bomben auf das untergehende Wien. Die Alm in Tirol. Da bleib i net. Die Watschn von meiner Mutter. Tinos Ankunft auf der Alm. Meine Bettelgänge ins Funkhaus in der Argentinierstraße, um für Tino Arbeit zu beschaffen. Mein Versteck an der Ecke des Augartenpalais, um einen Blick auf mein Rainerle zu erhaschen. Der Haufen Damenschuhe auf dem Boden vor dem Palais. Zwei Meter hoch. Von Amerikanerinnen den Müttern der Sängerknaben gespendet. Schon wieder Hochzeit. Rainer und Annamaria. Rainer und Annamaria schwärmen von ihrer Hochzeitsreise nach Ischia. Auf dem Esel hinauf zum Krater des Epomeo. Mediterrane Lebensweise, mediterrane Ernährung. Billiger Fisch. Mildes Klima. Würde das nicht Tino guttun, der schon sehr krank ist? Der Entschluss, Tino, Mamma und ich werden auf Ischia überwintern. Von einer Bekannten erhalte ich die Adresse einer iskitanischen Zimmervermieterin. Meine Reise mit vier Pflegefällen (Mamma, Tino, der Boxer und das Auto) durch ganz Italien nach Neapel. Wie schnell mir immer schlecht wird auf dem Wasser, sogar auf der kurzen Passage hinüber zur Insel. Die Suche nach dem Logis. An der angegebenen Adresse ist nichts als eine Bresche im Steinwall. Kein Gebäude zu sehen. Mit Rigo an der Leine betrete ich das verwilderte Grundstück. Ach ja, dort hinter der Bodenwelle lugt ja doch ein Ziegeldach hervor. Im Näherkommen taucht auch das darunter stehende Haus aus groben Feldsteinen aus der Bodenwelle. Die Grundfläche ist klein, aber es ist einstöckig. Unkraut wuchert rundum. Neben der uralten verfallenen Holztür steht ein ebensolcher klobiger Tisch, dahinter eine altersschwache Bank ohne Lehne an der Hauswand. Auf diesem Grundstück blüht keine Blume, bemerke ich. Das Unkraut wuchert, aber es blüht nicht. Plötzlich steht eine Frau vor der Eingangstür. Seltsam, ich habe nicht bemerkt, dass die Tür sich geöffnet hat. Sie steht einfach plötzlich davor. Vielleicht ist sie herausgekommen, als ich nach den Blumen geschaut habe. Die dunkelbraungebrannte, schwarzhaarige Mittvierzigerin trägt einen nicht ganz knielangen, rot-blau längsgestreiften Wickelrock. Unter einer ziemlich transparenten Seidenbluse, die einmal weiß gewesen sein mag, zeichnen sich harte Nippel ab. Abgewetzte Holzsandalen an nackten Beinen, von denen man nicht sagen kann, sind sie dunkelbraun oder einfach nur dreckig. Bei den Füßen mit den grellrot lackierten Nägeln ist das anders. Man kann es sagen. Sie macht abwehrende Armbewegungen gegen Rigo. Der ist keineswegs bedrohlich, keucht nur gewaltig in der Hitze. "Oddio, porti via quel mostro!" ruft sie mir zu. Ich verstehe. Sie nennt Rigo ein Monstrum. Sympathisch ist sie nicht, diese Alte mit den stechenden Augen im faltigen Hexengesicht. Ich frage, ob sie Frau Palumbo ist. "Sì, sì. Palumbo. Rita. – Und du meine Gaste? – Oddio, ich bin warten ein Mann, nicht ein Frau mit Mostro!" Ich befehle Rigo, sich hinzulegen. Er folgt mir sonst nie. Hier aber schon. Brav legt er sich hin und hechelt. Augenscheinlich fühlt er sich nicht wohl. Winselt leise. "Du sola?" fragt Rita. Ich erkläre, dass mein Mann und meine Mutter im Auto warten. "Können kommen. Auto außen Straße. Cane in Auto außen Straße." - "Kommt nicht in Frage. Rigo ist ein braver Hund. Schläft bei uns auf Decke." Ich lasse es darauf ankommen. - "Porco dio, un mostro in casa mia! Cavolo, un mostro! – Casa mia pulita. Cane porta sozzume." Sie wachelt mit gefalteten Händen. Rigo winselt wieder, bleibt aber brav liegen.

Frau Palumbo zeigt mir das Haus. Wir haben ein Wohn-Schlafzimmer mit der nötigsten Einrichtung im Obergeschoß. Das Zimmer ist geräumig. In einer schmalen Küchenecke kann man kleine Mahlzeiten zubereiten. Nebenan ein winziges Schlafzimmer für Mamma. Auf dem Flur ist eine Toilette. Ein Waschtisch steht offen im Flur. Heizung gibt es keine. "Ischia mai freddo", sagt Rita. "In gennaio machen fuoco in caminetto in salotto, haben caldo anche qui. – Potete usare tutti i mobili in giardino gratuitamente," sagt Palumbo und deutet auf den morschen Holztisch vor der Haustür. Na toll.

Unser Winterquartier erscheint mir nicht gerade luxuriös, aber wahrscheinlich angemessen für bescheidene Leute mit wenig Geld und für so anspruchslose Romantiker wie Tino. Mit Rigo wird sich die Hausfrau schon langsam anfreunden. Dass es hier im Süden nicht gar so kalt wird im Winter, glaube ich Frau Palumbo einfach einmal. Ich gehe Tino und Mamma vom Auto holen. Rigo lasse ich vor der Haustür liegen. Unglaublich, wie er folgt. An jedem Arm eine alte Person stapfe ich durch den steinigen Olivenhain auf die Villa Palumbo zu. Mamma ist wenig begeistert von dem Ort, so wie ich, aber Tino gefallen morbide Plätze immer. Ob es im Winter kalt sein wird, was soll's? Mal sehen.

Wir erreichen das Haus. Rigo hat sich keinen Zentimeter bewegt, was mich äußerst erstaunt. Ich hatte vielmehr erwartet, dass er mir zum Auto nachlaufen würde. Ich bemerke, dass neben Rigo ein Stück gekochtes Hühnerfleisch liegt. Er rührt es nicht an. Schon wieder wundere ich mich. So etwas würde er normalerweise sofort schlucken, ohne viel daran zu kauen. Die Hexe Palumbo knurrt Rigo auf Italienisch an. "Mangia, brutta bestia, mangia che ti fa bene!" Rigo winselt leise, frisst aber nicht. Nachdem ich Tino und Mamma im Wohnzimmer untergebracht habe, hole ich nach und nach das Gepäck aus dem Wagen. Rigo liegt jetzt ein paar Meter weit von dem Hühnerschenkel entfernt, als hätte er Angst vor der Amsel, die daran herumhackt. Vielleicht ekeln Rigo die riesigen Ameisen, die das Fleischstück ebenfalls entdeckt haben. Zurück von meinem zweiten Gang ums Gepäck sehe ich die Amsel neben dem Hühnerstück auf dem Rücken liegen, die Füße in die Höhe gestreckt. Das Fleisch ist jetzt schwarz von Ameisen, doch nicht alle krabbeln noch. Viele kleben reglos an der gelben Hühnerhaut.

Alles ist in unseren Zimmern verstaut. Wir sitzen auf der Bank an der Hauswand hinter dem groben Holztisch bei einer Flasche Mineralwasser, die wir mitgebracht haben. Die Hexe steht vor uns. "Hier gente tanta cattiva. Tanta brutta gente. Geben tutti i soldi a me, io li interro." Sie deutet das Graben mit einer Schaufel an. Ich sehe, wie Tino sie anschaut. Früher einmal hat er mich so angeschaut. Er findet die Hexe Rita sexy und ihre Idee gar nicht so schlecht, das Geld für ein halbes Jahr in der Erde vergraben, anstatt ständig darauf aufpassen zu müssen. In mir schrillen alle Alarmglocken. "Komm, Mamma, wir fahrn nach Ischia, einkaufen. – Tino, pass auf, dass der Hund nix frisst!" – "Warum das?" – "Pass einfach auf. Bitte!" Ich lege allen Nachdruck in mein 'Bitte'.

Bevor wir Lebensmittel einkaufen in Ischia, betreten wir eine kleine Bankfiliale. Ich eröffne ein Konto und lege das meiste Geld ein. Vergraben in der Erde! Die muss verrückt sein, so etwas vorzuschlagen. Der Bankbeamte füllt Formulare aus. Er spricht Französisch. Ich muss unsere Adresse in Ischia angeben. Villa Palumbo. Der Mann schaut uns entgeistert an. "Via Palumbo? A Barano? Dio buono. C'est dangereux! Vous devez êtres très prudentes. Un lieu très dangereux." Ich erzähle ihm von Frau Palumbos Vorschlag, unser Geld zu vergraben. "Vous avez fait justement venir par ici tout de suite. Si pouvez, trouvez-vous un autre logement e signalez l'adresse nouveau à moi. A défaut, prendrez contact avec moi une fois par semaine." Alles verstehe ich nicht so richtig. Ich soll mich jede Woche bei der Bank melden? Das kommt mir schon mehr als seltsam vor. Die alte Hexe in ihrem Knusperhaus finde ich widerlich. Aber - hat er gesagt, gefährlich? Ich muss an die tote Amsel denken und an die Ameisen. Im Lebensmittelgeschäft bin ich nicht ganz bei der Sache. Mamma muss mich an Sachen erinnern, die ich sonst nie vergesse. Auf der kurvigen Rückfahrt nach Barano tut sie etwas, was ich von ihr überhaupt nicht kenne. Sie ermahnt mich, "Fahr net so schnell."

Erleichtert stelle ich fest, dass Rigo uns durch den Olivenhain entgegenläuft. Gottseidank, er lebt! Aber wo ist Tino? Ich verstaue die Lebensmittel in einem Schrank. Von Tino keine Spur. Ich bringe die Sachen zum Kühlen Frau Palumbo, wie von ihr angeboten. Sie sitzt am runden Tisch in ihrem Zimmer. Die oberen Knöpfe an der transparenten Bluse sind freizügig geöffnet. Der Wickelrock ist sehr hochgerutscht. Auf dem Tisch stehen zwei Mokkatassen und eine halb volle Flasche Grappa. In der Hand hält Palumbo ein Paket Spielkarten, aus dem Tino gerade eine Karte gezogen hat. "Tino ha buon futuro. Sì, sì. Buona fortuna. In Ischia presto salubre. Le carte lo dicono." Ich verstehe nicht, was sie sagt, aber in mir rast Wut. Ich knalle die Lebensmittel, die gekühlt werden müssen, auf den Tisch und nehme Tino an der Hand. "Komm jetzt!" Die Spielkarte flattert auf den Boden. Ein Pik Ass. Tino sträubt sich aufzustehen. Die Hexe lacht schrill. "Wir sind doch noch gar nich fertig" meutert Tino. "Tino presto salubre," sagt die Hexe, "ma scale difficili per lui. Tino può dormire in camera a piano terra. Tu e la Mamma assieme in una camera sopra, costa meno." Durch ihre anschauliche Gestik verstehe ich ungefähr was sie meint. "Soweit kommt's noch." Erwidere ich schroff. "Was is? Kommst jetzt?" Tino steigt widerwillig vor mir die enge Stiege hinauf. Ich muss ihn stoßen. Das Stiegensteigen fällt ihm noch schwerer als gewöhnlich. Ich bette ihn auf den Diwan und öffne das Fenster. "Falsch", sagt Tino, "bei Hitze halten wir die Läden besser geschlossen. So macht man das im Süden." Rigo ist mit heraufgekommen und legt sich in Tinos Kniekehlen auf seine Decke. "Ja, Rigo, komm nur. Fein haben wir's da getroffen. Und Frau Rita, die ist richtig nett, nich wahr?"

Ich steige wieder hinunter um zu sehen, was die Hexe mit den Lebensmitteln macht. Sie hat sie bereits in den Kühlschrank geräumt. Ich deute mehr als sage, sie braucht nicht graben. Das Geld ist auf der Bank. Sie wirft mir giftige Blicke zu und deutet mir, ich soll mitkommen und ihr helfen. Wir verlassen das Haus. Sie holt eine hohe Leiter aus einem Schuppen und lehnt sie gegen die Hauswand. Die Leiter ist wackelig und steht schlecht auf dem unebenen Boden. Ich soll sie festhalten. Ich halte die Leiter so gut ich kann, während sie hinaufklettert. Keine Ahnung, was sie da oben will. Kann ich auch nicht gut sehen, weil die Sonne mich blendet. Die Hexe muss am Rand des Dachs angekommen sein, da fühle ich einen Luftzug, der mein Haar streift. Gleich danach ein furchtbarer Krach. Etwas trifft meine Unterschenkel wie Granatsplitter. Ich stürze durch eine Staubwolke auf einen Haufen scharfer Betontrümmer. Sie gehören zu dem Blumentrog, der gerade vom Dach stürzend neben mir auf dem Boden zerschellt ist.

Das ist der Augenblick, in dem der Film begonnen hat, der vor mir abgelaufen ist und der hier endet mit mir als Hauptdarstellerin auf einem Haufen Betonscherben liegend mit blutigen Beinen. Ich kann nicht sagen, ob der Film zehn Minuten gedauert hat oder eine Minute oder nur eine Sekunde. Es ist jedenfalls eine Zäsur gewesen, die ein Zuvor vom Danach getrennt hat. Jetzt im Danach wundere ich mich, dass der Betontrog nicht meinen Kopf getroffen hat und nur seine Trümmer meine Beine abgeschürft haben. Wie hat der Bankbeamte gesagt – très dangereux? Also, übertrieben hat der nicht.

Die Szene war so unwirklich. Habe ich geträumt? Hat meine überbordende Abneigung mir etwas vorgegaukelt? Aber nein, da stand ja die Leiter und da lagen die Betontrümmer um mich herum, da war das Blut, der Schmerz an meinen Beinen. Es war schrecklich aber wahr. Die Hexe wollte uns umbringen. Mich zuerst, dann Rigo, danach Mamma und schließlich auch Tino, sobald sie sehen würde, das Spielzeug funktioniert nicht. Ich humpelte die Stiege hinauf in unser Zimmer. "Die Alte will uns umbringen", sagte ich. Während ich erzählte, was passiert war, begann Rigo, meine Wunden zu lecken. Mamma sagte "Jessas, Maria und Josef!" und Tino "Das bildest du dir ein. Das war bestimmt keine Absicht von Rita. Nimm doch nicht immer gleich das Schlimmste an von den Menschen." – "Den Rigo hat sie auch schon vergiften wollen", beharrte ich. "Der war aber gscheit und hat das Gift net gfressn. Wir müssn weg von da."

Ich stand an der Bushaltestelle und wartete auf den Linienbus nach Ischia, denn jemand hatte an unserem Wagen den Tankdeckel aufgebrochen und das Benzin gestohlen. Unter anderen Umständen hätte ich alles hier schön gefunden. Den atemberaubenden Fernblick über den Golf von Neapel hinüber nach Capri und Sorrento. Die violett blühende Oleanderhecke hinter mir, einen Garten begrenzend, in dem Palmen eine wunderschöne Villa beschatteten. Ich sah das alles, aber ohne Freude. Ich war erfüllt von purer Verzweiflung. Ich wollte zur Bank. Vielleicht konnte mir ja der nette Bankbeamte helfen, eine andere Unterkunft zu finden. Eine Amsel sang im  Garten kunstvolle Melodien und – täuschte ich mich schon wieder? – jemand spielte Klavier. Nein, tatsächlich, ein Wiener Walzer. Kam das aus einem Radio? Nein, da werden die Musikstücke im Allgemeinen nicht mehrmals unterbrochen und fortgesetzt. Das kam von einem Klavier. Natürlich hörte ich jetzt näher hin und nahm dadurch auch einige gesprochene Phrasen wahr. Aber – das konnte nun ja wirklich nicht sein! – die Sprache war – ja eindeutig – Wienerisch!

Eine Frauenstimme, die Wienerisch sprach. Keinen breiten Dialekt. Nein, ein reines Deutsch mit dem Anflug des Wienerischen. Der Bus kam um die Kurve und hielt, die Tür öffnete sich, schloss sich wieder. Der Bus fuhr ab. Ohne mich. Ich ging die paar Schritte zum Gartentor und drückte auf den Klingelknopf. Das Klavier hörte auf zu spielen. Die Frauenstimme rief, "Sì, entri pure!" Ich drückte das Tor auf und eilte über den Kiesweg der Terrasse zu, wo eine elegante Dame in einem dezenten Sommerkleid stand und mir überrascht und fragend entgegenschaute. Ich wählte denselben Sprachton, den ich von ihr gehört hatte, als ich mich für die Störung entschuldigte. Ich hätte an der Haltestelle auf den Bus gewartet, weil man aus meinem Wagen das Benzin gestohlen hat, und dabei den Wiener Walzer gehört und ihre deutschen Worte und ich wäre so verzweifelt, weil unsere Vermieterin versucht hätte, unseren Hund und mich umzubringen und unser Geld im Boden vergraben hätte wollen. Das alles muss so dramatisch und überzeugend aus mir herausgesprudelt sein, dass die Dame nicht, wie ich vermutet hatte, mich höflich aber bestimmt gleich wieder verabschiedete, sondern mich bestürzt bat, erst einmal Platz zu nehmen und mich zu beruhigen. So saß ich bei Paula auf der Terrasse ihrer Villa in Barano. Unter Tränen schilderte ich unsere missliche Lage. Sie erriet sofort, dass wir wohl in die Villa Palumbo geraten sein müssten. Auf keinen Fall könnten wir dortbleiben, warnte sie, es wären dort schon Leute verletzt oder krank weggebracht worden oder sogar verschwunden. Als sie hörte, dass Tino und ich Theaterleute gewesen waren, gewann ihre anfängliche Bestürzung eine ganz andere Qualität und verwandelte sich in besorgte Zuneigung, denn sie selbst war ebenfalls Operettensängerin gewesen im Raimundtheater in Wien, bis sie ihren italienischen Mann getroffen hatte. Da hatte sie alles in Wien aufgegeben und war ihm nach Ischia gefolgt. Ihr Mann Carlo, ein höherer Regionalbeamter, war zwar kein Künstler, spielte aber im örtlichen Blasorchester mit. Mit ihrer Tochter Lucia, im Teenageralter, wohnten sie zu dritt in diesem großen Haus. Da war noch viel Platz für Familienzuwachs. Oder Gäste. Paula hatte in den vielen Jahren in Ischia wohl die Spontaneität der Italienerinnen angenommen, denn sie bot uns ganz selbstverständlich an, in ihrem Haus die Wohnung im Erdgeschoß zu nehmen. Gleich morgen früh würde Carlo mit seinem Wagen hinüber zur Villa Palumbo kommen und uns bei der Übersiedlung helfen. Einen Kanister mit Benzin für unser Auto würde er auch mitbringen. Wegen der Miete, wir sollten uns keine Sorgen machen. Sie nähme uns nicht wegen des Geldes auf. Wenn sie etwas annahm, so tat sie es nur, um uns nicht zu beschämen.

Für mich war es eine Hochschaubahn der Gefühle. Wie viel leichter fühlte ich mich auf dem Weg zurück zur Villa Palumbo als zuvor hierher. Doch wuchs mit jedem Schritt, den ich flog, meine Sorge um Tino, Mamma und Rigo. Es dämmerte bereits. Und dann stockte mir der Atem. Vor dem Loch in der Mauer standen neben unserem Renault zwei dunkelblaue Wagen mit der weißen Aufschrift 'Carabinieri'. Ich hörte Rigo pausenlos bellen, zornig und verzweifelt. Als ich näherkam, sah ich den Hund an seiner Leine an einem Baum befestigt toben. Ich befürchtete, er würde sich an seinem Halsband erwürgen. Am Haus empfing mich ein Carabiniere. Er fragte mich offenbar, wer ich wäre und was ich wollte. Ich versuchte ihm verständlich zu machen, dass wir hier eine Wohnung gemietet hätten. Er ließ mich ins Haus. In unseren Räumen herrschte ein chaotisches Durcheinander. Alles durchwühlt, die Matratzen wüst auf dem Boden, kein Ding an seinem Platz. Mamma saß neben Tino auf dem Diwan und schluchzte. Wenn Tino so eng neben Mamma saß, konnte es nur ein Carabiniere angeordnet haben. "Was ist hier denn los?", fragte Tino mich. Tino, mich! Der Maresciallo befragte mich, so gut es auf Italienisch ging. Ich musste unsere Daten angeben und die Pässe aushändigen. Was wir in Italien wollten, wollte er wissen. Wann wir angekommen wären und wie lange wir bleiben würden. Ob wir etwas mitgebracht hätten. Mitgebracht? Na ja, unsere Sachen und das Geld für die Miete. Was sonst? Rigo hörte nicht auf zu toben. Er mochte keine Uniformierten. In Wien verbellte er alle Postler. Ich habe nie erfahren, woher ein Hund den Unterschied zwischen einer Uniform und ziviler Kleidung kennen kann. Der Maresciallo zeigte mir ein Briefchen aus weißem Papier. Ob ich wüsste, was das wäre. "Trovato in scarpa di suo marito", sagte er stolz. Alle unsere Schuhe standen unten an der Stiege. Wir wollten keinen Schmutz herauftragen. Das Briefchen konnte nur von der Hexe stammen. "Siete fortunati", sagte der Maresciallo. "nient'altro qui sopra fra le vostre cose." Und dann in eindringlichem Flüsterton: "Non rimanere qui. È un luogo maledetto." Ich hätte ihm gern erzählt, was hier vor kurzem vorgefallen war, hätte es aber auf Italienisch nicht geschafft. Der Maresciallo blies in seine Trillerpfeife. Sechs Carabinieri vergatterten sich vor dem Haus. In ihrer Mitte die Hexe in Handschellen. Auf Kommando des Maresciallo marschierten sie auf das Loch in der Mauer zu. Die Hexe verschwand mit ihnen im Mauerloch. Rigo bellte wie wahnsinnig.

In dieser Nacht schlief nur Tino gut. Mamma, Rigo und ich schraken auf bei jedem der vielen Laute, die das alte Haus und seine nächtliche Umgebung abgaben. Ein Uhu heulte unentwegt. Rigo bellte oft. Mamma und ich hatten Angst. Als es nur ein wenig hell wurde, begann ich unsere Sachen zu packen. Als ich einige davon hinuntertrug, traf mich der Schlag. Die Hexe stand an der Tür und rauchte. Sie müssen sie wieder nach Hause geschickt haben. Später tauchte wirklich Carlo auf und half mir mit dem Gepäck. Als ich an der Hexe vorbei musste, spuckte sie mich an. Tino umarmte sie und lud ihn ein, sie doch zu besuchen. Die Tür wäre immer für ihn offen. Nachdem Carlo ein paar Liter Benzin in unseren Tank geleert hatte, fuhren wir im Konvoi davon. Weg, nur weg von hier! Ein Wunder, dass das noch möglich war.

Das Molto Agitato löste sich auf in ein Moderato Tranquillo. Die Zeit bei Paula und Carlo war wundervoll. Die beiden und sogar Lucia waren rührend besorgt um uns alle. Die Wohnung war angenehm, warm und heimelig. Mamma lernte von Paula das Klöppeln. Rigo fraß wieder und mit großem Appetit. Tino dachte nicht mehr an die Hexe. Paula hatte ihren langen Konzertflügel aus Wien mitgebracht. Der stand jetzt in ihrem Salon. Ab und zu versammelten wir uns dort zu einem musikalischen Abend. Paula sang die alten Operettenmelodien, Tino begleitete sie am Klavier oder mich bei unseren Couplets. Carlo spielte neapolitanische Volksweisen auf seiner Tuba und Lucia löste Tino am Klavier ab mit 'Pour Elise'. Nachbarn oder Gäste gesellten sich hinzu und alle hatten ein sehr lange nicht gekanntes Vergnügen.

Mediterrane Lebensweise, Ernährung. Mildes Klima, schrieb ich Rainer. Nur, Fisch ist gar nicht billig, wie du versprochen hast, nein, sehr teuer! Und es gibt überhaupt kein Schmalz. Und keinen Paprika! Rainers Antwortbrief (seltenes Ereignis!) verursachte mir eine Stunde Putzvergnügen. Er hatte in das Kuvert eine Menge Paprika gegeben. Schmalz folgt, schrieb er.

Share by: