B - Giorgio und Romoletto

Giorgio und Romoletto

worin vorkommen: Rom, der Bahnhof Termini, Hotel Ranieri, Venedig, das Hotel Grand Canal, die Villa Borghese, die Villa Medici, die Spanische Treppe, die Via dei Condotti, das Castel Sant'Angelo, die Piazza Navona, das Pantheon, die Fontana di Trevi, der Palazzo del Quirinale, Graz, Pordenone, Firenze, Orvieto, der Lago di Bolsena, Lappland, das Hotel San Giorgio, Mestre, Neapel, Frosinone, Castro dei Volsci, Monte Cassino, Turin, Holland, Poppiano, der Ponte Vecchio, die Trattoria 'Palle d'Oro', Aviano, Rivolto, Lignano, Hohenthurn, die Autostrada del Sole, der Apennin, Bologna, die Poebene, Ferrara, der Po, Rovigo, Padua, Mestre, der Piazzale Roma, San Biagio, San Marco, Nino Manfredi, Giacinto Migliori - 'Romolo' - 'Romoletto', Pier Paolo Pasolini, Gesualdo Bufalino, Ettore Petrolini, die Medici, Averardo de' Medici, der Riese Mugello, sowie ein Match um Florentiner T-Bone-Steaks

Chaos in meinem Kopf, Chaos in meiner Seele, Chaos in meinem Herzen, Chaos in meinem Hormonhaushalt. Elfhundert Kilometer Autobahn würden mir Gelegenheit geben mit dem Aufräumen zu beginnen. Durchs offene Fenster sprang der Fahrtwind mich an. Ich hielt es geöffnet um nicht einzuschlafen. Ich musste lachen. So lange im Bett und so müde!


Ungeordnet spiegelte mir die Windschutzscheibe Bilder aus den vergangenen Tagen vor. Auf das Verkehrsgeschehen dahinter reagierte ich automatisch. Ein ständiger dumpfer Schmerz hauste im Bereich meiner rechten Rippen. Ich vermied es, die Gänge zu schalten. Diese Bewegung schmerzte am meisten. Der Unfall letzte Nacht im Einzelzimmer des Ranieri hätte leicht verhängnisvoll enden können. Das schmale Bett hat unruhige Zeiten erlebt mit seinen beiden Gästen. Es kracht und stöhnt und ächzt, bis es ihm endlich reicht. Kurzerhand schüttelt es die beiden Peiniger ab, wirft zuerst die Frau hinaus und den Mann hinterher. Die Frau stützt ihren unerwarteten Fall mit der Hand ab. Da folgt ihr schon der Mann und stürzt mit dem ganzen Gewicht seines Oberkörpers auf den Unterarm der Frau. Es ist das erste Mal, dass ich die unbeugsame Tapferkeit dieser Finnin erlebe. Die Krafteinwirkung auf die Elle ist groß, aber gerade nicht groß genug um sie zu brechen. Beide ringen wir nach Atem. Sie wegen des Schmerzes im Unterarm, ich wegen meiner Rippenprellung. An der Windschutzscheibe das blasse Röntgenbild zweier unversehrter Unterarmknochen. Es dauert nicht lange, da übermannen wir das arme Bett von Neuem. Es ist unsere letzte Nacht miteinander auf dieser Reise. Ob irgendwann eine andere folgen würde, wissen wir beide nicht.


Der Nachmittag davor in Rom ist auch so eine Räubergeschichte. An der Windschutzscheibe die deutlich abgezeichneten Fratzen einiger kretinoider Mestizen. Jeden von ihnen würde ich wiedererkennen. Im Gewühl der riesigen Halle des Bahnhofs Termini kommt die Horde mit Gebrüll auf uns zu. Sie sind klein wie Halbwüchsige, schwenken Zeitungen in den Händen, die sie scheinbar verkaufen wollen. No! Ich will von euch nichts kaufen. No! No! No! Soile hält ihre Handtasche fest. Die Menschen rundum nehmen von dem Geschehen kaum Notiz. Für sie ist es etwas ganz Alltägliches. Die Inkas tanzen um uns herum, stoßen uns an. Eine Minute danach sind sie im allgemeinen Trubel verschwunden. Mit ihnen meine Geldbörse. Ich habe sie in die Hosentasche gesteckt, nachdem ich an einem Schalter Reiseschecks eingelöst habe. Die Inkabande hat das sicherlich beobachtet. Die Reiseschecks hatte ich zur Sicherheit gekauft. Taschendiebe und so. Sehr witzig. Das Geld brauche ich für die Heimfahrt. Soile borgt mir eine angemessene Summe. Sie macht dabei ein besorgtes Gesicht. Sie überlegt, wie sie das Fehlen des Betrages daheim erklären soll. Ich verspreche, ihr das Geld gleich nach meiner Ankunft zu schicken. Anzeige machen wir keine. Ich weiß, dass das einen halben Tag dauern würde und völlig zwecklos ist in Rom.


Über die Windschutzscheibe huschte unsere Ankunft im Ranieri am Tag zuvor. Ähnlich wie zu Beginn der Woche im Grand Canal runzelt das Personal jetzt auch im Ranieri die Stirnen. 412 ist verschwunden. Die Signora, die zur Sammelreservierung aus Finnland gehört, hat eingecheckt, das steht fest. Danach hat niemand mehr sie gesehen. Das Einzelzimmer ist die ganze Woche unbewohnt geblieben. Nicht dass es sonderlich beunruhigend wäre. Es kann viele Gründe geben. Sie hat von Anfang an etwas Anderes vorgehabt in Rom und die Pauschalreise nur genommen, weil sie günstiger ist als eine Individualreise. Sie ist gleich am ersten Abend einem Gigolo in die Hände gefallen. Sie ist ausgeraubt und ermordet worden. Letzteres könnte dem Personal und der Geschäftsführung noch eine Menge Ärger bereiten. Warum sagen die Leute nicht einfach, dass sie vorhaben wegzubleiben! La vita potrebbe essere bella.


Das Ranieri, in der Via XX Settembre wohlgemerkt, ist ein klassizistischer Palazzo, typisch Rom. Soile hat ihren Schlüssel in der Handtasche. Er sperrt das Haustor. Man gelangt in ein stilvolles Stiegenhaus mit geschwungener Treppe und Gusseisengeländern. An der Rezeption muss man nicht vorbei. Das ist günstig, denn wir beide wollen in Soiles Einzelzimmer. Um nicht auf dem Gang auf den altmodischen, aber elegant restaurierten Aufzug warten zu müssen, der in den Lichtraum zwischen dem Rund der Stiege eingebaut ist, eilen wir zu Fuß über die Treppe. Soiles Koffer hat sie schon am frühen Nachmittag mitgebracht. Sie war allein ins Zimmer hinaufgegangen, um festzustellen, dass trotz ihrer Abwesenheit alles in Ordnung wäre. Sie hatte sich rasch ein wenig frisch gemacht und war gleich wieder aus dem Hotel getreten, wo ich auf sie gewartet hatte. Alles bestens.


Ihr Schlüssel öffnet auch die Tür zu 412. Etwas erschöpft von den Ereignissen des Tages lassen wir uns in die zwei kleinen Fauteuils fallen. Die wenigen Sachen, die ich für die Hygiene brauche, habe ich in einer kleinen Reisetasche. Das Pyjama gehört nicht dazu. Dagegen eine angebrochene Flasche Whisky. Sie kommt jetzt zum Einsatz. Wir reden über die Wanderung Hand in Hand durch Rom, die Villa Borghese, Villa Medici, die Spanische Treppe, die Schaufenster auf der Luxusmeile der Via dei Condotti. Gern hätte ich ihr das ganze Geschmeide aus dem Laden geholt. Meine Finanzen lassen das bei weitem nicht zu. Ich verdiene ganz gut, aber die Kosten für mein Leben getrennt von der Familie, die Kosten der Familie daheim, die Reisekosten fürs Pendeln, die familiär bedingten Reisekosten zu Annamarias Familie in Italien, die Urlaubsreisen, da bleibt dann doch nicht viel übrig. Castel Sant’Angelo, Piazza Navona, das Pantheon, die Fontana di Trevi und vorbei am Palazzo del Quirinale zurück zum Ranieri. Soiles glänzende Augen erschienen in der Windschutzscheibe. Die Woche habe alle ihre Erwartungen übertroffen. Es könne nicht sein, dass damit alles zu Ende sei. Wie solle sie überleben so weit weg vom Leben auf unbestimmte Zeit. Mir geht es genauso, sage ich. Kannst du nicht einfach dableiben? Wir kommen überein, zuerst einmal alles mit unseren Familien ins Reine zu bringen, dann würde Soile zu mir nach Graz kommen, oder nach Pordenone, oder wo immer ich dann sein würde.


Firenze geradeaus weiter auf der A1. Ausfahren nach Orvieto, Lago di Bolsena. Das erschien auf dem entfernteren Teil der Windschutzscheibe. Im näheren Bereich zuerst das runde schwarze Loch des Sees, dann die Spelunke in Bolsena. Ein eisiger Wind hat uns hineingetrieben ins vermutlich einzige offene Lokal im Ort. Wir haben gerade noch zwei Plätze gefunden in der Nähe der Eingangstür. Es zieht fürchterlich jedes Mal, wenn sich die Tür öffnet. Von großen Glasscheiben strahlt der Frost ins Lokal. Der sonnige Süden? Mediterrane Wärme? Illusionen. Jedenfalls im Winter. Die kalte Zeit ist kurz. Man kommt schon darüber hinweg, auch ohne viel Geld für Heizung und Isolierung zu verschwenden. In dieser Trattoria gibt es einen großen Eisenofen, der tapfer mit der Kälte ringt. Den nahe Sitzenden ist es zu heiß, wenn auch nur an einer Körperseite, den weiter Entfernten hilft er wenig. Es überrascht mich, dass meine Finnin so kälteempfindlich ist. Man weiß ja, wie kalt die Winter im Norden sein können. Sie erklärt mir, dass es bei ihr zuhause im Freien schon kalt sein könne, aber drinnen sei es überall angenehm warm. Allerdings gibt sie zu, auch unter Finnen eine Ausnahme zu sein, die leicht friere, was ihr schon ihre Schiurlaube mit der Familie in Lappland vermiest habe. Wir essen Pasta bei reichlich Rotwein. Die Windschutzscheibe brachte in Großaufnahme das Renaissanceportrait des Jünglings mit wallendem blonden Haar und weichen Gesichtsrundungen um eine Hakennase. Der serviert uns. Von ihm erfahren wir, dass um diese Jahreszeit ein einziges Hotel offenhalte, etwas weiter die Dorfstraße entlang. Es ist ein ziemlich neues Haus. Wir bekommen dort ein Zimmer, gegen sofortige Zahlung, weil morgen Ruhetag sei und niemand Dienst habe. Man solle nichts vergessen morgen Früh beim Weggehen. Wenn das Haustor einmal hinter uns ins Schloss gefallen sei, könnten wir nicht mehr zurück ins Hotel. Wir könnten die Heizung gleich aufdrehen. Anfangs würde es ein wenig kühl sein im Zimmer. Es ist ein hübscher kleiner Raum. Die Terrasse mochte in der schönen Jahreszeit erfreulich sein. Alte Bäume blicken aus dem Dunkel durch das Glas der Terrassentür. Einfach verglast. Der kleine Elektroradiator schafft bis zum Morgen keine angenehme Raumtemperatur, aber auf den vier Quadratmetern unter der Steppdecke wird uns doch sehr bald warm. Wir lernen die Kunst, trotz all unseres Hin und Her immer schön unter der Decke zu bleiben. Zum Frühstück müssen wir in die Trattoria von gestern. Es ist jetzt noch windiger und kälter als am Abend zuvor. Rasch zwei Caffé Latte, jedes eine Brioche und ab nach Rom.


Eine gute Stunde später näherte ich mich Florenz. Sie wird jetzt gerade boarden, dachte ich. An der Windschutzscheibe erschien ein riesiges T-Bone Steak. Aus einem Fenster des Hotels San Giorgio fällt ein brennender Herrensocken, gleitet langsam hinab in den Innenhof, erlischt auf dessen Überdachung. Ich habe kurz vor Florenz wieder das Steuer des roten Fiats übernommen. Von einer Autobahntankstelle weg, bald nach Mestre, ist Soile gefahren. Gleich zu Beginn ein aufregender Moment, als sie, während sie sich anschnallte, nicht bemerkte, dass der Uno langsam rückwärts rollte auf den dahinterstehenden Wagen zu. Kurz vor dem Bums habe ich die Handbremse gezogen. Auf der Autobahn fährt sie gut und sicher. Zwar unterscheidet sich meine Fahrweise grundlegend von der ihren. Ich der Lässige, sie die betont Korrekte. Doch bin ich nicht der unangenehme Mitfahrer, der vom Lenker erwartet, er müsse alles genauso machen wie er selbst. Überhaupt, was war das für ein Fahren! Soile sitzt mit starrem Blick nach vorn, beide Hände fahrschulgerecht am Lenkrad. Ihre Wangen verfärben sich von Rot nach Dunkelrot, weil ich nicht akzeptieren will, dass wir uns nicht mehr im Bett des Grand Canal befinden. Ich setze meine Liebkosungen hier unbekümmert fort. Mein linker Arm ist um die Schultern der Geliebten gelegt. Meine Finger spielen an ihrem Haar, an ihrer Wange, an ihrem Hals, an ihrem Rücken, an ihrer Schulter, gleiten durch den Halsausschnitt hinein an den Brustansatz, es geht nicht tief genug, also richte ich mich mehr auf, beuge mich noch mehr zu ihr hinüber, bis es mir gelingt, jene harten Sultaninen zu prüfen. Zu prüfen und wieder zu prüfen und zu pflücken. Mit der anderen Hand streichle ich ihren Oberschenkel unterhalb des hinaufgeschobenen Rocks. Mehr wage ich dort nicht, weil ich befürchten muss, sie würde die Kontrolle über sich und den Uno verlieren. Die Farbe ihrer Wange zeigt mir ihren Lubrikationszustand an. Wenn ich selber lenke, ergeht es mir ähnlich. Soiles Finger spielen an meinem Haar, an meiner Wange, an meinem Hals, an meinem Rücken, an meiner Schulter. Vielleicht nimmt sie an, ein Fiat gehöre auf diese Weise gefahren, insbesondere in Italien. Ich lenke nicht schulmäßig. Mein rechter Arm ist um ihre Schultern gelegt. Meine Finger spielen an Soiles Haar, an ihrer Wange, an ihrem Hals, an ihrem Rücken, an ihrer Schulter, gleiten durch den Halsausschnitt hinein an den Brustansatz, es geht nicht tief genug, also richte ich mich mehr auf, beuge mich noch mehr zu ihr hinüber, bis es mir gelingt, jene harten Sultaninen zu prüfen. Zu prüfen und wieder zu prüfen und zu pflücken. Sie lässt es widerstandslos geschehen. Sie streichelt meinen Oberschenkel, trifft dabei auf verhärtete – Muskeln? Mein Lubrikationszustand äußert sich in verräterischen Flecken an der Hose. Firenze 145. Mein Gott, wie lange konnte man auf diese Weise Auto fahren? Nach Florenz hinein fährt er, unbeeinträchtigt. Sie will es nicht in der fremden Öffentlichkeit.


Irgendwie gelangen wir an den Bahnhof. Hotel San Giorgio, sticht mir eine Leuchtschrift in die Augen. Ein Zimmer im obersten Stock ist frei. Alles beginnt wie im Grand Canal. Schon rechnet Soile mit einer neuerlichen tagelangen Internierung. Der Bettaufenthalt dauert aber nur kurz, dient der nötigen Entspannung von den Verspannungen der Autobahnfahrt. In wunderbarer Lockerheit verlassen wir danach das Hotel zum verliebten Sightseeingbummel. Ich zeige ihr, was an Wundern ich schon kenne in dieser himmlischen Stadt.


Die Windschutzscheibe zeigte eine Landkarte, verschwommen zuerst, dann ins Scharfe übergehend. Die italienische Küste zwischen Rom und Neapel. Etwa in der Mitte zwischen beiden Frosinone. Das Bild zoomt. Südlich von Frosinone taucht ein kleiner Ort auf. ‚Castro dei Volsci‘ steht daneben. Die Karte blendet über in die Aufnahme der wunderhübschen latinischen Landschaft mit grünen Tälern zwischen Hügeln und Bergzügen. Die Kamera fährt auf einen steilen Hügel am Horizont zu. Er ist überwuchert von rustikalen steinernen Häusern. Die Schrift ‚Castro dei Volsci‘ breitet sich über das Bild, darunter kleiner, ‚Geburtsort des Filmschauspielers und Regisseurs Nino Manfredi und des Malers Giacinto Migliori‘. Was hat das alles mit mir zu tun, frage ich mich.

Die Gebäude verändern sich, stürzen ein, es bleibt ein Ruinenfeld. Die Amerikaner auf dem Marsch nach Rom von den Deutschen gestoppt. Neben den vier Schlachten um Monte Cassino fällt auch Castro dei Volsci in Schutt und Asche. Die Bewohner flüchten nach Rom. Unter ihnen die Familie Migliori mit dem kleinen Giacinto. Wahnsinn, denke ich, aber was habe ich damit zu tun?



Überblendung. Der junge Giacinto in Rom. Er nennt sich jetzt Romolo. Seine Eltern und Geschwister sind nach Frankreich emigriert. Er weigert sich. Ein wüstes Leben auf der Straße. Alkohol. Durch Zufall lernt Romolo Pier Paolo Pasolini kennen, die beiden freunden sich an. Romolo stabilisiert sich etwas. Er beginnt herumzureisen. In Turin geht er eine Beziehung ein mit einer Frau, die schon vier Kinder hat von vier verschiedenen Vätern. Von Romolo bekommt sie das fünfte. Gianluca.

        Die Mutter jagt Romolo zum Teufel. Sie hat eine gute Partie in Aussicht. Wenn du dich hier blicken lässt, rufe ich die Polizei, droht sie. Romolo geht für eine Weile nach Holland. Gianlucas Mutter heiratet. Ihr Mann aberkennt Gianluca die Vaterschaft. Der Knabe bekommt Pflegeeltern. Seine Mutter weiß, würde sie Romolo als Vater namhaft machen, würde Romolo das Kind seiner Mutter in Obsorge geben, die inzwischen mit Romolos Schwestern in Frankreich lebt. Romolo verliert Gianlucas Spur.





Nach seinen Wanderjahren lässt Romolo sich in Poppiano bei Florenz nieder. Er beginnt sich der Aquarellmalerei zu widmen. Das nebenstehende Foto von Poppiano könnte sehr gut ein Aquarell von Romolo sein.

Interessante Geschichte, aber ich habe noch immer nicht verstanden, was das alles mich angeht.


Seit Anfang der Achtzigerjahre schlägt Romolo sich durch als Straßenmaler in Florenz. Das Leben hat ihn gehärtet. Er sagt jedem ungeschminkt seine Meinung. In seinem römischen Dialekt. Testone che é. Er wird zum Florentiner Original. In dieser Stadt kennen ihn alle. Trotz seiner trockenen Art gewinnt er die Freundschaft prominenter florentinischer Persönlichkeiten. Romoletto nennen sie ihn jetzt. Im Kontrast zu seiner harten äußeren Schale zeigen seine fein gestrichenen Aquarelle, sicherlich gegen seinen Willen, was wirklich in ihm steckt. Seine Technik ist das Aquarell. Die Motive sind vorwiegend toskanische Landschaften, deren blasse Farben den Darstellungen eine luftige Leichtigkeit geben. Seine Aquarelle verkauft er nicht jedem x-Beliebigen, nur denen, die er mag. Es ist keine Frage des Geldes, sondern der Person. Er sucht sich seine Käufer aus. Weil er eben so ist, immer gegen den Strom. Eine Persönlichkeit, die Lesungen veranstaltet, Gesualdo Bufalino oder Ettore Petrolini oder Pier Paolo Pasolini. 


Mein Gott, ja! Ich erinnere mich jetzt. Wie zur Bestätigung erschienen wieder Soile und ich an der Windschutzscheibe. Wir schlendern schauend und staunend durch die belebten Straßen von Florenz. Auf dem Ponte Vecchio treffen wir auf einen Aquarellmaler, der dort arbeitet und an einem kleinen Stand seine Bilder verkauft. Seine Motive sind vorwiegend Florenz und Umgebung. Diese Aquarelle sind so fein und ansprechend, dass wir uns ausgiebig Zeit lassen, sie zu betrachten. Der Maler lässt seinen Zeichenblock liegen und stellt sich vor. Giacinto heiße er. Ist es ein besonderer Sympathiebeweis oder Vorsicht gegen Fremde, dass er sich nicht als Romoletto ausgibt? Woher sie seien. Ah, Finlandia. Una rarità, davvero. Innammorati, si vede. Seine Geschwister leben in Frankreich. Diese schmalen und weiten Aquarelle, toskanische Landschaften, gefallen uns besonders. Wir wären geneigt, sogar zwei davon zu kaufen. Giacinto verweigert sie uns nicht. Wir gefallen ihm. Wir kaufen die beiden Aquarelle. Der Preis kommt mir niedrig vor. Toskanische Landschaften. Wir beschließen, wir würden je eines der Bilder mit nach Hause nehmen mit der Absicht, sie einst in gemeinsamer Wohnstatt zu vereinen. Das gefällt Giacinto ganz besonders. Zu uns ist er in keiner Weise trocken oder grob. Er wünscht uns sehr herzlich, unsere Pläne mögen aufgehen. Eine Passantin hingegen herrscht er an, ein Foto von uns dreien zu machen. Sie wagt nicht zu widersprechen und drückt ab.

Zwei außerordentliche Geschichten kreuzen hier ihre Wege. So wüst die Wege waren bis zu diesem erstaunlichen Treffpunkt, so unabhängig voneinander werden diese Wege wieder auseinanderstreben. Bleiben werden die Aquarelle.


Die Windschutzscheibe tat ein Weiteres. Sie eröffnete mir einen Blick in die Zukunft. Leider nicht in unsere. Werden unsere Romoletto-Aquarelle je nebeneinander hängen? Über die Windschutzscheibe flimmerte die Zukunft Romolettos. Der Verlust seines Sohnes lässt ihm keine Ruhe. Er forscht nach ihm, mit dem Namen Migliori und dem der Mutter, immer ohne Erfolg. Gleichzeitig sucht sein Sohn Gianluca nach seinen leiblichen Eltern. Seit 1989 gibt es in Italien eine TV-Sendung, ‚Chi l’ha visto?‘. Das Programm versucht, vermisste Personen aufzufinden, beziehungsweise zueinander zu bringen. Gianluca erfährt, dass seine Mutter gestorben ist, dass er vier Geschwister hat, alle verschiedener Namen, und er hat einen lebenden Vater. Giacinto Migliori. Romoletto ist 68. Sein alter Hund Nerino stirbt. Am Tag darauf gewinnt er seinen Sohn Gianluca zurück. Am Vatertag. Gianluca ist Bestatter. Jetzt brauch ich nicht mehr auf mein Grab zu sparen, scherzt Romoletto. Das Jahr darauf, 2015, wird sein Scherz traurige Realität. Sein Hingehen findet reichhaltiges Echo in allen regionalen Print- und Funkmedien.


Die Windschutzscheibe verdunkelte sich. Es wird Abend. Schon auf dem Weg Richtung San Giorgio kommen wir an einer Trattoria vorbei, die sich Palle d’Oro nennt. Palle d’oro sind goldene Eier. Nein, keine Hühnereier. Ja, genau, Testikel. Florenz ist übervoll mit Palle, nicht nur Florenz, die ganze Toskana, ja ganz Italien. Wo immer das Wappen der Medici erscheint, es ist eine unterschiedliche Anzahl von Palle darauf zu sehen. Man frage mich nicht, woher diese meine Weisheit stamme, ich kann es nicht mehr sagen. War es einer meiner gedruckten Städteführer? Was ich heute über das Thema finde, ist anderer Ansicht. Von den Pillen der frühen Medici ist die Rede, als sie noch nicht Banker, sondern Ärzte waren. Gab es da schon Medizin in Pillenform? Auch Münzen werden genannt als Herleitung für die Palle. Seit wann sind Münzen Kugeln? Auch halbkugelförmige Erhebungen in den Schilden zur leichteren Abwehr von Schwerthieben werden als Erklärung herangezogen. Oder auch ihr Gegenteil, konkave Eindellungen im Schild des Medici-Vorfahren Averardo, der Sage nach erlitten im Kampf mit dem Giganten Mugello, als dieser mit seiner Keule den Schild Averardos bearbeitete. Sollen sie glauben, was sie wollen, für mich sind das alles ‚Palle‘ (ital. für fake facts). Für mich bleiben die Testikel als Symbol der männlichen Vermehrungskraft die plausibelste Erklärung. Also, an einem Lokal mit dem Namen Palle d’Oro einfach vorbeigehen, das kann ich nicht. Sicherlich war das der Hintergedanke der Betreiber, als sie ihre Trattoria so benannten. Soile weiß noch nicht, was es mit dem Namen auf sich hat, sonst würde sie sich vielleicht weigern einzutreten. Sie wird es im Laufe des Abends erfahren beim Essen. Das Lokal ist urig, gemütlich, die Karte verlockend. Wir bestellen Tomatencremesuppe fürs erste und danach zwei Fiorentine, offenbar das Highlight auf der Karte. Während wir die Suppe löffeln, bekommt das britische Paar am Nebentisch gerade Fiorentine serviert. Also, beide bekommen je eines. Das allein wäre nicht nennenswert, aber man muss wissen, das T-Bone-Steak, das sie Fiorentina nennen, es ist gigantisch. Wahrscheinlich vom Mugello persönlich geschlagen und zerteilt. Das wissen die Briten aber nicht. Ihre Kommentare „Good Lord!“ (der Sir) und „Good grief!“ (die Lady) klingen weniger nach Bewunderung als nach Entsetzen. Um Gottes Willen, denken auch wir. Das blüht uns auch gleich. Und Suppe haben wir auch schon gegessen. Eine Portion Fiorentina für uns beide wäre schon zu viel. Die Briten machen sich tapfer ans Werk. Sie haben ihre Fiorentine gerade einmal um zwanzig Prozent verkleinert, als nach einer Viertelstunde die beiden nächsten Portionen bei uns abgeladen werden. Sie sind wirklich genauso groß wie die der Briten. Jetzt geschieht etwas für Briten ziemlich Außergewöhnliches. Die Beiden grinsen völlig unverfroren zu uns herüber. Pure Niedertracht! „Enjoy your meal“, sagt der Sir. Ich glaube, einen schmutzigen Unterton herauszuhören. Soile bedankt sich artig. „Same to you.“ Die Konversation über getrennte Tische hinweg, ein schwerer Fauxpas, jedenfalls für Briten, vielleicht nicht so sehr für Briten im Ausland, zumal im südlichen. Ist der Ruf einmal ruiniert, so lebt es sich ganz ungeniert. So denkt wohl der Sir und hebt sein Glas uns Leidensgenossen entgegen. Wir tun ein Gleiches, die Lady auch. So ist der Kampf gegen das grobe Übermaß gemeinsam aufgenommen. Eine Allianz ist geschmiedet. Sie erleichtert allen Kämpfern das Stechen und Schneiden und Beißen und Würgen. Wobei, es ist eine schöne Erfahrung, denn das Fleisch ist so vorzüglich zart, außen scharf angebraten, innen rosa. Die rohen Stellen liebt Soile weniger. Sie lässt sie liegen. Ich würde sie mit Genuss verspeisen, habe aber mit meinen eigenen Angriffen genug zu tun, kann nicht auch noch an der Nebenfront wüten. Kurzum, die Briten und Soile diskutieren ihre unrühmlichen Teilerfolge, Exits letztlich, während ich noch damit beschäftigt bin, den Streit zu einem glorreichen Ende zu führen. „Well done“, sagt der Brite. Es klingt wie die Anerkennung einer Niederlage. Die Lady hat das Wunder nicht für möglich gehalten. „Gosh, he really did it!“

Nach den Mühen der Autobahn und der Palle d’Oro ist es günstig, dass das San Giorgio nicht weit ist. Die Knie wissen nicht recht, sollen sie weich sein oder steif. Das Zimmer ist hübsch, aber die Nachttischlampen strahlen kalt. Sie sind ohne Schirme. Ich nehme die mitgebrachte Flasche Whisky und gieße ein in die Wassergläser aus dem Bad. Kippis. Das unromantische Licht stört. Ich ziehe meinen blauen Socken aus und lege ihn über die nackte Glühbirne. Sogleich entspricht das Ambiente dem Blue Moment. Wir trinken und schmusen, in Gedanken schon bei der nächsten Autofahrt. Morgen. Nach Rom. Soile bemerkt es nicht gleich, ihr Geruchssinn ist wenig ausgeprägt. Mich stört plötzlich ein beißender Gestank. Irgendetwas flackert komisch. Ich schaue aus dem Fenster, ob irgendwo Feuer ausgebrochen sei. Das trifft zu. Aber nicht anderswo, sondern hier im Zimmer. Der Socken brennt lichterloh. Ich erwische einen Kleiderbügel, fische den brennenden Socken auf und werfe ihn aus dem Fenster. Wir schauen beide dem Socken nach, wie er langsam in den Innenhof hinabgleitet und auf dessen Überdachung erlischt.


Im San Giorgio in Florenz spukt ein Hauskobold. Er hat verschiedene Namen, je nach Tatort. In Florenz heißt er Giorgio. So würde er auch in Aviano und in Rivolto heißen. In Lignano Edison. In Hohenthurn Schurli. Überall war er derselbe. Die Sache mit dem Socken hat ihm gefallen. Bei denen bleib ich, beschloss er. Ich hatte den starken Verdacht, es wäre Giorgio, der für die bewegten Bilder an der Windschutzscheibe des roten Uno verantwortlich wäre.

Die Kurven der Autostrada del Sole über den Apennin, hinter Bologna beruhigten sie sich. Lange gerade Strecken durchziehen die Poebene. Einschläfernd. Ein Espresso doppio an einer Tankstelle vertrieb die Schläfrigkeit nur kurz. Ferrara. Die Brücke über den Po. Lange Gerade. Rovigo. Padua. Nicht mehr weit bis Mestre. In der Windschutzscheibe sah ich mich verschwommen, zwei schwere Koffer über ein Fondamento zum Vaporetto karren. Ich habe mir dazu vom Hotel eine Transportrodel geliehen. Ein paar vollgestopfte Plastiktaschen und lose über die Koffer gelegte Überbekleidung machen aus dem Unterfangen eine Zirkusnummer. Ich selbst habe zwei Überzieher an, sonst würde der Balanceakt mit den Koffern und der Kleidung auf der Rodel völlig misslingen. Ich schwitze. Die Sonne über der Lagune heizt dem Vorfrühling schon kräftig ein. Das Wasser glitzert im Gegenlicht, beschattet nur von den unzähligen großen und kleinen Booten. Auf dem Vaporetto zum Piazzale Roma drängen sich die Menschen. Ich zweifle, ob ich mit meiner Fracht noch an Bord gehen könne. Manche Leute schauen mich missbilligend an, aber siehe da, es geht. Wozu, frage ich mich, habe ich den ganzen Müll mitgenommen? Ich bin doch sonst immer so sparsam mit Gepäck. Diesmal habe ich mehr Klamotten mit als Soile. Dabei hätte ich nicht einmal ein Pyjama gebraucht, denke ich, selig lächelnd. Da fällt die schwere Windjacke zum x-ten Mal vom Koffer auf den Boden. Zum Henker mit dem Geraffel. Am liebsten würde ich es in den Canale kippen.


Es dauert eine Weile, bis das Personal den roten Uno vor das Gebäude geholt hat. Mit dem Gepäck zum Auto hätte keinen Sinn. Die Wagen sind so eng geparkt, man könnte die Türen nicht öffnen, um die Koffer einzuladen. Deshalb müssen auch die Schlüssel in den geparkten Autos stecken bleiben, um sie rangieren zu können, wenn ein anderes weggeholt werden soll. Mit dem verstauten Gepäck ist der Uno voll. Ich frage mich, wohin der Rest kommen soll, der mit Soile im Grand Canal zurückgeblieben ist.


Auf der Fahrt zurück dorthin mit der leeren Rodel und luftig in Hemdsärmeln denke ich zurück an die letzten drei Tage, die so schnell vergangen sind. Ich sehe mich am Abend in der Ankunftshalle des Aeroportos vor dem pneumatischen Tor warten, aus dem ankommende Passagiere tropfenweise herauskommen. Die Ankunft der Maschine aus Rom ist durchgesagt. Jetzt ergießt sich ein größerer Schwall Ankommender durch das Tor. Sie ist nicht darunter. Wenn sie nicht gekommen ist? Hat sie es sich überlegt im letzten Moment, diese Wahnsinnsreise zu machen? Sich dem verrückten Briefeschreiber auszuliefern, ohne irgendeinen Menschen davon zu informieren? Ja, verrückt musste er sein, dieser midlifekriselnde Psychopath, mit ihr durchbrennen zu wollen. Nicht mit einer Jungen. Nein, mit ihr, der verheirateten Frau, die älter war, wenn auch unwesentlich, als seine eigene. Die zwei pubertierende Töchter hat. Und er selbst einen kleinen Adoptivsohn. Verantwortungslos! So wie alles eingefädelt ist, wäre es ihm ein Leichtes, sie auf immer verschwinden zu lassen. Auf dem Grund des Canale, im Morast der Lagune, auf der Müllinsel San Biagio. Man würde sie in Rom suchen, wo sie im Hotel Ranieri zwar eingecheckt hat, danach aber von niemandem mehr gesehen worden ist. Rätselhaft würde bleiben, weshalb sie allein gereist ist. Man würde ermitteln, ob sie einen Grund gehabt hätte, aus ihrer Familie zu verschwinden, aber sämtliche Verwandte würden das kategorisch ausschließen.


Das automatische Tor öffnet sich jetzt seltener. Die allermeisten Passagiere sind wohl vorbei. Mein Blick fällt auf den Lost-and-Found-Schalter. Ich habe gute Lust, dort den Verlust meines Nordlichts anzuzeigen. Nein, sie wird nicht kommen, sage ich mir. Sie wollte wohl dem alternden Falstaff vor Augen führen, was für ein Trottel er ist. Alt und eitel. Zu glauben, eine vernünftige Frau würde ihre ganze Existenz gefährden wegen ein paar abgeschmackter Liebesbriefe! Ich würde jetzt mit Bus und Vaporetto ins Grand Canal fahren, um sofort auszuchecken. Dann durch die Nacht heim nach Graz zu Dorit. Recht geschieht mir, denke ich.


Ich weiß nicht recht, weshalb ich noch warte. Da geht das Tor noch einmal auf. Zwei große Burschen mit Irokesenschädeln und enormen Rucksäcken kommen heraus. Die zahlreichen Seitentaschen der Rucksäcke stehen halb offen. Vielleicht sind sie gefilzt worden. Unordentlich hineingestopfte Gegenstände drohen herauszufallen. Fallen heraus. Der eine bückt sich nach seiner auf dem Boden rollenden Taschenlampe. Über den gebeugten Irokesen hinweg sehe ich dahinter einen dicken Koffer, daneben eine Gestalt in hellem Trenchcoat, klein und schmal. Sie ist stehengeblieben, um dem Burschen das Aufsammeln seiner Habe zu ermöglichen. Kein Zweifel. Gott, es ist Soile.


Augenblicklich verschwindet der schale Geschmack aus meinem Mund. Sie ist da. Sie ist wirklich da! Die Barriere für die Wartenden interessiert mich nicht länger. Ich springe über die Taschenlampe und an dem kauernden Irokesen vorbei. Ich will ihr verkünden, dass sie die Allerliebste sei unter den Ankommenden, denn all die anderen sind schon vorbei und die seien alle nur lieb gewesen. Deshalb sei sie es, die mit mir diese Woche zu verbringen habe. Dazu komme ich aber nicht. Die von uns beiden lang ersehnte Umarmung lässt keine Worte zu. Seltsam, der Kuss gibt nicht alles her, was man nach so langer Zeit aufgestauter Liebe erwarten könnte. Jetzt kann ich die geplante Anspielung an eine Stelle in meinen Briefen anbringen, während ich ihren Koffer und sie aus der Halle dirigiere. Sie habe so lang auf den Koffer warten müssen, habe schon gedacht, er sei nicht angekommen. In Italy, you never get what you expect. Dann habe das Band noch einmal zu laufen begonnen mit ihrem Koffer als einziges Stück darauf. In Italy, you get what you never expect. Ich steuere nicht den Bus an, sondern den Wasserbus direkt nach San Marco. Am schönsten kommt man in Venedig vom Wasser her an. Heute nicht, denn es ist schon ganz dunkel. Durch die beschlagenen Scheiben des Wasserbusses sieht man nicht mehr als traurig einsame Lichter. Wir verstauen uns in eine der Sitzreihen und den Koffer in der Reihe vor uns. Der Wasserbus liegt im schummrigen Halbdunkel, ist noch ziemlich leer. Bis zur Abfahrt dauert es noch eine Viertelstunde. Es ist relativ kalt auf dem Wasser. Ohne viel zu reden, fallen die Beiden wieder in Umarmung. Fast verschwindet die zierliche Frau unter dem Mann. Doch scheint sie gerne zu verschwinden. Und die Küsse geben jetzt alles her, was man nach so langer Zeit aufgestauter Liebe erwarten konnte. Der Wasserbus, die Sitzreihen, die beschlagenen Scheiben, die ganze Welt versinkt und es ist gar nicht kalt. Sie bemerken nicht, dass andere Reisende zusteigen, dass der Motor anspringt, dass der Bus ablegt. Ihrer Umarmung wegen sind sie hierhergekommen und nichts Anderes hatte mehr Bedeutung.


Die Stimme klingt scharf und laut: „Biglietti!“ Dieser Zuruf hat so gar nichts mit unserer Liebe zu tun. Was geht das uns an? Die wiederholte Forderung klingt noch barscher und böser: „Biglietti!!!“ Mir schwant, dass ich die Aufforderung nicht länger ignorieren kann. Ohne mich von ihren Lippen zu lösen, krame ich die Tickets aus der Tasche und strecke sie der Stimme entgegen. Die murmelt etwas Missbilligendes, während sie sich entfernt. „Biglietti!“

 San Marco würden wir versäumen, wenn man San Marco versäumen könnte. Endstelle. Die unwirsche Stimme fordert uns auf, das Wasserfahrzeug zu verlassen. Mir kommt vor, ich habe etwas verstanden wie die Empfehlung, wir sollten uns ein Zimmer nehmen. Genau das haben wir vor. Das Grand Canal liegt nur wenige Schritte weiter das Ufer entlang, aber zu Fuß muss man durch ein paar Calli kurven, um zum Eingang zu gelangen, der an der Seite des stattlichen Gebäudes liegt. Ich habe schon eingecheckt und werfe nun im Vorbeigehen dem Concierge Soiles Pass zu.


Von dem Paar auf 304 sieht und hört man nichts. Sie essen nicht im Hause, sie gehen nicht aus. An der Tür hängt außen das Täfelchen „Non disturbare“. Das Zimmer ist das eines venezianischen Palazzos, größer als eine niedrige Bedienstetenkammer, kleiner als ein Herrschaftsgemach aber ebenso hoch, gut ausgestattet für heutige Touristen, mit einem Dielenboden, der so wellig ist wie der in der Markuskirche. Das Fenster geht zur engen Calle hinaus. Das Bett überaus wohldimensioniert und kuschelig. Ihr Koffer wartet darauf, vollständig ausgepackt zu werden. Egal. Der Koffer, der Karneval, das Frühstück, alles kann warten. In dieser Nacht des San Valentino nimmt er hin, gibt sie hin, was beide so lange ersehnt haben. Wieder und wieder. Immer wieder. Eine überwältigende Fuge, die das Thema unaufhörlich wiederholt und variiert.


Valentinsnacht. Sie hat ihr Versprechen eingelöst und eine Übersetzung des finnischen Textes der Romanze für ihn angefertigt. (Ich habe auch die finnischen Worte für Dich aus dem Stück Romanssi. Es ist schwierig, die aufs Deutsch zu übersetzen, aber ich versuche und erzähle dann in Venedig, oder wo wir nur Zeit dafür haben sollen.) In einer Valentinskarte schenkt sie ihm nun diese Übertragung.

Die Romanze

 

Wenn die Erde schon jetzt von der Nacht

in ihren Armen geschlossen wird

darf ich Deinen Namen flüstern

Die Nacht bring mir die Antwort aus der Ferne

und erlaubt mir den Gesang zu hören der uns klingt

In meinen Träumen wandere ich nach dem Vergangenen

und gelobe Dir weil ich darf:

nie werde ich Dich loslassen

Du bist der Strahl der Sonne

und die Liebe und zeitloser Gesang.

 

Jene Tage des Glücks sind schon vorbei

jene Zeit ist jetzt wie ein Traum

und Gesang hat dann das Herz voll gemacht

jetzt höre ich den wie ein Echo aus der Ferne

Ich erwarte Dich so lange bis die Erde schon

verschwindet und ich weiß dass Du dann

erscheinen wirst mit Lächeln

Du wirst erscheinen wenn das Glück schon

ein Schmerzen geworden ist

und die Liebe und zeitloser Gesang.

 

 

Rainer, mein Allerliebster,

Ich wünsche Dir einen sehr glücklichen Valentinstag.

Soile

Valentinstag, mein Gott, es ist Valentine! Diesem Ritual bin ich bisher nie gefolgt. Daher habe ich auch keinen Valentinsgruß für sie vorbereitet, abgesehen von der vielstimmigen Fuge, die alles übertönt. Doch erkenne ich durch ihre Liebe, wie schön der Brauch sein kann. Ich weiß die Uhrzeit nicht, es dürfte später Nachmittag oder früher Abend sein. Unter feierlicher Versicherung der baldigen Rückkehr bitte ich meine Venus um kurzen Freigang. Ich laufe durch die Calli, durchsuche die Negozi nach einem brauchbaren Valentinsgeschenk für sie. Brauchbares findet sich zuhauf. Nur, es sollte auch leistbar sein. Denn angesichts der bereits angefallenen und noch bevorstehenden Reisekosten herrscht Ebbe in der Kasse. Ich entscheide mich für eine kleine Kugel aus Muranoglas mit eingegossener, blass violetter Krokosblüte und kehre damit unverzüglich zurück in meine schon allzu lang vermisste Zelle, in den Venusberg zu meiner Kerkermeisterin. „Non disturbare!“ Das Schildchen an der Tür gilt nicht für mich. Die Zimmerfrauen sind einerseits froh, etwas weniger Arbeit zu haben, andererseits sind sie in Sorge, weil tagelang verwüstete Zimmer dann oft noch mehr Aufwand erfordern.

Das Frühstück am Dienstag ist die erste Mahlzeit, die wir nach unserer Ankunft Sonntagabend einnehmen. Wir lassen es aufs Zimmer servieren. Meno male, denkt der Service, 304 lebt noch. Wenn es so lang dauert, liegen sie manchmal auch in ihrem Blut. Das Kärtchen „Non disturbare“ bleibt außen an der Tür hängen. Dienstagabend dann die Überraschung. 304 erscheinen zum Abendessen in der zum Canale gerichteten, verglasten Veranda. Wenigstens haben sie Appetit. Beim Studieren der Karte lässt er den rechten Seitenrand nicht unbeachtet. Feiner Wein. Die Unterhaltung verläuft in Wellen. Lange Pausen wechseln ab mit Phasen, in denen jeder aufgeregt alles auf einmal sagen will. In den Pausen reden die Blicke. Beide denken darüber nach, wie es dazu kommen konnte, dass sie jetzt miteinander am Canale Grande schmausen, wie alles, was in den letzten beiden Tagen geschehen ist, geschehen konnte, so wunderbar geschehen konnte. Sie fühlen sich wie zwei Frischvermählte, zwischen denen alles stimmt, in den allerersten Flitterwochen. Bilder steigen nicht auf, wenn sie an diese letzten achtundvierzig Stunden denken, ein wenig Verschämtheit lässt sich nicht verleugnen.


Zum Nachtisch bestellen sie Mango. Mit sicheren Griffen entkernt der Oberkellner die Früchte. Wenngleich noch so vieles, alles eigentlich noch zu bereden wäre, wenngleich sie noch keinen Vicolo, keinen Campo durchschlendert, keine einzige Maske gesehen haben, das Verlangen nach einander ist größer und sie begeben sich wieder hinauf ins 304. Das heißt, sie begibt sich. Er geht vorher noch die Rechnung bezahlen, damit das Auschecken morgen Früh schneller geht. Es war sinnlos, das Täfelchen „Non disturbare!“ für die Dauer des Abendessens zu entfernen. Um diese Zeit kommt kein Zimmermädchen mehr. Jetzt hängt es wieder an seinem gewohnten Platz.


Wo bleibt er denn so lang? Er wollte doch nur die zwei Koffer zum Auto bringen. So lang kann das doch nicht dauern! Er wird doch nicht… Hat er schon genug von mir? Was soll ich dann machen? Zurück nach Rom und vier Tage heulen? Heulen während des Heimflugs und heulen den Rest meines Lebens. Oder ist er ins Wasser gefallen mit dem wackeligen Karren? Werden sie ihn lebend herausfischen? Haben sie das Auto gestohlen aus der Garage? Und sitzt er jetzt auf einer Polizeiwache wegen der Anzeige? Mein Gott, vielleicht hat er unterwegs ein lustiges junges Mädchen gefunden, die ihm besser gefällt als ich alternde Frau! Er ist zwar auch nicht der Jüngste, aber scharf wie ein junger Hund. Grande Canaille, ich hätte mitkommen sollen und aufpassen auf meinen Rainer. Er hat aber gemeint, ich kann inzwischen fertig packen und auschecken. Hatte er also doch vor, mich hier sitzen zu lassen? Nein, nein, das kann ja gar nicht sein, so wie er lieb zu mir ist die ganze Zeit. Ich muss mich daran erinnern, was er mir immer wieder sagt: Du sollst dich auch selber ein bisschen liebhaben, dann fliegen sie gleich weg, die dummen Gedanken. Stimmt ja auch. Da ist er ja. An seinen Hals und küssen, küssen, küssen… 

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